Donnerstag, 20. Dezember 2018

Bzw. ۲ ۲ ۱ [Für Heinrich Heine & Europa]



[Europa und der Stier,
 Fresko aus Pompeji (1. Jahrhundert n. Chr.)]



Bzw.


Das glänzendste Geschäft in dieser Welt ist die Moral. [Frank Wedekind]


I.

Man sah im abendlichen Bad das Hin- und Widertreiben von Köpfen der Brustschwimmer, in dem spiegelnden Wasser darunter schemenhaft schlierend Bewegungen von Armen und Beinen. Zwei Blondinen, das blondierte Haar am Kopf festgesteckt, so dass es möglichst nicht mit dem Chlorwasser in Berührung kam, schwammen in einigem Abstand, nicht etwa wie plaudernde ältere Damen nebeneinander -, sondern hintereinander her. Es konnte kein Zweifel darüber bestehen, dass sie dennoch zueinander gehörten, so sehr stellte eine die ungefähre Nachahmung der anderen dar. Blonder erstere, auch das Haarbürzel etwas höher aufgesteckt, hielt sie das Gesicht in der Weise der Schwimmerinnen aufrecht über dem Wasser, die nicht wollten, dass es etwa nass werde, ganz so wie man es tat, wenn man das Schwimmen zwar erlernt hatte, aber wie man lernt, indem man fest stehende Regeln befolgt ohne Genaueres über ihren Zusammenhang mit der Wirklichkeit zu wissen und auch davon nichts wissen zu wollen. So geschah das Schwimmen in einer Art getreuer Pflichterfüllung, man kam durchaus vorwärts, wenn auch wie von einem geheimnisvollen elastischen Band immer gerade dann festgehalten, wenn der eigentliche Vortrieb erfolgen sollte. Das mochte ja auch so sein, wenn man etwa wirklich sportlich schwamm, was hier aber entschieden nicht geschah, denn das Schwimmen war ein Akt höherer Hygiene, welcher der Gesundheit in einem allgemeinen Sinne und aus einem speziellen  Blickwinkel förderlich sein wollte. Zwar sah man die Badeanzüge der beiden Schönheiten nicht, mit Sicherheit waren sie aber durchaus nicht sportlich, was seinerseits etwas Erlösendes haben konnte angesichts all der Funktionalität, der man in mitteleuropäischen Breiten in Hinsicht auf die Kleidung so entschlossen Vorrang einräumte. Dennoch war aber auch bei diesen Damen nichts Weiteres zu erwarten, denn sie waren zwar schön, allerdings im Sinne einer allgemeinen Pflichterfüllung bezüglich ihres weiblichen Daseins, nämlich der, besonders adrett zu sein. So wie sie schön waren und züchtig einherschwammen, wischten sie Staub, reinigten den Herd beziehungsweise ließen es gar nicht dazu kommen, dass er verschmutzte oder gar roch. So saßen sie hinter dem Steuer, etwas dicht und sehr aufgerichtet in einem fast neuen Wagen, in jedem Falle darauf bedacht, die Vorschriften zu beachten. Eine kleine Beule würde ja auch dem ungerechten Vorurteil Vorschub leisten, man sei als Frau weniger dazu befähigt, Auto zu fahren, auch seien die Fahrten, die man zu bestehen hatte, von geringerer Bedeutung als die der Männer. Dass man nicht recht vorwärts kam, lag nicht etwa daran, dass der Wagen von einem geheimnisvollen Band zurückgehalten wurde, sondern dass man sorgfältig die Gänge einlegte und die Geschwindigkeitsbeschränkungen beachtete. Jedenfalls war man noch in keine Radarfalle geraten. Mochten andere Frauen ihrerseits in lauten Unterhaltungen begriffen zwei Bahnen des Bades in Anspruch nehmen, es waren die Dicken, vielleicht noch dazu beim Aquajogging, die immer dick blieben, so wie man selber schlank, gerade weil man eben schwamm, sinnvollerweise in einigem Abstand hintereinander her. Die Reihenfolge hatte sich irgendwann so eingespielt, nicht etwa dass eine schneller war als die andere, der Abstand blieb ja immer gleich, oder es auch nur sein wollte. Wenn auch die erstere von beiden insgesamt etwas zierlicher als die zweite war, deren Haar etwas tiefer zusammengebunden und das in Strähnchen blondiert war, so konnte man doch glauben, zweitere räume der ersten einen gewissen Vorrang ein; mochte sie zierlicher und feiner sein, so war sie doch auch empfindlicher und jedenfalls bestimmter Rücksichtnahmen bedürftig. [B. Karl Decker]


II.


Deutschland. Ein Wintermärchen (Bühnenstück)


In dreißig Akten (Bildern von jeweils rund zwei Minuten) sprechen dreißig Sprecherinnen und Sprecher aus möglichst unterschiedlichen Regionen der Welt ausgewählte Strophen aus Heines Gedicht, Caput (=C) I – XXVII [s. Partitur] von einem präparierten Zuspielband. [Gegebenenfalls können sich die Rezitatorinnen und Rezitatoren nach bewährter Bühnenpraxis auch unter das Publikum mischen.] Von einem weiteren Zuspielband, gegebenenfalls auch von einem gemischten Chor (maximal zwölf Sprecherinnen und Sprecher) sind Radioschnipsel [s. Partitur] in deutlich vernehmbarer, gemäßigter Lautstärke zu hören. Die einzige Bühnenfigur, der Dichter Mozafer, schweigt nahezu durchgängig bis zum Abschlussmonolog in Akt 29.
Die Klangcollage beginnt im vierten Akt. Die Rezitationen und Radioschnipsel überschneiden sich; gleiches gilt für den Abschlussmonolog.

I. Handlungsablauf:

1er Akt
Ein kleines Zimmer, in dem ein Bett, ein Nachttisch, ein Stuhl und ein Schreibtisch steht. An der Wand gegenüber dem Bett hängt ein Spiegel. Mozafer liegt im Bett, vollkommen zugedeckt.
2er Akt
Mozafer hustet. Minuten später gedämpftes Geschrei aus der Ferne. Er hebt seinen Kopf und blickt sich in seinem Zimmer um.
3er Akt
Mozafer versucht, sich aus seinem Bett zu erheben, wälzt sich jedoch stattdessen lange darin herum.
4er Akt
Er wirft langsam die Decke von sich und setzt sich aufrecht aufs Bett. Er trägt einen Schlafrock. Er versucht Orientierung zu gewinnen, indem er hie und da Blicke auf den Boden, die Wände und die Decke wirft. Beginn der Klangcollage.
5er Akt
Er verlässt für kurze Zeit mit langsamen Schritten das Zimmer.
6er Akt
Er betritt erneut das Zimmer, geht zum Spiegel, stellt sich davor, schaut in sein Gesicht und kämmt sich die Haare.
7er Akt
Er läuft orientierungslos in seinem Zimmer auf und ab.
8er Akt
Er sucht nach Nahrung.
9er Akt
Endlich findet er ein Stück Brot und legt es auf den Schreibtisch.
10er Akt
Er sucht eine Tasse, findet sie neben dem Nachttisch, nimmt sie und verlässt von neuem für kurze Zeit das Zimmer.
11er Akt
Er betritt das Zimmer, die Tasse fest in der Hand haltend. Nach längerer Bedenkzeit geht er schließlich zum Schreibtisch und stellt sie darauf.
12er Akt
Er nimmt am Schreibtisch Platz, isst ein wenig Brot und trinkt dann einen Schluck aus der Tasse.
13er Akt
Er sucht unter dem Tisch nach einem Buch, legt es auf den Schreibtisch und blättert es durch.
14er Akt
Er legt das Buch beiseite und isst weiter.
15er Akt
Er steht auf, geht zum Nachttisch und nimmt verschiedene Medikamente ein.
16er Akt
Er schleppt sich zum Spiegel, stellt sich davor und betrachtet seine Zunge.
17er Akt
Man hört Mozafers gedämpfte Stimme, während er seine Zunge vor dem Spiegel untersucht.
18er Akt
Er brüllt etwas Unverständliches vor sich hin, hebt eine Zeitung vom Boden auf, geht zum Bett und liest.
19er Akt
Er legt die Zeitung beiseite und schließt die Augen.
20er Akt
Besorgt geht er spontan zum Spiegel und schaut gründlich in sein Gesicht, begutachtet sein Gebiss, seine Augen und seine Nase.
21er Akt
Er geht wiederum zum Schreibtisch, legt seinen Kopf darauf und streckt dann seine Hände aus. Auf diese Weise bleibt er über einen längeren Zeitraum regungslos dort sitzen.
22er Akt
Er hebt seinen Kopf und wirft einen bedeutungsvollen Blick ins Publikum.
23er Akt
Er setzt sich zunächst auf den Boden und kriecht nach einer Weile mühsam zu seinem Bett zurück.
24er Akt
Unter dem Bett sucht er nach seinen Aufzeichnungen, kramt sie seufzend hervor, kriecht zum Schreibtisch zurück, steht auf und setzt sich auf den Stuhl, um seine Unterlagen zu sortieren.
25er Akt
Er beginnt, einen Brief aufzusetzen, anfangs verständlich, später in zunehmendem Maße unverständlich: "Sehr geehrter Herr, es gilt also, das Spiel zu bewahren, es gegebenenfalls umzugestalten, denn die Umgestaltung bewahrt uns vor der peinlichen Langeweile des regelmäßig Wiederkehrenden; man denke nur an die zahllosen Suchtkranken des Glücksspiels. Wehe denjenigen, die das Spiel mit einem Mangel an Ernst oder als bloße Zerstreuung betrachten!"
26er Akt
Er greift nach einer Flasche Wein unter dem Schreibtisch, stellt sie auf den Tisch und betrachtet liebevoll das Etikett.
27er Akt
Er blickt sich in seinem Zimmer um, steht auf und durchschreitet es mehrmals, als wolle er den Raum vermessen. Vergeblich sucht er schließlich nach einem Glas.
28er Akt
Für einen Augenblick verlässt er das Zimmer, um ein Glas zu holen.
29er Akt
Triumphierend kommt er in sein Zimmer zurück, ein Glas in der Hand, setzt sich an den Schreibtisch und schenkt Wein ins Glas. Er nimmt einen hastigen Schluck und rezitiert: "Warum du erlauben deine Frau verhalten wie Mann? Kleiden wie Mann, gehen wie Mann, warum? Kann sein, kleine Mädchen manchmal rennen wie Bruder, aber auch schon kleine Mädchen muss sein Mädchen, muss rühren an Herz andere wie kleine Junge. Ist falsch Erziehung im Deutschland, wo macht nix Unterschied in Familie. Werbung und Industrie sehen diese Unterschied, weil ist richtig, sonst nix Geschäft. Intellektuelle sagt, ist gleich Mann und Frau. Ist gut, Revolution. Ich große Herz für Revolution. Meine Land Scheiße, muss sein Revolution, aber in Politik, nicht in Natur. Natur muss bleiben Natur, macht Unterschied, Mann, Frau, Wasser kann nicht sein Stein. Steine soll nicht fallen von Himmel, muss regnen Wasser. Mann muss haben Frau, sehen Frau, fühlen Frau, kann nix sein zufrieden mit Kamerad in Haus. Muss heimlich ansehen Frau in Werbung, nix gut. Verstehen. Gute Christ muss wissen, andere Frau nur anschauen, wie sagt man, Ehe, schon gebrochen. Nix Frau in Haus gut für Industrie, dann kaufen Produkt ohne Intellektuell. Meine Land arm, fehlen Konsum. Hier alle, aber Mann nix haben Frau. Schickt Frau in Arbeit, macht Nachtschicht, nix gut, haben alle, aber nix für Herz. Meine Kultur viele lern von westliche Länder, Deutschland gute Land, aber macht Herz traurig." - "Intellektuell, was macht Revolution, nix Revolution, nix Kunst. Tellkamp haben viele Angst vor Verlust von die Gemütlichkeit, weil schreibt Roman, nix schicken Kinder in Schule mit viele Emigrant, suchen Vergangenheit, Gegenwart machen Angst, weil sehen Moslems. Jetzt sogar Intellektuell wollen reden von Heimat. Wer, ich frage, wissen mehr von Heimat, als Leute, die hat verloren Heimat?"
30er Akt
Er gibt auf, geht langsam in sein Bett und deckt sich zu.

***

II. Partitur
Die zu rezitierenden Verse sind jeweils auf der rechten Partiturseite vermerkt. Die Zeitangaben der Radioschnipsel (in Klammern) geben insbesondere Auskunft über den Ablauf und die entstehenden Pausen. Darüber hinaus sind die Angaben variabel.


C I, 1 – 3
C I, 9 – 13
Nach dem neuen Telekommunikationsgesetz darf der Bund (0'03'')
Lebensmut (0'11'')
Unangenehmes zur Sprache kommt (0'18'')
Vor diesem ehrenwerten Haus (0'33'')
Wie sind wohl die Menschen zu dem Begriff der Freiheit gelangt? (0'40'')
Bäckereien (0'46'')
Verdunkelte sich der Himmel (0'46'')
Weine nicht, kleine Eva (1'20'')
Aber die Welt ist voll von Juden (1'29'')
Basketballfreak (1'43'')
Wir haben sehr erfolgreich begonnen (2'01'')
Heavy Metal (2'06'')
Bedeutung der alten Politik (2'15'')
Can't buy me love (2'33'')
Do all the things you want me to (2'45'')
Tunnelbauten im Taunus (2'50'')
Tyson is back (2'55'')
Home is where we belong (3'23'')
C II, 9 – 11
C III, 6 – 9
C VII, 1 – 7 + 29
C VIII, 2 - 3
Der jüngste Coup (3'25'')
Zeit für Musik (3'35'')
See you (3'54'')
I'll be there (4'00'')
Sexy songs (4'07'')
Kleid und Sonnenschein (4'19'')
Vetternwirtschaft (4'33'')
Korruptionsbekämpfung (4'50'')
Volksmund (5'09'')
Rentensystem (5'28'')
Die Menschen in den Dörfern (5'44'')
Mit einer Selbstverbrennung ein Fanal zu setzen (5'55'')
Er hörte stets ein Nein (6'05'')
Schreiend rannte der Mann (6'14'')
Wie ein kleines Kind (6'47'')
So ein romantisch angehauchter Typ (7'05'')
So was wie dich (7'23'')
Mikrowellenmahlzeiten (7'28'')
Liegestützen (8'14'')
Der gegenwärtige Trend (8'20'')
Perverser Ernst (8'34'')
Berührungsangst (8'43'')
Hit-Radio (8'59'')
Saugut in Form (9'10'')
Der Ball ist rund (9'30'')
RTL: Krieg im Bandenmilieu (9'45'')
RTL: Wir zeigen's Ihnen (10'15'')
Frau Bratbäcker (10'21'')
Bright Eyes (10'38'')
Die unterschiedlichsten Gesellschaften (10'50'')
Der mächtigste Mann der Welt (11'00'')
You came from Paradise (11'13'')
Die 1,99%-Europafinanzierung (11'24'')
Neueste Musik (11'31'')
Hulla-Hawaii-Trip (11'39'')
Premiere (11'59'')
Closing Time (12'10'')
Rap (12'15'')
Volkswagen (12'37'')
Serenata d' amore (12'47'')
Lalalali, Lalala (13'15'')
Der Fanalist (13'34'')
I lay my head (13'43'')
Hit-Radio (14'08'')
Fleischverzehr (14'30'')
Ich wäre wirklich gut für dich (14'44'')
Techno (14'50'')
Aktien der Chemiebranche (15'22'')
I'm a big, big Girl (15'35'')
Subventionsabbau bei Kantinen (16'03'')
Mozart (16'28'')
Montag ist Schontag (16'46'')
Führungsleute in der Union (17'23'')
Mars macht mobil (17'34'')
C IX
C X, 1 – 4
C XI, 1 -3 + 16
C XIII
C XVI, 1 – 3 + 12 – 15
C XVII, 1 + 4 (Z. 3 – 4)
C XIX, 1
Schäuble (18'22'')
Ein Mädchen für immer (18'50'')
Wir wollen uns nicht an Kleinigkeiten festhalten (19'55'')
Tochter Susan zum Beispiel (20'03'')
Idee der Unterschriftensammlung (20'15'')
Märchen sind so wunderschön (20'24'')
Träne auf Reisen (23'19'')
Techno (23'23'')
Says you know (23'24'')
Denken Sie an Che Guevara (23'45'')
So much (23'50'')
Und wer das Glück hat (24'01'')
Prädispositionen, um zu einem Fanal zu werden (24'10'')
Freud. Electro Funk Rules (24'15'')
Träne auf Reisen (24'40'')
Parallelriesenslalom (24'50'')
Berge und Heimat (25'05'')
Bundestagswahl: gleichzeitig gilt, wir wollen keinen demokratischen (25'20'')
Sport-Jazz (25'29'')
Landtagswahlen (25'50'')
Verkehrsmeldung (26'05'')
Als klassischer Geist (26'21'')
No woman of flesh and blood (26'50'')
Unfall und Stau (26'59'')
Wetterbericht (27'25'')
Rap (28'19'')
Wetterbericht (28'30'')
Kammermusik (28'41'')
Es wird schon wieder werden (28'45'')
I confess, im ausgehenden 20. Jahrhundert (29'58'')
Barfuß oder Lackschuh (33'01'')
C XX
C XXI, 1
C XXII, 1 – 3 + 6 – 7
C XIII, 1 – 2 + 7 – 20 und 25 – 29
C XXIV, 1 – 2; 5 + 8 -11; 18 – 20 + 22 – 23
C XXV, 1 -2; 6 – 7; 10 – 14; 18 – 20 + 25
C XXVI, 1 -2 + 6 – 20
C XXVII, 1 – 3
Werbung (33'31'')
Internet (34'15'')
Die weibliche Brustlandschaft (34'43'')
Schließlich könne man auch gänzlich unverschuldet arbeitslos werden (34'54'')
Wetterbericht (35'22'')
Klassik für Eilige (37'29'')
Planet Radio (37'29'')
Maximum Music (37'49'')
Negative Folgen (39'04'')
Mittelwelle (39'45'')
FM (40'20'')
Kritik der Ideologie (41'05'')
Kurzwelle (42'20'')
Radio Österreich (42'25'')
Fluchtfinale (43'20'')


III.

Braten

Sich eine Parkbank zu braten ist so eine Idee, auf die jemand wie ich verfallen kann, ihrer bloßen Unmöglichkeit wegen. Sie genüsslich in der Pfanne zu wenden, wobei, zugegeben, mir die Beine etwas im Weg sind; aber bei zunehmender Hitze erschlaffen sie und lassen sich ganz gut an den Bankbauch anlegen, wo sie auch hübsch knusprig werden. Ich neige dazu, die Bank mit den Beinchen nach oben zu servieren, verstehe aber, dass andere Köche dem Beinchen-nach-unten-Serviervorschlag folgen. Selbstredend, dass die Lehne als erstes den Winkel aufgibt. Zwischen Lehne und Sitzfläche empfiehlt sich nach Art des Cordon bleu entsprechend Zeitung oder Mantel, den ein Clochard hat liegen lassen. Schön, wenn die Einlagen flüssig werden und zwischen den Brettern herausquillen. Gesalzen wird übrigens erst auf dem Teller, damit das Holz nicht trocken wird, sozusagen holzig. Pfeffer dito.
Wer dies alles für unmöglich hält, dem empfehle ich diese offensichtliche Unmöglichkeit, bei der mir jedenfalls das Wasser im Munde zusammenläuft, wohleingedenk der Tatsache, dass ich nur abgeliebte Parkbänke brate und keineswegs solche aus Massenbankhaltung.
Was man ansonsten für unmöglich hält, das geschieht ja leider alltäglich, in Bezug auf das Cordon bleu üblicher Kulinarik vermittels der üblichen Schweinerei. Entsprechend die übrigen Schweinereien.
Nehmen wir an, wir hätten, da wir die Lektüre von Clochards grundsätzlich nicht kritisieren, eine Bild der vergangenen Woche in der Bank gebraten, dann hätten wir uns unversehens eine nicht leicht zu überbietende Monstrosität einverleibt. Der Führer hat nämlich, jawohl, ihr wisst es schon, mit Magda, der Mama von Rosemarie, die partout Romy sein wollte, also die haben, ihr wisst schon. Man will nicht hinschauen im Tankshop, aber man sieht es ja eben doch: Der Führer wie gemalt! So also sah er wirklich aus. Manchmal soll er ja auch Krachlederne getragen haben. Der magische Blick, habe ich mir erklären lassen, lasse sich nicht fotografieren. Bloß weil ich den auch bei genauem Hinsehen nicht ausmachen konnte, hatte er also diese Augen, nach denen heute noch gecastet wird. Irgendwie widersprüchlich, aber egal. Also der Führer, ein Bild von einem Mann! Und von wegen Wassertrinker, also auch sonst von der blassen Sorte, da lobe ich mir mein Schnitzel. Nix, die haben also, Anno Tobak, genauso wie richtige moderne Promis, hatten die also solche Geschichten. Herrgott, wie naiv wir doch sind, dass er sich für seine Eva reingehalten hat. Man kommt natürlich sofort ins Kalauern, von wegen reinhalten und so weiter, aber lassen wir das.
Es hat also einer unserer Kollegen, die an der Tanke noch schnell die Zeitung mitnehmen, sich zusammenbuchstabiert, dass unser Adolf doch ein ganz richtiger Promi war, mit Bettgeschichten und so weiter, sozusagen einer von uns, wie man eigentlich an dem Foto auch sah, ziemlich trendy, und hatten nicht Chaplin und Thomas Mann auch dieses Bärtchen, zugegeben, man kennt nur den alten Charly.
Wahnsinn, die Bild, dass sie immer so genau herausfinden, was man eigentlich immer schon wusste. Ja, am Trend fehlt es den aktuellen Rechten a weng. Das ist, weil sie so dagegen sind, ich meine gegen alle Freiheiten, die man sich in der modernen Welt schon nehmen darf, ich mein, die, die sichs leisten können. Am Ende hatte der Adolf auch irgendwo eine Jacht, oder eine Sportwagensammlung.
Also ich tät mir einen braten, ich mein einen Sportwagen, auch gesotten könnte ich ihn mir vorstellen, beispielsweise den Jaguar von meinem Kumpel. Hat nicht der Charly Chaplin sich auch etwas Leder, aber lassen wir das; der Führer, einer von uns, das ist wirklich großartig rausgekommen - und auch irgendwie informativ. Ja. [B. Karl Decker]


IV.

Reifen

Reifen sind Überzieher fürs Rad. Das Rad funktioniert ohne, umgekehrt nicht. Daher, wer Reifen liebt, muss das Rad anbeten, bekanntlich die größte Erfindung der Menschheit. Reifen braucht Rad und Rat.
Reifen ist Bewegung, denn nichts geht ohne, nicht einmal das Fliegen. Ohne Reifen wäre vieles unreif, bitter, hart und einfach nur ungenießbar. Millionen Online-Bestellungen würden nicht rechtzeitig eintreffen und Familien, gerade an Weihnachten, auseinanderbrechen. Andere würden sich, gestrandet an den Flughäfen, um ihren gelobten Urlaub betrogen fühlen, weil die Maschinen nicht abfliegen könnten. Stimmen würden laut werden, der Mensch brauche sein Mallorca, auch wenn die Insel an ihm kollabierte. Denn er kann sich das leisten, der Homo Sapiens, alles kaputt zu lieben. Da könnte ihm Reifen helfen, wenn er nur reifte.
Reifen ist unersetzlich und braucht ein Profil, damit nichts ausrutscht und reibungslos läuft. Bodenhaftung ist wichtig. Gleichzeitig bedeutet Reifen ein Profil bilden, Eigenarten entwickeln, sich mit anderen reiben, um dadurch an Persönlichkeit zu gewinnen.
So ist also ein Reifen dem anderen entgegengesetzt. Während das eine genießbar wird, feine Härchen bekommt, süßen Saft entwickelt, aromatisch duftet, weiches Fleisch und somit eine Genuss-Reife entfaltet, verliert der andere seine Griffigkeit und wird abgenutzt. So oder so: Ohne Reifen kein Verkehr!
Und Raduan? Seine Eltern ließen den Achtjährigen im Schutzraum des Reifens in der Nähe von Aleppo auf der Felge des Rades eines exportierten Lastkraftwagens, Typ Mercedes-Benz LP 333, in der sogenannten Innenseele des Reifens, für einen Preis von rund fünftausend Dollar befestigen. Die Entfernung nach Aratos, Griechenland, beträgt rund 1500 Kilometer.
Der Flüchtlingshelfer Bahman nahm nach einem Notruf gegen 12:10 (ante meridiem) das nächstmögliche Flugzeug (Turkish Airlines) vom John F. Kennedy Airport nach Thessaloniki. Im Leihwagen, Typ BMW, erreichte er in der Dämmerung des darauffolgenden Abends den verabredeten Ort, um Raduan vor den Auffanglagern Europas zu bewahren. Begreifen Sie? Was hätte Raduan im allseits gelobten Land, zum Greifen nahe, erwartet? Sprachförderprogramme? Integration? Unterwanderung der Sozialsysteme? Toleranz? Talk Shows? Die Alternative für Deutschland? Ein Wohnheim? Streifenwagen? Bahman fand eine Familie rumänischer Immigranten in Cambridge für Raduan, von dem, inzwischen rund sechzehn Jahre alt, folgende Nachricht kam: "I want to thank Allah and all the people who have accompanied me over these years. I want to thank them for saving me, for picking me up, and for giving me a new life. I want to go back home to my family in Aleppo as soon as possible. Unfortunately, Aleppo doesn't exist anymore, though. I don't even know if my family is still alive." Guter Rat ist teuer, sagt der Volksmund. Begreifen Sie? [Liana Helas]

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen