Samstag, 20. März 2021

Z. Z. XVI [»(42) Fehlfarbenfrohe Aphorismen« von Andreas Egert. Mit sieben Lichtbildern von Lorena Kirk-Giannoulis]

 


[»ἀφορισμός , Lorena Kirk-Giannoulis (2021)]



In manchen Jahrhunderten ist die öffentliche Meinung die schlechteste von allen Meinungen.

 [Nicolas Chamfort (1741 – 1794)]




[»ἀφορισμός 2«, Lorena Kirk-Giannoulis (2021)]



Gagaismus: gelungene Vollendung eines immerhin von Experten bewunderten Phänomens, das früher als „gesunder Menschenverstand“ gescholten wurde


Placebos: für enervierende Hypochonder auf ihren Sterbebetten in spe vorzüglich geeignetes Beruhigungsmittel – erzielt mindestens die Wirkung von Methadon


Satisfaktion: (bildungssprachlich veraltetes Ehren-Wort): Kniefall vor dem Hormonstau – heute fast vollständig im Duell mit der degenerierten Zivilisation enthauptet


Aufklärung: Begriff aus dem militärischen Fachjargon, bezeichnet bessere Vernichtungsmöglichkeiten des Feindes durch klarere Sicht auf ihn, z. B. aus Flugzeugen und Panzern, irrtümlich auch die Bezeichnung einer Geistesepoche, die nach Angaben von gewöhnlich schlecht informierten Deutsch- und Sozialkundelehrern erfolgreich Sekundärtugenden wie Vernunft, Toleranz und Humanität gepredigt haben soll




[»ἀφορισμός 3«, Lorena Kirk-Giannoulis (2021)]



Sippenhaft: verheißungsvolles Projekt der modernen Verbrechensprävention und ihrer Mythos-Designer – schließt wohlweislich keinen Angehörigen von seinem guten Recht auf Solidarität aus


Zivilcourage: die bewundernswerte intellektuelle Instinktlosigkeit, die Faust vornehmlich in der eigenen Tasche zu ballen


Manipulation: Nachhilfeunterricht für den gerechten Gang der Dinge


Originalität: einfallsreiche Ausrede für eine gediegene und respektable Denkpause


Tadel: unerträgliche Lobhudelei von vorbildlichen Neidern


Interna: öffentliche Geheimnisse: bestätigen glaubwürdigen Fakten zufolge (Quelle: meistens zitierfähige Klatschweiber) mit Vorliebe das bereits überlieferte Klischee bis in die Nuance


Die Spaghettiträger ihres Abendkleides waren echte Sympathieträger – man hätte gerne ihre Bissfestigkeit getestet


Homo oeconomicus: auf dem absterbenden Humus einer debilen Wissensgesellschaft gewachsener tumber, allenfalls fescher Leitbild-Nachfolger des überheblichen uomo universale, der sein Dasein nunmehr als unterbezahlter Grundschullehrer fristen muss


(Totschlag-)Argument (=Pleonasmus): intelligente und intellektuelle Bankrotterklärung – in der Hierarchie des Denkens irgendwo zwischen Infanterie und Kanonenfutter angesiedelt


Touristen: Frühaufsteher: nehmen uns Reisenden die besten Strandplätze weg


Selbst sein Schweigen war eine Phrase


Gott: allmächtiger Vater, der, in seiner unendlichen Güte, seinen unehelichen Sohn ans Kreuz nageln lässt, um seine Allein-Regentschaft zu manifestieren


Freizeit(-Industrie): Die hohe Kunst, die ausdauernden beruflichen Denkhindernisse bis in den sogenannten Feierabend hinüberzuretten – eine freudige Fete für nette Event-Manager, Animateure und Hoteliers – den Fließbandarbeitern des Fußvolk-Entertainments.




[»ἀφορισμός 4«, Lorena Kirk-Giannoulis (2021)]



Conférencier: Alleinunterhalter, der zufällig und zu seinem Nachteil in Gesellschaft geraten ist, um sein Mundwerk zu betreiben.


Entschlossenheit, die: euphorisches, auszuhaltendes Zwischentief mit hoher Luftfeuchtigkeit, vielen sonnigen Visionen, aber ohne geographische Kenntnisse


Kampagnenfähigkeit: politische Kardinaltugend – die gedopte Sau solange durch das Dorf treiben, bis sie sich nach einem soliden Rinderwahnsinn sehnt


Pedanterie: selten korrekte Arbeitsauffassung, deshalb Grund für soziale Ausgrenzung und Isolation (vom Mobbing bis zur Beförderung)




[»ἀφορισμός 5«, Lorena Kirk-Giannoulis (2021)]



Fräuleinwunder, deutsches: eigentlich despektierliche Bezeichnung aus den sogenannten besseren Zeiten – heute Wirtschaftswunderlichkeit, die gebündelte Schlagwort-Euphemismen einer sonderbaren Girlie-Generation mit Literatur verwechselt


Medaille: Ordensschwester


Gleichgültigkeit: angenehmere Todesursache, die, obwohl schleichend, den geringsten Schmerz verheißt


Emanzipation: bemerkenswert erfolgreicher Versuch, sich den Dschungel mit dem Nudelholz zu erobern


Provinz: führender Herkunftsort des Self-Made-Man


Kitsch: trostlose Ausweglosigkeit des erfolgreichen Künstlers


Wunderheiler: Aufschneider ohne Besteck


Untersuchungsausschuss, parlamentarischer: effizienter Papiertiger mit Hexenschuss, der deshalb auch als Bettvorleger der Wirtschaft fungiert: besteht meistens aus zornigen, aber gefügigen alten Männern, mit der innovativen Mentalität von nörgelnden Kiberern im Ruhestand, die nicht mehr in Brüssel und Straßburg untergekommen sind und sich deshalb lieber auf der Heimatbühne blamieren – rettete urtümlich die Immunität des konditionsschwachen Staatskörpers vor den infamen Übergriffen eines eigensinnigen und zwielichtig blondierten Vollweibes namens Justitia




[»ἀφορισμός 6«, Lorena Kirk-Giannoulis (2021)]



(Teilzeit-)Terrorist: Selbsternannter Märtyrer, der sich als echtes Schnäppchen einem Heldenfriedhof – für die hinteren Reihen – anbiedert


Love-Parade: bisher glanzvollster Triumph der Genmanipulation


Kopfweh: am häufigsten vorkommender Phantom-Schmerz


Kaffeehaus-Tribunal: höchste Instanz der Bauch- und Bogen-Justiz


Konstanz: untrügliches Zeichen einer deformierten Persönlichkeit: dieser Typus erreicht mit seinem planen Stoizismus bestenfalls belanglose Erfolge im Teamwork mit Seinesgleichen.


Ihr Versmaß droht gelegentlich zu hyperventilieren


Sie gehörte zum aufstrebenden Ghetto-Adel


Ein politischer Aphorismus ist eine leichte Geburt – er wird von anderen Medien zum auf- und mitschreiben ausgeworfen – beinahe zu jeder vollen Stunde




[»ἀφορισμός 7«, Lorena Kirk-Giannoulis (2021)]



Intrige: vorbildliches und raffiniertes weibliches Mittel, um einen dreisten männlichen Popanz auf ein erträgliches Maß zurück- und zurechtzustutzen: erlaubt sogar im äußersten Notfall den Einsatz sittlicher Methoden: große und edle Schwester der tumben Rachsucht


Grabinschrift: bei den meisten Toten eine aufgeblasene Laudatio in Proportion zum vorherigen Lebensstandard, den man sich nicht mehr leisten konnte


Korrespondent: ehemals halbwegs fähiger Journalist, der sich sein Altenteil aufgrund vermeintlich hervorragender Leistungen in der Vergangenheit nunmehr als überbezahlter Wetterfrosch, bevorzugt in den Vereinigten Staaten, verdient


Kavaliersdelikt: Kapitalverbrechen mit Feigenblatt


Sarkasmus: romantischer Beweis einer übertriebenen Zuneigung, die dem Betroffenen zuerst wie der wollüstige Kitzel eines eleganten Dolchstoßes vorkommt und die bei genauerem Hinsehen ihre enthusiastische Vollendung erst in einem beglückenden Liebestod findet



Mittwoch, 10. März 2021

Z. Z. XV [»SO« von Sophia Pellens]

 


[»Es leuchtet!«, Lorena Kirk-Giannoulis (2021)]


Es leuchtet! seht! – Nun läßt sich wirklich hoffen,

Daß, wenn wir aus viel hundert Stoffen

Durch Mischung – denn auf Mischung kommt es an –

Den Menschenstoff gemächlich componiren,

In einen Kolben verlutiren

Und ihn gehörig cohobiren,

So ist das Werk im Stillen abgethan.

Es wird! die Masse regt sich klarer!

Die Ueberzeugung wahrer, wahrer!

Was man an der Natur Geheimnisvolles pries,

Das wagen wir verständig zu probiren,

Und was sie sonst organisiren ließ,

Das lassen wir krystallisiren.


[Johann Wolfgang von Goethe »Faust II. Zweiter Akt, Laboratorium« (1832)]



[»Illustration des Dualismus« von René Descartes (1596 - 1650)]


Ich nehme also an, alles, was ich wahrnehme, sei falsch; ich glaube, daß nichts von alledem jemals existiert habe, was mir mein trügerisches Gedächtnis vorführt. Ich habe überhaupt keine Sinne; Körper, Gestalt, Ausdehnung, Bewegung und Ort sind Chimären. Was soll da noch wahr sein? Vielleicht das Eine, daß es nichts Gewisses gibt. [René Descartes »Meditationen über die Grundlagen der Philosophie (Meditationes de Prima Philosophia)« (1641)]



»SO«



Wenn die Leute mich fragen würden, ob ich Elena gekannt habe, würde ich wohl in mich hineinschmunzeln. Ob ich sie gekannt habe? Was für eine Untertreibung! Elena und ich waren SO. (Ach so, Sie können hier ja nur lesen. *Räusper*. Sorry, mein Fehler. Also mit SO stellen Sie sich bitte gekreuzte Finger vor. Als Symbol für BFF zum Beispiel. Aber das erkennen Sie am Ende der Geschichte sowieso.)

Wo war ich stehengeblieben? Elena und ich, genau. Wir waren eng miteinander verbunden. Sehr, sehr eng. Ich wusste, wann sie krank war. Wann sie traurig war. Oder sogar, wann sie gestürzt war. All das. Von der Wiege bis... Aber wo fange ich denn an, wenn ich von ihr erzählen soll? Am besten am Anfang.

Elena war ein solch süßes Baby. Sie lächelte viel und immer hatte sie Lucky dabei. Das war ihr Lieblingsstofftier. Ein Hund, den sie knuddelte und im Arm hielt und den sie natürlich auch vollsabberte. Ab und zu musste er zu mir und dann weinte sie. Aber ich gab ihn ihr immer wohlbehalten zurück. Wie er dann duftete!

Und sie konnte essen! Der pure Wahnsinn! Einen nicht geringen Teil ließ sie jedoch auf ihren Schlabberlätzchen zurück. Und was in den Magen gelangte, gelangte auf natürlichem Weg wieder heraus. Sobald sie krabbeln konnte, trainierte sie ihren Babyspeck so fleißig ab, dass der Teil der Strumpfhosen, der über ihre Knie ging, immer als erstes ganz abgewetzt war. Elena war eben bereits als Baby sehr sportlich und das setzte sich in den folgenden Jahren auch fort. Dazu aber später mehr.

Als Elena älter wurde, hörte das mit den abgenutzten Knien selbstverständlich auf. Und an die Stelle von Dreck und Löchern an den Hosen traten nun Kreide und Tintenflecke, die sich auf Pullover und Röcken verteilten. Aber das machte mir nichts – schließlich war das nichts, was sich nicht wieder entfernen ließ. So wie die Tränen, die flossen, wenn ein anderes Mädchen sie in der Schule geärgert hatte. Wir sprachen oft darüber. Das heißt, Elena erzählte und ich hörte zu. Mein armes kleines Ding – die Welt da draußen konnte manchmal grausam sein. Aber sie fand ihre Freude im Sport und damit auch etwas, was einer zweiten Familie gleichkam – das Voltigieren. Und sie war so geschickt! Auf das harte Training folgten Auftritte, aus den Shirts und Trainingshosen wurden speziell angefertigte Trikots in den schönsten Farben und Stoffen. Ich konnte mir richtig ausmalen, wie wundervoll die Auftritte gewesen sein mussten: Akrobatik und Musik, das Klatschen des Publikums und das Gemeinschaftsgefühl. Das Glücksgefühl, wenn sie gewonnen hatten. Auch wenn ich leider nie dabei sein konnte. Aber das machte mir nichts aus. In meiner Fantasie besuchten sie Hamburg, London, Paris. Glamouröse Orte mit einem Millionenpublikum. Wenn die Realität auch oftmals nur Buxtehude hieß. Oder ein anderer, auf keiner ordentlichen Karte verzeichneter Ort, wie es auf den mitgebrachten Stofftransparenten stand, die ihre Geschwister extra bedruckt hatten. Und die Familienangehörigen aller Teilnehmer waren wohl auch fast immer die Einzigen, die zusahen. Egal – es kam ja auch auf den Spaß an. Und wenn ich so auf die vielen Jahre zurückblicke, die Elena mit Voltigieren verbracht hatte, so muss es wohl Spaß gemacht haben. Ihre drei Brüder gingen nur irgendwann nicht mehr mit. Sie waren alle älter und beschäftigten sich dann mit Fußball (übrigens ein sehr dreckiger und schweißtreibender Sport, das kann ich Ihnen sagen), Handball oder Karate. Die Älteste, ihre einzige Schwester, war eher dem Theater zugetan. Make-Up und Kostüme sprechen eine deutliche Sprache. Und auch Elena ging irgendwann nicht mehr zu den Pferden, was unter anderem an dem Heu aus den Ställen lag, das beim Auskehren in der Kleidung steckenblieb. Ihre Allergie trieb sie zur Verzweiflung. Wieder gab es Tränen. Diesen folgte dann der Abschied von den Voltigierern und ein Neuanfang bei den Cheerleadern aus dem Nachbarort. Ich wünschte, ich könnte von exotischeren Orten berichten, aber auch hier klangen die Namen auf den Siegerschleifen eher nach Provinz.

Mittlerweile war Elena aber zu einem Teenager gereift, was mehr Abwechslung in ihr Leben brachte. Die Röcke wurden kürzer, die Oberteile mehr und ab und zu blieben sogar Spuren von Lippenstift an den Fasern hängen. Elenas Eltern störte das aber offensichtlich nicht. Selbst dann nicht, als sich eines Morgens unbekannte Hosen im Wäschekorb fanden. Und Poloshirts mit „Flo“ bestickt. Was wohl auf einen Florian hindeutete. Ein Tennisspieler. Daher wohl die Poloshirts. Auf jeden Fall tauchte Florian von da an öfter auf. Und Elena mit ihm öfter ab. Wir sahen uns seltener und wenn, dann erzählte sie auch nicht viel. Aber sie lächelte oft und schien sehr glücklich. Tränen gab es selten und wenn, dann waren es wohl Freudentränen. Und sie versorgte mich mit T-Shirts und Stofftaschen, auf denen HAMBURG, OSLO und NY stand. Einmal kam sie sogar mit PARIS zurück: Die Stadt von L’Amour, endlich war sie einmal dort. Die Seine, Champs-Élysées und der Eiffelturm. Die Glückliche! Und sie sang dabei, als sie vor mir stand und sich zu mir herunterbeugte. Ich wusste aber, dass bald die Zeit gekommen war, uns voneinander zu verabschieden. Dabei waren wir schon 20 Jahre zusammen. Ihre Geschwister waren bereits ausgezogen (auch wenn einer der Brüder gelegentlich grüne Uniformen mitbrachte, um die ich mich kümmern musste) und Elena wollte studieren. Nicht nur, dass es hier im Ort nicht möglich war. Nein, es zog sie auch in eine größere Stadt. Um mit ihrem Florian zusammen zu sein. Und um auch die Dinge direkt vor der Haustür erleben zu können, die es, umgeben von Feldern und Wäldern, nun einmal nicht gab. Wenn ich hätte heulen können, so hätte ich es wohl getan. So wie ihre Eltern. Abschiede fallen nun einmal niemandem leicht.

Aber…

Ja, aber.

Aber ein junger Haushalt besitzt wenig Geld. Studierende besitzen wenig Geld. Und können jede Hilfe gebrauchen, die sie bekommen können. Das haben sich auch Elenas Eltern gedacht.

Und so wurde aus dem Abschied ein Neuanfang.

Ich durfte mit Elena und Florian mitgehen. Ihre Eltern bekommen wohl eine Neue. Sicher. Ohne geht es ja nun wirklich nicht.

Und ich? Vielleicht wasche ich bald wieder Socken und Windeln und Schlabberlätzchen. Wer weiß? Ich kann es kaum erwarten.

Schalte mich ein, gib mir das Pulver und drücke die richtigen Knöpfe. Dann lege ich los. Das ist es, was ich am besten kann. Schließlich wurde ich genau dafür gebaut. [Sophia Pellens (2021)]