[Jan Cossiers "Prometheus
als Feuerträger" (1636/38)]
»Frankensteins
Steinigung«
Hier sitz’ ich, forme Menschen
Nach meinem Bilde,
Ein Geschlecht, das mir gleich sey,
Zu leiden, zu weinen,
Zu genießen und zu freuen sich,
Und dein nicht zu achten,
Wie ich!
[Johann Wolfgang von Goethe]
Von
Prometheus berichten vier Sagen: Nach der ersten wurde er, weil er
die Götter an die Menschen verraten hatte, am Kaukasus
festgeschmiedet, und die Götter schickten Adler, die von seiner
immer wachsenden Leber fraßen.
Nach
der zweiten drückte sich Prometheus im Schmerz vor den zuhackenden
Schnäbeln immer tiefer in den Felsen, bis er mit ihm eins wurde.
Nach der dritten wurde in den Jahrtausenden sein Verrat vergessen,
die Götter vergaßen, die Adler, er selbst.
Nach
der vierten wurde man des grundlos Gewordenen müde. Die Götter
wurden müde, die Adler wurden müde, die Wunde schloss sich müde.
Blieb
das unerklärliche Felsgebirge. – Die Sage versucht das
Unerklärliche zu erklären. Da sie aus einem Wahrheitsgrund kommt,
muss sie wieder im Unerklärlichen enden. [Franz Kafka]
Abteilungen geflügelter Wesen, deren Augen ihn anblickten, jede Abteilung mit einer höheren
befehlenden Kreatur an ihrer Spitze, rissen ihn durch gewundene Gletscher. In Lucias Pupille sah er endlich
den roten Planeten in all seiner Pracht, Phyllosilikate, wasserreicher Lehm, Schwefel und hydrierte
Mineralien in allen Schichten,
umkreist von Phobos und Deimos.
Durch
Stäbchen und Zapfen der Netzhaut hindurch näherte Rohlfs sich der
Sehbahn, drang ein in die Ganglien und wurde zurückgeschleudert in
die Abzweigungen des Axons. Erst an der nahenden Sehnervenkreuzung
gelang ihm der erste Ruf: "Nun, Lucia, zeigt er sich ganz
deutlich von allen Seiten, den Fremden zeigt er sich gedankenlos,
überströmenden Sturzbächen gleichend, vielleicht unverständlich
wie dichter Schnee, doch Phobos nähert sich uns, er entfernt sich,
unser Fassungsvermögen überschreitend, nähert sich, naturgemäß
und vorsätzlich, auf dem Weg zu Aphrodite und Ares, um sie endgültig
zu zerstören und neue Götter zu gebären. Aber dennoch, Lucia,
werden wir uns einrichten in der Nacht, in den Pyramiden, am Ort des
schärfsten Sehens und des Rußes. Wir werden teilhaben an dem lichten
Gift der Götter, die wir leugneten." Phobos indes antwortete: "Schau hinein in das Innerste der Kreatur, du siehst es in ihren
Augen, das Schwarze Loch, es verschlingt und gebärt. Hierin bist du
Abbild. Und zahllos sind sie, blutlos, und heißen daher, außerhalb
der Ordnung, Götter." In den Kollateralen nahm Rohlfs die
Umrisse einer Orgel wahr, die langsam anschwellend die Erinnerung an
das, was er Lucia mitzuteilen gedachte, zersetzte. Ares hob mahnend
den Zeigefinger seiner rechten Hand: "Was zeigst du uns? Den
Innenraum einer Fabrik? Museumsbesucher? Thermen und Spielplätze, wo
die Jugend durch Lauf, Sprung, Faustkampf, Speer- und Diskuswurf, Ballspiel, Schwimmen und Baden kräftig und beweglich werden sollte?
Eine Straßenszene in Pakistan, den Taj Mahal, ein Haus in
Neuengland, Fische auf dem Grill, ein chinesisches Abendessen, eine
Gruppe sitzender Kinder, Adler und Delfine? Eine Tänzerin aus Bali,
einen Mann aus Guatemala, Frauen aus den Anden, ein auf dem Rücken
liegendes Krokodil, die Verschiebung der Kontinente, die Anatomie des
Menschen, ein Streichquartett und Eiskristalle!" Tsunamis
überfluteten das ausgedörrte Land unterhalb des Olympus Mons. Zu
dem Sturm gesellten sich die furchtbarsten Gewitter mit Regen, Schnee
und Hagel. Nec
deus intersit, nisi dignus vindice nodus inciderit. Vom
Fuß des gewaltigen Berges hinab schleuderte Rohlfs den zornigen
Göttern seine frohe Botschaft entgegen: "Alles ist nichts als
Betrug! In der Unverantwortlichkeit und Unverbindlichkeit sind sie
euer Abbild!"
Die
wenigen menschlichen Wesen, ausnahmslos Kosmonauten, hörten ihn
nicht mehr. Überrascht von der Flut versanken sie samt ihrer
Forschungsstationen unter den Wogen. [Aus: Liana Helas »Ulise
2022«]
Prometheus,
erneut herabgestiegen, längst verkommen zum Gespött der Titanen,
die sich nach ihrem vorläufigen Sturz am Rande der Tharsis-Region in
der himmlischen Sphäre der Kriegsgottheit blutlos und rachsüchtig
auf dem Olympus Mons jeder weiteren Benennung zu entziehen wissen.
Der falsche Freund der Menschenströme, Ausgeburt ihrer trügerischen
Phantasie, lockt zur letzten Überwindung der in die Welt der Worte
entwichenen Übel. Wachstum und Fortschritt heißen die Phantome, auf
deren Flügeln die besagten Ströme in ein Massengrab am Fuße des
alsbald feuerspeienden Wohnsitzes der Götter entführt werden.
Prometheus, verbündet mit seinem unheilvollen Bruder Epimetheus und
dessen pyromanischer Tochter, laden in vierzig Kabinen zunächst einhundertundzwanzig terrestrische Wesen zur Kolonisation des rostfarbenen Gestirns. Die
irdischen Begünstiger der Götzen, grandomane Paraphreniker seit
jeher, verbreiten Hoffnung mit dem Überschall aus ihren Büchsen.
Die Vielfalt der Namen, mit denen man ihre Heilsversprechen
assoziiert, reicht von den Merseburger Zauberern bis zu Unternehmern
wie Elon Musk, von altägyptischen Priestern bis zur NASA, vom Mann
Moses bis zu Microsoft Windows.
He
Jiankui verkündet die Geburt zweier künstlich erzeugter Säuglinge,
während sich im Hintergrund die Doktoren Faust und Frankenstein,
ganz gemäß der nüchternen Erkenntnisse des Frankfurter Geheimrats und der angelsächsischen Dichterin, über ein vorgestelltes Schachbrett beugen und
herausragenden Königen einen rein abstrakten Krieg erklären, in dem
die Damen dominieren. Wer wirft den ersten Stein? Wer setzt die
wortwörtliche Welt erneut in Flammen mit der althergebrachten
Fackel? Wer hält die selbstverschuldeten Brände in Schach?
Der
hybride Mensch, von dem Freud zu Beginn der Dreißiger Jahre spricht,
der "Prothesengott", das ist der Mensch seit Prometheus,
und zwar deshalb, weil er Technik nutzt, unser »homo
faber«.
Allmächtig wird er darum nicht, wie Frisch ja zeigt, sondern ganz
und gar archaisch, bis auf die paar Prozent Grips.
Was
zu zeigen ist, das ist, dass der Mensch nicht, was alle immer
anstaunen, mit seiner Technik die Welt in die Mache nimmt, sondern
seine Welt, das heißt, hauptsächlich sich selber. Es ist davon zu
erzählen, wie wir uns medienkompatibel machen, weil der Besitz eines
solchen und die Geläufigkeit im Hantieren mit einem Medium uns
Status verleihen. Natürlich wird kein Unterschied gemacht zwischen
den verschiedenen Medien, was diejenigen anfuchst, die ihr
geheiligtes Medium in eine Reihe gestellt sehen mit ihnen ganz und
gar unheiligen Gegenständen. Der Priester wird seinen Kelch heben,
worin ihm der gewandelte Wein schwappt, und es wird eben doch nur ein
Gefäß und der Wein bloß Wein sein. Der User googelt, und das
Profil seiner Suche weist ihn aus als der, der er ist. Die
Informationen, die er auf seinem Bildschirm findet, werden ihn nicht
zu einem Wissenden machen, schon gar nicht die, die er finden könnte,
würde er nur danach suchen und hätte er die Zeit über alles, was
er findet, auch nur einen Augenblick nachzudenken.
Der
aktuelle Prometheus rast nicht in einer Rakete durchs All, in
Lichtgeschwindigkeit rasen Botschaften auf ihn zu, die ihn doch nicht
erleuchten. Zufällig könnte jemand Erleuchtung auch durch das Netz
erfahren, aber mit keinem bisschen mehr Gewissheit als in der
Begegnung mit egal welchem anderen Gegenstand, in dessen Handhabung
er es zu einer gewissen Geläufigkeit gebracht hat. Sagen wir mit der
Schuhbürste des Schuhputzers im Flughafen von Asuncion, Paraguay.
Natürlich hat so ein Bengel heute auch irgendein Handy, bei dessen
Handhabung in seinen Schuhputzerflossen ihm je eingefallen wäre,
dass es ihn Schuhputzer sein lässt, und zwar bis auf sehr Weiteres.
Wie er die Bürste handhabt, darin werden wir es ihm so leicht nicht
gleich tun, so wenig wie wir überhaupt je jemand anderes sein
können. Das Handy macht aus dem handydaddelnden Schuhputzer einen
handydaddelnden Schuhputzer.
Der
transhumane Mensch, das ist der hybride Mensch in seiner Hybris,
nämlich seiner Selbstüberhebung. Das, worin wir uns verfehlen,
macht uns zu Zombies, und das tool, mit dem wir es bewerkstelligen,
kann so gewaltig sein wie einst die Atombombe in ihrer Monstrosität.
Es kann aus der Zeit gefallen sein wie der Kelch, den der katholische
Priester emporhebt, in dem sich entgegen allem, was offensichtlich
ist, etwas gewandelt haben soll nach einem mittelalterlichen Begriff
davon, was das denn sei. Wenn die Handhabung dieses Werkzeuges
bewirken kann, dass die Verbrechen dessen, der es handhabt,
unberücksichtigt bleiben sollen, dann stellt es die Schnittstelle
dar zu einem schrecklichen Menschen.
Wäre
bloß das Interface von Elektronenhirn und hergebrachtem Oberstübchen
das, wovor wir zu zittern und uns zu schützen hätten, wir hätten
umsonst gezittert vor dem, was der hybride Mensch uns schon angetan
hat, angefangen bei Stock und Stein. [Liana Helas]
gespiegelt: https://systemcrash.wordpress.com/2018/11/27/frankensteins-steinigung/
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