[Mahmoud und Ayaz (1472)]
Schlimm.
- Deutsche Notizen aus der Provinz [Saeed]
Schlimm
#1
Langsam
gehen, langsam gehen. - Die kleine Frau mir gegenüber. Lärm von
draußen. Es versammeln sich mehrere Frauen im Haus, in dem die
kleine Frau wohnt. Manche von ihnen sind sehr neugierig, was ich hier
auf der anderen Seite in meiner dunklen Küche tue. Ich bin weiß
gekleidet. Der Nachbar ist schon von Heimweh erfüllt. Er schreit:
„Deutschland, Deutschland!“ Ich schließe das Fenster, damit ich
nicht das gleiche Gefühl bekomme. Der Physiker aber ist
ausgezeichnet.
Jetzt
bin ich völlig ausgeliefert. Es ist schon schlimm genug gewesen.
Kaum kann ich mich in Bewegung setzen. Außerdem bin ich sehr müde.
Ich kann nicht einmal überlegen, wohin ich ziehen soll. Ich muss
dennoch überlegen. Ich höre: „Langfristige Hintergedanken.
Reagieren!“ Das hat auch seine Vergangenheit: Schwärmen. Man hat
immer genau zu überlegen, was man machen muss. Ich habe vieles
gelernt; ich denke, es könne sich alles plötzlich ändern. Der
Physiker aber ist ausgezeichnet. Nun zurück. Ich höre: „Die Angst
der Einheimischen vor Umsiedlern. Vorbereitungen auf den Tag X.“
Ich bin nicht überrascht. Ich höre: „Es hat immer Initiative
gegeben. Auch die Opposition spricht von guter Stimmung. Die Polizei
braucht im Übrigen Handlungsbedarf.“
Es
tauchen immer wieder junge Leute auf. Sie tragen T-Shirts. Es ist
recht witzig. Sie könnten auch Journalisten sein, zumal sie an ihren
T-Shirts Presse tragen.
Schlimm
#7
Er
sitzt ruhig in seiner Ecke, hört Geräusche, hört Geschrei, hat
dann Angst, steht auf, zieht sein Hemd an, fühlt sich heiß, zieht
es aus, setzt sich auf seinen Stuhl, grübelt, fühlt sich dann kalt,
obwohl er schwitzt.
Schlimm
#8
Es
ist spät am Abend. Er kommt nach Hause, blickt sich für eine Weile
in seinem Zimmer um, legt sich auf sein Sofa, schaut dann die Decke
an, springt plötzlich vom Sofa auf und geht aus. Denn: Es ist die
Zeit, in der man sich betrinken muss.
Schlimm
#9
Als
er nach Hause kommt, ist er schon betrunken. Er geht schlafen.
Schlimm
#11
Das,
was mich interessiert, ist das, was die anderen nicht interessiert.
Schlimm
#12
Nach
langer Arbeitslosigkeit hörte er mit dem Biertrinken auf.
Schlimm
#13
„Lass
es dir gut gehen!“ - „Aber wie denn?!“
Schlimm
#14
Er
setzte sich einmal an den Rand einer Hauptstraße von einer
Kleinstadt und fing an, die Autos zu zählen - dann drehte er durch.
Schlimm
#15
Eine
Honigbiene flog eines Tages aus ihrem Versteck, in dem sie
überwinterte, hinaus, um Futter zu suchen; sie überlebte die
winterliche Kälte aber nicht.
Schlimm
#16
Ich
hörte Geschrei; ich dachte, man brauche meine Hilfe. Als ich am Ort
des Geschehens war, sah ich, dass die Leute feierten.
Schlimm
#17
Ich
lag auf dem Felde und sah, dass die Wolken vorüberziehen; die Sonne
schien aber nicht.
Schlimm
#19
Der
Fotograf verlangte stets von mir, dass ich zur Kamera unbedingt
lächeln müsse. Anfangs konnte ich es nicht. Als er mich Sekunden
später darum bat, lächelte ich ihn an.
Schlimm
#23
Es
gab einmal einen König, der kein Land hatte; er hatte aber ein
Schiff.
Schlimm #29
Ich
war am See. Es gab wenig Schwimmer, aber viele Taucher.
Schlimm #33
Da
lag ich am Strand und schaute, wie die Sonne unterging. Ich erwartete
keinen Mondaufgang auf der anderen Seite des Himmels.
Schlimm
#39
Ich hörte es klingeln. Einer schrie: »Geh ans Telefon!« Es klingelte aber weiter.
Schlimm
#43
Als
es anfing zu donnern, sagte er zu ihm: »Es
wird bald aufhören.« Der andere schaute in den Himmel, dann ihn
ratlos an und wusste nicht, was er sagen sollte.
Schlimm
#44
Der
König stand an Bord seines Schiffes und schaute weit hinaus aufs
Meer. Er sah kein Festland, an dessen Ufer er sein Schiff anlegen
konnte.
Schlimm #49
Der
Mensch, der sich verpflichtet fühlt und eine außergewöhnliche
Aufgabe hat, zerstört seine Umwelt, denn er muss Leistungen
erbringen. Unter Leistung verstehe ich: Lebensraumzerstörung, also
Umweltzerstörung.
Schlimm
#55
Der
König war es gewohnt von Seevögeln Neuigkeiten zu erfahren. Er
verließ eines Tages seine Kabine, begab sich an Bord seines
Schiffes, legte unverzüglich seine rechte Hand über die Augenbrauen
und schaute ungeduldig gen Himmel. Es war wolkig und augenblicklich
keine Spur von Seevögeln. Er richtete dann seinen Blick verzweifelt
aufs Meer. Es war stürmisch. Immer nach solcher Erfahrung kratzte er
ratlos seine Stirn, während er sein Lachen vor sich nicht verbergen
konnte.
Schlimm #61
Das
vorübergehende Gewitter deutet an, dass es bald nicht mehr viel
regnet, sondern dass wir mit einer langen Dürreperiode rechnen
müssen.
Schlimm #79
Während
seiner Seereise gelang es dem König einmal, sein Schiff am Festland
anzulegen. Er frohlockte schier wahnsinnig und war fest davon
überzeugt, dass er sein Reich nun endgültig auf der Insel errichten
könne.
Schon
kümmerte er sich um sein Hauptquartier, öffnete eine Flasche Wein
und begann mit den üblichen Zeremonien und Feierlichkeiten, auf
welche jeder König bei solchen Anlässen nicht verzichten kann.
Beim
nächtlichen Spaziergang dachte er über schöne Zeiten nach, die er
dort in aller Ruhe verbringen könnte, und warf hie und da spöttisch
einen kurzen Blick aufs Meer.
Am
nächsten Tag, ehe die Sonne ihre Herrlichkeit zur Schau stellte,
kamen die Einheimischen zu ihm und baten ihn sehr freundlich, dass er
die Insel so bald wie möglich verlassen und sich nie mehr dort
blicken lassen dürfe.
Schlimm
#85
Die
Einheimischen umkreisten den König in seinem Hauptquartier. Er sah
hinter sich das Meer und vor sich seine Feinde, die ihn wiederum ins
Ungewisse vertreiben wollten. Er hatte es nicht mit einer bestimmten
Person zu tun, die ihn aus abenteuerlicher Neugier bekämpfen wollte,
sondern mit einer breiten Masse, die geistig enorm motiviert und mit
verschiedenen hochentwickelten Ausrüstungen bewaffnet war.
Bevor
es zu einem Feuergefecht kam, bat er sie seinerseits sehr freundlich
um eine Bedenkpause. Da die Einheimischen nicht zum ersten Male
solchen Fällen ausgesetzt waren, wussten sie sehr genau, wie sie
damit umzugehen hatten.
Nach
langem Streit in ihrer Volksversammlung verabschiedeten sie endlich
ein Gesetz, das dem König, der Bedenkpause halber, einen kurzen
Aufenthalt auf der Insel genehmigte. Dies teilte ihm ein Diener mit.
Der König verließ dementsprechend sein Hauptquartier und ging zu
den Volksvertretern, um sich bei ihnen zu bedanken.
Schlimm
#90
Während
seiner Bedenkpause auf der Insel ging der König zu einer
Vorlesungsreihe. Der Philosoph, der da über ein Paradoxon in der
Physik referierte, bot anschließend seine neue These dar, dass
nämlich die Ordnung in der Natur einzusehen sei, indem man die
Details übersehe. Der König wusste, was der Philosoph daraus
folgern wollte; es war ihm nicht unerhört, er blieb nicht da, begab
sich an die Küste und starrte lange das Meer an.
Schlimm
#98
Der
König lag fünf Tage und Nächte an der Küste. Am sechsten Tag
brachte ihm der Diener einen Brief, der folgendermaßen lautete:
Sehr
geehrter Herr,
Hiermit
bestätigen wir den Eingang Ihres Bittbriefes und bedanken uns für
Ihr Interesse an einem Aufenthalt auf unserer Insel. Mit
Aufmerksamkeit haben wir Ihren kaiserlichen Lebensweg verfolgt, der
auch für unsere Forschungen im Bereich »Niedergang
der Dynastien«
Ansatz und Berührungspunkte bieten würde.
Zu
unserem Bedauern müssen wir Ihnen aber mitteilen, dass es zur Zeit
generell keine Möglichkeit für einen unbefristeten Aufenthalt auf
unserer Insel gibt. Ansonsten genehmigen wir nur einen befristeten
Aufenthalt, der auf eine kurze Bedenkpause begrenzt ist.
Wir
betonen nochmals mit aufrichtigem Bedauern, Ihnen momentan keinen
positiven Bescheid geben zu können und senden Ihnen daher Ihren
Bittbrief zu unserer Entlastung zurück.
Mit
freundlichen Grüßen
Das
Ministerium für Liebe und die dadurch geschädigten Menschen
Schlimm
#103
Der
König stand auf, steckte seinen Bittbrief in die Tasche, bedankte
sich beim Diener und schlug die Richtung ins Landesinnere ein.
[Saeed]
Jetzt
wohin? [Heinrich Heine]
Der Ruf des Muezzin wurde nach und nach von mehreren Sendern gleichzeitig verwischt und verzerrt. Traditionelle jüdische Lieder, eingängige Schlager- und Operettenmelodien, Heilsversprechungen der Werbung, Wettervorhersagen, Straßenzustandsberichte und Nachrichten in verschiedenen europäischen Sprachen schienen den einsamen Ruf gewaltsam in den Hintergrund drängen zu wollen. Einer der Sprecher berichtete von der Verurteilung und dem Rücktritt einer Galionsfigur des europäischen Fußballs. Nachdenklich und unter größten Anstrengungen verließ Rohlfs sein Lager um sich anzuziehen. Von draußen hörte er Emilians Stimme im Dialog mit seinen Hühnern: "Pui, pui, pui, pui, pui!" Die Mămăligă köchelte in dem gusseisernen Topf. Das Freitagsgebet hatte gerade begonnen, als der Reklamespruch eines amerikanischen Baumarkts den siegreichen Triumph über die gewissenhafte Sorgfalt der Andacht verlautbarte: "Aluminum Ware proves the most Suitable, Serviceable and Sensible Sanitary Set." Es war Rohlfs unmöglich, bei der Übertragung des Ausrufers nicht an Saeeds aufgebrachte Klagen wider den Aufruf zum Gebet zu denken. Einmal habe ihn die Empörung über die morgendlichen Störungen so weit getrieben, dass er dem Ausrufer noch vor dem Zuhr-Gebet mit einer schweren Eisenstange auflauerte um ihn vom Ausüben seines Dienstes abzuhalten. Nur aus Großherzigkeit, so Saeed, habe der Muezzin von einer Anzeige abgesehen, obwohl er ihm eindringlich und unter Handgreiflichkeiten klarzumachen versucht hatte, dass seine Arbeit zutiefst unmoralisch sei, da sie fern jeder irdischen Erfahrung und Greifbarkeit liege. Nach einer großen Ankündigung der Regierung in nahezu allen zur Verfügung stehenden Medien, man sehe das Antlitz des Führers in der kommenden Nacht im Widerschein des Mondes und dem Aufruf an die Gemeinschaft aller Gläubigen diesem Ereignis beizuwohnen, konnte Saeed jedoch nicht umhin verzweifelt durch die Straßen der Innenstadt zu irren in dem Versuch seine Mitmenschen darüber aufzuklären, dass man dort lediglich die Schatten von Kratern sehe. "Abdullah, mach doch deine gottverdammten Augen auf, du Narr! Da ist überhaupt nichts da oben, du Narr, überhaupt gar nichts, nur Krater und Staub. Dreck, Abdullah, alles Dreck und Betrug – und ein paar Flaggen vielleicht. Mach deine Augen auf, Mohammad! Manoutcher, du Idiot! Da ist nichts! Nichts! Bist du blind, Iraj? Geh nach Hause zu deiner Frau, Dariyousch! Dein Nachbar wartet nur auf eine Gelegenheit sie endlich einmal allein zu erwischen. Kümmere dich um deine Kinder, Dastan! Nun macht, dass ihr nach Hause kommt, ihr Schwachköpfe! Eure Freunde sind vielleicht schon dort!"
Die
Männer drohten ihm mit den wüstesten Beschimpfungen, verfluchten
ihn bis ins letzte Glied seiner Familie. Sein Vater möge verbrannt
werden oder im Hintern eines Hundes ersticken. Einige
benachrichtigten die Ordnungskräfte, die Saeed nun seinerseits
anpöbelte und provozierte.
Erst
als Verstärkung anrückte, beruhigte sich die Situation.
Man verurteilte Saeed schließlich zu einer Haftstrafe von
dreieinhalb Jahren. [Aus: Liana Helas „Ulise 2022“]
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