Samstag, 19. Februar 2022

Z. Z. XXX [»Endlich arbeitslos. Tödliches Glück« - Kapitel 2 aus einem bisher unveröffentlichten Roman von Friedrich-Karl Praetorius]

 


[»Silent Guardians« (2015), Goedart Palm]





[In: Friedrich-Karl Praetorius »Botschaften von einem anderen Stern« (2009)]






[»Arbeitsplatz« (2018), Goedart Palm]






Endlich arbeitslos


Tödliches Glück


Roman

von

FRIEDRICH-KARL PRAETORIUS




Kapitel 2




Während der ersten drei Monate nach seiner Entlassung verbrachte Kessler die meiste Zeit am Fenster sitzend im Gästezimmer seines großen Hauses. Die 35 kg Übergewicht schob er der Schule in die Schuhe.

Dennoch empfand er keinen Groll. In seiner Kündigung sah er nichts Unrechtes.

Ich habe stets darauf geachtet, gegen den Strom zu schwimmen“, erklärte er seiner Frau, Irma. „Es war bekannt, dass mein Verhalten darauf ausgerichtet war, Weisungen der Schulbehörde nicht automatisch Folge zu leisten.“

Der boshafte Rat eines Kollegen, sich im eigenen Interesse auf seinen Geisteszustand untersuchen zu lassen, schmeichelte Kessler. Er fühlte sich aufrichtig geehrt und sah in dem Ratschlag eine Aufforderung, seine allgemein bewunderten und gefürchteten Intuitionen in den Dienst neurologischer Forschung zu stellen.

Da die einseitige und fristlose Kündigung rechtskräftig war, hatte Kessler, der mit seiner Frau, Irma, und den drei gemeinsamen Kindern, Nora, 14, David, 13 und Amanda, 7 Jahre alt, ein eigenes Haus am Stadtrand bewohnte, von der nahe gelegenen Agentur für Arbeit weder Bezüge, noch Angebote zu erwarten.

Von einer Erbschaft, die ihm gleich nach seiner fristlosen Kündigung zuteil geworden war, hatte er sich einen imposanten Jahreswagen der S - Klasse gekauft, den er ‚Dienstfahrzeug des ukrainischen Präsidenten’ taufte.

Dieses Auto musste immer in Sichtweite stehen, denn er selbst hatte sich zum freiberuflich arbeitenden „Chauffeur des Dienstfahrzeugs des ukrainischen Präsidenten“ ernannt. Seiner Frau, Irma, hatte er gleich zu Beginn seiner kündigungsbedingten Freiheit mitgeteilt: „Auf diesem Stuhl werde ich von nun an sitzen. Was die Nahrungszufuhr angeht, bin ich auf Eure Güte angewiesen. Das Fenster hier eröffnet mir eine schmale Sicht zur Hauptstraße hin. Dort steht das ‚Dienstfahrzeug des ukrainischen Präsidenten’. Sollte also eine Arbeit vorbeikommen, werde ich zuschnappen. Denn in der Regel ist jede Arbeit beweglich und kommt von draußen her.“

Wieso jede Arbeit von draußen käme, wollte Irma wissen. Immerhin habe

der angesehenen Fachverlag Schrader&Schrader bereits zwei Manuskripte von Kessler veröffentlicht, und die habe er doch wohl drinnen im Haus geschrieben.

Dennoch, erwiderte Kessler, habe er seine Arbeit im Haus erst begonnen, nachdem Alex Weber, der Verleger von Schrader&Schrader, vor einigen Jahren mit der Bitte, etwas zu schreiben, an ihn herangetreten sei. Diese Bitte sei ihm von Weber schriftlich über einen Kurier eines privaten Zubringerdienstes überbracht worden. Und zwar von draußen.

Irma fragte, warum er sich so geschraubt ausdrücke.

Er drücke sich nicht geschraubt aus, sondern lediglich so langsam und deutlich, dass die Wahrscheinlichkeit, sich wiederholen zu müssen, so gering wie möglich ausfalle. Bei seinen Schätzungen stütze er sich auf Erfahrungswerte, von denen es in ihrer bald zwanzigjährigen Ehe ausreichend viele gäbe.

Irmas Lächeln geriet ins Süßsaure, als sie wieder einmal feststellen musste, für wie blöd ihr geliebter Ehemann sie hielt.

Kessler bedauerte, dass er diese Reaktion leider befürchtet habe. Gehofft habe er auf eine andere.

Typisch sei das, erwiderte Irma. Er wolle Menschen wie Hunde abrichten und setze auf eine Art ‚Pawlowschen Reflex’. Das aber könne er mit Menschen nicht machen.

In der Tat bedaure er, erwiderte Kessler, dass die nur in seltenen Fällen aussetzende Beißhemmung, die sich unter Hunden bewährt habe, im menschlichen Verhalten keine Rolle mehr spiele. Ein Appell an die Vernunft werde leicht unterwandert, und so habe er zum Beispiel feststellen können, dass ein zwar nicht erlaubter kleiner Hieb mit dem Stock oder eine Ohrfeige mit dosierter Schlagkraft sich positiv auf die Lernfähigkeit auswirke.

Er halte es für fahrlässig, aus einem vorhandenen Erfahrungsschatz nicht lernen zu wollen. Es ginge ihm ausschließlich um Effizienz. Ein Maximum an Effizienz sei dann erreicht, wenn kaum noch Energie als Entropie entweiche.

Irma fragte, was Entropie sei.

Kessler, der gerade einen Blick zum Fenster hinaus warf, rief „Siehst Du den gelben jungen Mann auf dem Fahrrad, Irma, wie offensichtlich er sich bemüht, den Eindruck von Betriebsamkeit zu erzeugen, wie arbeitseifrig er in die Pedale tritt und die Briefkästen anpeilt? Der größte Teil seiner Energie wird in die Selbstdarstellung investiert, also vergeudet. Das ist Entropie. Nach dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik auch ‚Wärmetod’ genannt. Etwas gelassener hätte der junge Postbote vermutlich einen besseren Überblick und könnte viel effizienter seine Arbeit verrichten.“

Irma protestierte. „Er ist jung und deshalb eifrig. Er wirbt für sich und macht diesen Wind im eigenen Interesse. Vielleicht wird ein privater Postdienst so auf ihn aufmerksam.“

Das sei ein Trugschluss, sagte Kessler. Die Dinge müssten reibungslos verlaufen, wie geschmiert. Nur dann würfen sie keine Fragen auf. Wo Einklang herrsche, bestünde kein Erklärungsbedarf. Die meisten Dinge erklärten sich selbst. Aber die so genannte Richtlinienkompetenz nötige den Lehrern auf, die Dinge solange zu zerlegen, bis sie von ihrem ursprünglichen und ganzheitlichen Aussehen entfremdet seien. Man verzerre sie ins Rätselhafte, um den Ertrag des Erklärungsbedarfs zu erwirtschaften. Dabei ginge es nicht um die Deckung, sondern um den Erhalt des Bedarfs. Der gewünschte Ertrag sei somit der Bedarf. Genauso wie es später der Arbeitsplatz sei, der erwirtschaftet werde und nicht etwa das durch Arbeit erwirtschaftete Geld. Denn mit jeder neuen Belegung eines neuen Platzes, falle ein Arbeitsloser aus der Statistik. Deswegen stünde in der Rangliste der Bemitleidenswerten der Mittellose noch über dem Arbeitslosen.

Entsprechend würden im Vorfeld der Arbeit, in den Schulen, Fragen konstruiert, die kein Schüler von sich aus gestellt hätte. Die Antworten seien für die Fragen gemacht und nicht zur Erweckung von Perspektiven, die einem Schüler zum Lernen verführten.

Würde sich in einer Gesellschaft das Primat der Schlüssigkeit durchsetzen, würde man nicht nur einen Großteil von Lehrern entlassen müssen, sondern mit ihnen würden auch etliche Ideale und Werte sich nicht mehr ernsthaft vermitteln lassen.

Eine schlüssige Ohrfeige, wie er, Kessler sie bevorzuge, käme einer Revolte gegen den Bildungsauftrag gleich.

Doch Irma insistiert immer noch auf eine schlüssige Antwort auf ihre Frage: „Wieso kommt Arbeit immer von draußen?“

Weil erst eine Nachfrage von draußen eine Arbeit ins Leben ruft,“ erklärte Kessler.

Schon im Liedgut hieße es so doch: ‚Horch, was kommt von draußen rein’.

Arbeit bewege sich immer von draußen nach drinnen, nie von drinnen nach draußen.

Das ist ein Naturgesetz, dass Arbeit nur eine Richtung kennt. Man arbeitet immer gegen die Entropie“. Es sei sicher zutreffend, dass Arbeit beweglich sei, dennoch könne man aus dem Zuwachs an Beweglichkeit nicht automatisch auf einen Zugewinn an Ordnung schließen. Im Gegenteil, gerade starke Energien schlummerten als Ruhemasse, bevor eine Initialzündung eine nukleare Kettenreaktion auslöse. Im übertragenen Sinne gelte diese Vorstellung auch für zurück gehaltene oder aufgestaute Gefühle, irgendwann sei das Fass eben zum Überlaufen voll!

Irma empfand die Länge seiner Erklärungen als unangebracht und lästig.

Aber da sie Humor hatte, bemerkte sie: „Dann ist also dieser Stuhl, auf dem Du sitzt, ein echter Arbeitsplatz.“




Mittwoch, 9. Februar 2022

Z. Z. XXIX [»Endlich arbeitslos. Tödliches Glück« - Kapitel 1 aus einem bisher unveröffentlichten Roman von Friedrich-Karl Praetorius]

 


[»Ping Pong für die Neue Sachlichkeit« (2015), Goedart Palm]



Ich bin allerdings arm und an Erfolglosigkeit hat es mir bis heute nie gefehlt, aber das Leben kann auch ohne Erfolg hübsch sein.

[Aus: Robert Walser »Der Spaziergang« (1917)]




[»Sozioanalyse« (2020), Goedart Palm]




Endlich arbeitslos


Tödliches Glück


Roman

von

FRIEDRICH-KARL PRAETORIUS




Kapitel 1





Als Kessler, der in einem privaten Internat immerhin zehn Jahre lang als Lehrer angestellt war, fristlos gekündigt und damit in die freie Welt der Arbeitslosen ohne Bezüge, auch ‚stille Reserve’, genannt, überführt worden war, ein Schritt, der nach Meinung der überwiegenden Anzahl seiner Kollegen längst fällig war, ging ein großes Aufatmen durch den Lehrkörper wie durch die Schülerschaft.

Wie er es überhaupt schaffen konnte, über einen so großen Zeitraum sein Lehramt auszuüben, erschien vielen jetzt wie ein Rätsel.

Seine Gewaltbereitschaft und sein unberechenbares Verhalten waren allgemein bekannt und gefürchtet. Kessler besaß das Geschick, seine Entgleisungen unmittelbar von physikalischen Gesetzen abzuleiten und in Lehrstoff umzuwandeln.

Wenn Kessler zuschlug, folgte gleich die Belehrung. Ein Schlag sei dann gerechtfertigt, wenn er das Gehirn des Schülers in Bewegung setze. Er sei als dosierter Impuls zu werten, der den Schüler an die von ihm, Kessler, gewünschte Wellenlänge erneut anbinde und so den weiteren Transfer von Daten garantiere.

Einmal, nachdem er einen Witz erzählt hatte, über dessen Pointe keiner seiner Schüler lachen wollte, ließ Kessler sich von einem Schüler die Jacke geben, hielt sie für alle sichtbar hoch und forderte die Schüler auf, sich die Jacke als Witz vorzustellen.

Dann warf er sie mit den Worten auf den Boden, er werde jetzt aus dieser Jacke, die ein Witz sei, die Pointe heraustreten, die als Jackensaft bald sichtbar werden müsse.

Das sei ganz ähnlich wie beim Traubentreten. Den Besitzer der Jacke werde er entschädigen, sofern die Jacke nicht schon vor dieser ‚rituellen Betretung’ als ein geschmackliches Desaster zu bewerten sei.

Kessler trampelte auf der Jacke herum und versprach, dies solange zu tun, bis der Jackensaft herausgepresst sei. Die Schüler könnten sich selbst überzeugen. Bisher sei noch kein Tropfen Jackensaft zu sehen. Und eine saftlose Jacke habe überhaupt keinen Wert.

Ob denn alle Kleidungsstücke saftig seien, wollte einer wissen.

Kessler brach das Trampeln ab, riet dem Jackeneigner, beim nächsten Jackenkauf auf mehr Qualität zu achten. Und, was den Geschmack anginge, so bediene er sich gern eines Gleichnisses, das ihn schon als Kind überzeugt habe. Mit dem Geschmack, so hieße es in diesem Gleichnis, verhielte es sich wie mit dem Hintern. Was er auch hervorbringe, am Ende bliebe er immer geteilt.

Mittlerweile boten Schüler Kessler ihre Jacken für eine Saftprobe an. Andere simulierten Wissbegierde und fragten, ob vielleicht alle Dinge Saft enthielten.

Von Friedhelm Kessler, der Physik und Chemie lehrte, waren beim Verlag Schrader&Schrader immerhin zwei populärwissenschaftliche Bücher erschienen und erfolgreich im Umlauf. Denn Kessler verfügte über die besondere Fähigkeit, komplizierte und exotisch anmutende Neuigkeiten aus der Welt der Teilchenbeschleuniger und den Radioteleskopen spektakulär aufzuarbeiten und auf diese Weise neue Leser zu gewinnen.

Er habe, antwortet er dem Schüler, der gefragt hatte, nicht nur auf Fragen wie diese gewartet, sondern, was ihn besonders entzücke, sei diese plötzliche Neugier, dieses aufrichtige Interesse fast aller Schüler, die seine saftigen Ohrfeigen zu würdigen verstünden.

Auch japanischen Mönchen, deren Geist während einer Meditation herumirre, würde der Meister mit einem Stockschlag auf den Hinterkopf unmittelbar zurück in die Mitte des Geistes verhelfen. Wenn man also statt Saft Essenz sage und sich vorstelle, zwei starke Hände könnten das Universum zusammenpressen, dann, und dies sei durch Berechnungen bewiesen, bliebe am Ende nicht einmal der Saft.

Im Verhältnis zur Größe der Raumzeit falle die sichtbare Materie nicht mehr ins Gewicht. Sie schrumpfe auf einen Wert von nahezu Null.

Doch kaum wurde zur Pause geläutet, brach wieder das gewohnte Chaos aus.

Kessler schaltete schlagartig um, und sein Blick traf kalt und tödlich die Schüler, die wie versteinert innehielten. Er stellte dann fest, dass hoffentlich selbst die ‚Saftratten’, unter den Schülern heute gelernt hätten, dass eine einfache Ohrfeige ihnen das Geheimnis des gesamten Universums offenbaren kann.

Schüler, die mit Kesslers Anschauungsunterricht vertraut waren, verfuhren mit Kessler bald ähnlich wie er mit ihnen.

Nicht nur seine Unberechenbarkeit war für Lehrer wie für Schüler kaum zu ertragen.

Ein besonderes Kennzeichen war sein starker Mundgeruch, der ihm angeblich vorauseilte.

So entstand bald der Begriff von einem vorauseilenden Mundgeruch, für den der Lehrer exemplarisch sei.

Kessler kommt!“, schrien vorlaute Schüler und brachten sich in Sicherheit.

Ob ein Mundgeruch überhaupt vorauseilen könne und nicht vielmehr träge hinter der beweglichen Quelle zurückbliebe, darüber zerbrachen sich einige Schüler den Kopf.

Man zog ein paar pfiffige Köpfe der Oberstufe zu Rate und der Witz war, dass nach Gründung einer Projektgruppe namens ‚Mundgeruch’ die Frage zu einem ernsthaften Anliegen heranreifte, das man schlecht, ohne Kesslers Intimsphäre zu beschädigen, lösen konnte.

Einige Schüler behaupteten, Kessler verfüge sogar über die Fähigkeit, seinen Mundgeruch zu beschleunigen. Denn diese Fähigkeit allein führe zu einer Vorauseilung, der seine Person dann folgen würde.

Kessler und sein Mundgeruch wurden zu Zaungästen eines Phänomens, für das der öffentliche Lehrauftrag, an den auch eine private Lehranstalt gebunden war, kein Fach vorgesehen hatte.

Ein Schüler vertrat die Ansicht, es sei gar nicht der faulige Geruch, der Kessler ankündige. Sein Kommen werde über den Gehörgang vermittelt.

Unter den Hacken seiner Cowboystiefel habe er Plättchen anbringen lassen, die ganz offensichtlich sein Herannahen betonen sollten. Sein Schritt halle durch die Gänge. Gelassenheit und Gleichmäßigkeit flankierten ihn.

Der Widerhall seiner Schritte treibe die Schüler bereits in die Klasse und rufe unmittelbar den üblen Mundgeruch wach. Dann erst erscheine Kessler.

Ein Neunmalkluger vertrat die Ansicht, man müsse das Phänomen aus holistischer Sicht betrachten. Was Kessler vorauseile, sei sein schlechter Ruf, von dem der Mundgeruch nur ein Bestandteil sei.

Wieder ein anderer meinte, mit Kesslers Herannahen sei ein deutlicher Klimawechsel zu registrieren. Man möchte sich warm anziehen, wenn er herannahe.

Können Gedanken eigentlich denken, Herr Kessler? Oder werden sie gedacht?“

Mit solchen Fragen konnte man bei Kessler auf eine saftige Abreibung rechnen.

Denn Kessler war nicht dumm. Bevor er zuschlug ließ er den Schüler nicht wissen, ob und wenn ja, auf welche Art die Abstrafung erfolgte.

Sie können beides, mein Junge. Und zwar zur selben Zeit“, lautete Kesslers Antwort, während er sich dem Schüler näherte. „Der Gedanke entsteht, und, während er sich aktiv seinen Weg durch die vielfältigen Wege in den Arealen der Hemisphären im Neokortex sucht, fällt er ins Gewicht. Und zwar so.“

Kessler schlug zu und fuhr fort: „Dies ist der Augenblick, wo der Gedanke gleichzeitig denkt und gedacht wird.“

Wenn Kessler einen dieser vorwitzigen Schüler erwischte, konnte er gnadenlos sein.

Seine Neigung zu effizienten Faustschlägen ins Gesicht nahm zu und widersprach zu deutlich den Gepflogenheiten, um nicht endlich auch im Lehrerzimmer thematisiert zu werden.

Dort fragte ihn ein älterer Kollege, ob Kessler nicht bekannt sei, dass sein brutales Verhalten strafbar sei.

Grundsätzlich ja“, gab ihm Kessler zur Antwort. „In einigen Fällen führt aber nur der gezielte Faustschlag zum angestrebten Erfolg.“ Eine Ermessensfrage sei das nicht, erläuterte Kessler, denn für Erwägungen brauche man Zeit, und gerade die passe als kleinstes Segment nicht mehr in den Ermessensspielraum. Einer vollendeten Tatsache wie dieser könne keine Entscheidung vorausgehen.

Was essen Sie bloß zum Frühstück“, fragte ihn derselbe Lehrer. Kessler erwiderte verschwörerisch: „Da müssen Sie meine Frau fragen, denn auch mit Brille ist es nicht zu erkennen. Aber es schmeckt wie Ratte. Lecker!“

Witzig, dieser Kessler, dachte vielleicht in den ersten Jahren mancher Kollege oder Direktor Körber, der einen Narren an dieser merkwürdigen Persönlichkeit gefressen hatte.

Ein anderer Kollege, auf den Kessler nicht so gut zu sprechen war, sagte: „Versuchen Sie es doch mal mit Dorschleber, die gibt’s auch in Dosen“.

Kessler blickte hoch und antwortete: „Schon mal was von Aura gehört, Herr Beierlein? Sie unterrichten doch Mathematik, welche geometrische Form würden Sie einer Aura am ehesten zuordnen?“

Annähernd kreisförmig!“

Sehen Sie! Das denken die meisten. Es gibt aber – selten zwar – eine Aura, die länglich ist und schmal und bis zu drei Metern in Mundhöhe vorauseilen kann.“

Wenn Kessler vor der Klasse stand, und einige, die Kesslers Gewaltbereitschaft noch nicht kannten, sich demonstrativ die Nase zuhielten, sagte Kessler: „Ist es nicht schön, einen Lehrer zu haben, der nicht nur im sichtbaren Licht und durch die Vibration im Trommelfell wahrzunehmen ist, sondern der sich zusätzlich noch wittern lässt?“

Nachdem die Schüler gelacht hatten, packte Kessler sich diejenigen, die sich die Nase zugehalten hatten.

Sie mussten sich in einer Reihe aufstellen, und Kessler rammte jedem einmal sein Knie in den Bauch.

Bei einer solchen Abstrafung hatte ein Schüler sich reflexartig über Kesslers Hose erbrochen.

So, Freundchen, das gibt eine Sonderbehandlung!“

In Anwesenheit der ganzen Klasse hatte er dem Jungen immer wieder ans Schienbein getreten.

Die einseitige Ausrichtung seines tretenden Fußes erklärte er mit den Worten: „Ich trete deshalb nur gegen dieses eine Schienbein, damit mir später niemand Vorsätzlichkeit vorwerfen kann. Mir ist eben mal der Fuß ausgerutscht.“

Kessler, der sein Opfer immer wieder dazu nötigen musste, das Schienbein frei zu geben, war nicht aufgefallen, dass ein Mitschüler bereits den Direktor gerufen hatte.

Gemeinsam mit zwei weiteren Lehrern stand man sprachlos in der geöffneten Tür.

Kessler registrierte schließlich ihre Anwesenheit und sagte mit ruhiger Stimme: „Ich bin gleich für Sie da, meine Herren“.

Er beugte sich zu dem verletzten Schüler, zog ihm die Brille von den Augen und zerbrach sie. „Vielleicht lernt er jetzt endlich, wie schmerzvoll Unkenntnis ist.“

Dies war der Augenblick, dem Kesslers fristlose Kündigung aus dem Lehramt folgte.