Donnerstag, 27. Dezember 2018

S / W 3 & 4



[Horst Paetzold, "Die Brücke" (1968)]





3





"A well'a bless my soul
What'sa wrong with me?
I'm itchin' like a man in a fuzzy tree
My friends say I'm actin' wild as a bug
I'm in love
I'm all shook up"

(Otis Blackwell/Elvis Presley)







Das Gel in den Haaren geht mir auf die Nerven, mehr noch aber das Fernsehprogramm. Am meisten wohl die Musik darin.

Die Affekte der Kinder trifft es am nachhaltigsten. Praktisch kommen sie nie aus dieser Art Sklaverei heraus. Und dann Wiedergeburt - das letzte Mal wie neu geboren fühlte ich mich, als man mich an einem Tag aus dem halb geöffneten Fenster eines fahrenden Zuges geworfen hatte.

Vermutlich waren Wegweiserzinken das letzte, was ich noch im Moment des Aufschlags vor Augen sah. Wohin aber? Viel zu matt war mein Verstand in diesem Moment, als dass ich einen Vorschlag hätte machen können. Oh, so ein dünnes Fädlein, das da auf einmal abzweigt aus dem Gewirr, wo zu viele Fäden parallel laufen, die Kurve schlägt, almost fading away, und gerade noch wieder andockt, saftig werdend, Halm eines Grases, das doch nicht abgeschlagen vertrocknen will und vielleicht sogar einen circle bildet mit einem weiteren Faden, um wieder zum festeren Faden zu werden. Nach einem letzten Blick auf die Zinken rasen die Bilder durch das, was von meinem Schädel übrig geblieben sein muss. "Entfliehe nicht, schwebende Nymphe!", rief Robert der Kellnerin hinterher, ja, er lief ihr sogar nach. Ihr Antlitz war das Biankas. Ich hatte ihr die Treue geschworen bis in den Tod, nachdem sie uns aus der Bodenkammer befreit hatte. Sie gab uns andere Kleider, wir maskierten uns und führten eine Komödie auf. Bilder aus dem Karzer, dem TV im Gemeinschaftsraum, Klo- und Gefängnisgraffiti, von der Flucht nach Kanada und dem Wiedersehen mit MM. "Ich habe mich in einigen Bädern herumgetrieben. Morgenspaziergänge, Brunnentrinken, Spielbänke gaben reichliche Ernte." Bianka rief uns zu: "Oben ist es eher kühl, für die Heizung legt man hier nur einen Schalter um und es pustet aus diversen Ritzen mal mehr, mal weniger. Am wärmsten ist es im Bad und sozusagen in der Waschküche, in der Küche um die Ecke, wo Waschmaschine und Trockner stehen und die leeren Bierdosen gesammelt werden. Den Trockner benutzen wir nun wirklich nicht, Spülmaschine inzwischen schon und heute habe ich sogar vier Teller à 3 Dollar ergattert, die sonst wohl 11 kosten." Nur immer praktisch!

Kaffeepulver habe man in meinen Taschen gefunden, in den Hemd- und Hosentaschen sowie im Futter meines Jacketts. Weiß der Teufel, wie das Zeug da hineingekommen sein mag. Nicht die geringste Erinnerung an einen derartigen Unfug. Gestohlen habe ich allerdings zeit meines Lebens, irgendwann aus Prinzip. Meist unnützes Zeug, Kleinkram, Ührchen, Pretiosen, Busennadeln, Essbares natürlich, niemals Geld, es sei denn jemand hat's verdient. Gesessen haben Robert und ich allerdings immer wieder – muss so etwas wie ein Fluch sein. "Alter Junge, du hier? Sag mir doch flink, wie kommst du hierher?" Man findet sich erstaunlicherweise auf Anhieb, lernt schnell all das hinzu, was sich in der Zwischenzeit verändert hat, und schlägt sich durch. So einfach ist das! Zugegeben, mit den Namen ist das von Mal zu Mal ein kleines bisschen pikant, zumal man zunächst nicht wissen kann, ob's sich um die Richtige handelt. "Entfliehe nicht, schwebende Nymphe!", muss man ihnen hinterherrufen, damit sie einen erkennen. Letztlich ist's gleich, ob man sie Rösel, Lenchen, Loisa, Nataly, Maria Magdalena, Marilyn, María José oder – schlicht und ergreifend – einfach MM ruft. Erkennen müssen sie einen, bevor man auf Wanderschaft geht. Nur immer praktisch!

Bisher konnte man das Reisen gemächlich angehen: Kartoffeln schälen an Bord irgendeines Dampfers mitten auf dem Ozean, Gelegenheitsjobs, Kirmes, Straßenmusik, kein Mangel an Einfällen, immer wieder Zufälle, Durchfälle von den Abfällen und – auch hieran sollte sich wohl oder übel nichts ändern – unglückselige Unfälle. Von den jämmerlichen Beerdigungen, dem Herrgott sei Dank, bekam man dann nicht mehr sehr viel mit.

Am vergnüglichsten sind die Seelenwanderungen, die einem jedes Mal wie eine Ewigkeit vorkommen. Die Geschichte mit der Zeit ist aber natürlich – wen mag das noch wundern? - nichts weiter als ein fauler Zauber. Daher vielleicht die allgemeine Heiterkeit hier oben. Ein wenig Routine kann einem das Ganze freilich schon erleichtern. Am meisten freue ich mich hingegen auf die Planeten, auch wenn man die Murmeln derweil aus der Röhre kennt. Immer wieder verweile ich vor den Ringen des Saturn und laufe Gefahr, die Rückkehr zu vergessen. Schwarze Löcher verstand ich indes bisher zu meiden wie die Pest, wofür dem Herrgott an dieser Stelle nochmals gedankt sei. Erfreulich ist immerhin auch, dass sich die Seele von all den Temperaturschwankungen nicht weiter beeindrucken lässt.

Schon im Waisenhaus hielten mich die meisten einfach nur für einen Spinner, wenn ich von meinen früheren Missetaten oder den Ringen des Saturn berichtete. Das Kindsein ist dann doch eher lästig, da man in dieser Zeit beinahe alles vergisst, was man in vorangegangenen Leben gelernt hat. Im Moment des Aufschlags, wie in meinem Fall, zumindest aber in dem Moment, in dem der Herzschlag aufhört oder endet, lernt man im Grunde genommen all das, was für die weitere Wanderschaft unerlässlich ist. Nur der King wusste um die einzuschlagenden Wege, was man ihn singen hören kann, oh Lord, yes I'm gonna walk on that milky white way, oh Lord, some of these days. Nur immer praktisch!

Beeindruckt waren die Kameraden immerhin, als sie erfuhren, dass ich über meine kleinen Diebstähle Buch führte. Bäumler bezeichnete das Buch irgendwann einmal als das Buch der Lieder. Meine Blue Suede Shoes, wie ich sie nannte, die ich als Dauerleihgabe vom größten Schuster im Ort betrachtete, hegte und pflegte ich jedenfalls mit der gleichen Strenge wie in dem Song von Carl Perkins. Ellenlange Spitzen hatten die Dinger, waren aber schon ziemlich runter, als ich Marion Maler begegnete, die für mich Anlass genug war aus dem Waisenhaus auszukratzen. Sechzehn oder siebzehn muss ich da gewesen sein. MM, sie bestand darauf, dass ich sie so rief, brachte mich auf den Geschmack für so einigermaßen alle Triebseligkeiten, die das Leibliche für uns vorgesehen hat. Später, so sagte sie mir, erinnerte sie sich bloß an Spermaregen, wenn sie an uns zurückdachte. Schließlich war sie damals auch erst höchstens zwanzig. Irgendwie landeten wir dann auf dem Schiff nach Québec City, wo wir in Sichtweite des imposanten Château Frontenac anlegten. Der Anblick der farbenprächtigen Küste bringt mich noch immer um den Schlaf, zumal wir das Kartoffelschälen satthatten.

Unterwegs las ich ihr manches Mal aus dem Winnetou vor, wobei sie meinte, es komme ihr dabei bloß auf meine Stimme an. Diese nicht enden wollenden Dialoge! Irgendwann gegen Ende des vierten Kapitels warf ich das Buch, ebenfalls eine jener Dauerleihgaben aus der örtlichen Bibliothek, sanft über Bord. MM war zuvor auf meinem Schoß eingeschlafen. Während dies geschah, wurde mir mein Bärentöter gebracht. Ich untersuchte ihn; er befand sich in gutem Zustande. Beide Läufe waren geladen. Natürlich wollte ich sie unter keinen Umständen aufwecken.

Die Aufgeschlossenheit gegenüber neuen Einwanderern war weitaus geringer als unterwegs erhofft. Sicher brachte ich einige Fertigkeiten aus dem Kinderheim mit, für die man sich hier interessierte; vor allem ein dressiertes Maß an Männlichkeit und Anstand. Nach anfänglichen Verhören wegen unserer Unpässlichkeit, unsere Pässe gaben wir vor verloren zu haben, duldete man uns schließlich als travailleurs temporaires. Schon bald bewährte ich mich als Fallensteller, während MM sich weiterhin als Küchengehilfin verdingte.

Natürlich wurde MM noch vor Anbruch des vierten Winters in den Wäldern von einem Bären zerfleischt, als sie mir ein Dîner zur Arbeit bringen wollte. Meinen Bärentöter trug ich unglücklicherweise nicht bei mir. Das war wohl der Lauf der Dinge.

Bevor ich im Frühjahr des darauffolgenden Jahres beschloss, nach Europa zurückzukehren, auch weil ich Malina, Marion Malers acht Jahre ältere Schwester, davon unterrichten musste, was MM zugestoßen war, suchte ich mir zunächst eine Zeitarbeit als Gärtner bei einem Nachbarn des stadtbekannten Rechtsanwalts Villette, bei dem ich bis Anfang Mai jeden Mittwoch arbeitete. Wenigstens einmal in meinem Leben war ich ohne zu stehlen, ohne zu betrügen und ohne zu contrebandiren über die Runden gekommen. Andererseits hielt ich es doch für rechtmäßig, ihm ein wenig Bares zu entwenden. Ermordet hat ihn übrigens nur ein paar Jahre später ein armes Schwein namens Keller, den man seinerseits unweit vom Château Frontenac über den Haufen geschossen haben soll. Am achtzehnten schälte ich dann wieder Kartoffeln an Bord der Sapphire Princess.

Malina gabelte ich erst im März des nächsten Jahres am Mainufer in Frankfurt auf. Obwohl ich ein Foto von ihr mit mir herumtrug und ihr Gesicht studiert hatte, erkannte ich Marions Schwester anfangs nicht. Es waren ihre Augen, in denen sich das Gedicht widerzuspiegeln schien, das jemand in winzig kleinen Buchstaben auf die Rückseite des Fotos geschrieben hatte.

Der Abschied, ja - | Der Abschied war dann leicht: | Dein klarer Satz; | dann Menschen, | Denen man die Hände reicht.

Doch bin ich traurig, ohne Sinn | Ich leide an der Richtigkeit.

Malina trug schwarze, abgetragene Hi-Heel Sneakers, einen viel zu kurzen Rock aus rotem Kunstleder, trank Rotwein aus einer Tüte, Tetrapak, und mochte Männer nicht, besonders nicht, wenn sie unvermittelt von ihnen angesprochen wurde. Ich fasste mich folglich kurz. Sie schien allerdings ungerührt von meiner Nachricht. Das Foto nahm sie dankend entgegen. "Sehen Sie, die meisten Männer sind im Grunde genommen wie Elvis, wollen die Mädels Baby rufen, suchen aber eigentlich nach ihrer Mama, einer Möse, einer Mieze oder einer Muse. What difference does it make? Marions und meine Initialen sind buchstäblich ein gefundenes Fressen für Fallensteller wie Sie. Love me tender. Steckt natürlich unser Vater dahinter. Martha, unsere Mutter, ist dann mit einem Michel durchgebrannt. War auch nicht besser. Wundert mich nicht, dass Marion früher oder später einem Bären zum Opfer fallen musste. Mit mir nicht, Mann!"

Zum Abschied gab mir MMs Schwester noch die Adresse eines, wie sie sagte, halbjüdischen Schriftstellers namens Ipelmeyer in der Nähe von Wiesbaden, bei dem ich unbesorgt für eine Weile untertauchen könne. Es sei zwar nicht ganz leicht zu ihm durchzudringen, doch seine Tochter Isidora sei dafür äußerst hilfsbereit. Außerdem sei sie durch und durch verschwenderisch, was sie aus ihrer Sicht zu einem begehrenswerten Frauenzimmer mache.

Aus irgendeinem, mir unbekannten Grund kam ich nicht umhin, Malina noch zu fragen, woran sie wirklich leide und ob es der Unglauben an Gott sein könnte. Malina gab mir zu verstehen, dass sie an so etwas nicht einmal im Traum dachte und dass es das künftige Leben sei, das ihr zu schaffen mache. "Das ist ein solches Rätsel", sagte sie. "Sehen Sie doch nur die Richtungslosigkeit allerorts. Die meisten hier unten am Mainufer kenne ich inzwischen gut, ja, ich kenne die Leute hier unten. Wenn sie dann aber von uns gegangen sind, meinte Marion, Marie nannte ich sie immer, damals, dann sind sie so endgültig, verstehen Sie?"

Ich nahm die Adresse der Ipelmayers und den nächsten Bus in Richtung Taunus, nicht ohne mich bei der Sorge zu ertappen, dass ich eines großen Geistes wie dem Ipelmeyers vielleicht vollkommen unwürdig sein musste. Hatte er nicht alles erreicht, was ein Autor in belanglosen und unverbindlichen Zeiten erreichen konnte? Zugegebenermaßen strebte Ipelmayer nicht nach Ruhm oder dem, was man einmal unter Größe verstanden haben mochte. Als halbjüdischer Schriftsteller, dachte ich, hatte er zumindest die Geschichte auf seiner Seite und die Gewissheit, dass er sich allein durch den Bezug auf einen Teil seiner Vorfahren, in seinem Fall den mütterlicherseits, legitimierte. Ipelmayer hatte ein Thema, dachte ich und rang den Gedanken in mir nieder, dass man meine Überlegungen in irgendeiner Weise als antisemitisch auffassen könnte. Ipelmayer, etwa in seinem Jüdischen Begräbnis, hatte ein Thema, über das man nicht einfach hinweggehen konnte. Seine christlichen Zeitgenossen hingegen hatten meist keines, nicht einmal mehr Christus, der sie insgeheim mit seinen Barmherzigkeitsappellen zu Tode langweilte.

Meine Sorgen bezüglich meines Gastgebers erwiesen sich allerdings als vollkommen unbegründet. Was für ein außergewöhnlich aufgeschlossener Hausherr Ipelmeyer war, erfuhr ich im Verlauf von vier wunderbar innigen Tagen im Taunus, die ich tief in meine nächsten Leben mitnehmen wollte.

"Mit der derzeitigen Feindseligkeit", meinte Ipelmayer auf der Veranda, nachdem er die zweite Flasche Rheingauer geöffnet hatte, "gegen begeisterte Verehrer eines literarischen Werks muss man sich wohl oder übel abfinden. Andererseits ist das natürlich alles nichts Neues. Schließlich hat man nie und an keinem Ort, etwa im Bus, sagen wir den Ulysses gelesen. Lesen, Welck, das tun seit jeher nur die einsamen Damen am Fenster, meist im Herbst. Herrlich hingegen, wenn sich hie und da ein Kerl wie Ihr Bäumler aufschwingt und meint, neues Leben in den unaufhaltsamen Strom des geschriebenen Worts hauchen zu müssen. Da ist die alte Wucht des Ideals am Werk, Welck. Das gefällt mir. Derzeit treibt er, so habe ich mir sagen lassen, sein Unwesen mit einem Kerl namens Rohlfs, der früher einmal in Erbenheim für das Amt für Verteidigungslasten gearbeitet haben soll und seinen Lebensunterhalt inzwischen als Kassierer für eine Tankstelle verdient. Gemeinsam glauben sie an die Wirkungskraft des Romans, man weiß nicht warum, dem sie als Sinnbild die Tankstelle als Tempel unserer Zeit zusprechen. Konsequenterweise geht es um Energie. Ein Roman, Welck, die Gegenwelt vergangener Jahrhunderte! Was für eine Anmaßung! Da lachen ja die Hühner! Hören Sie? Als zwar nur, das hängt natürlich vom Blickwinkel ab, man könnte auch sagen, als immerhin Halbjude kann ich mir noch immer, allen Anfeindungen zum Trotz, ein wenig mehr herausnehmen als so manch ein deutscher Helmut etwa. Das ist nun einmal so, bei allem gebührenden Respekt, Welck, das ist nun einmal so. Man denke nur an den Biller – aber lassen wir das! Meine Mutter schon lehrte mich das Argument. Wenig erhellend ist indes, was man so zu hören bekommt zur Zeit. Schnöde Schweizer erheben hohe Bußgelder, pöbelnde Polizisten entblößen tugendhafte Damen am französischen Strand. Oh ja, die vox populi tobt gleichermaßen! Nein, dem, was man gemeinhin die Stimme des Volkes nennt, kann man selbstverständlich nichts entgegensetzen. Da bleibt dann allenfalls klägliche Satire und Klamauk, was uns der Sorge um das tägliche bisschen Fressen natürlich nicht enthebt, sowie die vielen tausend verschmitzten Busenblitzer in den sogenannten Medien, Welck. Ein Zeitalter der Spionage und des Voyeurismus, Welck! Die Demokratie, Welck, terrorisiert das ihr Fremde seit jeher mit ihren Mitteln, mit Rechtsmitteln, Welck, mit Rechtsmitteln. Wir leben, Welck, inmitten eines Wettbewerbs des Schreckens – und das olympische Glück und Heldentum des Sports ändert daran rein gar nichts; vielmehr verleiht es dem ganzen Spektakel allenfalls noch die Aura einer Tragikomödie. Im Gegenteil, möchte ich sagen, ganz im Gegenteil. Und mein Urteil hierüber ist kein Geheimnis: Das ist die Art von Imperialismus, Welck, nach der die vox populi seit jeher lechzt. Das ist die Art von Gewalt, die wir sehen wollen. Im Vergleich zum Ruhm des Athleten unserer Zeit erscheint die Macht der Aristokraten etwa im vorrevolutionären Frankreich als geradezu schäbig. Hamstereien, Welck, alles Hamstereien. Gold und Silber für das Vaterland. Das Imperium zollt seinen Tribut, versetzt mit dem Flair des Exotischen. Feigen und Granatäpfel, Mangos und Papayas, Welck! Verzehren Sie wurmstichiges Obst! Das wird Ihnen die Augen öffnen! Da kommt der Roman als letztes Bollwerk gegen eine Kultur aus Botox und Silikon gerade recht. Oder etwa nicht, Welck?"

"Innovation, Welck", dozierte Ipelmayer, nachdem er die dritte Flasche Rheingauer geöffnet hatte, "Innovation kann nur durch Verbindlichkeit entstehen. Längst überholt ist doch jene Vorstellung vom autonomen Individuum, Welck – oder jene vom einsamen Autor, dem es mit eisernem Willen und Urheberkraft immer wieder gelingt, aus den Tiefen seines Selbst, Wertvolles, ja Großartiges hervorzuholen. Seit unzähligen Jahrhunderten lässt er nunmehr seine zahllosen Benennungen aus sich herausbrodeln, Namen für eine Vielzahl von Göttern, Projektionen auf den Einen hin, den Einzigartigen, ob weißbärtig, dunkelhäutig, allmächtig oder mehrarmig, bevölkerte Welten in unerreichbarer Ferne, Mathematik und Logik als Heilsbringer, Scharlatanerien, Glücksbotschaften, Visionen, Welck, Reinkarnationsvisionen, die die tröstliche Handgeste Kalis heraufbeschwören. Köpfe müssen rollen, Arme abgeschlagen, Zungen herausgerissen werden. Das Wesen der Umgestaltung liegt in der Verbindlichkeit. Der eingeschlagene Weg der Unverbindlichkeit ist der einer vollständigen Vermuschelung. Längst schon sind hier schier unverwüstliche Lebensformen aufgetreten, die sich schwerlich leugnen lassen: Die geschäftstüchtige Karrieristin beispielsweise, deren Gehäuse mit wenigen Ausnahmen meist gleichklappig ist. Das Schloss ist für gewöhnlich gut ausgebildet und die Schließmuskeln sind meist isomyar. Selbstverständlich gibt sie all das, wovon sie felsenfest überzeugt ist, ja, Überzeugungen sind ihre Antriebskraft, wortwörtlich wieder, ohne es auch nur im Allergeringsten in Erwägung zu ziehen, ihre Zitate kenntlich zu machen. Wozu auch? Ihre Schale ist schließlich, wie die der meisten Muscheln, aragonitisch mit überwiegend kreuzlamellaren und prismatischen Mikrostrukturen. Das Schloss des Programmierers hingegen besteht aus je zwei Kardinalzähnen in beiden Klappen. Sein vorderer Schließmuskel ist stark verlängert und schmal. Analphabetismus begünstigt seinen Erfolg. Der Vermögensberater ist eine sehr konkurrenzstarke Art und heftet sich mit unnachahmlicher Beharrlichkeit an Wasserpflanzen und Großmuscheln. Die Schließmuskeln sind nur leicht unförmig. Der Fuß ist groß und kräftig. Der Vermögensberater liebt die Dunkelheit Finnlands, die freie Improvisation und veröffentlicht seine Urlaubsbilder im sozialen Netzwerk. Venus aber, die Göttin der Bäume und Früchte, wenn sie dem Schaum des Meeres entsteigt, lässt uns, Welck, Groll und Sorge vergessen."






4



  "There must be some way out of here", said the joker to the thief,
"There's too much confusion, I can't get no relief.
Businessmen, they drink my wine, plowmen dig my earth,
None of them along the line know what any of it is worth."

(Bob Dylan)







"Klar, irgendwie muss man immer wieder aus all dem raus", sagte Bäumler zu Welck im Bus, "und letztlich ist man, wie du inzwischen ja weißt, nichtmals im Himmel mehr sicher. Gut, dass du mich zumindest ohne große Umschweife gleich gefunden hast. Meine Bemühungen, Welck, waren, weiß Gott, nicht umsonst."

"Wir müssen nur die Himmelsrichtung ändern", sagte Welck in dem Bus in Richtung Osten.



Donnerstag, 20. Dezember 2018

Bzw. ۲ ۲ ۱ [Für Heinrich Heine & Europa]



[Europa und der Stier,
 Fresko aus Pompeji (1. Jahrhundert n. Chr.)]



Bzw.


Das glänzendste Geschäft in dieser Welt ist die Moral. [Frank Wedekind]


I.

Man sah im abendlichen Bad das Hin- und Widertreiben von Köpfen der Brustschwimmer, in dem spiegelnden Wasser darunter schemenhaft schlierend Bewegungen von Armen und Beinen. Zwei Blondinen, das blondierte Haar am Kopf festgesteckt, so dass es möglichst nicht mit dem Chlorwasser in Berührung kam, schwammen in einigem Abstand, nicht etwa wie plaudernde ältere Damen nebeneinander -, sondern hintereinander her. Es konnte kein Zweifel darüber bestehen, dass sie dennoch zueinander gehörten, so sehr stellte eine die ungefähre Nachahmung der anderen dar. Blonder erstere, auch das Haarbürzel etwas höher aufgesteckt, hielt sie das Gesicht in der Weise der Schwimmerinnen aufrecht über dem Wasser, die nicht wollten, dass es etwa nass werde, ganz so wie man es tat, wenn man das Schwimmen zwar erlernt hatte, aber wie man lernt, indem man fest stehende Regeln befolgt ohne Genaueres über ihren Zusammenhang mit der Wirklichkeit zu wissen und auch davon nichts wissen zu wollen. So geschah das Schwimmen in einer Art getreuer Pflichterfüllung, man kam durchaus vorwärts, wenn auch wie von einem geheimnisvollen elastischen Band immer gerade dann festgehalten, wenn der eigentliche Vortrieb erfolgen sollte. Das mochte ja auch so sein, wenn man etwa wirklich sportlich schwamm, was hier aber entschieden nicht geschah, denn das Schwimmen war ein Akt höherer Hygiene, welcher der Gesundheit in einem allgemeinen Sinne und aus einem speziellen  Blickwinkel förderlich sein wollte. Zwar sah man die Badeanzüge der beiden Schönheiten nicht, mit Sicherheit waren sie aber durchaus nicht sportlich, was seinerseits etwas Erlösendes haben konnte angesichts all der Funktionalität, der man in mitteleuropäischen Breiten in Hinsicht auf die Kleidung so entschlossen Vorrang einräumte. Dennoch war aber auch bei diesen Damen nichts Weiteres zu erwarten, denn sie waren zwar schön, allerdings im Sinne einer allgemeinen Pflichterfüllung bezüglich ihres weiblichen Daseins, nämlich der, besonders adrett zu sein. So wie sie schön waren und züchtig einherschwammen, wischten sie Staub, reinigten den Herd beziehungsweise ließen es gar nicht dazu kommen, dass er verschmutzte oder gar roch. So saßen sie hinter dem Steuer, etwas dicht und sehr aufgerichtet in einem fast neuen Wagen, in jedem Falle darauf bedacht, die Vorschriften zu beachten. Eine kleine Beule würde ja auch dem ungerechten Vorurteil Vorschub leisten, man sei als Frau weniger dazu befähigt, Auto zu fahren, auch seien die Fahrten, die man zu bestehen hatte, von geringerer Bedeutung als die der Männer. Dass man nicht recht vorwärts kam, lag nicht etwa daran, dass der Wagen von einem geheimnisvollen Band zurückgehalten wurde, sondern dass man sorgfältig die Gänge einlegte und die Geschwindigkeitsbeschränkungen beachtete. Jedenfalls war man noch in keine Radarfalle geraten. Mochten andere Frauen ihrerseits in lauten Unterhaltungen begriffen zwei Bahnen des Bades in Anspruch nehmen, es waren die Dicken, vielleicht noch dazu beim Aquajogging, die immer dick blieben, so wie man selber schlank, gerade weil man eben schwamm, sinnvollerweise in einigem Abstand hintereinander her. Die Reihenfolge hatte sich irgendwann so eingespielt, nicht etwa dass eine schneller war als die andere, der Abstand blieb ja immer gleich, oder es auch nur sein wollte. Wenn auch die erstere von beiden insgesamt etwas zierlicher als die zweite war, deren Haar etwas tiefer zusammengebunden und das in Strähnchen blondiert war, so konnte man doch glauben, zweitere räume der ersten einen gewissen Vorrang ein; mochte sie zierlicher und feiner sein, so war sie doch auch empfindlicher und jedenfalls bestimmter Rücksichtnahmen bedürftig. [B. Karl Decker]


II.


Deutschland. Ein Wintermärchen (Bühnenstück)


In dreißig Akten (Bildern von jeweils rund zwei Minuten) sprechen dreißig Sprecherinnen und Sprecher aus möglichst unterschiedlichen Regionen der Welt ausgewählte Strophen aus Heines Gedicht, Caput (=C) I – XXVII [s. Partitur] von einem präparierten Zuspielband. [Gegebenenfalls können sich die Rezitatorinnen und Rezitatoren nach bewährter Bühnenpraxis auch unter das Publikum mischen.] Von einem weiteren Zuspielband, gegebenenfalls auch von einem gemischten Chor (maximal zwölf Sprecherinnen und Sprecher) sind Radioschnipsel [s. Partitur] in deutlich vernehmbarer, gemäßigter Lautstärke zu hören. Die einzige Bühnenfigur, der Dichter Mozafer, schweigt nahezu durchgängig bis zum Abschlussmonolog in Akt 29.
Die Klangcollage beginnt im vierten Akt. Die Rezitationen und Radioschnipsel überschneiden sich; gleiches gilt für den Abschlussmonolog.

I. Handlungsablauf:

1er Akt
Ein kleines Zimmer, in dem ein Bett, ein Nachttisch, ein Stuhl und ein Schreibtisch steht. An der Wand gegenüber dem Bett hängt ein Spiegel. Mozafer liegt im Bett, vollkommen zugedeckt.
2er Akt
Mozafer hustet. Minuten später gedämpftes Geschrei aus der Ferne. Er hebt seinen Kopf und blickt sich in seinem Zimmer um.
3er Akt
Mozafer versucht, sich aus seinem Bett zu erheben, wälzt sich jedoch stattdessen lange darin herum.
4er Akt
Er wirft langsam die Decke von sich und setzt sich aufrecht aufs Bett. Er trägt einen Schlafrock. Er versucht Orientierung zu gewinnen, indem er hie und da Blicke auf den Boden, die Wände und die Decke wirft. Beginn der Klangcollage.
5er Akt
Er verlässt für kurze Zeit mit langsamen Schritten das Zimmer.
6er Akt
Er betritt erneut das Zimmer, geht zum Spiegel, stellt sich davor, schaut in sein Gesicht und kämmt sich die Haare.
7er Akt
Er läuft orientierungslos in seinem Zimmer auf und ab.
8er Akt
Er sucht nach Nahrung.
9er Akt
Endlich findet er ein Stück Brot und legt es auf den Schreibtisch.
10er Akt
Er sucht eine Tasse, findet sie neben dem Nachttisch, nimmt sie und verlässt von neuem für kurze Zeit das Zimmer.
11er Akt
Er betritt das Zimmer, die Tasse fest in der Hand haltend. Nach längerer Bedenkzeit geht er schließlich zum Schreibtisch und stellt sie darauf.
12er Akt
Er nimmt am Schreibtisch Platz, isst ein wenig Brot und trinkt dann einen Schluck aus der Tasse.
13er Akt
Er sucht unter dem Tisch nach einem Buch, legt es auf den Schreibtisch und blättert es durch.
14er Akt
Er legt das Buch beiseite und isst weiter.
15er Akt
Er steht auf, geht zum Nachttisch und nimmt verschiedene Medikamente ein.
16er Akt
Er schleppt sich zum Spiegel, stellt sich davor und betrachtet seine Zunge.
17er Akt
Man hört Mozafers gedämpfte Stimme, während er seine Zunge vor dem Spiegel untersucht.
18er Akt
Er brüllt etwas Unverständliches vor sich hin, hebt eine Zeitung vom Boden auf, geht zum Bett und liest.
19er Akt
Er legt die Zeitung beiseite und schließt die Augen.
20er Akt
Besorgt geht er spontan zum Spiegel und schaut gründlich in sein Gesicht, begutachtet sein Gebiss, seine Augen und seine Nase.
21er Akt
Er geht wiederum zum Schreibtisch, legt seinen Kopf darauf und streckt dann seine Hände aus. Auf diese Weise bleibt er über einen längeren Zeitraum regungslos dort sitzen.
22er Akt
Er hebt seinen Kopf und wirft einen bedeutungsvollen Blick ins Publikum.
23er Akt
Er setzt sich zunächst auf den Boden und kriecht nach einer Weile mühsam zu seinem Bett zurück.
24er Akt
Unter dem Bett sucht er nach seinen Aufzeichnungen, kramt sie seufzend hervor, kriecht zum Schreibtisch zurück, steht auf und setzt sich auf den Stuhl, um seine Unterlagen zu sortieren.
25er Akt
Er beginnt, einen Brief aufzusetzen, anfangs verständlich, später in zunehmendem Maße unverständlich: "Sehr geehrter Herr, es gilt also, das Spiel zu bewahren, es gegebenenfalls umzugestalten, denn die Umgestaltung bewahrt uns vor der peinlichen Langeweile des regelmäßig Wiederkehrenden; man denke nur an die zahllosen Suchtkranken des Glücksspiels. Wehe denjenigen, die das Spiel mit einem Mangel an Ernst oder als bloße Zerstreuung betrachten!"
26er Akt
Er greift nach einer Flasche Wein unter dem Schreibtisch, stellt sie auf den Tisch und betrachtet liebevoll das Etikett.
27er Akt
Er blickt sich in seinem Zimmer um, steht auf und durchschreitet es mehrmals, als wolle er den Raum vermessen. Vergeblich sucht er schließlich nach einem Glas.
28er Akt
Für einen Augenblick verlässt er das Zimmer, um ein Glas zu holen.
29er Akt
Triumphierend kommt er in sein Zimmer zurück, ein Glas in der Hand, setzt sich an den Schreibtisch und schenkt Wein ins Glas. Er nimmt einen hastigen Schluck und rezitiert: "Warum du erlauben deine Frau verhalten wie Mann? Kleiden wie Mann, gehen wie Mann, warum? Kann sein, kleine Mädchen manchmal rennen wie Bruder, aber auch schon kleine Mädchen muss sein Mädchen, muss rühren an Herz andere wie kleine Junge. Ist falsch Erziehung im Deutschland, wo macht nix Unterschied in Familie. Werbung und Industrie sehen diese Unterschied, weil ist richtig, sonst nix Geschäft. Intellektuelle sagt, ist gleich Mann und Frau. Ist gut, Revolution. Ich große Herz für Revolution. Meine Land Scheiße, muss sein Revolution, aber in Politik, nicht in Natur. Natur muss bleiben Natur, macht Unterschied, Mann, Frau, Wasser kann nicht sein Stein. Steine soll nicht fallen von Himmel, muss regnen Wasser. Mann muss haben Frau, sehen Frau, fühlen Frau, kann nix sein zufrieden mit Kamerad in Haus. Muss heimlich ansehen Frau in Werbung, nix gut. Verstehen. Gute Christ muss wissen, andere Frau nur anschauen, wie sagt man, Ehe, schon gebrochen. Nix Frau in Haus gut für Industrie, dann kaufen Produkt ohne Intellektuell. Meine Land arm, fehlen Konsum. Hier alle, aber Mann nix haben Frau. Schickt Frau in Arbeit, macht Nachtschicht, nix gut, haben alle, aber nix für Herz. Meine Kultur viele lern von westliche Länder, Deutschland gute Land, aber macht Herz traurig." - "Intellektuell, was macht Revolution, nix Revolution, nix Kunst. Tellkamp haben viele Angst vor Verlust von die Gemütlichkeit, weil schreibt Roman, nix schicken Kinder in Schule mit viele Emigrant, suchen Vergangenheit, Gegenwart machen Angst, weil sehen Moslems. Jetzt sogar Intellektuell wollen reden von Heimat. Wer, ich frage, wissen mehr von Heimat, als Leute, die hat verloren Heimat?"
30er Akt
Er gibt auf, geht langsam in sein Bett und deckt sich zu.

***

II. Partitur
Die zu rezitierenden Verse sind jeweils auf der rechten Partiturseite vermerkt. Die Zeitangaben der Radioschnipsel (in Klammern) geben insbesondere Auskunft über den Ablauf und die entstehenden Pausen. Darüber hinaus sind die Angaben variabel.


C I, 1 – 3
C I, 9 – 13
Nach dem neuen Telekommunikationsgesetz darf der Bund (0'03'')
Lebensmut (0'11'')
Unangenehmes zur Sprache kommt (0'18'')
Vor diesem ehrenwerten Haus (0'33'')
Wie sind wohl die Menschen zu dem Begriff der Freiheit gelangt? (0'40'')
Bäckereien (0'46'')
Verdunkelte sich der Himmel (0'46'')
Weine nicht, kleine Eva (1'20'')
Aber die Welt ist voll von Juden (1'29'')
Basketballfreak (1'43'')
Wir haben sehr erfolgreich begonnen (2'01'')
Heavy Metal (2'06'')
Bedeutung der alten Politik (2'15'')
Can't buy me love (2'33'')
Do all the things you want me to (2'45'')
Tunnelbauten im Taunus (2'50'')
Tyson is back (2'55'')
Home is where we belong (3'23'')
C II, 9 – 11
C III, 6 – 9
C VII, 1 – 7 + 29
C VIII, 2 - 3
Der jüngste Coup (3'25'')
Zeit für Musik (3'35'')
See you (3'54'')
I'll be there (4'00'')
Sexy songs (4'07'')
Kleid und Sonnenschein (4'19'')
Vetternwirtschaft (4'33'')
Korruptionsbekämpfung (4'50'')
Volksmund (5'09'')
Rentensystem (5'28'')
Die Menschen in den Dörfern (5'44'')
Mit einer Selbstverbrennung ein Fanal zu setzen (5'55'')
Er hörte stets ein Nein (6'05'')
Schreiend rannte der Mann (6'14'')
Wie ein kleines Kind (6'47'')
So ein romantisch angehauchter Typ (7'05'')
So was wie dich (7'23'')
Mikrowellenmahlzeiten (7'28'')
Liegestützen (8'14'')
Der gegenwärtige Trend (8'20'')
Perverser Ernst (8'34'')
Berührungsangst (8'43'')
Hit-Radio (8'59'')
Saugut in Form (9'10'')
Der Ball ist rund (9'30'')
RTL: Krieg im Bandenmilieu (9'45'')
RTL: Wir zeigen's Ihnen (10'15'')
Frau Bratbäcker (10'21'')
Bright Eyes (10'38'')
Die unterschiedlichsten Gesellschaften (10'50'')
Der mächtigste Mann der Welt (11'00'')
You came from Paradise (11'13'')
Die 1,99%-Europafinanzierung (11'24'')
Neueste Musik (11'31'')
Hulla-Hawaii-Trip (11'39'')
Premiere (11'59'')
Closing Time (12'10'')
Rap (12'15'')
Volkswagen (12'37'')
Serenata d' amore (12'47'')
Lalalali, Lalala (13'15'')
Der Fanalist (13'34'')
I lay my head (13'43'')
Hit-Radio (14'08'')
Fleischverzehr (14'30'')
Ich wäre wirklich gut für dich (14'44'')
Techno (14'50'')
Aktien der Chemiebranche (15'22'')
I'm a big, big Girl (15'35'')
Subventionsabbau bei Kantinen (16'03'')
Mozart (16'28'')
Montag ist Schontag (16'46'')
Führungsleute in der Union (17'23'')
Mars macht mobil (17'34'')
C IX
C X, 1 – 4
C XI, 1 -3 + 16
C XIII
C XVI, 1 – 3 + 12 – 15
C XVII, 1 + 4 (Z. 3 – 4)
C XIX, 1
Schäuble (18'22'')
Ein Mädchen für immer (18'50'')
Wir wollen uns nicht an Kleinigkeiten festhalten (19'55'')
Tochter Susan zum Beispiel (20'03'')
Idee der Unterschriftensammlung (20'15'')
Märchen sind so wunderschön (20'24'')
Träne auf Reisen (23'19'')
Techno (23'23'')
Says you know (23'24'')
Denken Sie an Che Guevara (23'45'')
So much (23'50'')
Und wer das Glück hat (24'01'')
Prädispositionen, um zu einem Fanal zu werden (24'10'')
Freud. Electro Funk Rules (24'15'')
Träne auf Reisen (24'40'')
Parallelriesenslalom (24'50'')
Berge und Heimat (25'05'')
Bundestagswahl: gleichzeitig gilt, wir wollen keinen demokratischen (25'20'')
Sport-Jazz (25'29'')
Landtagswahlen (25'50'')
Verkehrsmeldung (26'05'')
Als klassischer Geist (26'21'')
No woman of flesh and blood (26'50'')
Unfall und Stau (26'59'')
Wetterbericht (27'25'')
Rap (28'19'')
Wetterbericht (28'30'')
Kammermusik (28'41'')
Es wird schon wieder werden (28'45'')
I confess, im ausgehenden 20. Jahrhundert (29'58'')
Barfuß oder Lackschuh (33'01'')
C XX
C XXI, 1
C XXII, 1 – 3 + 6 – 7
C XIII, 1 – 2 + 7 – 20 und 25 – 29
C XXIV, 1 – 2; 5 + 8 -11; 18 – 20 + 22 – 23
C XXV, 1 -2; 6 – 7; 10 – 14; 18 – 20 + 25
C XXVI, 1 -2 + 6 – 20
C XXVII, 1 – 3
Werbung (33'31'')
Internet (34'15'')
Die weibliche Brustlandschaft (34'43'')
Schließlich könne man auch gänzlich unverschuldet arbeitslos werden (34'54'')
Wetterbericht (35'22'')
Klassik für Eilige (37'29'')
Planet Radio (37'29'')
Maximum Music (37'49'')
Negative Folgen (39'04'')
Mittelwelle (39'45'')
FM (40'20'')
Kritik der Ideologie (41'05'')
Kurzwelle (42'20'')
Radio Österreich (42'25'')
Fluchtfinale (43'20'')


III.

Braten

Sich eine Parkbank zu braten ist so eine Idee, auf die jemand wie ich verfallen kann, ihrer bloßen Unmöglichkeit wegen. Sie genüsslich in der Pfanne zu wenden, wobei, zugegeben, mir die Beine etwas im Weg sind; aber bei zunehmender Hitze erschlaffen sie und lassen sich ganz gut an den Bankbauch anlegen, wo sie auch hübsch knusprig werden. Ich neige dazu, die Bank mit den Beinchen nach oben zu servieren, verstehe aber, dass andere Köche dem Beinchen-nach-unten-Serviervorschlag folgen. Selbstredend, dass die Lehne als erstes den Winkel aufgibt. Zwischen Lehne und Sitzfläche empfiehlt sich nach Art des Cordon bleu entsprechend Zeitung oder Mantel, den ein Clochard hat liegen lassen. Schön, wenn die Einlagen flüssig werden und zwischen den Brettern herausquillen. Gesalzen wird übrigens erst auf dem Teller, damit das Holz nicht trocken wird, sozusagen holzig. Pfeffer dito.
Wer dies alles für unmöglich hält, dem empfehle ich diese offensichtliche Unmöglichkeit, bei der mir jedenfalls das Wasser im Munde zusammenläuft, wohleingedenk der Tatsache, dass ich nur abgeliebte Parkbänke brate und keineswegs solche aus Massenbankhaltung.
Was man ansonsten für unmöglich hält, das geschieht ja leider alltäglich, in Bezug auf das Cordon bleu üblicher Kulinarik vermittels der üblichen Schweinerei. Entsprechend die übrigen Schweinereien.
Nehmen wir an, wir hätten, da wir die Lektüre von Clochards grundsätzlich nicht kritisieren, eine Bild der vergangenen Woche in der Bank gebraten, dann hätten wir uns unversehens eine nicht leicht zu überbietende Monstrosität einverleibt. Der Führer hat nämlich, jawohl, ihr wisst es schon, mit Magda, der Mama von Rosemarie, die partout Romy sein wollte, also die haben, ihr wisst schon. Man will nicht hinschauen im Tankshop, aber man sieht es ja eben doch: Der Führer wie gemalt! So also sah er wirklich aus. Manchmal soll er ja auch Krachlederne getragen haben. Der magische Blick, habe ich mir erklären lassen, lasse sich nicht fotografieren. Bloß weil ich den auch bei genauem Hinsehen nicht ausmachen konnte, hatte er also diese Augen, nach denen heute noch gecastet wird. Irgendwie widersprüchlich, aber egal. Also der Führer, ein Bild von einem Mann! Und von wegen Wassertrinker, also auch sonst von der blassen Sorte, da lobe ich mir mein Schnitzel. Nix, die haben also, Anno Tobak, genauso wie richtige moderne Promis, hatten die also solche Geschichten. Herrgott, wie naiv wir doch sind, dass er sich für seine Eva reingehalten hat. Man kommt natürlich sofort ins Kalauern, von wegen reinhalten und so weiter, aber lassen wir das.
Es hat also einer unserer Kollegen, die an der Tanke noch schnell die Zeitung mitnehmen, sich zusammenbuchstabiert, dass unser Adolf doch ein ganz richtiger Promi war, mit Bettgeschichten und so weiter, sozusagen einer von uns, wie man eigentlich an dem Foto auch sah, ziemlich trendy, und hatten nicht Chaplin und Thomas Mann auch dieses Bärtchen, zugegeben, man kennt nur den alten Charly.
Wahnsinn, die Bild, dass sie immer so genau herausfinden, was man eigentlich immer schon wusste. Ja, am Trend fehlt es den aktuellen Rechten a weng. Das ist, weil sie so dagegen sind, ich meine gegen alle Freiheiten, die man sich in der modernen Welt schon nehmen darf, ich mein, die, die sichs leisten können. Am Ende hatte der Adolf auch irgendwo eine Jacht, oder eine Sportwagensammlung.
Also ich tät mir einen braten, ich mein einen Sportwagen, auch gesotten könnte ich ihn mir vorstellen, beispielsweise den Jaguar von meinem Kumpel. Hat nicht der Charly Chaplin sich auch etwas Leder, aber lassen wir das; der Führer, einer von uns, das ist wirklich großartig rausgekommen - und auch irgendwie informativ. Ja. [B. Karl Decker]


IV.

Reifen

Reifen sind Überzieher fürs Rad. Das Rad funktioniert ohne, umgekehrt nicht. Daher, wer Reifen liebt, muss das Rad anbeten, bekanntlich die größte Erfindung der Menschheit. Reifen braucht Rad und Rat.
Reifen ist Bewegung, denn nichts geht ohne, nicht einmal das Fliegen. Ohne Reifen wäre vieles unreif, bitter, hart und einfach nur ungenießbar. Millionen Online-Bestellungen würden nicht rechtzeitig eintreffen und Familien, gerade an Weihnachten, auseinanderbrechen. Andere würden sich, gestrandet an den Flughäfen, um ihren gelobten Urlaub betrogen fühlen, weil die Maschinen nicht abfliegen könnten. Stimmen würden laut werden, der Mensch brauche sein Mallorca, auch wenn die Insel an ihm kollabierte. Denn er kann sich das leisten, der Homo Sapiens, alles kaputt zu lieben. Da könnte ihm Reifen helfen, wenn er nur reifte.
Reifen ist unersetzlich und braucht ein Profil, damit nichts ausrutscht und reibungslos läuft. Bodenhaftung ist wichtig. Gleichzeitig bedeutet Reifen ein Profil bilden, Eigenarten entwickeln, sich mit anderen reiben, um dadurch an Persönlichkeit zu gewinnen.
So ist also ein Reifen dem anderen entgegengesetzt. Während das eine genießbar wird, feine Härchen bekommt, süßen Saft entwickelt, aromatisch duftet, weiches Fleisch und somit eine Genuss-Reife entfaltet, verliert der andere seine Griffigkeit und wird abgenutzt. So oder so: Ohne Reifen kein Verkehr!
Und Raduan? Seine Eltern ließen den Achtjährigen im Schutzraum des Reifens in der Nähe von Aleppo auf der Felge des Rades eines exportierten Lastkraftwagens, Typ Mercedes-Benz LP 333, in der sogenannten Innenseele des Reifens, für einen Preis von rund fünftausend Dollar befestigen. Die Entfernung nach Aratos, Griechenland, beträgt rund 1500 Kilometer.
Der Flüchtlingshelfer Bahman nahm nach einem Notruf gegen 12:10 (ante meridiem) das nächstmögliche Flugzeug (Turkish Airlines) vom John F. Kennedy Airport nach Thessaloniki. Im Leihwagen, Typ BMW, erreichte er in der Dämmerung des darauffolgenden Abends den verabredeten Ort, um Raduan vor den Auffanglagern Europas zu bewahren. Begreifen Sie? Was hätte Raduan im allseits gelobten Land, zum Greifen nahe, erwartet? Sprachförderprogramme? Integration? Unterwanderung der Sozialsysteme? Toleranz? Talk Shows? Die Alternative für Deutschland? Ein Wohnheim? Streifenwagen? Bahman fand eine Familie rumänischer Immigranten in Cambridge für Raduan, von dem, inzwischen rund sechzehn Jahre alt, folgende Nachricht kam: "I want to thank Allah and all the people who have accompanied me over these years. I want to thank them for saving me, for picking me up, and for giving me a new life. I want to go back home to my family in Aleppo as soon as possible. Unfortunately, Aleppo doesn't exist anymore, though. I don't even know if my family is still alive." Guter Rat ist teuer, sagt der Volksmund. Begreifen Sie? [Liana Helas]