Freitag, 27. September 2019

The Gas Station (Variationen) [= S / W 5.17.3] - »No one here gets out alive.« [Jim Morrison]



["Schuhe", B. Karl Decker]



Am Anfang der Geschichte des Romans, dieser aufwendigsten aller Lektüren, stand nicht der Roman, sondern der Leser, für den er geschrieben wurde, so wie das Ende dieser Geschichte nicht darin sich etwa ankündigt, dass den Autoren nichts mehr zu erzählen einfällt, sondern darin, dass der Leser das ästhetische Feld räumt und es zum Beispiel dem Fernseher überlässt. [Gert Mattenklott (1982)]




["Père Lachaise", Marc Wie]



Wenn wir bewegt sind oder gar ergriffen, empfinden wir das allzu Künstliche als fehl am Platze. Wir möchten uns unverstellt zeigen und uns zu erkennen geben: als Freund und Liebender, als einer, der mitleidet oder trauert oder durch etwas Überwältigendes begeistert ist. So wählen wir – im Gefolge jeder historischen und immer erneuerten Jugend- und Verjüngungsbewegung – das einfache schlichte Wort und müssen freilich gerade dann erfahren, dass dieses nächstliegende, das Herz-Wort der Natur, auch das abgegriffenste ist, ohne Mitteilungs- und Ausdruckswert. Auf Herz reimt allemal nur Schmerz, und so bedeutet es uns nichts. [Gert Mattenklott (1982)]



5. 17.3 Star


The future's uncertain
but the end is always near.
[Jim Morrison]


Die ersten Kilometer hinter der Grenze verliefen wegen der vielen Militärfahrzeuge schleppend. Erst in der Nähe von Taganrog beruhigte sich die Verkehrslage wieder. Emilian wählte allerdings den Weg durch die Stadt, deren Betriebsamkeit ihn aufmunterte. Er sei auf der Suche, so betonte er, nach einem ruhigen Platz für die Nacht, da es gewiss einfacher sei den Maler erst am nächsten Vormittag aufzuspüren. Die kurze Strecke musste mehrere Stunden in Anspruch genommen haben, da es erneut dämmerte.
Vor dem Haus Anton Pawlowitsch Tschechows parkte Emilian den TV-14 C, öffnete eine Flasche Wein, aus der er beinahe ein Drittel in einem Zug trank, bevor er sie an Rohlfs weiterreichte und für längere Zeit andächtig die Augen schloss.
Irgendwo am Nordufer des Asowschen Meeres werde man, beschloss Emilian heiter, die Nacht verbringen und besprechen, was zu tun sei. Auf holprigen Landstraßen fuhren sie durch Bessergenovka, Varenovka, Primorka, Morskaya und Merzhanovo. Erneut sogen sie den Geruch des Meeres in sich auf. In immer kürzeren Abständen stoppte Emilian den Transporter um seinen Blick auf das Meer zu richten. Von den hupenden Fahrzeugen um sie herum ließ er sich in keiner Weise beirren.
"Höchste Zeit", dachte Rohlfs, einmal mehr von Zuversicht ermutigt, dass alles um ihn herum unterwegs war, vollgesaugt mit kostbarem Kraftstoff, den man sich allenthalben an den entsprechenden Zapfsäulen des Wohlstands beschaffen konnte, wenn man es noch nicht aufgegeben hatte sich im Rahmen seiner stets unanständigen Möglichkeiten zur Verfügung zu stellen, "höchste Zeit von neuem in das Diktiergerät zu sprechen."
Emilian war ohnehin die meiste Zeit über derart in seinen Erinnerungen an die Seefahrt versunken, die es ihm, wie er schon in der Gegend von Vaslui mehrmals betont hatte, möglich machten unentwegt Kontrolle über das Lenkrad auszuüben, sodass Rohlfs sich ungestört und in aller Sicherheit, mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln, seinen Aufzeichnungen widmen konnte. "Es kommt nur auf ihn an, den Gekreuzigten." Aufnahme, Stopp, Wiedergabe, schneller Rücklauf. In seiner Vorstellung, so Emilian in Bender, kletterte er stets vom Untermarssegel zum Obermarssegel, wo er sich wie ein Affe an der Marsrah festklammerte.
"Dintre pasări călătoare ce străbat pământurile, Câte-o să le-nece oare valurile, vânturile?"
"Nur der Gekreuzigte ist wichtig, denn ist nicht gerade er zum Inbegriff des Heruntergekommenseins geworden, zu dem man nunmehr den Diktierenden zu degradieren versucht?" Stopp, Wiedergabe, schneller Rücklauf, Aufnahme. "Welches Maß an Erkenntnisdrang muss unterdrückt werden um das Ausmaß des Heruntergekommenseins nicht allerorts und in jedem Wunsch nach Lebensgenuss zu erkennen? Wohlstand auf Kosten des Anstands denjenigen gegenüber, denen die Teilhabe – naturgemäß auf ihre eigenen Kosten - bis hin zum totalen Stillstand systematisch verweigert wird. Der Wilde Westen. Vestul sălbatic. Vestul sălbatic. Subtile Ironie des Erblichkeitskoeffizienten." Stopp, schneller Rücklauf. "Doch ist es möglich, wirklich und tatsächlich, dass ausgerechnet du, Saeed Salafi, dich aufgeschwungen hast zum Ritter vom Heiligen Geiste? Steckst du hinter all diesen Irrfahrten, die du als selbst ernannter Volkstribun in geistiger Rückbesinnung auf die Altvorderen mir auferlegt hast, weil man dir den Zutritt zum Gesetz verwehrt hat? Könnte es eine gerechtere Strafe geben, magst du fragen, als alle Sünder auf den Planet des Kriegsgottes zu verbannen? Wer wohl bliebe zurück, als das Rad des Schicksals und der Zeit, Salafi? Niemand würde sich länger um die Flöhe in deinem Kragen scheren, die dir in deinem durch einen unglücklichen Zufall entstandenen Königreich aufgrund der Tatsache, dass nach und nach alle Erdbewohner verschwinden müssten, die alleinige Herrschaft über den blauen Planeten garantierten. Als Zeichen deiner einstmals ritterlichen Güte gelangten nicht nur die Pässe aus Palles Händen in Petricăs. Doch Güte wem gegenüber? Dies zumindest möchte man dieses Gerät fragen, da es der einzige Gegner zu sein scheint, der dies in diesem Moment hört, während Emilian sich hingebungsvoll an die Marsrah klammert und nach Neuland Ausschau hält. Den Flöhen gegenüber vielleicht, die dich in der alleinigen und ausschließlichen Herrschaft und Kontrolle über die Märkte überall hin beglitten? Die Märkte im Überblick der Diktatur des Maulwurfflohs im Königreich Siphonaptera. Ausgerechnet du, Herrscher über die Ungeflügelten, ziehst als Aktivposten die Fäden im zerfallenen Hintergrund für eine Handvoll beklagenswerter Marionetten wie Palle, Winger und Konsorten? Möge Deine Güte sich über alles breiten, was du geschaffen hast, Saeed Salafi!" Stopp, Wiedergabe, schneller Rücklauf, Aufnahme: "Dein stets freundlicher Zuspruch hat mich ermutigt das Marsevangelium an dieser Stelle fortzusetzen, nicht wahr? Niemand wird dir jemals mehr den Zutritt verweigern, niemand dich hinterrücks ermorden, deine Leiche schänden und zur Schau stellen. Hast du dir jemals mehr gewünscht? Dein Reich komme, Saeed!" Stopp, schneller Rücklauf, Wiedergabe: "Doch ist es möglich, wirklich und tatsächlich, dass ausgerechnet du, Saeed, dich aufgeschwungen hast zum Ritter vom Heiligen Geiste?" Stopp, schneller Rücklauf, Aufnahme: "Was hast du vor? Dies zumindest möchte man dieses Gerät fragen, da es der einzige Gegner zu sein scheint, der dies in diesem Moment hört." Stopp, schneller Rücklauf, Wiedergabe: "Was hast du vor?" Stopp, schneller Rücklauf, Aufnahme: "Hat tatsächlich all dies mit den Gesängen des Volkstribuns angefangen? Die gute Hoffnung aber, die ich auf dich setze, besiegte meine Furcht. Auch denke ich, dass es für einen Mann ehrenvoller sei jede Gefahr im Kampf für die Freiheit zu bestehen. Alle übrigen, die du zu deinem Schutze wähltest, wendeten ihre ganze macht und ihr Ansehen gegen dich selbst; Gunst, oder Hoffnung, oder Geschenke blendeten sie und sie finden es behaglicher des Soldes wegen Verbrecher zu sein als ohne Belohnung edel zu handeln. Alle beugten sich daher schon unter das Joch der Oligarchen. Was tun nun, edler Volkstribun?" Stopp, schneller Rücklauf, Wiedergabe: "Alle beugten sich daher schon unter das Joch der Oligarchen. Was tun nun, edler Volkstribun?" Stopp. Aufnahme: "Ich warne euch daher: Verkehret nicht den Sinn der Worte aus Feigheit; und nennet nicht Sklaverei friedliche Ruhe." Stopp.
"Dintre sute de catarge care lasă malurile, Câte oare le vor sparge vânturile, valurile?"
Er wolle sich dem Rauschen des Meeres hingeben, sagte Emilian. Nichts beruhige ihn mehr als der Rausch des Weines am Meer. Nicht allzu weit entfernt von Merzhanovo beschloss man schließlich an einem verlassenen Küstenabschnitt das Lager für die Nacht zu richten. Emilian gähnte, als sei er eben erst aus tiefem Schlaf erwacht, fasste sich dann aber wieder und bereitete in aller Ruhe und Sorgfalt ein Mahl aus gedörrtem Fisch und Maiskugeln zu. Unter dem Fahrersitz zog er, erneut munter singend, zwei weitere Flaschen Kagor Zarskoje hervor, jenem süßen und fülligen, rubinroten moldawischen Rotwein mit dem rosinenartigen Geschmack edelfauler Weintrauben aus Codru. Rohlfs begnügte sich vorerst mit dem Rest aus der vorherigen Flasche, ebenfalls einem Kagor mit einem sehr milden und nachhaltigen Geschmack, der ihn schon bald zum Mitsummen der Melodie des Seemannsliedes anregte. "They thought the stars were set alight, oh yes, oh, by some good angel every night. A hundred years ago." Einmal mehr ahmte Emilian mit dem Mund das Wellenrauschen zwischen den Strophen nach. "They hung a man for making steam, oh yes, oh, they cast his body in the stream. A hundred years ago. A hundred years is a very long time, oh yes, oh, a hundred years is a very long time."
Rohlfs müsse schon verstehen, dass die See vielleicht das letzte Bindeglied zu jenem ewigen Strom darstelle, von dem sie sich allmählich zu lösen suchten. Oft habe er auf See seine unsicheren Sohlen sich heben und senken gespürt und so manch einen habe sie vor seinen Augen verschlungen. Er werde niemals vergessen wie der gedrungene, kleine Valeriu mit dem Doppelkinn als Schiffsjunge auf der Mircea angeheuert habe. Schon lange vor Dienstantritt sei der gelernte Schweißer regelmäßig ganz schön abgefüllt gewesen. Vermutlich habe er einfach meistens die ganze Nacht durchgesoffen. Mehrmals sei er sturzbetrunken wie ein Russe kopfüber in eine Ladeluke hineingefallen und habe schon allein deswegen oft ausgesehen wie ein Preisboxer nach der zwölften Runde. Auf dem Weg zu den Feierlichkeiten zum zweihundertsten Jahrestag der Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten sei er rückwärts über die Reling in den Atlantik gestürzt. Wahrscheinlich habe er einfach das Gleichgewicht verloren. Wie versteinert habe er am Schanzkleid gestanden und dem ertrinkenden Schiffsjungen nachgeschaut. Er sei der einzige gewesen, der mit eigenen Augen gesehen habe, wie Valeriu über Bord gegangen war. Niemand vermisste ihn. Rohlfs sei der erste, dem er all dies anvertraute. Nicht einmal mit Lucia habe er hierüber jemals gesprochen. Das Bild des hochgereckten Armes im Kielwasser verfolge ihn noch immer. Von Valeriu sei nicht ein Hauch erhalten in der weiten Welt, betonte Emilian.
"Uns hebt und verschlingt die Welle, domnule Rohlfs. Und wir versinken. Wenn uns das Meer mit seinem unaufhörlichen Rhythmus, seiner Brise und seiner Kraft, seinem tiefen Blau und lichten Rauschen ein für allemal hinunterzieht, ist dies vielleicht sogar das Ende der ewigen Wiederkunft, auch wenn wir naturgemäß eingeflochten bleiben in das große Gewebe der Zeit. Krumm ist der Pfad der Ewigkeit. Heißt es nicht so, domnule Rohlfs? Niemand vermag zu sagen, wie viele Geheimnisse der schlammige Seegrund bereits birgt. Niemand."
Am Ende des Küstenabschnitts stand ein einsames Haus, das nur durch die im Wind trocknende Wäsche davor bewohnt aussah. Ansonsten hüllte sich die Landschaft um sie herum in hohes Schilf, so weit das Auge reichte. In weiter Ferne verschmolzen Kriegsschiffe der russischen Schwarzmeerflotte am Horizont mit dem Himmel.
Emilian glaubte Lenkwaffenkreuzer der Slawa-Klasse zu erkennen, deren Raketen eine Reichweite von neunzig Kilometern hätten und auf denen sechsläufige Gatlingkanonen des Typs AK-630 installiert seien. Diese böten eine hohe Schussfrequenz, deren Nachlademechanismus durch die Rotation des Laufbündels betrieben würde.
Rohlfs schenkte Emilians anschließendem Vortrag über die Zusammensetzung moderner Läufe und die Ideen des Freimaurers Richard Gatling allerdings nur mäßige Aufmerksamkeit, merkte sich aber, dass der Gedanke der Abschreckung im Vordergrund bei der Entwicklung seiner Schnellfeuerwaffe gestanden habe. Gebannt starrte Rohlfs stattdessen auf die Fransen eines vermutlich aus Tangu stammenden Teppichs, der am Horizont die hinteren Geschütztürme des Kreuzers beinahe zu streifen schien. Aufgeregt hielt Rohlfs Emilian an einen Fernstecher aus dem Wagen zu holen, während er selbst sich bemühte das unbekannte Flugobjekt im Visier zu behalten. Mit bloßem Auge erkannte er zwei Männer auf dem Teppich, die ihren rechten Arm weit nach oben streckten.
"Pentru emigranţii care sosesc cu vaporul", rief Emilian Rohlfs lallend entgegen, während er den Fernstecher wie ein Lasso über dem Kopf kreisen ließ. Im Bruchteil einer Sekunde verlor Emilian seine Standfestigkeit und stürzte über Rohlfs hinweg ins Schilfgras. Den Teppich verloren sie aus den Augen. Späterhin beteuerte Emilian, dass es sich ohnehin bloß um Turmwächter gehandelt haben müsse, ehrlose Türmer, die mit Trompeten, Flaggen und Lampen das Volk herbeizitierten, nichts weiter.
Fortan sang Emilian nur noch das Lied der Wolgaschlepper. Rohlfs hingegen fühlte sich in einem Zustand der Erleuchtung, jetzt, da das Ruder der Galeere abgelegt war, jedenfalls dasjenige, mit dem man von Angesicht zu Angesicht derer am Riemen zerrte, die sich zur Verfügung stellten. Die wiedergewonnene Freiheit hatte ihm das freundliche Lächeln der Muße und somit der Muse aufs Gesicht gezaubert, und so sah er erneut ein Bild, das ihm schon lange vorgeschwebt hatte: Es war ein Foto, das aus Fotos bestand. Jedes Bild zeigte einen in sich abgeschlossenen Gegenstand gleich welchen Stils. Aus einer mehr oder weniger definierten Entfernung ergab die Gesamtheit der Fotos wie die Pixel einer Bildschirmdarstellung ein eigenes Bild. Der Fantasie waren sehr wohl Grenzen gesetzt und auch wieder keine, zumal der Gegenstand, der sich auf diese Weise erschloss, beispielsweise kubistisch sein konnte, ein Symbol, oder was auch immer, dachte er. Trotz des beengten Raumes in der Fahrerkabine fühlten sich beide sehr viel wohler als sie am Vorabend gedacht hätten. Bislang jedenfalls plagten sie weder Kopfschmerz noch Schwindel, weder Ängste noch Zweifel, weder Gicht noch Rheuma. Emilian vermutete, dass ihnen die Anwohner des abgelegenen Hauses zurück in die Fahrerkabine geholfen haben mussten.
"Atunci mergem mai departe cu planurile de viitor, domnule Rohlfs", rief er schließlich unbeirrt und manövrierte den TV-14 C im Schritttempo in entgegengesetzte Richtung des Weges, den sie gekommen waren. Erst in Morskaya entschied sich Emilian den Transporter wieder auf die M 23 in Richtung Rostow zurückzusteuern. Er habe sich an der spätherbstlichen Landschaft und dem Ausblick auf das Meer nicht satt sehen können. Emilian fuhr weiterhin so langsam, dass selbst die wenigen Fahrradfahrer mühelos an ihnen vorbeizogen. Schon bald lenkte Emilian den TV-14 C in die Einfahrt einer Tankstelle des staatlichen Mineralölunternehmens Rosneft, nicht etwa um zu tanken, denn der Kraftstoff, den sie mit sich führten, sollte nach seiner Einschätzung mindestens bis Atyrau, also weitere rund zwölfhundert Kilometer reichen; vielmehr, so Emilian, müsse man die weitere Vorgehensweise noch einmal gründlich überdenken und hinterfragen, wofür eine Tankstelle des größten russischen Erdölkonzerns naturgemäß der ideale Standort sei. Man müsse sich außerdem ausgiebig stärken, die Wetterprognose abfragen, da schließlich der Winter vor der Tür stehe, und den Vormittag musikalisch ausklingen lassen. Für den Fall, dass man den Maler wider Erwarten nicht ausfindig machen könnte, sei es unbedingt ratsam die derzeitigen Kraftreserven rigoros zu nutzen und am Kaspischen Meer zu überwintern. Die Entscheidung hierfür liege letzten Endes freilich bei Rohlfs. Während Emilian sich mit Händen und Füßen auf ein Gespräch mit dem Tankwart bezüglich des Stellplatzes einließ, vertiefte sich Rohlfs in den Zustand seiner Uniform, die ihm, wie er fand, prächtig stand und bisher gute Dienste geleistet hatte. Ein wenig klamm fühlte sich die in der durchzechten Nacht feucht gewordene Hose schon an, aber die überschüssige Nässe würde aller Voraussicht nach bald abtrocknen.
Ein Jeep, Modell Defender mit deutschem Kennzeichen, parkte unmittelbar neben dem alten TV-14 C. Ein genaueres Nummernschild konnte Rohlfs nicht erkennen, hielt es jedoch aus unerfindlichen Gründen für ein Tarnkennzeichen. Sein Augenmerk galt vielmehr den Insassen, die er, ohne dass sich ihre Blicke begegnet wären, rasch musterte: Auf der Rückbank saßen eine recht kräftig wirkende Frau im Armeelook mit kantigen Gesichtszügen, üppigen Rundungen, nachlässig rot geschminkten Lippen, blond gesträhntem, auftoupiertem Haar und ein Bursche, ziemlich mürrisch, mit einer zerrissenen Jeans, einer weit aufgeknöpften, khakifarbenen Jacke mit Kapuze und Fellkragen, kahlrasiertem Schädel und Bart, beide vermutlich um die dreißig Jahre alt; vorne ein untersetzter, älterer Mann, ebenfalls mit Glatze, einfach, aber gut gekleidet mit einem blauen Tuchmantel, der das Lenkrad mit beiden Händen fest umklammerte, als ob ihn etwas in Rage versetzt hätte, auf dem Beifahrersitz ein hochkant gestellter Koffer.
Irgendein vertrauter Instinkt bewog ihn dazu seine Mütze aus der Jacke hervorzukramen und sie sich tief ins Gesicht zu ziehen. Er musste nun wie ein rumänischer Bauarbeiter auf Montage aussehen, dachte er. Zweifellos hatte die Frau auf der Rückbank eine gewisse Ähnlichkeit mit der letzten Sekretärin von First Lieutenant Striker. Mandy Righteous. Oder Macy? "You can show me all the necessary documents, I presume?", verhöhnte ihn Miss Righteous vor seiner Entlassung. Es sei die ausdrückliche Anordnung des Lieutenants die Unterlagen einzig und allein durch sie überbringen zu lassen, zumal es nicht nachvollziehbar sei, weswegen er den Bericht persönlich überbringen wolle. Sofern er ihr misstraue, solle er es nur gerade heraus sagen. Seine Tage im Amt seien ohnehin gezählt. "Anything you say or do can and will be held against you in a court of law." Saeed hatte die Lunte rechtzeitig gerochen und sich der Demütigung, als Saboteur entlarvt zu werden, durch seine Kündigung entzogen.
"What else was he, but a left-wing extremist?", hörte man die Angestellten im Nachhinein krächzen. Es hätte ohnehin nicht die geringste Möglichkeit gegeben, sich adäquat zu verteidigen.
Es gelang ihm dem Radioempfänger kurzerhand einige bluesige Klänge abzuringen, was ihm sofort das trügerische Gefühl vermittelte Herr der Lage zu sein.
"I won't slave for beggar's pay, likewise gold and jewels, but I would slave to learn the way to sink your ship of fools", dröhnte es aus dem Gerät und er gab dem Impuls nach den Refrain lauthals mitzusingen, bevor man ihn zu guter letzt doch noch verhaftete. Er hörte bereits das Klicken der Handschellen.
"Mein Fall ist doch klar", dachte Rohlfs. "Ich habe die Chance bekommen ein Ding durchzuziehen und sie genutzt. Na und? Ich habe von jeher Farbe bekannt und vor allen Dingen Weichenstellungen für die Zukunft vorgenommen. Wenn ihr es wünscht, nehme ich den hochkant gestellten Koffer ohne viel Federlesens vom Beifahrersitz, verstaue ihn in der Ladewanne und setze mich mit erhobener Brust schlankweg neben den Edelmann mit dem blauen Tuchmantel. Gestatten Sie? Mein Name ist Rohlfs und selbstverständlich bin ich nicht der, für den ich mich ausgegeben habe. Ich gestehe nachgerade alles, freiheraus, ohne Umschweife, ohne Zaudern oder Zagen. Sie können mich schlagen, mich einsperren oder aufhängen, es bleibt jedoch dabei: Es ist eine rein persönliche Angelegenheit! Ein von der Welt losgelöster, gewissermaßen übergreifender Auftrag, fast ohne Pathos, jenseits der Absperrgitter und Müllcontainer! Grenzenlos! Verstehen Sie? Und kein Gott sei im Spiel, außer es hat sich eine Verstrickung ergeben, die einen Befreier verlangt. Das Überwechseln ins feindliche Lager ist und bleibt völlig inakzeptabel! Verstehen Sie? Wir müssen unweigerlich auf den richtigen Zeitpunkt warten. Illusionen bestimmen unser Tun in der Wirklichkeit. Unser System würde ohne den Glauben an den Geldfetisch nicht funktionieren und gleichzeitig müssen wir unser Wissen, dass wir damit lediglich eine Illusion aufrechterhalten, von Grund auf verdrängen. Hören Sie mich? Es mag sonderbar erscheinen, dass Saeed in jüngster Zeit auf einem vom Wind getragenen Teppich aus Tangu in Erscheinung tritt, doch ist dies nichts weiter als Pose, Provokation vielleicht, die gewiss große Manipulationsmacht besitzt. Zweifelsfrei dürfen wir davon ausgehen, dass diese Geste der Abschreckung dient und dem, der sich fürchtet, in keiner Weise schadet. Hören Sie mich? Wenn nur Miss Righteous die Freundlichkeit besäße das Nasebohren zu unterlassen. Mit Sicherheit ist das nicht zu viel verlangt. Das ist fernab meines Verständnisses und freilich müssen Sie zugeben, dass ein solches Verhalten der Situation nicht angemessen sein kann. Meinen Sie nicht auch, dass hier der Staat in der Verantwortung bleiben muss? Ich weiß wirklich zu schätzen, was Sie für mich getan haben, doch man muss die Welt sehen, wie sie wirklich ist. Im leeren Raum frisst man sich entweder selbst auf oder man wird gefressen. Meinen Sie nicht auch?" Miss Righteous' teilnahmsloser Blick schien sagen zu wollen: "Oh well, for God's sake, we all have hard luck sometimes. We all need to realize this reality." Gelangweilt schob sie sich einen Kaugummi zwischen die schneeweißen Zähne und fing an sich ihre rot lackierten Fingernägel zu feilen.
Der mürrische Bursche verließ aufs Geratewohl den Jeep und positionierte sich abseits des Parkplatzgeländes in der Kampfstellung eines Boxers: Sein linkes Bein stand vorne, das rechte Bein hinten, beide Beine waren leicht gebeugt, die Fäuste befanden sich als geschlossene Deckung in Kinnhöhe. Aus der Deckung heraus streckte er seinen linken Arm ohne Ausholbewegung auf direktem Wege nach vorne, die Beine drückten sich gleichzeitig ab, die Hüfte wurde leicht seitlich abgedreht.
Nach einem ersten Schlag gegen einen imaginären Gegner zog er den Arm auf gleichem Wege zurück, drehte die Hüfte in die Ausgangskampfstellung ein und beugte die Knie wieder leicht. Schließlich streckte er den rechten Arm nach vorne, drehte die Hüfte und den Fuß nach vorne ein um sich danach auf gleichem Weg zurück in die Ausgangslage zu begeben. Auf diese Weise trainierte der Bursche über einen längeren Zeitraum die linke und die rechte Gerade sowie den Seitwärtshaken, indem er gleichzeitig den linken Arm mit der Schulter seitlich anhob und die Hüfte und den vorderen Fuß nach innen eindrehte, wobei sein Arm keine Ausholbewegung machte, sondern auf kürzestem Wege zum Kinn oder zur Schläfe des Gegners mitgeführt wurde.
Rohlfs begann sich unterdessen ernstlich Sorgen über den Verbleib und das Wohlergehen von Emilian zu machen. Wie lange mochte es dauern, ehe der Tankwart ihnen die Genehmigung für einen Stellplatz auf dem Parkplatzgelände erteilte? Emilians Russischkenntnisse beschränkten sich allenfalls auf ein paar Brocken, die aus seiner Schulzeit hängengeblieben waren. Die Trainingseinheiten des Boxers zogen sich bereits über einen längeren Zeitraum hin.
Vielleicht gelang es Rohlfs anhand der Radiobeiträge herauszufinden, wie lange er bereits wartete, auch wenn er diese bisher nur vage wahrgenommen hatte. Er erinnerte sich an die Stimmen von Jerry Garcia, John Cale, Robert Plant, Andy Bell, Peter Hammill und Bob Seger, die alle auf ihre Weise das Narrenschiff besangen, was sich ihm nunmehr mit befremdender Deutlichkeit aufdrängte. Überdies fiel ihm im Nachhinein in der Moderation des russischen Radiosprechers die stete Wiederholung der Wörter Mars Hotel und korabyl durakov auf.
Nach seiner Einschätzung musste inzwischen mindestens eine halbe oder sogar eine dreiviertel Stunde vergangen sein. Weshalb zögerte man so lange mit seiner anstehenden Verhaftung? Durfte er sich etwa noch immer der abwegigen Illusion hingeben, dass man ihn gar nicht erkannt hatte?
Eben noch hatte er in seiner Anmaßung gedacht, die Wellen des Meeres müssten ihm gehorchen und er könnte die höchsten Berge auf der Waagschale wiegen, als Emilian missgelaunt in die Fahrerkabine des Wagens kletterte und ohne weitere Umschweife den Motor startete.
Aus dem Radiogerät schallte die dunkle Stimme Jim Morrisons: "The human race was dying out. No one left to scream and shout. People walking on the moon. Smog will get you pretty soon." Im Vorbeifahren sah Rohlfs, dass der untersetzte Mann im blauen Tuchmantel an einem Hörgerät herumnestelte.
Ohne ein Wort mit Rohlfs zu wechseln lenkte Emilian den Transporter durch Rostow. Es schien völlig außer Frage zu stehen, dass man weiterhin nach dem Maler Ausschau hielt. Halbherzig blickte Rohlfs hinaus auf die Stadt der fünf Meere und lauschte ungerührt der nicht enden wollenden elegischen Musik von Vyacheslav Artyomov, die Emilian zumindest ein wenig besänftigte. Gleichwohl wusste Rohlfs, dass Emilian ihm früher oder später von der Begebenheit mit dem Tankwart berichten würde.
Emilians Gesicht zierte ein voller weißer Bart. Vielleicht durfte man sich so einen Weisen vorstellen, dachte Rohlfs, glaubte aber gleichzeitig, dass sein Eindruck von der Symphonie der Elegien beeinflusst sei, die allem um ihn herum Harmonie und Glanz verlieh. Auch ihm wuchs das Haar aus allen Poren bis hinab zum Hals. Noch vor seinem Treffen mit Reich hatte er sich glatt rasiert und seine Haare vor dem Badezimmerspiegel abgeschnitten. Anschließend, so erinnerte er sich, verspürte er das, was er als die unerträgliche Müdigkeit als Grund für seinen Aufbruch bezeichnete. Apathisch schlug er sein Skizzenbuch an einer beliebigen Stelle auf und las dort die Worte: Gerade am Tisch sitzend teilt sie in der Rolle der Richterin, die wie einstudiert wirkt, kaum wahrnehmbare Demütigungen aus. Ihr Gesicht ist verhärmt, ihr überlegenes Lächeln Fassade. Die Erpressung erfolgt in harter Währung. Rohlfs zwirbelte lange an seinem Bart, dann rückte er sich die selbstgestrickte Mütze zurecht.
Um die Zeit zu vertreiben und sich mit dem kyrillischen Alphabet vertraut zu machen, notierte er sich Namen der Vororte und kleinen Städte außerhalb von Rostow, die er mit festem Druck quer über die Zeilen schrieb, die er soeben gelesen hatte, vermutlich um sie bis zur Unkenntlichkeit zu entstellen. Manches Mal fügte er den Namen auch Brocken hinzu, die ihn unversehens durchfuhren: Mayakovskogo, Lenina, Divnyy, Abkapselung, capsula, Behälter, Kanister, ein aus Rohr geflochtener Korb, Slava Truda, Übermittlung durch Ausstrahlung elektromagnetischer Wellen, in der Sprache der Zimmerleute ist das Haus gerichtet, wenn der Dachstuhl fertig ist, Signum, das Zeichen, eingeschnittene Marke, der Maler, Kolja Konstantinov, Kapsel, in einer Linie stehen, fluchten, Zimmerflucht, Fluchtlinie, Fluglinie, fliegendes Blatt, Usman, Usman, Florence André und Florence Porcel, geistige Weite und irdische Enge, Elegiensinfonie, Krasnodonskiy, Elkin, another gas station, Artyomovs Lamentations, Way to Olympus, The Morning Star Arises, On the Threshold of a Bright World, Gentle Emanation, Artyomovs Requiem, gewidmet dem Gedenken der Opfer des kommunistischen Terrors in Russland, Verkündigungen, Zeichen, Ave, maris stella, Dei mater alma, atque semper virgo, felix cœli porta, Salve, Regina, Mater misericordiæ, vita, dulcedo, et spes nostra, salve, Auslegungen, Zeichen, Verkhneyanchenkov, Kudinov, Übermittlung durch Ausstrahlung elektromagnetischer Wellen, The Universe of Absence, Azhinov, an Sankt Lucia ist der Abend dem Morgen nah, Lucia, die Leuchtende, Prophetien, Auslegungen und Verkündigungen der Orakelsprüche, Winger, "Smog will get you pretty soon", Spur, Sporn, also genau genommen Tritt, ein vom Wind getragener Teppich aus Tangu, korabyl durakov, Karpovka, Reich, die Richterin, eine Art verkümmerter Spatz, un fel de vrabioi inchircit, another gas station, got lost at a gas station, the day I lost my wife and my daughters, arrested for being a suspect, at the gas station where I go to get gas almost every week, Kanister, ein aus Rohr geflochtener Korb, Mann in blauem Tuchmantel mit einem Hörgerät, in Maß und Norm, Miss Righteous' Rachefeldzug, ein Boxer, Erpressung in harter Währung, Susat, Topilin, Krutoberezhnyy, Bolshaya Orlovka, Bolshaya Martynovka, Mars Hotel, another gas station, korabyl durakov, korabyl durakov, korabyl durakov, Razdorskiy, Arabia Terra, Utopia, Bernard Ferdinand Lyot, Tyrrhena Terra, Hesperia Planum, Daedalia Planum, Thaumasia Planum, Mare Sirenum, Way to Olympus, Olympus Mons.
Der Maler habe sich, so Emilian, noch immer verstimmt, in Zimovniki, bereits im vergangenen Winter an der Nordostküste des Kaspischen Meeres, nicht weit entfernt von Atyrau, niedergelassen um in den Erdölfeldern von Tengiz seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Er klage indes längst über Atemwegsbeschwerden. Der Tankwart aus Rostow wisse aus sicherer Quelle, dass Konstantinov seinen Weggang von langer Hand geplant und es seit geraumer Zeit aufgegeben habe sich weiterhin unter Namenlosen einen Namen machen zu wollen. Emilian sei, so der Tankwart, bereits der Dritte, der sich nach dem Maler erkundigte.
Der Defender habe schon am Vormittag hier geparkt und mehrmals sei ein untersetzter Mann mit einem Hörgerät mit der sonderbaren Bitte auf ihn zugekommen nach einem heruntergekommenen Deutschen Ausschau zu halten, der Zuflucht bei einem Maler suche und eine Gefahr für die nationale Sicherheit darstelle. Er trüge, so der Mann mit dem Hörgerät zu dem Tankwart, Dinge bei sich, wertvolle Dokumente, goldene Datenplatten und ein Notizbuch. Der Deutsche bräche fortwährend das Gesetz. Auch ein Mann namens Petrică wolle den Deutschen um jeden Preis zu fassen bekommen und gehe mit aller Sicherheit davon aus, dass er spätestens hier, an einer Tankstelle des staatlichen Mineralölunternehmens Rosneft, sein weiteres Vorgehen noch einmal gründlich überdenken und hinterfragen werde. Petrică sei im Übrigen in Begleitung einer Frau mit dem Namen Francesca gewesen, die ihm schließlich für eine ganze Menge Geld, zwanzigtausend Rubel seien es gewesen, die jetzige Adresse des Malers abgerungen habe. "Natürlich wollte der Tankwart, dieses Arschloch," sagte Emilian und fügte in seiner Muttersprache hinzu, "asta cu gura bine conturată pe o bortă de cur, o grămadă de bani, einen Haufen Geld, domnule Rohlfs, und aus irgendeinem Grund gab ich dem Kerl ein paar Scheinchen, rund dreihundert Dollar müssen es gewesen sein, dreihundert Dollar für die Adresse des Malers. Der Truppe im Defender wird der Kerl natürlich aufs Genaueste Rede und Antwort gestanden haben, noch ehe wir in Rostow waren. Trotzdem glaube ich, domnule Rohlfs, dass ich dem Kerl mit Händen und Füßen weismachen konnte, dass wir es lediglich auf den Maler abgesehen und selbst ums Überleben zu kämpfen hätten. Es gehe um geschäftliche Angelegenheiten, nichts weiter. Dass ich dennoch mit den Scheinchen zu wedeln anfing, futu-ţi Cristosu' mă-tii să-ţi fut, war zweifellos ein Fehler und ich könnte nicht einmal genau sagen, weshalb. Bisher scheint uns zumindest niemand gefolgt zu sein und wir sind schon verdammt weit gekommen. Wenn wir ohne Zwischenfälle in diesem Tempo vorwärtskommen, domnule Rohlfs, sind wir spätestens gegen Mitternacht an der kasachischen Grenze. Mehr als hundert Sachen lassen sich aus dem TV-14 C eben nicht rausholen. Den Berg runter vielleicht. Sollten wir uns den Maler trotz allem nicht einfach aus dem Kopf schlagen? Was meinen Sie? Seltsam genug, dass ein dahergelaufener Tankwart etwas über den Verbleib des Malers wissen sollte. Ein Grund mehr sich aus dem Staub zu machen, nicht wahr? Schnurstracks in Richtung Baikonur. Şi, cu asta, basta!"
Rohlfs wand ein, dass man es sicher nicht so furchtbar eilig habe, selbstverständlich aber auf die Begegnung mit dem Maler verzichten könne, zumal man nunmehr davon ausgehen müsse, entweder von Petrică und Francesca oder dem Defender in Empfang genommen zu werden. Höchstwahrscheinlich sei der Tankwart nicht vertrauenswürdig. Davon abgesehen könne sich der Tankwart das Geld sonst wohin stecken. Vermutlich kämpfe auch er bloß gegen die eigenen Vorbehalte.
Horner sei der Name des Mannes mit dem Hörgerät gewesen, fiel Emilian kurz hinter Elista ein, nachdem er sich mit angespannter Aufmerksamkeit lange auf die dichte Verkehrslage konzentriert hatte. Rohlfs hingegen musste über dem Studium und Verfassen seiner Notizen eingeschlafen sein. Sein Skizzenbuch lag jedenfalls aufgeschlagen vor seinen Füßen auf der löchrigen Fußmatte des Wagens. Ob Rohlfs diesen Namen vielleicht schon einmal gehört habe, fragte Emilian, woraufhin Rohlfs verschlafen erwiderte er kenne bloß einen englischen Mathematiker des neunzehnten Jahrhunderts gleichen Namens, der die Wundertrommel, das Daedalum, erfunden hatte, das die Illusion eines kontinuierlichen Bewegungsablaufs erzeugt. Als Kind habe er ein solches Spielzeug besessen. Es sei ein Geschenk seines Großvaters Alois gewesen.
Emilian bedauerte es sehr durch Kalmückien zu fahren ohne an dem buddhistischen Tempel Halt gemacht zu haben. Das sei unverzeihlich, betonte er, ohne weiter auf Horner und die Wundertrommel einzugehen. Wenigstens habe er von der Straße einen kurzen Blick auf den Tempel erhascht. Nach der Oktoberrevolution 1917, so Emilian, seien alle Tempel und Klöster in Kalmückien zerstört und die Mönche getötet oder als Gefangene in Arbeitslager deportiert worden. Sie seien erst nach dem Tod Stalins nach Kalmückien zurückgekehrt. Vermutlich werde er auch die Moscheen Astrachans nicht mehr sehen können, da es zum einen bald dunkel werde und er es vorziehe die Nacht irgendwo außerhalb der Stadt an der Wolga zu verbringen. Hiervon wolle er sich unter keinen Umständen abbringen lassen. Den TV-14 C habe er sicherheitshalber irgendwo unweit von Zimovniki, genau genommen zwischen Marchenkov und Glubokiy, auf einem verlassenen Feldweg vollgetankt. "Eine Sauerei ist das gewesen, domnule Rohlfs. Mindestens einen halben Kanister habe ich verschüttet. Geschnarcht haben Sie, domnule Rohlfs, wie eine Motorsäge. Zwei Flaschen Kagor habe ich getrunken. Und dann haben auch noch die Batterien den Geist aufgegeben. Radionuklidbatterien sollten wir uns besorgen, domnule Rohlfs! Es ist schon besser die Grenze in Kotyayevka erst im Morgengrauen zu überqueren. Mein Alkoholpegel ist wohl mit jeder Straßenverkehrsordnung der Welt unvereinbar. Am Lenkrad übertrift mich jedoch keiner so ohne Weiteres. Beschleunigung ist Sozialismus, Genosse Rohlfs, das hat der Kommunismus uns gelehrt. Diesen Betrug nennt man heute Globalisierung. Was für eine Ironie der Geschichte! Ob im Osten oder Westen, im Norden oder im Süden, den Reibach teilen sich eine Handvoll Lumpenhunde. Legen Sie ruhig neue Batterien ein, Genosse Rohlfs. Die Revolution, heißt es bei Towarischtsch Lenin, sei Kommunismus plus Elektrizität. Die kalmückische Steppe macht mir die Augen schwer. Ist das nicht Wüstensand da hinten auf der Straße? Sehen Sie die kalmückischen Reiter am Horizont, Towarischtsch Rohlfs? Reiterschwadronen. Hierher verirrt sich niemand einfach so ohne Grund. Selbst der Straßenverkehr ist wie weggeblasen. Vor uns niemand, hinter uns niemand. Das ist tatsächlich Wüstensand, Towarischtsch Rohlfs! Wüstensand! Am nächsten Tempel machen wir Halt!"
Rohlfs friemelte einige Zeit an dem Radiogerät herum, bevor es ihm gelang dem Empfänger Energie zuzuführen. Allzu geschickt stellte er sich ganz gewiss nicht dabei an, zumal er seine Brille nicht hatte finden können. Er schaltete das Gerät indessen nicht ein. Die kalmückischen Reiter verschwanden allmählich aus seinem Gesichtskreis, während sich die Steppe zunehmend in Wüste zu verwandeln schien. In Jaschkul hielt Emilian den Wagen schließlich vor einer kleinen Tempelstätte an, weniger allerdings der stillen Andacht wegen als um einen Teil des Weinvorrats in die Fahrerkabine zu befördern. In der Nähe von Utta bemerkte Rohlfs im Vorbeifahren einen dunklen Mercedes Pullmann, der auf einem Parkplatz neben einer Tankstelle mit Raststätte abgestellt worden war. Durch das geöffnete Fenster folgte der Beifahrer mit dem Kopf dem TV-14 C. Eine hellblonde Frau in einem langen Pelzmantel und einer Pelzmütze mit einer dicken Schildpattbrille lehnte am Kofferraum des Wagens und rauchte hastig.
In Khulkhuta tauschte Emilian ein Waschbecken aus Aluminium gegen eine Kiste Wein aus der Region Krasnodar bei einem Krämer am Straßenrand, der ihnen ein Lager für die Nacht anbot, das sie jedoch dankend ablehnten. "Că la noi în România", lobte Emilian die kleine Siedlung, an deren Ende ihnen die monumentale Antenne auffiel. "Hier, am Rande der Wüste, sollte der Empfang überwältigend sein. Was meinen Sie, domnule Rohlfs? Weshalb schalten Sie das Gerät nicht ein?" - "Ich kann meine Brille nicht finden." - "Vielleicht liegt sie unter Ihrem Skizzenbuch. Haben Sie sie dort schon gesucht?" - "Haben Sie den Pullmann gesehen?" - "Saß da etwa ein Bischof drin, Towarischtsch?" - "Das neben Reich muss Wilhelmy gewesen sein, Emilian. Ich bin mir nicht sicher." - "Treten Sie nicht auf Ihrer Brille herum, domnule Rohlfs. Că la noi în România! In Khulkhuta würde es mir gefallen. Am Rande der Wüste. Karawanen, Lamas, Reiterschwadronen und Gestalten, mit Geist besselt; es hatte jegliche vier Angesichter; Leib und Flügen waren, wie mit Sternen, dicht mit Augen, funkelnd übersät, so auch die Räder unseres TV-14 C. Soll ich den Wagen vielleicht irgendwo anhalten, dass wir ihre Brille suchen können, domnule Rohlfs?" - "Fahren Sie nur weiter, Emilian. Beschleunigung ist Sozialismus." - "Hören Sie mich? Astrahan, Astrahan, Astrahan! Oh, musulmane, eşti ca şi rusul, şi rusul ar putea fi musulman. Ochi blânzi, puţin îngustaţi aproape ca un cadru de oblon. Oh, Hlebnikov, copilul Astrahanului. Hlebnikov, der Vorsitzende der Erdkugel." - "Pobeda nad solnzem." - "Den Berg runter schaffen wir ein wenig mehr als hundert Sachen. In wenigen Tagen beginnt es zu schneien. Man kann das riechen, domnule Rohlfs." - "Die Frau am Kofferraum, Emilian. Ist Sie Ihnen aufgefallen?" - "Ich bemühe mich solchen Gestalten möglichst keine Beachtung zu schenken. Verstehen Sie? Möglichst keine Beachtung." - "Ich kenne diese Frau." - "Constance vermutlich." - "Das weiß ich nicht. Man kann das nicht wissen." - "Verzagen Sie nicht." - "Wilhelmy neben Reich." - "Wüste, so weit man blicken kann, domnule Rohlfs, Finsternis. Öffnen Sie eine Flasche Wein für mich, domnule Rohlfs. Vielleicht sollten wir besser direkt über die Grenze ans Kaspische Meer fahren. Ich verzichte aus freiem Willen auf die Wolga, Towarischtsch." - "Noch eine Flasche Wein?" Erneut sang Emilian das alte russische Volkslied: "Ei, uchnem! Ei, uchnem! Jeschtscho rasik, jeschtscho da ras! Ei, uchnem! Ei, uchnem! Jeschtscho rasik, jeschtscho da ras! Rasowjom my berjosu, Rasowjom my kudrjawu! Aj-da, da aj-da, Aj-da, da aj-da, Rasowjom my kudrjawu. My po bereschku idjom, Pesnju solnyschku poiom. Aj-da, da aj-da, Aj-da, da aj-da, Pesnju solnyschku poiom. Ei, ei, tjani kanat silnei! Pesnju solnyschku poiom. Ei, uchnem! Ei, uchnem! Jeschtscho rasik, jeschtscho da ras! Ech ty, Wolga, mat-reka, Schiroka i gluboka, Aj-da, da aj-da, Aj-da, da aj-da, Wolga, Wolga, mat-reka." Nachdem Rohlfs die Flasche geöffnet hatte, faltete er die Hände und stimmte mit ein in den Gesang. Emilian lavierte den Transporter mit einer Hand über die A 154 durch die Wüste bis hinein in fruchtbareres Land. Die leere Flasche warf er zum Fenster hinaus. "Kaviar, Erdöl und Gas! Genießen Sie den Anblick der Wolga, Rohlfs!"
Im Oblast Astrachan bog Emilian sehr langsam, fast im Schritttempo, auf die E 119 ab und wählte schließlich die E 40 in Richtung Solyanka. Die Wolga überquerten sie zweimal kurz hintereinander im zweiten Gang. Der belebte Straßenverkehr und das Lichtermeer in und um Astrachan herum, irritierten Emilian in keiner Weise.
Unweit von Leninskij fand Rohlfs seine Brille auf der Fußmatte links unterhalb des aufgeschlagenen Skizzenbuchs. Das Brillengestell war zwar unbeschädigt, aber das rechte Brillenglas war stark zersplittert und zur Hälfte herausgefallen. Mit dem linken Glas hingegen gelang es ihm die winzigen Schriftzeichen in deutlicher Schärfe zu entziffern.
Die aufgeschlagenen Seiten des Buchs offenbarten Rohlfs die Abschrift eines Schreibens von Alois, in dem er seine politische Vergangenheit darstellte.
Mein Name befindet sich nicht auf der hier am Ort bekannt gemachten Liste der Entlasteten. Ich ersehe hieraus, dass die Spruchkammer Lauterbach – wegen Mitgliedschaft in SA, NSV, NSLB, LSB und Kolonialbund – über meine Person verhandeln wird. Ich bitte die nachfolgenden an Eides statt gemachten Erklärungen den Akten meines Falles beizufügen. Sicher werden die eigenen Eindrücke des Betroffenen, die er in solcher zusammengefassten Form besser schriftlich als mündlich geben kann, den Richter interessieren.
Meine Abberufung aus dem hessischen Schuldienst mit Wirkung vom 11.04.1933 (Dekret des Hessischen Ministeriums für Kultus und Bildungswesen K.M.VI.36853 vom 05.04.1933, gez. Ringshausen) war – unter Einziehung meiner Bezüge als Schulamtsanwärter – auf die Tatsache meiner langjährigen Mitgliedschaft in der SPD, Ortsgruppe Mainz, zurückzuführen, wohl auch darauf, dass ich meinen sozialdemokratischen, pazifistischen, antifaschistischen Standpunkt gegenüber den Stahlhelmern und Hitleranhängern unter meinen Kollegen in zahlreichen Diskussionen während der Pausen auf dem Schulhof in scharfer Weise vertreten habe. (Lehrer Stauder bezeichnete im Jahre 1930 in Mainz-Kostheim mein Auftreten ihm, dem Kriegsteilnehmer, gegenüber als das eines "Lausbuben". Lehrer Brunn forderte mich in Mainz-Bretzenheim im Frühjahr 1933 auf, doch ins Ausland zu gehen, für Leute wie mich sei in einem nationalen Deutschland kein Platz mehr.)
Zwischen 1920 und 1933 war ich freier Mitarbeiter des sozialdemokratischen Mainzer Parteiblattes in kulturellen Fragen. Die Belegstücke befinden sich in meinem Besitz. Auch eine pazifistische und eine linksstehende pädagogische Zeitschrift, die Neue Erziehung, Organ des Bundes entschiedener Schulreformer, dessen Mainzer Ortsgruppe ich angehörte, brachten Artikel aus meiner Feder. Gelegentlich sprach ich in der Jugendorganisation meiner Partei sowie in Gewerkschaftsversammlungen.
Meine Entlassung bedingte, da ich ohne eigenes Vermögen war und von Seiten meiner Eltern keinerlei Unterstützung haben konnte, die Inanspruchnahme von Mitteln des städtischen Wohlfahrtsamtes Mainz. (Mein Vater war Geschäftsführer des Deutschen Metallarbeiterverbandes Mainz und wurde ebenfalls aus seiner Stellung entfernt. Meine Schwester, Angestellte in einem jüdischen Unternehmen, das sich verkleinerte, wurde entlassen. Als Tochter meines Vaters wurde ihr längere Zeit die Zuweisung einer Stellung vom Arbeitsamt verweigert.) Meine Frau und ich versuchten bis zu einer erhofften Änderung der Lage zusätzlich zu verdienen, ich durch den Abschluss von Versicherungen für die Allianz Vers.Ges., meine Frau durch den Vertrieb von Wäsche. Der Verdienst, besonders aus dem Versicherungsgeschäft, war entmutigend gering, was ohne Zweifel meiner geringen geschäftlichen Begabung zuzuschreiben war. Eine mir mehr zusagende Tätigkeit, etwa in der Presse, war für mich infolge meiner politischen Einstellung unmöglich. Meine bisherige Zweizimmerwohnung konnte ich nicht halten und musste mich mit zwei engen Mansardenkammern begnügen.
Ich glaube, dass die Spruchkammer den Zustand der seelischen Depression würdigen wird, der sich aus dem Brachliegen meiner eigensten Kräfte, insbesondere meines pädagogischen Wissens und Könnens, und aus einer anscheinenden Aussichtslosigkeit, je wieder in meinem Beruf arbeiten zu können, ergab. Hinzu kam der niederschmetternde Eindruck, den die politischen Geschehnisse im März 1933 und die nachfolgende Entwicklung des NS-Staates auf mich und auf fast alle meine Bekannten machten. Ich beobachtete Umfang und Tiefe der nationalsozialistischen Seuche und sah, wie das deutsche Volk durch die brutalen, aber raffiniert inszenierten Taten der NS-Regierung in seiner Verblendung noch bestärkt wurde. Ein Ende war nicht abzusehen, zumindest nur von wenigen. Der Lügenvorhang war zu dick gewebt.
Die auf den Gebrauch des Verstandes, auf Wissen und innere Anständigkeit berechneten liberalen Wege der politischen Erziehung, wie sie von meiner Partei vor dem Jahr 1933 angewendet worden waren, schienen durch das erfolgreiche Auftreten Adolf Hitlers als unwirksam erwiesen. Der durch die Entwicklung der technischen und kapitalistischen Kräfte geforderte Sozialismus trat nicht direkt, das heißt auf dem Wege der parlamentarischen Demokratie, sondern zunächst in der verfälschten, nationalsozialistischen Form durch den autoritären Staat eines Hitler oder Mussolini in Kraft. Eine solche Zwischenstufe – und die geschichtliche Entwicklung ist ja immer Umwege gegangen! - konnte, wie damals auch in meinen Kreisen angenommen wurde, Jahrzehnte in Anspruch nehmen. Und dies wäre ohne Zweifel der Fall gewesen, wenn sich Hitler nicht in das Abenteuer des Krieges gestürzt hätte. Dann hätten die Großmächte der Entwicklung des Nationalsozialismus noch lange zugesehen und dieser hätte das politische Leben in Deutschland auf unabsehbare Zeit formen können. (Freilich lag es im Wesen des faschistischen Staates zu kriegerischen Konflikten zu treiben.) Die seelischen Wirkungen, die solche – wenn auch nicht hundertprozentig zutreffenden – Erkenntnisse hatten, kann nur der ermessen, der in denselben Schuhen gestanden hat.
In dieser Lage und unter diesen Eindrücken empfahl mir jemand mich an den Vorsitzenden des NSLB in Mainz, Studiendirektor Dr. Michel zu wenden, der ein "Mensch" sei und sich bei der Regierung für meine Wiedereinstellung verwenden könne. Ich müsse freilich versprechen mich in den neuen Staat einzufügen. (Äußerlich haben das die im Lande Verbliebenen auch alle getan.) Der Bruch in meiner bisherigen geraden politischen und charakterlichen Entwicklung besteht nun darin, dass ich um meiner und meiner Familie (Frau und Kind) Existenz willen – und auf andere Weise konnte ich nicht existieren, wollte ich nicht materiell und geistig verelenden – beschloss dieses Versprechen zu geben. Es bedeutete eine dauernde Lüge, denn ich konnte mich natürlich zu diesem Staat nicht positiv stellen. Niemals habe ich für diesen Staat oder in seinem Sinne Propaganda gemacht. Meine Feierstunden (1. Mai, u.s.w.) enthielten immer nur Gedankengänge, die ich auch von meinem Standpunkt aus billigen konnte - und solche haben sich die Nationalsozialisten bekanntlich in reichem Maß aus fremdem Gedankengut angeeignet. Ich ging zu Dr. Michel, sprach zu ihm von meinen Nöten und versuchte ihm meine politische Harmlosigkeit durch Vorlage meiner lyrischen Gedichte zu beweisen. Ich nehme an, dass Dr. Michel sich für mich eingesetzt hat, denn bei einer darauffolgenden Vorsprache im Ministerium in Darmstadt wurde ich von einem jungen Beamten, Herrn Siebert, empfangen und auf eine kurze Schilderung meiner politischen Entwicklung und auf das Versprechen mich anzupassen für den 1. September 1933 zur Wiedereinstellung vorgemerkt. Auf diesem meinem Schritt zurück in den Staatsdienst beruhen meine nachherigen Beziehungen zu einigen NS-Organisationen: Wer mit dem Teufel umgeht, macht sich rußig. Bevor ich jedoch auf diese Beziehungen eingehe, möchte ich auf meine Jahre hindurch bestehenden Minderwertigkeitskomplexe und lästigen, auf Zwangsvorstellungen beruhenden, nervösen Störungen hinweisen, die ich als die seelischen Folgen der erlittenen inneren Erniedrigungen betrachte. So konnte ich etwa selbst im kleinsten Kreis von Kollegen oder sonstigen Personen keine drei Sätze mehr sprechen ohne in Verwirrung zu geraten und mich heillos zu verhaspeln, während ich früher vor hunderten von Menschen stundenlang freie Ausführungen gemacht hatte. Was ich ferner beim Heben des Armes zum Hitlergruß, wozu ich als Beamter verpflichtet war, empfand, kann nur der nachfühlen, der eine ähnliche Entwicklung durchgemacht hat.
Warum ich im Oktober 1933 dem LSB beitrat? Man wollte durch Abseitsstehen nicht auffallen. Ich empfand das Ganze als eine nationalistische Stimmungsmache und glaubte nicht, dass dies wirkliche Kriegsvorbereitungen wären.
Einige Zeit nach meinem Wiedereintritt wurde mir in der Schule ein Antragsformular für den Eintritt in die SA vorgelegt. Ich glaubte nicht ablehnen zu können, wenn ich mein Versprechen der "positiven Einstellung" nicht selbst widerrufen wollte. Aber jedes Anlegen des Braunhemdes und jeder SA-Dienst waren ein wahres Martyrium für mich. Ich fehlte häufig und war auch sonst keine Zierde des "Sturmes". Durch ein Gesuch, in welchem ich Studien zum Zwecke der Vorbereitung auf die Mittelschullehrerprüfung vorschützte, machte ich mich nach einem halben Jahr, am 31.08.1934, aus dieser Enge wieder frei.
Um meine geistige Verfassung auch nach meinem Wiedereintritt in den Schuldienst zu kennzeichnen, erwähne ich folgenden Vorfall aus dem Jahr 1935 oder 1936: Ein Kollege an der Schule in Mainz-Weisenau erzählte in witziger Weise auf dem Schulhof, er habe zugesehen, wie ein deutscher Soldat einem unvorsichtigen Franzosen, der aus dem Schützengraben stieg um seine Notdurft zu erledigen, "eins hinten reingepfeffert" habe. Der Franzose habe gerufen: "O maman!" und sei lautlos umgesunken. Die Darstellung erregte große Heiterkeit. Ich erklärte empört, dieser Deutsche sei ein "Schweinehund" gewesen.
Der Kollege, der meiner Vermutung nach selbst jener "Held" gewesen sein könnte, nahm meine Äußerung sehr übel und drohte, sie als defaitistisch und unnational höheren Orts zu melden. Ob meine bald darauf erfolgte Versetzung nach Offenbach hiermit zusammenhing, kann ich nicht sagen.
In die NSV, am 01.05.1934, einzutreten hatte ich weniger Bedenken, da ich diesen Einsatz – obwohl die NSV meinen Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit in keiner Weise entsprach – für politisch und moralisch unerheblich ansah. Es war für mich eine Möglichkeit der Tarnung mehr.
Wie viele andere Lehrer wurde ich aufgefordert als Jugendhelfer der NSV-Jugendhilfe zu fungieren, wobei ich den Zustand von Pflegekindern zu überwachen hatte. Auch hier erhob ich keine Einwände, denn ich hatte dieselben Obliegenheiten schon vor 1933 im Auftrag des Oberbürgermeisters von Mainz wahrgenommen. Jetzt zählte die Jugendfürsorge zu den Aufgaben der NSV.
Nach meiner Versetzung nach Offenbach im Jahr 1936, wo ich diese Tätigkeit fortsetzte, wurde ich von meinem Ortsgruppenleiter mit der Ordnung der Jugendhilfe-Ortsgruppenakten und der Weiterleitung der von der NSV-Kreisamtsleitung übermittelten Überwachungsaufträge an die Jugendhelfer beauftragt. Um ein Amt mit selbstständigen Befugnissen hat es sich hierbei nicht gehandelt. Am 01.01.1936 wurde ich in den NS-Lehrerbund aufgenommen. Das wurde in Lehrerkreisen als besondere Ehre angesehen und die Nichtbeachtung oder gar Ablehnung dieser Möglichkeit wäre mir von Vorgesetzten und Kollegen übel ausgelegt worden. Betätigt habe ich mich in dieser Organisation nicht, es gab auch keine Möglichkeit dazu. Jedoch habe ich im Jahr 1940 in der Beilage zum "Deutschen Erzieher" einen Aufsatz über das Thema "Kraftfeld der Volkssage" veröffentlicht, in welchem ich Ansichten von rein pädagogischem Interesse vortrug, die ich schon vor der Regierungszeit Hitlers hatte und noch heute habe und die mit keinem Wort den Nationalsozialismus betrafen oder stützten. Eine andere Möglichkeit der Veröffentlichung bestand nicht.
Schließlich bin ich am 01.10.1938 auf wiederholte Aufforderung hin dem Reichskolonialbund beigetreten. Ich lehnte nicht ab, weil ich wusste, wie sehr gerade in dieser Sache auch in der SPD die Meinungen auseinandergingen. Ich wurde aber auch aufgefordert in die Partei einzutreten sowie als Vertrauenslehrer in der HJ zu wirken, und zwar in Offenbach durch meinen Rektor Karl Roth. Ich unterrichtete in den Jahren 1937/38 in den Begabtenklassen der dortigen Goethe-Schule, an die mich Rektor Roth wegen meiner Sprachkenntnisse geholt hatte. Roth drückte seine Zufriedenheit mit meiner Arbeit aus: "In Ihrer Klasse herrscht geistiges Leben, das merkt man gleich!" Auch Stadtschulrat Seibert lobte mein "pädagogisches Geschick".
Meine Ziele erwiesen sich indessen, da das Stadtschulamt eine Herabsetzung des Bildungsniveaus vornahm, als zu hoch gesteckt. Auch nur durchschnittlich, ja praktisch unter dem Durchschnitt begabte Kinder wurden nun zugelassen. Die idealen Forderungen der direkten Methode, die von der damaligen Reformbewegung im Sprachunterricht vertreten wurde, waren mit diesen teils unbegabten, teils lernunwilligen Kindern nicht zu verwirklichen. Rektor Roth wiederholte sein Verlangen auf Eintritt in die Partei. Von linksstehenden Kollegen wurde mir gesagt, dass eines der Ziele dieses strebsamen Mannes ein rein nationalsozialistisches Lehrerkollegium an seiner Schule sei. Als ich nicht reagierte, änderte er sein früher höfliches Betragen gegen mich in auffälliger Weise. So nahm er eine Belanglosigkeit (Verspätung einer vom Sportplatz zurückkehrenden Klasse um wenige Minuten) zum Anlass mich vor Lehrern und Schülerklassen laut schreiend herunterzukanzeln. Ich wies diese Art der Behandlung sofort zurück.Seine Antwort war: "Das werden Sie behalten!" Am darauffolgenden Tag wohnte Rektor Roth, zum ersten Mal seit meinen anderthalb Jahren Goethe-Schule, meinem Unterricht bei, ohne sich weiter darüber zu äußern. An einem der nächsten Tage erschien Schulrat Jäger, sichtlich auf Veranlassung und unterrichtet von Rektor Roth. Es war seine erste Inspektion bei mir.
Nicht uninteressant ist übrigens, dass Schulrat Jäger meine Art Aufsatzentwürfe mit Verbesserungsvorschlägen zu versehen – eine Arbeit, auf die ich ungemein viel Zeit verwendete – scharf verurteilte. Kurz zuvor hatte eine Frau Jöckel, Mutter einer meiner Schülerinnen, Frau eines forsch auftretenden SS-Mannes, an eben dieser Methode Anstoß genommen – der korrigierte Aufsatz hatte offenbar aus der Feder ihres Mannes gestammt! Sie war dabei sehr grob geworden und rügte, dass ich, nach Aussage ihrer Tochter, niemals aus dem Leben des Führers oder aus der Geschichte der "Bewegung" erzählte. Schulrat Jäger verurteilte meine gesamte, mit unendlicher Mühe geleistete Arbeit und verfügte meine sofortige Entfernung aus den Begabtenklassen. Nie ist mir ein schmerzenderer Schlag versetzt worden, denn ich hatte zwei Jahre lang meine ganze Zeit bis in die Nächte hinein für diesen Unterricht aufgewendet. Eine Beratung oder Belehrung, auch nur andeutungsweise, ist mir vorher durch den Schulrat nicht zuteil geworden.
Aus der ganzen Art und Weise, wie meine Entfernung aus den Begabtenklassen, die später zur Mittelschule ausgebaut wurden, erfolgte, schließe ich, dass sie eine Antwort auf meine ablehnende Haltung in politischer Hinsicht darstellte. Roth ist vor kurzem von der Spruchkammer Offenbach-Stadt zu 3000 Mark Geldstrafe und Sachwertleistungen in Höhe von 500 Mark verurteilt worden. In einer zweijährigen Bewährungsfrist darf er nur gewöhnliche Arbeit verrichten. Seinen Lehrerberuf darf er nicht mehr ausüben.
Der Lehrerschaft war er als einhundertprozentiger Nationalsozialist bekannt, der sein Kollegium mit autoritären Methoden regierte und die Menschenwürde der ihm Unterstellten mit Füßen trat. Ich habe ihm die Ausschließung von einer mir bevorstehenden Laufbahn zu danken, auf die ich mich durch Übungen an der Universität Frankfurt vorbereitet hatte. Aus dem Kreis der Kollegen, die von den von mir geschilderten Vorgängen wissen und darüber Auskunft geben können, nenne ich die Lehrer Noß und Reitz, beide aus Offenbach am Main.
Im Frühjahr 1941 wurde ich als Lehrer nach Lothringen abgeordnet, ohne dass ich dafür gemeldet hätte. Ich stand dort, in Gaudach (Jouy-aux-Arches) bei Metz, in bestem Einvernehmen mit der lothringischen, antifaschistisch eingestellten Bevölkerung. Nie grüßte ich auf der Straße mit "Heil Hitler". Die Leute kannten meine Einstellung, mit vielen habe ich mich offen darüber ausgesprochen.
Nach meiner Abordnung nach Ulrichstein im Herbst 1943 habe ich bei einer von der Partei veranstalteten Schulentlassungsfeier als Lehrer einige Worte sprechen müssen, die allgemein gehalten waren. Im Herbst 1944 wurde ich von den hiesigen Parteigrößen, die mich als Nicht-Parteimann geringschätzten, zusammen mit einem anderen Verdächtigen vier Wochen auf den Westwall geschickt, wo ich mir eine schwere Gastritis zuzog. Volkssturmführer Schmidt beauftragte mich nach meiner Rückkehr mit der Erstattung von Referaten über die Themen "Deutsche Vorgeschichte", "Träger des Reichsgedankens" sowie "Die Rassenfrage". Das letztere lehnte ich ab. Ganz ablehnen hielt ich für untunlich, da dauernd das Damoklesschwert der Einberufung zur Wehrmacht über mir schwebte.
Auf welche Weise ich mich des Auftrags entledigt habe, ist den hiesigen Antifaschisten bekannt. NS-Propaganda stellten meine Vorträge nicht dar. Mit den Trägern des Reichsgedankens kam ich bis zu Friedrich dem Großen, den ich offen als einen Militaristen und Katastrophenpolitiker zeichnete.
Die Krönung des Ganzen, der "Führer", fehlte in meinem Vortrag, so dass Parteigenosse Schmidt in seinem Schlusswort gereizt bemerkte, das sei zwar alles recht schön und gut, aber der bedeutendste Träger des Reichsgedankens bleibe doch Adolf Hitler.
"Cel cu inima vicleană nu va găsi binele şi cel cu limba vicleană va cădea în nenorocire", unterbrach Emilian Rohlfs' Lektüre und steuerte den Transporter in einen abgelegenen Weg am Rande der Ortschaft Karaosek. Am Ufer der Algara parkte er das Fahrzeug und eröffnete Rohlfs, dass er nicht einen einzigen Meter mehr fahren könne. Nach einer kurzen Pause setzte Emilian hinzu, er habe aus Rohlfs' gedämpfter Stimme Anzeichen von Zorn herausgehört. Manchmal habe Rohlfs beim Lesen der Atem gestockt und er sei blutrot im Gesicht geworden. Man müsse wahrscheinlich davon ausgehen, dass diejenigen, die Alois den Status eines Mitläufers zusprachen, sein Schreiben allenfalls als Gegenstand der Belustigung betrachtet hätten.
Emilian wiederholte, dass der Niederträchtige, auch wenn es nur ein frommer Wunsch sei, nichts Gutes finde und dem Unglück nicht entkomme. Alois habe gewiss gut daran getan sich in seinem Bittbrief nicht damit in die Brust zu werfen, viele der in Lothringen ansässigen jüdischen Familien vor der Deportation bewahrt zu haben. Kopfschüttelnd erklärte Emilian schließlich, dass er nicht den geringsten Appetit verspüre und schleunigst seinen Rausch ausschlafen müsse. Dann streckte er sich aus und begann kurz darauf sanft zu schnarchen.
Alois musste es sich also wohl oder übel gefallen lassen seinen Dienst als ausgewiesener Mitläufer so lange anzutreten, bis ihm sein Körper den Dienst quittierte und ihn ans Bett fesselte, ohne dass man ihm je eine ernsthaftere Krankheit hätte nachweisen können. Seine Krankheit, so Alois, sei ihm ein intimer Begleiter gewesen und er habe sie stets als verdiente Aussicht auf das Ende seiner täglichen Selbstzerwürfnisse und schlaflosen Nächte wahrgenommen.
Es sei ihm nicht gegeben gewesen als Held für seine Sache zu sterben, nicht einmal dafür zu kämpfen oder sich zuwenigst rechtzeitig davonzumachen. Auf seinen entzündeten Lungenflügeln, so betonte er in der Nacht vor seinem Tod, habe er sich längst schon ausgebreitet und wolle sich nunmehr endgültig aus dieser Welt entfernen.
In ihm war keinerlei Auflehnung gegen das Unvermeidliche. Die Natur, sagte er mit den Worten Wernher von Brauns, kennt keine Vernichtung, nur Verwandlung, Umgestaltung von einer Form zur anderen. Am Ufer der Algara beobachtete Rohlfs für geraume Zeit den ersten Schnee, bevor auch er erschöpft in einen unruhigen Schlaf fiel.
Aus dem Turm einer Festung in den Dünen erhob sich eine Gestalt aus dunkelrotem Sand mit weiblichen Zügen. Ein alter, bärtiger Mann auf einem Ziegenbock verfolgte den Flug des Wesens. Er sah sehr schwache Blitze, deren Herkunft er sich anfangs nicht erklären konnte, die aber, so erkannte er, von dem Wesen auszugehen schienen und ihn immer mehr zu blenden begannen. Unwillkürlich verdeckte er die Augen mit der Hand, als das Wesen sich ihm näherte und über seinem Kopf Kreise zu ziehen begann. Der alte Mann spürte, dass es unmöglich sein würde sich dem Blick des Geschöpfs zu entziehen und er nicht stark genug war ihm standzuhalten, sodass er sich auf den Boden warf und sein Gesicht im Wüstensand verbarg. Mehrmals wagte sich das Wesen nah an ihn heran, scheute sich aber noch davor ihn zu berühren. Für einen Moment war ihm, als würde sich sein Körper vom Boden lösen und er hörte deutlich die dunkle Stimme des Geschöpfs: "Du sollst verstehen, dass deine Vision sich auf das Ende der Zeiten bezieht. All diejenigen, die dir nahestehen, werden sehr mächtig werden, wenn auch nicht durch eigene Kraft, und ungeheures Verderben anrichten. Was sie auch unternehmen, es wird ihnen gelingen. Öffne deine Augen und schau dir die Verwüstung an, die uns von langer Hand umgibt!"
Es gelang dem alten Mann indes nicht die Augen zu öffnen, bis er hörte, dass sich der Ziegenbock mit schnellen Schritten näherte. Er sah gerade noch, wie das Tier das Wesen mit einem seiner zottigen Hufe an der rechten Ferse traf, sodass es den hinteren Teil seines Fußes verlor und sich aufgeschreckt in den Himmel schwang. Das schmerzverzerrte Geschrei des Geschöpfs ähnelte den Kriegsgesängen der Kureten und ebbte lange nicht mehr ab. Erst als der alte Mann auf seinem Ziegenbock fruchtbareres Land erreichte, ließ der betäubende Lärm allmählich nach. Das Tier erschien ihm indessen weitaus größer als zuvor und in seiner Verwirrung über den Vorfall bemerkte er erst jetzt, dass ihm ganz offensichtlich zwei weitere Hörner gewachsen waren. Was hatte er doch für ein tapferes und tüchtiges Tier, dachte der alte Mann schließlich. Er spürte ein starkes Fieber und zugleich eine eisige Kälte, die sich seines Körpers bemächtigten, als er im Steppengras urplötzlich mit Wildkraut überwucherte Gleise erblickte, denen er fortan folgen wollte.
In der Ferne weidete ein Widder unter dem Schatten einer Ulme inmitten einer duftenden Kräuterwiese und berauschte sich am wild wachsenden Wermut. Aus einem unerfindlichen Grund versetzte dies den Ziegenbock einmal mehr derart in Rage, dass er, nachdem er den fieberkranken, alten Mann jäh abgeworfen hatte, kampfeslustig auf den Widder losstürmte. Mit letzter Kraft klammerte sich der alte Mann, ohne zu wissen, was weiterhin geschah, in eines der Gleise und kam erst nach einigen Tagen wieder zu sich.
Vor ihm türmten sich nun bedrohlich glänzende Öltanks in großer Zahl auf, doch von seinem ihm sonst so treu ergebenen Ziegenbock war, so sehr er auch nach ihm suchte, keine Spur zu sehen. Auch die Gleise waren nicht mehr vorhanden.
Stattdessen gewahrte er den enthörnten Widder, der sich an dem mächtigen Stamm der kahlen Ulme rieb und ihn mit wachsamen Blicken zu mustern schien, ehe er kraftlos in sich zusammensank.
Als der alte Mann endlich wieder aufstehen konnte, war er fassungslos über das Geschaute, fand allerdings weit und breit niemanden, der es ihm auszulegen verstanden hätte. Er ging ein Stück auf einen Sanddornbusch zu, der unweit von einem der Öltanks aus dem Boden rankte. Am Fuße des Buschs fand er eine Umhängetasche, die eine zertrümmerte Uhr und einen Schlüsselbund, einen Geldbeutel, mehrere zusammengerollte Geldscheine, einen Kamm und Münzen, ein Schnupftuch, ein Diktiergerät mit einer Mikrokassette sowie ein Schneidemesser und vier verschiedene Reisepässe enthielt.
Der alte Mann konnte sich seiner Neugier nicht erwehren und bediente die Starttaste des Diktiergeräts. Das Band, das sich nur sehr langsam bewegte, da die Energiezufuhr offenbar zu versagen drohte, ließ eine tiefe und stark schleppende, nahezu unverständliche Stimme erklingen: "Ich warne euch daher: Verkehret nicht den Sinn der Worte aus Feigheit; und nennet nicht Sklaverei friedliche Ruhe." Verstört verstaute der Alte die Gegenstände in der Umhängetasche und vergrub sie so tief, wie es ihm mit bloßen Händen möglich war, unter dem Sanddornbusch. Er folgte einem Pfad, der ihn schon bald zu einer asphaltierten Straße brachte, an der ein Mann in einem Malerkittel allem Anschein nach auf eine Mitfahrgelegenheit in östliche Richtung wartete. Weit und breit war kein Fahrzeug zu sehen.
Der Maler trug hohe, schwarze Juchtenstiefel und eine selbstgestrickte Mütze verdeckte sein Gesicht. Der Alte stellte sich anstandshalber ein wenig abseits neben den Maler an den Straßenrand. Es war sehr kalt und, so dachte der Alte, die Luft roch nach dem ersten Schnee, der sich jetzt vom Nordwesten her ankündigte. Zwischen seinen langen, schlaksigen Beinen stützte der Maler eine mit Öl bemalte Leinwand, etwa 80 x 40 cm, auf welcher der Alte die Umrisse einer weiblichen Gestalt erkannte, deren rechter Fuß, wie man auf den zweiten Blick deutlich erkennen konnte, fehlte. Der Alte vermutete, dass er ihr abgetrennt worden sein musste. Ihr Kopf ähnelte indes dem eines Ziegenbocks. Im Hintergrund des Gemäldes türmten sich glänzende Öltanks. Das Bild war vornehmlich in Rottönen gehalten und wirkte insgesamt wie die Landschaft eines fernen Planeten.
Der Maler stellte sich mit dem Namen Konstantinov vor. Er habe der Andacht wegen die Moschee in Makat aufgesucht und müsse nun zurück in die Gegend von Atyrau, wo er einer Arbeit auf den Erdölfeldern nachgehe, da er, obwohl er gerade in der jüngsten Vergangenheit recht viele Bilder vor allem an Touristen aus dem In- und Ausland verkauft habe, von dem Erlös bereits den letzten Winter nicht hätte überleben können. Heute sei seit langem sein erster freier Tag gewesen und, sofern sich eine Möglichkeit dazu böte, würde er nicht zögern die Herausforderung anzunehmen sich weiter im Osten einer Gruppe kasachischer Weltraumschrottsammler anzuschließen. Hier lasse sich noch ein ordentliches Geschäft machen.
Der Alte kam nicht mehr dazu sich seinerseits dem Maler vorzustellen, da sich ihre Aufmerksamkeit nunmehr ganz und gar auf das Fahrzeug richtete, das sich von Westen her mit hoher Geschwindigkeit näherte und erst etwa einen Kilometer entfernt von ihnen das Tempo verlangsamte. Tatsächlich hielt das Fahrzeug, ein Mercedes Pullmann, und eine in einen Pelz gehüllte hellblonde Frau mit einer dicken Schildpattbrille bot ihnen vom Rücksitz her eine Mitfahrgelegenheit.
Der Alte scheute sich indes in ein Fahrzeug einzusteigen, das er bisher nur aus Nachrichten kannte, fragte die Insassen des Fahrzeugs nach einigem Zögern aber dennoch, ob sie einen umherirrenden Ziegenbock gesehen hätten, der ihm stets treu ergeben gewesen sei. Die vornehme Dame warf dem Alten über ihre Brille hinweg zunächst einen freundlichen Blick zu, bevor sie ihm sagte, dass sie leider die meiste Zeit über in die Lektüre der Aufzeichnungen ihres Mannes vertieft gewesen sei und die Hoffnung nicht aufgegeben habe ihn in dieser Gegend anzutreffen. Anstelle eines Buchs befand sich jedoch lediglich ein Etui mit mehreren goldenen Scheiben auf ihrem Schoß. Die beiden Männer auf den Vordersitzen starrten die ganze Zeit über stumm und bewegungslos auf die von Schlaglöchern durchfurchte, verlassene Straße, was den Alten letztlich dazu bewog sich im Laufschritt in entgegengesetzter Richtung zu entfernen, während der Maler bereits seine Leinwand im Kofferraum des Fahrzeugs verfrachtete. Von weitem hörte der Alte noch die Stimme des Malers, der ihm hinterherrief, dass Allahs Gabe unerschöpflich sei.
"Oh, musulmane, eşti ca şi rusul, si rusul ar putea fi musulman. Weites Land, so weit man blicken kann, domnule Rohlfs. Öffnen Sie die Augen und öffnen Sie endlich eine Flasche Wein für mich. Ich bin sehr durstig", rief Emilian lachend und bot Rohlfs eine moldawische Zigarette an. "Atis - eine würzige Filterzigarette! Es muss geraucht werden! Finden Sie nicht?" Rohlfs lehnte ab und reichte dem Fahrer eine halb geleerte Flasche von dem Wein aus Krasnodar um sich hierauf lange in den Anblick der Landschaft zu vertiefen. Geschickt umfuhr Emilian jedes Schlagloch auf dem Weg nach Mukur. Verstört und ohne jegliche Erinnerung an die Zeit ihres Aufbruchs durchsuchte Rohlfs unversehens mit den Augen den Wagen, doch die Umhängetasche war unauffindbar. Man habe Ballast abwerfen müssen, entgegnete Emilian schließlich in einer Weise, die keinen Widerspruch duldete.
Die kasachischen Grenzposten durchforsteten den TV-14 C laut Emilian aufs Genaueste und hätten nicht das geringste Interesse an seinen diskreten Bestechungsversuchen gezeigt. "Werfen Sie bei Gelegenheit einen Blick auf die Ladefläche. Leer, domnule Rohlfs! Immerhin sind uns Ihr Skizzenbuch und rund eine Million Tenge erhalten geblieben. Bei besonnenem Umgang kommen wir ein gutes Jahr über die Runden. Die Tankfüllung reicht noch für eine Ewigkeit, mindestens aber bis nach Aralsk. Die Umhängetasche habe ich dann vor etwa einer Stunde in hohem Bogen aus dem Fenster geschleudert, sagen wir, aus einem Affekt heraus. Nun ja, das muss ich zugeben." Allerdings räumte Emilian ein, dass er den dringenden Verdacht gehabt habe, die Tasche sei von einem der Grenzer verwanzt worden. Ja, vielleicht sei sie sogar von Beginn an verwanzt gewesen.
Ihn persönlich bekümmere seltsamerweise vor allem die Tatsache, dass man ihnen sogar das Radiogerät genommen habe, das ihm stets so treu ergeben gewesen sei. Ganz gewiss habe er, Rohlfs, hierfür das wenigste Verständnis. Im Grunde seines Herzens, versicherte Emilian, sei er jedoch nach wie vor voller Zuversicht. Er wisse, fügte er hinzu, dass man, trotz der beunruhigenden Ungewissheit, was noch kommen werde, den Wind nicht ändern könne.
"Aber wir können die Segel richtig setzen", bekräftigte Emilian nach einer längeren Pause mit Nachdruck. "Und die goldenen Scheiben, domnule Rohlfs, die Scheiben sind wertlos in den falschen Händen. Man wird sich ihrer bedienen, wie man sich eines Werkzeugs, oder einer gefährlichen Waffe bedient. Der Raketenbauer Braun bediente sich zur Untermauerung seiner Auffassung hemmungslos bei der christlichen Staatslehre eines Ritter von Elislago um sich, vermutlich nach einem romantischen Blick hoch hinauf in die Sixtinische Kapelle, gleich einem neuen Adam, mit einem Fingerzeig der göttlichen Allmacht entgegenzurecken. Alle schleudern sie letzten Endes ihre ureigensten, geistigen Abgase in einer Art von andauernder Trunkenheit als hochtrabenden, brandgefährlichen Treibstoff zum Fenster hinaus. Und keiner davon ist nur gut oder nur böse. Hören Sie mich?" Rohlfs aber schwieg und antwortete nichts.
In der Wüstenlandschaft um Baygonin entdeckte Emilian das abgenagte Skelett eines Ziegenbocks am Straßenrand. Er beschloss sich den widrigen Umständen zum Trotz alsbald einen neuen Radioempfänger anzuschaffen, auch wenn das alte Gerät verständlicherweise nicht einmal mit Gold aufwiegbar sei.
Noch vor Shubarkuduk ging ein derart starker Schneeregen nieder, dass er betrübt den Entschluss fasste auf der A 27 weiterzufahren. Weder in Kalmyk-Kurgan noch in Pokrovka ließ sich jedoch ein Gerät auftreiben, das Emilians Vorstellungen entsprochen hätte. Zumindest klarte es langsam auf.
Erst am frühen Abend fand er bei einem turkmenischen Trödler in Qandyaghash ein lettisches Radio, ein gut gepflegtes, schwarzgelbes VEF Spidola-12 aus dem Jahr 1968, das genau genommen fast identisch mit seinem eigenen Gerät war und einschließlich Batterien immerhin zehntausend Tenge kostete. Sein Gerät sei hingegen ein Prototyp aus dem Jahr 1960 gewesen und selbstverständlich weitaus wertvoller. Auch wenn es müßig erscheine über die Rolle des tatarischen Grenzers zu spekulieren, so habe dieser doch zweifellos genau gewusst, was er konfiszierte. Bei genauerer Betrachtung sei der tatarische Grenzer hinsichtlich seiner Bestechlichkeit der raffinierteste und habgierigste Kerl von allen gewesen, was auch immer er mit seiner Beute anstellen mochte. Rohlfs kam nicht umhin sich von Emilians Freude über den Erwerb des Empfängers anstecken zu lassen und gestand ohne Weiteres, dass er dem Gerät bisher nicht die gebührende Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Er berichtete von General Clay, dem Südstaatler mit der Adlernase, den er bei seinem Eintritt ins Amt, das müsse, so glaube er, im Jahr 1965 gewesen sein, einmal persönlich kennengelernt habe. Der General habe bei einem Besuch auf der Base mehrmals einen ebensolchen Empfänger erwähnt, den man im Amt fortan auch "the instrument of crime" nannte. Das lettische Radio habe einen nicht unwesentlichen Anteil bei all den kleinen Siegen der Demokratie im Kalten Krieg gespielt. Wie hatte er, Rohlfs, das nur vergessen können? "The Spidola was, in many cases, used to listen to western stations such as the Voice of America", sagte der General. Demokratie müsse in jedem Dorf beginnen, habe der General übrigens, so Dr. Reich, unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg zu ihm gesagt, fügte Rohlfs hinzu. Man habe in Deutschland, so der General, schließlich bei Null angefangen. Dr. Reich habe laut Lieutenant Striker auch später noch recht häufig mit dem General telefoniert.
Zur Feier des Tages kaufte Emilian bei einem usbekischen Gemischtwarenhändler sechs Päckchen Pegasus Filter, einen kleinen Laib Brot, einen gedünsteten Schinken, vier Flaschen Kumys, sechs Flaschen von einem sehr süßen und fruchtigen, kasachischen Rotwein aus den Bergen östlich von Almaty, zwei Kanister frisches Trinkwasser sowie acht große Wasserflaschen zu je zwei Liter, wofür er alles in allem weitere zwanzigtausend Tenge ausgab.
"Achten Sie darauf", sagte Emilian mit erhobenem Zeigefinger zu Rohlfs, "regelmäßig und ausreichend zu trinken. Mir ist aufgefallen, dass Sie nicht genug Flüssigkeit zu sich nehmen. Das kann schlimme Folgen wie Verwirrtheit oder ein höheres Sturzrisiko nach sich ziehen. In unserem Alter ist das nun einmal so." Er freue sich wie ein Kind auf eine weitere Nachtfahrt, sagte Emilian auf der Auffahrt zur A 26 und schaltete alsbald den Radioempfänger mit allergrößter Behutsamkeit ein. Mit der Absicht die Reisenden vermittels langsamer und gleichmäßiger Bewegungen in einen Ruhezustand zu versetzen, wählte er eine sanfte, zunächst kaum hörbare Klaviermusik. Es werde gut sein sich mit ernster Regungslosigkeit, in größter Stille, auf den nun kommenden Abschnitt des Weges vorzubereiten. Die Insel der Wiedergeburt sei nicht allzu weit entfernt, Ostrow Wosroschdenija, Herberge der Sowjetbehörde Biopreparat, einem ehemaligen Netzwerk geheimer Labore zur massenhaften Produktion und Distribution von natürlichen, tödlichen Giftstoffen, Wirten, Fressfeinden oder konkurrierenden Mikroorganismen.
Der Weg ähnelte zunehmend einer zerfurchten Piste durch die Steppenlandschaft, dachte Rohlfs. Immer wieder hörte die Asphaltierung abrupt auf. Die Fortbewegung war mühselig und langsam. Meist lenkte Emilian den TV-14 C in äußerst gemäßigtem Tempo über den bloßen sandigen Boden mit seinem wuchernden, buscheligen Grasbewuchs. Wie aus dem Nichts tauchten Bahngleise am Straßenrand auf, die sie von nun an begleiteten und ihnen den Weg wiesen.
Das Klavierstück baute auf einer einstimmigen, einfachen Melodie auf und schien sich endlos zu wiederholen. Rohlfs erkannte keinerlei tonale Melodieführung in dem Stück, lediglich zwei Variationen aus jeweils zwei Stimmen, die den Eindruck einer mehrstimmigen Satzweise vermittelten oder lediglich vortäuschten.
"Die gemessene Zeit ist die Summe für die Fallzeit und die Zeit, die der Schall braucht um wieder aufzusteigen. Der Weg, den beide zurücklegen müssen, ist der gleiche", sagte Emilian in Shalkar plötzlich und überreichte Rohlfs ein neues japanisches Diktiergerät der Marke Sanyo, das ihm der Händler für einen geringen Aufschlag angeboten habe.
Es sei letztlich leichtsinnig und verantwortungslos, ja dumm gewesen, die Umhängetasche samt Inhalt aus dem Fenster zu schleudern. Nicht immer gehe das Alter mit Weisheit einher. In seinem Fall sei dies sogar ganz offensichtlich.
Nach einer sehr langen Pause, in der die Klaviermusik ihre volle Wirkungskraft zu entfalten begann, wechselte Emilian von der A 26 auf die M 32 in Richtung Aralsk.
Rohlfs hätte nicht mit Sicherheit sagen können, ob sich vor seinen Augen im Licht der Scheinwerfer eine Schneelandschaft ausbreitete oder ob es sich hier bereits um Dünen der vom Wind angewehten Salze handelte.
Die Fahrt auf der M 32 war indes noch weitaus beschwerlicher als die auf der A 26. Die stetigen Hebungen und Senkungen auf der Straße ließen Rohlfs befürchten er werde seekrank. Auch die von der Zeit überwucherten Bahngleise, die den Reisenden zur Orientierung gedient hatten, konnte er nicht mehr finden. Vielleicht waren sie aber auch lediglich in der Finsternis verschwunden. In etwa drei bis vier Stunden, sagte Emilian, wolle er in Aralsk nach einer Bleibe für die Nacht, vielleicht sogar für die nächsten Tage, Ausschau halten. Auch der Gedanke eine Arbeit zu finden sei nicht ganz von der Hand zu weisen. Rohlfs hielt es für höchst unwahrscheinlich, dass sie Aralsk so zügig erreichen würden.
Mit dem Willen, hatte Alois einmal zu ihm gesagt, werde meist ein ungerechtfertigter Kult getrieben. Der Wille könne sich an manchen Tagen gar nicht oder doch nur schlecht durchsetzen. Ansätze dazu könnten allenfalls in den günstigen Momenten wirksam werden.
"Betrachte nichts als Haupt-, sondern alles als eine Nebensache! Wir verbohren uns in eine Hauptsache und arbeiten, wo wir nur des Verstandes bedurft hätten, mit Gefühl und Willen, den mächtigen Verführern. Weiterer Horizont! Dann wird es Dir nichts ausmachen, dass dies oder das nicht gelingt oder nicht sofort gelingt."
Die Morgendämmerung brach bereits ein, als Rohlfs weit hinten am Horizont vereinzelte Reitergruppen auftauchen sah. Sie näherten und entfernten sich wieder. Aus ihren Gebärden glaubte er sogar zu erkennen, dass sie ihm winkten.
Nur wenige Kilometer, allenfalls etwa zwanzig, hinter der Grenze der Provinz Qysylorda begann der Motor des TV-14 C zu stottern und starb schon bald darauf ab. Schwaden von Rauch stiegen aus dem Motorraum auf. Emilian kannte sein Fahrzeug allzu gut, als dass für ihn die Möglichkeit in Frage kam der Tank könne leer sein. Nein, sagte Emilian, vielmehr sei der TV-14 C schlicht und ergreifend, so drückte er sich aus, schlicht und ergreifend tot, ja, tot. Er sei eines plötzlichen und kardialen, ja, kardialen Todes gestorben. Der gottverdammte, alte TV-14 C blicke nach weit über einer dreiviertel Million Kilometer unter den Rädern nunmehr auf eine Lebenszeit, ja verdammt nochmal, Lebenszeit zurück, die für einen enormen und beispiellosen wissenschaftlichen Fortschritt stehe, für den niemand, ja, niemand eine reinere Freude empfinde als er, Emilian. Der revolutionäre, ja, revolutionäre TV-14 C habe in Spanien für ihn bereit gestanden, wenn er, Emilian, von seinen Seereisen zu den amerikanischen Kontinenten zurückgekehrt sei. Der TV-14 C habe ihm auf Reisen zu den Bergwerken Sibiriens wie auch zu den meisten Werkstätten Europas stets treue Dienste geleistet. "Gewiss", sagte Emilian beinahe schluchzend, "er hatte viele Feinde, Towarischtsch Rohlfs, und während des größten Teils seiner unzähligen Fahrten war er, ja, ganz gewiss, das meistgehasste und meistverleumdete Fortbewegungsmittel in Europa. Doch wenn je einer die Verleumdung besiegte, dann war es er, der gottverdammte, alte TV-14 C. Vai de mine! Sunt pierdut! Doamne Dumnezeule! O, Dumnezeule mare! Nu ştiu, doamne, ce să fac. Mi-a murit maşina. Nu ştiu ce să fac! Nu pot să cred aşa ceva. Imposibil! Incredibil, chiar incredibil! Doamne, Dumnezeule! Mi-a murit maşina. Vai de mine! Ce să fac?"
Emilian kramte seufzend einen löchrigen Seesack unter seinem Fahrersitz hervor und drehte nach einem Moment des Zögerns mit andächtiger Langsamkeit den Lautstärkeregler des VEF Spidola-12 herunter. Hiernach bat er Rohlfs in feierlichem Ton ihm so behutsam wie irgendwie möglich nacheinander den vollständigen Inhalt des Handschuhfachs sowie alle anderen losen Gegenstände in der Fahrzeugkabine zu reichen. Unter den zahlreichen Papieren, Dokumenten und Landkarten aus aller Welt befanden sich auch mehrere Spannriemen sowie zwei alte Skibrillen aus rotbraunem Leder mit Polycarbonatglas, die sie unabgesprochen sofort aufsetzten. Zuletzt verstaute Emilian den kleinen Laib Brot, den Wein aus den Bergen östlich von Almaty, die Wasserflaschen, den gedünsteten Schinken, zwei Flaschen Kalmaty und die russischen Filterzigaretten in dem Seesack, der sein Volumen vor allem durch vier große und feste Wolldecken erhielt. Die zwei übrigen Flaschen Kalmaty tranken sie zur Stärkung in einem Zuge aus um sich auf den Kraftakt vorzubereiten.
"Es wird sich sicher eine geeignete Mitfahrgelegenheit bieten", sagte Emilian nach einem langen Moment des Innehaltens und Nachdenkens bereits mit sehr viel größerer Zuversicht, "ja, vielleicht sogar eine Abschleppmöglichkeit." Emilian schenkte Rohlfs ein freundliches Lächeln, dachte erneut nach und sagte: "Doch ich muss Sie wirklich inständig und von ganzem Herzen bitten, domnule Rohlfs, den Seesack immerhin solange zu tragen, bis sich meine geplagten Beine an den Marsch gewöhnt haben. Mein Rücken schmerzt mich sehr und ich bin alt und schwach und grau."
Die größte Schwierigkeit bestand jedoch darin die beiden schweren Wasserkanister zu je fünf Gallonen mithilfe der Spannriemen derart an Rohlfs' Oberkörper zu befestigen, dass er schließlich einen Kanister unterhalb des Brustkorbs und den anderen oberhalb des Steißbeins trug. Die Kanister dienten ihm indes, wie sich schon bald herausstellte, als gut geeignete Stütze für den Seesack, den Emilian mit seinem Schwerpunkt auf dem am Brustkorb befindlichen Wasserkanister anbrachte, so dass er ihn ohne größeren Aufwand hinter seinem Rücken festbinden konnte. Das neue Diktiergerät und die beschädigte Lesebrille brachte Emilian in einer der äußeren Seitentaschen von Rohlfs' Uniform unter. Daraufhin band er ihm einen blassblauen Schal, der einmal seiner Tochter Lucia gehört habe, mit einem speziellen Pionierknoten um den Hals. Der Schal solle ihm Glück und Frieden bringen, erklärte Emilian und deklamierte: "O, voi, cei care credeţi! Căutaţi ajutor întru răbdare şi Rugăciune, căci Allah este cu cei răbdători!"
Rohlfs, der den Aufbruch beschleunigen wollte, versicherte seinem Gegenüber sodann, dass er glaube dem enormen Gewicht standhalten zu können.
Zuallerletzt fixierte Rohlfs nun seinerseits die Ausgabe der Pforte, das Skizzenbuch sowie das schwarzgelbe VEF Spidola-12 mithilfe der vier übriggebliebenen Spannriemen an Emilians geschwächtem und schmerzendem Oberkörper, woraufhin die Fußreisenden umgehend den Marsch durch den verlandeten See auf sich zu nehmen begannen; gemeinsam kämpften sie, jeder auf seine Weise, mit strengen Minustemperaturen von mehr als 15° und einem salzigen Südwestwind gegen das Gewicht und die Schwerkraft.
Nach einigen Kilometern, höchstens aber zehn, unterstrich Emilian den mühseligen Gang teils mit seinem eigenen gelegentlichen Gesang, teils mit Klängen einer Qobuz oder Sibizgi aus dem Radio. Mit größter Aufmerksamkeit hörten die Fußreisenden Klara und Iara Tulenbaeva, Edil Huseinov, Berik Zhusipov, Kurmash Ibishev, Ikilas Ozkhai, Asylbek Akhatov, Aitolkin Toktagan, Bayan Musaeva, Alexei Yefremenko, Ardak Balazhanova, Elmira Zhanabergenova, Kunduz Kalambaeva und Anar Muzdakhanova, bis die Stimmen zunehmend von dem brummenden Motorengeräusch eines sich aus nördlicher Richtung nähernden Lastfahrzeugs übertönt wurden.
Die Fahrerkabine des Lieferwagens erwies sich allerdings bereits als überfüllt. Neben zwei Beifahrern war offenbar auch ein Teil der Fracht in der Kabine untergebracht worden. Mit Zeichen und unmissverständlichen Gebärden gab der Fahrer des Wagens den Fußreisenden sein aufrichtiges Bedauern hierüber zu erkennen, einer der Beifahrer warf ihnen aber ein kleines Ledersäckchen zu, in dem sich, wie Emilian herausfand, nachdem der schwer beladene Lieferwagen längst aus ihrem Gesichtskreis verschwunden war, etwa ein Gramm getrocknete Cocablätter befanden, die ihnen, wie sich zeigte, die Mühsal des Marsches durch den verlandeten See weitaus erträglicher machten. Rohlfs wollte bemerkt haben, dass die drei Insassen des Lieferwagens keine Einheimischen waren.
Die Mittagszeit war vermutlich schon längst überschritten, als Rohlfs Emilian erstmals um eine Pause bat. Sie hatten die Wahl einem Weg in Richtung Saksaulskiy zu folgen oder weiterhin auf der Straße nach Aralsk zu bleiben. Man entschied sich vorerst dafür an der Wegkreuzung Rast zu machen und alles weitere dem Zufall zu überlassen. Emilian schnitt einige Streifen von dem Brot und dem gedünsteten Schinken herunter und öffnete eine weitere Flasche Kalmaty, nachdem er seinen Begleiter von seiner Last befreit hatte. Die vergorene Stutenmilch gab ihnen die verlorene Kraft zurück und Emilian wurde nicht müde zu betonen, dass er sich selten so stark und lebendig, so machtvoll und unaufhaltbar gefühlt habe wie in diesem Moment. Seine Schmerzen seien trotz der klirrenden Kälte wie weggeblasen. Rohlfs vertiefte sich beim Essen in die Klänge der Qobuz und wollte, ohne dass er sich darin vollkommen sicher gewesen wäre, auch ein Akkordeon gehört haben. Gleichzeitig dachte er an die Worte seines Großvaters, dass es vollkommen nutzlos sei mit Gott zu hadern, wie er es beinahe täglich getan habe, da er zwar als Allmächtiger und Barmherziger gepriesen werde, seine Macht aber an den kleinen und schwachen Menschen oder den unschuldigsten Tieren ausübe und allen diesen auch noch ihr bisschen Leben verleide. Der Rest sei Weihrauch, sagte Alois, denn einem jeden stehe dasselbe bevor, ob klug oder dumm, reich oder arm.
Es war ein tiefer Blick, den er da in die eigene Seele tat. Plötzlich sah er klar – so klar, als ob er die Regungen eines fremden Lebens, vielleicht eines Tieres, beobachte -, wie sein tiefstes Sein, unbeeindruckt von dem Selbstbetrug des Ich, seine derzeitige Lage beurteilte. Diese Lage war ausweglos; er hatte sich hoffnungslos verfahren, er war ein auf Grund gelaufenes Schiff.
Eine Sibizgi in Begleitung einer älteren, männlichen Stimme entlockten Rohlfs ein sanftes Lächeln, doch allem Anschein nach kam die Musik nicht mehr aus dem Radiogerät, sondern von leibhaftigen Musikern. Rohlfs fand sich in einem kreisrunden, spitz nach oben hin zulaufenden Zelt wieder, das vollständig mit turkmenischen Teppichen ausgelegt war; einen Teppich aus Tangu konnte er auf den ersten Blick indes nicht ausfindig machen. Die Musik verstummte allmählich. Schritte und Stimmen entfernten sich vom Eingang des kreisrunden Zeltes. Auf einem kleinen Tisch in der Nähe eines Samowars entdeckte Rohlfs einen Teil seiner persönlichen Sachen. Auf seinem Skizzenbuch lagen das neue Diktiergerät, Papiere, Dokumente, Landkarten, die beschädigte Lesebrille sowie die alte Skibrille aus rotbraunem Leder mit Polycarbonatglas. Über einem Stuhl hing seine Uniform, sorgfältig übereinander gelegt. Auf der Sitzfläche des Stuhls befand sich Lucias blassblauer Schal sowie seine selbstgestrickte Mütze. Er selbst lag auf einem handgewebten Kelim aus Wolle unter einer schweren, bunt bestickten Decke, war in einen türkischroten Kaftan gekleidet und fühlte sich friedlich und gereinigt. Sein Kopf ruhte auf einem weißen Kissen. Ganz offensichtlich war er allein.
"Denkst du etwas?", fragte Constance in die Stille hinein. "Doch, du denkst doch etwas. Nie willst du sagen, was du denkst." - "Nein, Schatz, ich habe wirklich nichts gedacht."
"Für die magischen Praktiken der Primitiven interessierst du dich, Rohlfs, weil du das geistige Werden der Menschheit verfolgen willst. Und da hoffst du auf Einblicke, indem du den Zauberern und allen möglichen Quacksalbern zuschaust. In Wirklichkeit hegst du aber bloß eine Abneigung gegen alles, was Technik und Fortschritt ist, nämlich die Welt, wie sie nun einmal nur mit den Mitteln der höheren Mathematik zu begreifen ist."
Alle Begegnungen sowie deren Folgen sind ausschließlich rein zufälliger Natur, dachte Rohlfs. Ja, selbst die mit dem Gekreuzigten beispielsweise, dessen geschichtlich gewordene, geistige Bildung nicht einfach über Bord geworfen werden kann. Dass Mithra nicht Mensch geworden war wie der Gekreuzigte, hat ihn wohl von vornherein dem jüdischen Heiland unterlegen sein lassen. Vielleicht – so könnte man einen Augenblick, den Blick auf gewisse mythologische Analogien gerichtet, denken – hätte der griechische Herakles, der ja ebenfalls der Sohn eines Gottes und eines Menschweibes war, der als Knecht diente und die niedrigsten Arbeiten verrichtete und der sich, wie der Gekreuzigte, selbst opferte um darauf zu seinem Vater im Himmel zurückzukehren, eine solche Rolle übernehmen können. Wurde er doch nicht nur als Heros gefeiert, sondern in manchen Gegenden Griechenlands als Gott verehrt! Aber Herakles stand nicht im Brennpunkt der antiken Welt, wo Morgen- und Abendland sich berührten, sondern am Rande, irgendwo in Attika oder Böotien. Er erlebte nicht mehr die hohe Zeit der Jahrhunderte vor und nach Beginn unserer Ära, da, zur Zeit Alexanders des Großen und im Römerreich, die Religionen, die Kulturen, das Denken aus ihren Grenzen traten, ineinanderflossen, sich befruchteten, wie es der Gekreuzigte erlebte. Er war zu früh, er verkam irgendwo am Wegrand der Weltgeschichte. Sie ergriff ihn nicht, indem sie ihn zum Weltgott erhob, seinen lokalen Kult zur Weltreligion erweiterte.
Übrigens wäre seine ethische Substanz, trotz seiner ungeheuerlichen Selbstopferung, wohl zu gering für diese Rolle gewesen; er war ja weder für die Menschen noch für eine Idee gestorben, sondern um die Qualen zu beenden, die ihm das von seinem Weibe geschenkte, vergiftete Nesselhemd bereitete.
Waren es nicht gerade Verluste, die einem Menschen einen Grad an Tiefe verliehen, der ihn vom seichten Gewässer seiner Mitmenschen absonderte. An die jungen Jahre erinnerte sich Rohlfs allzu gut, als dass er auf die Idee gekommen wäre, es könnten etwa die Lebensjahre sein, die uns von anderen gewissermaßen abheben. Sollte es irgendetwas geben, das Alois für den Beruf des Lehrers auszeichnete, war es aus seiner Sicht doch die Empathie für das Kindliche, das Vermögen ins Staunen zu geraten. Ein wahrer Mensch sei laut Goethe, wer sein Kinderherz nicht verliere - nun ja, Wahrhaftigkeit, dachte Rohlfs; indessen war schwer abzuschätzen, wie, ob und in welcher Weise man in seiner Tätigkeit auf die Nachgeborenen wirkte. Gelegentlich waren es allerdings die feinsinnigeren Wesen, die uns spüren ließen, dass wir nicht vollends fehl am Platz gewesen sein sollten. Der Verlust eines nahestehenden Menschen, in seinem Falle der des Großvaters, schien, so dachte er, etwas wie eine Aneinanderreihung gewisser chemikalischer Reaktionen im Menschen auszulösen, die ihn, metaphorisch gesprochen, der nächsten Entbindung, der Vergänglichkeit, bereits ein wenig näher brachten. Eine Art Haltlosigkeit mochte ebenfalls Folge dieser Erfahrung sein.
Naturgemäß musste hier, im tiefsten Sinne des Wortes, auch ein fruchtbarer Nährboden für die Anbindung an den Glauben entstehen, womit man erneut bei dem Gekreuzigten wäre sowie der ungeheuren Haltlosigkeit der Spezies insgesamt. Der kollektive Verdrängungsprozess tat und tut allerdings sein Übriges und hier bewegte man sich bereits inmitten der Fluten der Aufklärung. Dass der Verlust unseres Selbst in greifbare Nähe rückte, war wahrhaftig die erschütterndste Erfahrung, die man bewusst zu erleben fähig sein konnte. Die Begegnung mit jenem gleißenden Licht, dem Fegefeuer, welches das Lebewesen, so dachte er, momentan von allem Irdischen zu entrücken im Stande war, veränderte den Betroffenen unmittelbar und auf unwiderrufliche Weise. Eine schwere Lungenentzündung ließ Rohlfs als Kind von etwa fünf oder sechs Jahren einmal in dieses Licht blicken, doch offenbar gab es etwas, etwas Stärkeres, das ihn daran hinderte hindurchzugehen.
Alois jubelte; er entschied sich für Frankreich. Er verabschiedete sich von Frau und Kindern und fuhr ins gelobte Land. Die Abordnung lautete auf Metz; also ging es nach Lothringen.
Der Führer wollte das Elsaß, wollte Lothringen, die der Versailler Vertrag zu Frankreich geschlagen hatte, zurüchgewinnen. Ein nationalsozialistischer Lothringer erläuterte den Lehrern die Absichten des Führers. Er empfahl ihnen die "direkte Methode", was nichts anderes hieß, als dass kein einziges französisches Wort gesprochen werden durfte.
In dem kleinen, zehn Kilometer moselaufwärts gelegenen Gaudach sollte Alois seine Sprachkünste ins Werk setzen. Die Eisenbahn brachte ihn nach Ars, das gegenüber von Gaudach auf dem linken Moselufer liegt. Der Bürgermeister von Ars, den er aufsuchte, empfahl ihm das Haus von Herrn Terclavers, in dem er eine gute Unterkunft finden werde.
Der Weg nach Gaudach führte ihn über eine hölzerne Brücke, unter der die Mosel, die hier gestaut war, donnernd hinabstürzte. Die Terclavers waren ein altes, kinderloses Ehepaar, in deren zwischen andere kleine Häuser hineingeklemmtes Haus er ein gut möbliertes, geschmackvoll tapeziertes Zimmer bezog. Alois verstand nur wenig von dem, was die Leute höflich und freundlich parlierten, doch verstanden andererseits sie sehr gut, was er sagte. Anscheinend waren sie befriedigt, dass der deutsche Lehrer französisch verstand und zu sprechen versuchte.
Das Schulhaus, das sich nicht weit vom Haus Terclavers erhob, war ein die Blicke eines Reisenden auf sich ziehendes Gebäude aus gelbem Sandstein. Mit seinen Fenstern und dem Portal beeindruckte es den Betrachter und war doch ein Fremdkörper unter den bescheidenen Häusern der Ortsansässigen, zwischen denen sich da und dort ein vornehmes Haus mit marmorner Freitreppe erhob. Das Schulhaus war ein deutscher Bau aus der Bismarckzeit. Es gehörte nicht hierher.
Die Kinder, ein Haufen wohlerzogener Knaben und Mädchen (oder wichen sie bloß vor dem deutschen Lehrer zurück?), waren sichtlich überrascht, als Alois sie auf französisch ansprach. Er ließ sie einzeln vortreten, setzte sich auch mitten unter sie auf eine Bank und notierte ihre Namen. Roland Hochard, Roger Coltin, Hubert Méa, Marcellus de Cillia oder Gilberte Bévilacqua, Jaqueline Boda, Denise Paniel, Bernadette Brulhard – alles Namen von einschmeichelndem, gallischem Klang, den er so liebte. Die Welt, die ihm da auf einmal naherückte, hatte ihm der Führer, den er durchaus nicht liebte, zum Geschenk gemacht. Noch mehr waren die Kinder überrascht, als er auf französisch zu unterrichten begann. (Das war es freilich nicht, was der lothringische Schulrat mit dem schwarzen Hakenkreuzabzeichen von ihm erwartete.) Die Kinder erzählten es ihren Eltern und er freute sich, wenn er auf der Straße an ihnen vorbeiging, über ihr freundliches "Bonjour Monsieur!"
"Salam aleikum!", hörte Rohlfs jemanden sagen, noch bevor er ein Gesicht ausfindig machen konnte. Langsam schob sich ein junger Mann in einem Lammfellmantel mit einem vernarbten Gesicht durch den Zelteingang. "Salam aleikum!", wiederholte der Mann und verbeugte sich schließlich mehrmals vor der Lagerstätte, ehe er sich in einigem Abstand im Schneidersitz auf einen Diwan setzte. "Wa aleikum as-salam!", entgegnete Rohlfs mit beinahe feierlicher Stimme und hätte seinen Kopf als Zeichen des Dankes, Entgegenkommens und Anstands gern ein wenig höher gehoben, spürte aber sofort, dass er hierfür noch allzu erschöpft war.
"Sälemetsis be!", hörte er kurz darauf eine zweite Männerstimme, die einem kleinen, rundlichen alten Mann in einem langen Gewand aus feinem weißen Leinen mit Würfelmuster gehörte, der ein zerfleddertes Buch bei sich trug und sich nach einem ähnlichen Begrüßungsritual neben dem Mann mit dem vernarbten Gesicht auf einem zweiten Diwan platzierte. Der Alte blätterte eine Weile in dem Buch, bei dem es sich, wie Rohlfs bald herausfand, um ein kasachisch-deutsches Wörterbuch handelte, und begann seinem Nachbarn daraufhin genaue Instruktionen zu geben. Von Zeit zu Zeit schenkte man Rohlfs ein freundliches und verbindliches Lächeln. Zu guter letzt betraten fünf weitere Männer in gröberen Stoffen aus Ziegen- und Kamelhaar die Jurte und setzten sich schweigsam hinter die beiden anderen auf einen Teppich. Nacheinander stellte der Alte nun die Männer hinter ihm als Ahmet, Muhammed, Eugeniy, Rumazan und Iskender vor. Sein Nachbar erhob sich kurz und gab Rohlfs mit wenigen, teils schwer verständlichen Worten zu verstehen, dass er ihn am Wegrand aufgelesen hatte. Sein Name war Kuralbek und er komme aus Avangard. Amir, sein Großvater, sagte er hiernach mit einem liebevollen Blick auf den Alten, sei vor langer Zeit einmal in Almanīya gewesen.
"Ja, ja, Almanīya, Almanīya! Ja, Almanīya Reich! Almanīya Krieg, Krieg! Benzin! Almanīya Benzin! Krieg! Almanīya Reich!Reich Benzin!", sagte der Alte und klopfte sich lachend auf die Schenkel um endlich in ernstem Ton hinzuzufügen: "Alt Mann Eis! Emil, o Emil! Eis, Mann! Avangard, Avangard. Doktor Roman, Doktor Said. Avangard. Gut! Doktor Ahmet, Doktor Muhammed, Doktor Eugeniy, Doktor Rumazan, Doktor Iskender! Kuralbek, er nemere! Gut! Verstehen? Auto tot! Tot! Alt Mann, sehr Salz! Sehr Salz!"
Im Anschluss an diese Worte standen die Männer einer nach dem anderen auf und verließen die Jurte in teilnahmsvoller Trauer. Als letzter verließ der Alte das Zelt, hielt jedoch am Eingang einen Moment inne und sagte hinter vorgehaltener Hand: "Telefon! Uyaly telefon! Zhar! Frau! Frau! Frau! Uyaly telefon, Doktor Muhammed, uyaly telefon, uyaly telefon, Doktor Muhammed! Almanīya! Auto! Almanīya! Auto! Salz! Almanīya! Auto! Auto! Qyzylzhuldyz! Qyzylzhuldyz! Qyzylzhuldyz!" Der Alte wiederholte die letzten Worte im Hinausgehen noch einige Male, bis es dann wieder still um Rohlfs wurde. Er wusste, dass es nun höchste Zeit zu handeln war, auch wenn man sein Vorhaben als gescheitert betrachten musste. Es gelang ihm mit ein wenig Mühe aufzustehen und, nachdem er sich drei Mal gen Osten verneigt hatte, sein Hab und Gut an sich zu nehmen. Bei Allah, er hatte sein Ziel erreicht.
Der Anruf sei für ihn gewesen, erklärte sich Rohlfs die Worte des Alten beim Ankleiden, was ebensogut ein Missverständnis sein konnte, denn wie sollte irgendjemand ihn auf jemandes Mobiltelefon anrufen, den er selber gar nicht kannte. Jetzt in dieser Jurte zu bleiben, wo er sicherlich wohl versorgt sein, aber absehbar nichts weiter geschehen würde; man müsste einmal schauen, was geschah, wenn man ein wenig hinausgehen würde. Ebenso nichts, wie Rohlfs bemerkte, der sich ein wenig umsah. Man hatte die üblichen Sächelchen, die eigentlich weggeworfen gehörten, in die eine oder andere Ecke gerückt, ein kaputtes Kinderfahrrad, mit rosa Sprühlack vor Zeiten einmal für ein kleines Mädchen hergerichtet, das inzwischen erwachsen und in die Stadt gezogen war, stand ohne Hinterrad auf Sattel und Lenkstange.
Auch wenn man sich etwas weiter von der Jurte entfernte, geschah nichts. Die Bewohner hatten auf ihre Weise jeder für sich in irgendeinem Winkel zu tun, bis zur Straße waren es vielleicht dreißig Meter, ein Graben, der sich im Nichts verlor, ebenso wie ein Zaun, an dessen Resten ein paar Plastikfetzen flatterten. Es war eine der Pisten, auf denen nicht jede Stunde einmal ein Fahrzeug entlangfuhr, und doch gab es Verkehr, zum Beispiel diesen maisgelben Mercedes, wie sie wohl gerade in solchen Weltgegenden von der einstigen Dauerhaftigkeit Stuttgarter Wertarbeit kündeten. Er zog erst eine gewaltige Staubwolke hinter sich her und näherte sich schließlich doch mit beachtlicher Geschwindigkeit, schwerere Wagen steckten ja eine Holperstrecke bekanntlich mit einer Art Achselzucken weg.
So war es also doch richtig gewesen, dass Rohlfs nicht in der Jurte geblieben war, von wo aus man ihm, wie er beim Einsteigen bemerkte, zum Abschied zuwinkte.
"Hallo, pünktlich auf die Minute, ich dachte erst, ich sei doch am Telefon nicht richtig verstanden worden. In dieser gottverlassenen Gegend würde es ausgerechnet eine Tankstelle geben?" - "Ja, ja", entgegnete Rohlfs, "man denkt, alles müsse hier weit weg sein, weil die Gegend an sich so weit ist. Tatsächlich ist man aber zu Fuß in ein paar Minuten da." - "Dann lass uns dort ein Tässchen Kaffee trinken, ich glaube, es ist gerade die richtige Zeit. Aber nicht, dass du mir gleich wieder verschütt gehst!"
Rohlfs machte sich an seinem Hosenbein zu schaffen und bemerkte, dass er nur einen Strumpf trug. Das Skizzenbuch verstaute er sorgfältig im Handschuhkasten, wo Constance schön aufgeräumt hatte. Sie bogen in die Tankstelle ein, es war überraschenderweise eine europäische Kette, oder eine Art Replika davon, jedenfalls standen da die üblichen Preistafeln, auch flatterten drei, wenn auch vom Steppenwind etwas mitgenommene, Fahnen verzweifelt im Wind.
"Da wären wir also."