Dienstag, 27. November 2018

Z. Z. II



[Jan Cossiers "Prometheus
 als Feuerträger" (1636/38)]






»Frankensteins Steinigung«


Hier sitz’ ich, forme Menschen 
Nach meinem Bilde,
Ein Geschlecht, das mir gleich sey,
Zu leiden, zu weinen,
Zu genießen und zu freuen sich,
Und dein nicht zu achten,
Wie ich! 
[Johann Wolfgang von Goethe]


Von Prometheus berichten vier Sagen: Nach der ersten wurde er, weil er die Götter an die Menschen verraten hatte, am Kaukasus festgeschmiedet, und die Götter schickten Adler, die von seiner immer wachsenden Leber fraßen.
Nach der zweiten drückte sich Prometheus im Schmerz vor den zuhackenden Schnäbeln immer tiefer in den Felsen, bis er mit ihm eins wurde. Nach der dritten wurde in den Jahrtausenden sein Verrat vergessen, die Götter vergaßen, die Adler, er selbst.
Nach der vierten wurde man des grundlos Gewordenen müde. Die Götter wurden müde, die Adler wurden müde, die Wunde schloss sich müde.
Blieb das unerklärliche Felsgebirge. – Die Sage versucht das Unerklärliche zu erklären. Da sie aus einem Wahrheitsgrund kommt, muss sie wieder im Unerklärlichen enden. [Franz Kafka]

Abteilungen geflügelter Wesen, deren Augen ihn anblickten, jede Abteilung mit einer höheren befehlenden Kreatur an ihrer Spitze, rissen ihn durch gewundene Gletscher. In Lucias Pupille sah er endlich den roten Planeten in all seiner Pracht, Phyllosilikate, wasserreicher Lehm, Schwefel und hydrierte Mineralien in allen Schichten, umkreist von Phobos und Deimos.
Durch Stäbchen und Zapfen der Netzhaut hindurch näherte Rohlfs sich der Sehbahn, drang ein in die Ganglien und wurde zurückgeschleudert in die Abzweigungen des Axons. Erst an der nahenden Sehnervenkreuzung gelang ihm der erste Ruf: "Nun, Lucia, zeigt er sich ganz deutlich von allen Seiten, den Fremden zeigt er sich gedankenlos, überströmenden Sturzbächen gleichend, vielleicht unverständlich wie dichter Schnee, doch Phobos nähert sich uns, er entfernt sich, unser Fassungsvermögen überschreitend, nähert sich, naturgemäß und vorsätzlich, auf dem Weg zu Aphrodite und Ares, um sie endgültig zu zerstören und neue Götter zu gebären. Aber dennoch, Lucia, werden wir uns einrichten in der Nacht, in den Pyramiden, am Ort des schärfsten Sehens und des Rußes. Wir werden teilhaben an dem lichten Gift der Götter, die wir leugneten." Phobos indes antwortete: "Schau hinein in das Innerste der Kreatur, du siehst es in ihren Augen, das Schwarze Loch, es verschlingt und gebärt. Hierin bist du Abbild. Und zahllos sind sie, blutlos, und heißen daher, außerhalb der Ordnung, Götter." In den Kollateralen nahm Rohlfs die Umrisse einer Orgel wahr, die langsam anschwellend die Erinnerung an das, was er Lucia mitzuteilen gedachte, zersetzte. Ares hob mahnend den Zeigefinger seiner rechten Hand: "Was zeigst du uns? Den Innenraum einer Fabrik? Museumsbesucher? Thermen und Spielplätze, wo die Jugend durch Lauf, Sprung, Faustkampf, Speer- und Diskuswurf, Ballspiel, Schwimmen und Baden kräftig und beweglich werden sollte? Eine Straßenszene in Pakistan, den Taj Mahal, ein Haus in Neuengland, Fische auf dem Grill, ein chinesisches Abendessen, eine Gruppe sitzender Kinder, Adler und Delfine? Eine Tänzerin aus Bali, einen Mann aus Guatemala, Frauen aus den Anden, ein auf dem Rücken liegendes Krokodil, die Verschiebung der Kontinente, die Anatomie des Menschen, ein Streichquartett und Eiskristalle!" Tsunamis überfluteten das ausgedörrte Land unterhalb des Olympus Mons. Zu dem Sturm gesellten sich die furchtbarsten Gewitter mit Regen, Schnee und Hagel. Nec deus intersit, nisi dignus vindice nodus inciderit. Vom Fuß des gewaltigen Berges hinab schleuderte Rohlfs den zornigen Göttern seine frohe Botschaft entgegen: "Alles ist nichts als Betrug! In der Unverantwortlichkeit und Unverbindlichkeit sind sie euer Abbild!"
Die wenigen menschlichen Wesen, ausnahmslos Kosmonauten, hörten ihn nicht mehr. Überrascht von der Flut versanken sie samt ihrer Forschungsstationen unter den Wogen. [Aus: Liana Helas »Ulise 2022«]

  Prometheus, erneut herabgestiegen, längst verkommen zum Gespött der Titanen, die sich nach ihrem vorläufigen Sturz am Rande der Tharsis-Region in der himmlischen Sphäre der Kriegsgottheit blutlos und rachsüchtig auf dem Olympus Mons jeder weiteren Benennung zu entziehen wissen. Der falsche Freund der Menschenströme, Ausgeburt ihrer trügerischen Phantasie, lockt zur letzten Überwindung der in die Welt der Worte entwichenen Übel. Wachstum und Fortschritt heißen die Phantome, auf deren Flügeln die besagten Ströme in ein Massengrab am Fuße des alsbald feuerspeienden Wohnsitzes der Götter entführt werden. Prometheus, verbündet mit seinem unheilvollen Bruder Epimetheus und dessen pyromanischer Tochter, laden in vierzig Kabinen zunächst einhundertundzwanzig terrestrische Wesen zur Kolonisation des rostfarbenen Gestirns. Die irdischen Begünstiger der Götzen, grandomane Paraphreniker seit jeher, verbreiten Hoffnung mit dem Überschall aus ihren Büchsen. Die Vielfalt der Namen, mit denen man ihre Heilsversprechen assoziiert, reicht von den Merseburger Zauberern bis zu Unternehmern wie Elon Musk, von altägyptischen Priestern bis zur NASA, vom Mann Moses bis zu Microsoft Windows.
  He Jiankui verkündet die Geburt zweier künstlich erzeugter Säuglinge, während sich im Hintergrund die Doktoren Faust und Frankenstein, ganz gemäß der nüchternen Erkenntnisse des Frankfurter Geheimrats und der angelsächsischen Dichterin, über ein vorgestelltes Schachbrett beugen und herausragenden Königen einen rein abstrakten Krieg erklären, in dem die Damen dominieren. Wer wirft den ersten Stein? Wer setzt die wortwörtliche Welt erneut in Flammen mit der althergebrachten Fackel? Wer hält die selbstverschuldeten Brände in Schach?
  Der hybride Mensch, von dem Freud zu Beginn der Dreißiger Jahre spricht, der "Prothesengott", das ist der Mensch seit Prometheus, und zwar deshalb, weil er Technik nutzt, unser »homo faber«. Allmächtig wird er darum nicht, wie Frisch ja zeigt, sondern ganz und gar archaisch, bis auf die paar Prozent Grips.
  Was zu zeigen ist, das ist, dass der Mensch nicht, was alle immer anstaunen, mit seiner Technik die Welt in die Mache nimmt, sondern seine Welt, das heißt, hauptsächlich sich selber. Es ist davon zu erzählen, wie wir uns medienkompatibel machen, weil der Besitz eines solchen und die Geläufigkeit im Hantieren mit einem Medium uns Status verleihen. Natürlich wird kein Unterschied gemacht zwischen den verschiedenen Medien, was diejenigen anfuchst, die ihr geheiligtes Medium in eine Reihe gestellt sehen mit ihnen ganz und gar unheiligen Gegenständen. Der Priester wird seinen Kelch heben, worin ihm der gewandelte Wein schwappt, und es wird eben doch nur ein Gefäß und der Wein bloß Wein sein. Der User googelt, und das Profil seiner Suche weist ihn aus als der, der er ist. Die Informationen, die er auf seinem Bildschirm findet, werden ihn nicht zu einem Wissenden machen, schon gar nicht die, die er finden könnte, würde er nur danach suchen und hätte er die Zeit über alles, was er findet, auch nur einen Augenblick nachzudenken.
  Der aktuelle Prometheus rast nicht in einer Rakete durchs All, in Lichtgeschwindigkeit rasen Botschaften auf ihn zu, die ihn doch nicht erleuchten. Zufällig könnte jemand Erleuchtung auch durch das Netz erfahren, aber mit keinem bisschen mehr Gewissheit als in der Begegnung mit egal welchem anderen Gegenstand, in dessen Handhabung er es zu einer gewissen Geläufigkeit gebracht hat. Sagen wir mit der Schuhbürste des Schuhputzers im Flughafen von Asuncion, Paraguay. Natürlich hat so ein Bengel heute auch irgendein Handy, bei dessen Handhabung in seinen Schuhputzerflossen ihm je eingefallen wäre, dass es ihn Schuhputzer sein lässt, und zwar bis auf sehr Weiteres. Wie er die Bürste handhabt, darin werden wir es ihm so leicht nicht gleich tun, so wenig wie wir überhaupt je jemand anderes sein können. Das Handy macht aus dem handydaddelnden Schuhputzer einen handydaddelnden Schuhputzer.
  Der transhumane Mensch, das ist der hybride Mensch in seiner Hybris, nämlich seiner Selbstüberhebung. Das, worin wir uns verfehlen, macht uns zu Zombies, und das tool, mit dem wir es bewerkstelligen, kann so gewaltig sein wie einst die Atombombe in ihrer Monstrosität. Es kann aus der Zeit gefallen sein wie der Kelch, den der katholische Priester emporhebt, in dem sich entgegen allem, was offensichtlich ist, etwas gewandelt haben soll nach einem mittelalterlichen Begriff davon, was das denn sei. Wenn die Handhabung dieses Werkzeuges bewirken kann, dass die Verbrechen dessen, der es handhabt, unberücksichtigt bleiben sollen, dann stellt es die Schnittstelle dar zu einem schrecklichen Menschen.
  Wäre bloß das Interface von Elektronenhirn und hergebrachtem Oberstübchen das, wovor wir zu zittern und uns zu schützen hätten, wir hätten umsonst gezittert vor dem, was der hybride Mensch uns schon angetan hat, angefangen bei Stock und Stein. [Liana Helas]



1 Kommentar:

  1. gespiegelt: https://systemcrash.wordpress.com/2018/11/27/frankensteins-steinigung/

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