Montag, 10. Dezember 2018

S / W 2



[Karl May als Old Shatterhand,
Alois Schiesser (1896)]







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"Here is your cross, your nails and your hill; and here is your love, that lists where it will" (Leonard Cohen)







"Der Lehrer seiner Leser! Und Geld verdienen! Sir, Ihr seid übergeschnappt, wenn ich mich nicht irre! Eure Leser werden gar nichts von Euch lernen, denn Ihr versteht ja selber nichts. Wie kann so ein Greenhorn, so ein ganz und gar ausgewachsenes und ausgestopftes Greenhorn der Lehrer seiner Leser sein! Ich versichere Euch, dass Ihr gar keine Leser finden werdet, nicht einen einzigen! Und sagt mir nur um des Himmels willen, warum Ihr, aber auch grad Ihr ein Lehrer werden wollt, und noch gar der Lehrer Eurer Leser, die Ihr gar nicht finden und haben werdet! Gibt es denn nicht Lehrer und Schulmeister genug auf Erden und in der Welt? Müsst Ihr denn die Zahl dieser Leute vergrößern?"

Bäumler kannte ich vom Bus. Er gehörte zu den Leuten, die jeden Tag mit dir fuhren, und du wusstest nicht, ob du sie deshalb zu deinen Bekannten zählen solltest. Manchmal saßen wir sogar nebeneinander und es kam zu so etwas wie einem Gruß, wenn man ein Grummeln beiderseits dafür nehmen konnte, weil man mit seiner Tasche oder seiner dicken Jacke etwas zur Seite rückte, weil der andere sich auf den freien Platz nebenan setzte.

Der Bus hatte das Auto einer alten Frau hinten seitlich etwas gerammt. Es war klar, dass es bis auf weiteres nicht weiterging. Ich gehöre nicht zu den Leuten, die sich ein paar Beulen in einem alten Auto angucken gehen, Bäumler wohl auch nicht. Das heißt, ich wusste bis zu diesem Morgen noch nicht, wie er hieß. Jedenfalls waren alle Leute nach und nach aus dem Bus gestiegen und standen in Grüppchen teils frotzelnd um den Blechschaden herum. Dem Busfahrer war gar nichts aufgefallen; er hatte gedacht, die alte Frau wollte noch einsteigen, obwohl er die Türen schon wieder zu hatte. Aber sie klopfte so aufgeregt gegen die Scheibe der vorderen Tür, dass er unter irgendwelchen Reden, wie Busfahrer sie führen, widerwillig mit dem üblichen Zischen die Tür doch noch einmal aufgehen ließ. Ja, ob er denn nicht bemerkt hätte, dass er sie angefahren habe! - "Wie, was, angefahren?", er begriff erst nicht, was die alte Frau meinen konnte, da sie ja ganz offensichtlich ganz gut auf den Beinen stand. Dann aber sah er doch mit dem Blick der Busfahrer in diese Außenspiegel, in denen unsereins jedenfalls nichts sieht, was offenbar vorgefallen sein musste. Tatsächlich hatte ich auch, als der Bus um die Ecke bog, ein Knirschen und Scheppern von irgendetwas, was heruntergefallen sein musste, gehört, aber nichts drauf gegeben. Bäumler hatte es ebenfalls gehört und mich kurz angeblickt. Ich glaube, es gefiel uns beiden, über so etwas die Achseln zu zucken und uns lieber weiter unseren eigenen Gedanken zu überlassen. So hatten wir auch schon eine Weile stumm nebeneinander gesessen, während draußen zu allem Überfluss wohl auf die Polizei gewartet wurde. Der Stadtbusfahrer hatte die Ruhe weg, oder er tat jedenfalls so. Man weiß ja nicht, ob sie irgend eine Art Anschiss einstecken müssen, wenn sie Bruch fahren. Und dass der Bus bis auf Weiteres ausfiel, war auch klar. Es waren noch die Zeiten, wo nicht jeder das Mobiltelefon zückte um mitzuteilen, dass man dieses und jenes Problem hatte und zu spät komme. Man kam zu spät und erklärte es dann, Herrgott, dieses Stückchen Freiheit hat das Informationszeitalter inzwischen auch schon aufgefressen, was sonst? Ich habe heute noch kein Handy, als einziger, Bäumler würde demzufolge eines gehabt haben, wenn ich ihn auch so einschätze, dass er jedenfalls ein Weilchen Zeit hätte verstreichen lassen, bis er danach griff, und er würde sich auch nicht auf der Arbeit gemeldet haben, sondern hatte sicher eine Tussy, mit der er etwas zu regeln hatte um nicht einem anderen Date in die Quere zu kommen. "Na ja", sagte er zuerst, ich war etwas überrascht seine Stimme zu hören, eine Allerweltsstimme, wenn man mich fragt, und doch, sie passte zu ihm wie alles, was ihn umgab, zu ihm passte. - "Das kann dauern", ich hoffte mit meiner Feststellung in etwa den Ton getroffen zu haben, auf den mein Nachbar gestimmt war. Das ist so eine Marotte von mir. Ich denke mir alle möglichen Sachen, was den Leuten so durch den Kopf geht, oder besser zugegeben, was mir an ihrer Stelle durch den Kopf gehen würde. Mir gefiel der Typ, von dem ich vielleicht jetzt irgendwie mehr erfahren würde, zum Beispiel eben seinen Namen, und ich hoffte nicht enttäuscht zu werden. Das wäre beispielsweise der Fall gewesen, wenn seine Stimme irgendwie quäkig gewesen wäre, oder wenn er mit irgendeinem Wortschwall über mich hergefallen wäre. Dass ihn der Unfall nicht interessierte und er stattdessen, den Blick geradeaus, neben mir saß ohne auf die allgemeine und teilweise künstliche Aufregung zu achten, hatte mir Spaß gemacht. Bäumler gehörte wohl auch zu den Leuten, die nicht leicht Bekanntschaft schließen, was nicht bedeuten musste, dass jemand schüchtern war. Genau genommen kannten wir uns ja schon eine gute Weile, ohne uns aber je auch nur gegrüßt zu haben. Jetzt streckte ich ihm einfach die Hand hin. "Welck", sagte ich, "Bertram." - "Angenehm. Sagt man das noch? Ach so, Robert Bäumler. Also dann wirklich: angenehm." Dann saßen wir wieder eine Weile schweigend. Draußen war inzwischen die Polizei eingetroffen und die Unfallaufnahme nahm ihren Lauf. Etliche Fahrgäste hatten sich irgendwie verlaufen, wollten jedenfalls nicht warten, bis es hier weiter ging, etwa ein Ersatzbus kam, oder einfach der nächste. Ich hatte das Gefühl, dass man ganz gut saß, so zu zweit in dem ansonsten leeren Wagen. "Schon mal selber einen Unfall gehabt?", sprach Bäumler, er hatte offenbar doch Lust sich zu unterhalten. "Und ob", antwortete ich. Ich hatte dabei unwillkürlich die Stimme gesenkt, worauf Bäumler verwundert reagierte, denn er vermutete richtig, dass ich ihm nichts vorprahlen wollte. "Ich meine, das kann man wohl sagen", versuchte ich es etwas vorsichtiger. Es war mir aber klar, dass ich jetzt gleich mit der Sache herausmusste. Dann also nur zu, dachte ich und begann von meinem tödlichen Autounfall zu erzählen.

Die Sache mit der regennassen Straße, dass man den Unfall kommen sieht, plötzlich ist man zu schnell, obwohl man gar nicht schnell fährt, auch schon gleich weiß, dass es sehr schlimm werden wird; das Gefühl, die Zunge würde einem im Mund anschwellen, während man geistesgegenwärtig alles tut um den Wagen abzufangen, so, wie es schon einige Male gut gegangen ist. Herrgott, warum dieses Mal nicht? Warum dieses Mal nicht? Dass es den anderen erwischen wird, vielleicht sogar sehr schlimm! Dann wirklich das Bersten in ein frenetisches Hupen hinein. Hatte ich selber etwa noch wie verrückt auf die Hupe gedrückt, oder war es der andere, oder war das mein Bein, mit dem ich an den Hebel kam? Der Wagen musste furchtbar zusammengequetscht sein. Man nahm das alles in einer überirdischen Klarheit wahr. In einem solchen Augenblick brachte das Leben offenbar alles auf, was es hatte. Um dann doch zu erlöschen. Auf einen Schlag ist man völlig passiv. Das Drama des Unfalls ist bereits völlig zum Stillstand gekommen. Mehr oder weniger übel riechende Flüssigkeiten treten aus den Fahrzeugen aus, warm noch vom Betrieb des Motors, aber auch schon erkaltend auf dem Asphalt, Öl etwa, das ein Büschel Gras in glänzendes Schwarz taucht. Die kleinen Glaspartikel allenthalben, im Wagen und draußen auf der Fahrbahn. Andere Wagen kommen herangefahren, halten, Warnblinklicht, die Fahrer steigen aus. Man sieht sie, gleichgültig ob man die Augen geöffnet hat oder nicht, fühlt ihre Angst, mit der sie die Unfallbeteiligten ansprechen. Stöhnen seitens der Insassen in dem anderen Wagen, es waren offenbar mehrere, das typische Geräusch, das ertönt, wenn eine verbogene Tür geöffnet wird. Dann kam auch jemand zu mir, kalter Hauch des Entsetzens, man sah wohl auf den ersten Blick, was mit mir los war.

Bäumler schaute inzwischen zu mir hin. Es war klar, dass hier etwas ganz Unglaubliches erzählt wurde. Er versuchte es mit dem üblichen Einwand, scheintot, Nahtoderlebnis und so weiter. "Nein", sagte ich, "richtig tot." - "Du willst mir erzählen, du bist tatsächlich aufgeamselt, bei einem Verkehrsunfall, und jetzt sitzt du neben mir im Bus und erzählst mir was vom Pferd, so muss es ja wohl sein." - "Vom Pferd, wie du sagst, gerade nicht. Vom Jenseits, wenn du nicht sagst halt das Maul, ich wills nicht hören. Das wäre völlig ok. Ich bin ja kein bescheuerter Missionar oder so etwas Ähnliches." - "Nein, komm, Alter, jetzt, wo du schon mal angefangen hast. Nur tu mir den Gefallen und erwarte nicht, dass ich dir das glaube. Du hast eine Schraube locker, und das ist an sich ja kein Grund, warum du nicht doch ein netter Kerl sein solltest."

Reinkarnation ist an sich Quatsch, da es die Leute aber glauben sozusagen mein Projekt. Die Version mit dem Karma ist bei uns seit jeher eher unbeliebt, so dass sich Stories von einem Leben als Ameise mehr oder weniger erübrigen. Ich habe es in meinen Anfangszeiten ein paar Mal versucht, bin aber regelmäßig damit baden gegangen.

Ganz umsonst sind solche Experimente natürlich trotzdem nicht. In diesem Fall zum Beispiel ist es so, dass du einfach am Gegenteil dessen herumprobierst, was am Ende Sache ist. Ich glaube sogar, dass einem deshalb so eine Schnapsidee wie die mit der Ameise kommt, weil man insgeheim ahnt, dass the real thing eben gar nicht in weiter Ferne liegt, sondern ganz nah. Und so müssen es alle machen, die eine glaubhafte Geschichte erzählen wollen. Erzähle den Leuten die Dinge genau so, wie sie sie selber sehen. So ist der Selbstbetrug naturgemäß das Beste und wird die beliebteste Geschichte, die du den Leuten aufzutischen hast. Nach und nach und zum eigenen Spaß baust du gewisse kleine Fakes ein, wie ein guter Kampfsportler, immer mit so und so vielen Rückzugsmöglichkeiten.

Es gibt die Sorte Leute, die gerne in Träumen irgendwelche Wahrheiten erkennen wollen, oder einfach, fishing for compliments, eine Traumgeschichte erzählen, in der sie den Blödmann geben, von dem sie dich ablenken wollen, der sie also im Alltag nicht sind. Erzähle ihnen, du seist im Traum exakt an dem und dem Ort gewesen, von dem du genau weißt, dass du noch nie dort gewesen bist. Natürlich darfst du es nicht wie ein Idiot übertreiben, zum Beispiel war es auch noch eine Reise in die Vergangenheit, was an sich nicht das Problem sein muss. Aber jetzt pass auf, dass du nicht faselst, alles sei gewesen wie auf einer Schwarzweißaufnahme, Herrgott, und so weiter! Es sei denn, du hast es mit richtigen Einfaltspinseln zu tun. Dann ist es sogar gut, richtig dick aufzutragen, nicht zuletzt auch zu Übungszwecken. Dabei lässt sich auch gut die Technik des Hintertürchens trainieren.

Die beste Lüge ist und bleibt die Wahrheit selbst. Der Lügner muss, wenigstens für den Augenblick, glauben, was er erzählt. Die anderen glauben dir schon aus Prinzip nicht, zum Beispiel aus Neid, und, was ein besonderer Leckerbissen ist, aus Überheblichkeit. Dann tun sie nämlich so, als glaubten sie dir, sozusagen aus Mitleid. Dabei haben sie am heftigsten den eigenen Standpunkt im Blick, und genau auf den bist du aus. Du musst ihn ihnen geradezu entwinden, denn er muss zu der Saite werden, auf der du ihnen jedes, aber auch jedes Liedchen vorgeigen kannst.

Du bist also ein Wiedergeborener, aber, wie gesagt, Finger weg von Ameise oder Elefant, sondern gleich rein ins volle, wirkliche Menschenleben, da, wo das Herz dessen und derer schlägt, denen etwas weisgemacht werden soll, und zwar das, was sie hören wollen und können immer zuerst; oder soll ich sagen, an erster Stelle, denn alles, was du ihnen rüberbringen willst, kann immer nur auf ihrem Wasser schwimmen. Darin kannst du eintauchen, die tollsten Kapriolen schlagen, ihnen davonschwimmen, ganz nach Belieben.

Eins aber behalte wohl im Blick: Du bist nicht anders als sie. Auch in dir fließt jenes Wasser, das andere dir sogar ins Gesicht spucken können, in dem du selber Schiffbruch erleiden kannst. Hüte dich also vor eigener Überheblichkeit, bloß weil du im Unterschied zu ihnen bereit bist, mit und in dem allgemeinen Fluss der Dinge ein wenig herumzuspielen! Sei also der Wiedergeborene, der sie selber zu sein wünschen, und greife dazu hinein in die Saiten ihrer Harfe!

Um die Leute zu verstehen brauchst du nicht auf die Hochschule zu gehen. Dort können sie dir vielleicht beibringen, was sozusagen der Saft ist, den man aus einer Million presst, oder so. Aus dem Einzelnen, sag ich dir, kommt kein Saft. Unter uns gesagt: Dünnschiss, falls du weißt, was ich meine. Mal ehrlich, als ob's bei uns selber anders wäre. Arien habe ich längst geknickt. Im Grunde wusste ich's schon immer, Schnulzen, Alter. Meine Schwester hörte Schnulzen, und die habe ich mitgeschmettert, als ich noch nicht fand, das könnte peinlich sein. Aber was ist denn peinlich? Das, wovon du denkst, die andern finden's peinlich. Und die wiederum denken, du findest irgend eine Hühnerkacke peinlich, in die sie latschen, auf Schritt und Tritt, was denn auch sonst! Also, die finden sie peinlich und wollen, dass du's nicht merkst. Und das kannst du jetzt hin- und herwenden, wie du willst, oder vergiss es gleich, also nochmal: Schnulzen. Zum Beispiel eine von Langston Hughes, falls du weißt, wen ich meine, heißt Harlem. Zugegeben, die hat meine Schwester nicht auf ihren Alben gehabt, da ging es verdammt viel biederer zu, und dann ja auch noch in English. Ich beispielsweise habe Englisch gelernt, sozusagen nachträglich, denn eigentlich glaubte ich, ich hätte es schon immer gekonnt, bloß dass einem die entscheidenden Wörter fehlen. Pass auf, frei nach dem alten Langston also: Was geschieht mit einem aufgeschobenen Traum? Mann, das hat mich gleich umgehauen, ich fand's total poetisch, ein Traum, den man zum Teufel nochmal gleich träumen sollte, also verschoben, die Kiste, wie im wirklichen Leben, sage ich. Und du weißt natürlich, Mann, welchen Traum ich meine. Genau, den vom ewigen Leben, will heißen, dass es kein Ende nimmt, ich habe ja meinen Traum verwirklicht! Wie könnte ich sonst hier im Bus neben dir sitzen, mausetot, wie ichs schon x-mal war! Pass auf, von wegen der aufgeschobene Traum, jetzt wird es synästhetisch, ja, wirklich, den Kram haben wir in der Schule gelernt. Oder halt Metapher und der ganze Quatsch: Ob er also trocknet wie Trauben in der Sonne? (Herrgott, wenn das keine Schnulze ist, mit andern Worten, genau das, was man auch glauben kann!) Oder eitert er wie eine Wunde, jede Wette, vor ein paar Jahrhunderten hätte der einsame Poet von schwärenden Wunden gefaselt. Geht mir runter wie Öl, dir vielleicht nicht? Jedenfalls, wenn du nicht total verklemmt bist. Stinkt er wie faules Fleisch, immer noch der Traum, Alter, was sonst? Wenn du wüsstest, wie sie müffeln, die Kameraden, wenn sie oben anstehen, du weißt schon. Sie rubbeln sich die Fetzen von den Knochen, aber kannste nichts machen, wenn du tot bist, riechstu ersmal, aber mach das den Leuten klar! Insofern wieder Balsam auf meine wuhunde Seehele, die Sache mit dem Gestank, stehe ich längst drüber. Und dann geht es ja auch sozusagen babyhellblau oder rosa weiter: Verzuckert er wie eine Süßigkeit, in den Schnulzen meiner Schwester hießen die ganzen Miezen "Candy", und denkst du, ich hätte gewusst, was das ist, du kannst auch keinen fragen, ohne dich lächerlich zu machen, wie im wirklichen Leben. Und jetzt die Stelle mit dem größten Tiefsinn: Es könnte nämlich sein, meint die Schnulze, dass er bloß absackt wie eine schwere Last. Mann, Mann, Mann, Mann, Mann! Das ist die Stelle, wo unsereins heute das Keuchen der Sargträger hört, denn eins ist sicher, das Gewicht der Kiste kommt in jedem Fall dazu, wer eine Miene verzieht, fliegt hundertprozentig raus beim Bestatter. Die Trauergemeinde will den Sarg getragen kriegen, so wie der Kellner die opulentesten Gerichte aufm Tablett balanciert, daher ja auch die weißen Handschuhe von den Typen, jedenfalls bei etwas hochpreisigeren Beerdigungen. Ich wurde so und so oft beerdigt und weiß jedenfalls, wovon ich rede!

"Jawohl, ich werde alles nur mögliche tun, um ehrlich zu sein und zu bleiben. Das einzig Unangenehme ist, dass ich niemals richtig arbeiten lernte und keinen ordentlichen Beruf habe. Ich werde welche Arbeit auch immer anpacken müssen, um mir meinen Lebensunterhalt zu verdienen. Das wird nicht leicht sein, aber es wird mir gelingen."

Wer hätte nicht als Kind die geheimnisvollsten Dinge in einer Stelle gesehen, wo an einer alten Tür beispielsweise ein wenig der Lack abgeplatzt ist, oder in einem Tapetenmuster. Einmal hatte mich mein Gitterbettchen völlig eingeschlossen, es war mir, als sei das Bettchen auf beiden Seiten so an die Wand gerückt geworden, dass nicht mehr herauszukommen sein würde. Es muss ein Gefühl sein, das man jederzeit haben kann, denn daran erinnere ich mich mehr als an das Ereignis selber. Vor allem auch, dass einem in seinem Grauen recht wohlig ist, auf eine Art jedenfalls. Denn halb scheint man zu wissen, dass es letztlich ein Alptraum ist, jedenfalls eine Wahrnehmung, bei der etwas nicht stimmt. Nicht anders ist es beispielsweise, wenn man das dumme Spiel beginnt nicht auf die Fugen der Pflastersteine treten zu dürfen. Je nach dem saugt einen das Gefühl, man dürfe wirklich nicht auf die Fugen treten, völlig auf. Nicht dass man sagen könnte, was denn geschähe, würde man die Regel verletzen. Genau genommen gehört derlei nicht zu dem Spiel. Wer derartige Fragen stellt, ist ein Spielverderber, und zwar einer reinsten Wassers. Denn welches Spiel soll denn noch gespielt werden, wenn man einem eines dieser verbreiteteren Spiele verleidet!

Da kann ich aus heutiger Sicht sagen, na egal welches. Alles, was wir verdammt noch mal hier auf Erden tun, ist so betrachtet ein Spiel. Die Dinge greifen nach uns mit magischer Kraft. Zu glauben, etwas, was wir so oder so erleben oder tun, müsse so sein, oder noch wüster: sei eben so und genau so, das geschieht auf Grund einer magischen Kraft, die du nur um den Preis einer anderen loswerden kannst. Die Leute, die partout nicht an Wiedergeburt glauben, glauben partout was anderes, wozu ich meistens kaum Lust habe, weshalb ich einen Scheißdreck tue es ihnen auszureden. So wenig wie ich jemandem etwas einrede. Es geschieht geradezu zwangsläufig, sogar, wenn sie dir ein bisschen glauben. Beispielsweise mein letztes Leben. Ich hatte entdeckt, dass die Vermuschelung der Welt sich rasant auf dem Vormarsch befindet. Also, weißt du, "Vermuschelung", das war natürlich nicht meine Erfindung, es sind Sachen, die man so liest. Aber die meisten lesen ja absolut überhaupt nichts. Mach dir also keinen Kopf, dass man deine spinnerten Ideen schon kennt. Die Leute, darauf kannst du Gift nehmen, wissen null Komma nichts. Und los gehts. Eine völlige Nebensache, eine Allerweltserscheinung wird zum Schlüssel für das Geheimnis der Welt überhaupt. Kennst du jemanden, der nicht irgendwie glaubt, mit der Menschheit, und warum nicht gleich mit der gesamten Welt geht es stramm bergab. Klar, die anderen sind schuld und der ganze Quatsch. Und dann erzählst du dein verschrobenes Schicksal. Also der Typ mit seinen Muscheln, und wie er von Pontius zu Pilatus gelaufen ist, damit endlich mal einer hinschaut. Dabei Muscheln und Vermuschelung allüberall, seit Jahrhunderten, in der Nähe, aus der Ferne, und so weiter.

In den neunziger Jahren hatte Bäumler als Privatdozent gearbeitet und seine zahlenden Gäste auf Festen in, wie er es nannte, Lebensdingen unterschiedlicher Natur unterrichtet. Voraussetzung für die Teilnahme an den Gartenfesten war der Nachweis einer Tätigkeit als Kassiererin oder Kassierer in Form einer Freistellung durch den Arbeitgeber. Bäumlers Flugblattkampagnen in den führenden Märkten des Landes hatte sich nach nur etwa einem Jahr Wanderschaft als derart erfolgreich erwiesen, dass er fortan nicht mehr werblich zu werden brauchte. Einsicht machte sich breit, dass ein Unterricht in Lebensdingen unbedingt zielführend, so drückte er sich aus, sein würde. Bäumler, das gab er zu, war geradezu besessen von der eigenwilligen Vorstellung, seine Umgestaltung mit Kassiererinnen und Kassierern zu beginnen. Auf den Versuch komme es schließlich an.

Für eine Umgestaltung müsse man zunächst einmal die Kassiererinnen gewinnen. Im Vorhinein den Gegenstand oder mögliche Folgen der Umgestaltung zu bestimmen oder auch nur in Betracht zu ziehen, lehnte Bäumler strikt ab.

Es gab keine Antwort darauf, außer jener allgemeinen, die das Leben selbst auch auf die verwickeltsten und unlösbarsten Fragen erteilt. Diese Antwort war die: Man muss leben, im Zwange des täglichen Lebens, mit anderen Worten, sich vergessen. Im Schlaf sich vergessen, war nicht mehr möglich, höchstens erst wieder am Abend, und zu jener Musik, welche er gehört hatte, zurückzukehren, ging auch nicht an, es blieb also nur übrig, sich zu vergessen im Traume des Lebens.

Selbst die größten Erfinder seien sich schließlich höchstens in Ausnahmefällen über eventuelle Folgen ihrer Gestaltungs- und Umgestaltungsversuche im Klaren gewesen, sodass man von ihm nun gewiss nicht erwarten dürfe, sich auch nur im Geringsten Gedanken über Wesen und Konsequenzen einer zweifellos notwendigen Umgestaltung zu machen. Allen müsse es früher oder später doch einleuchten, dass die Notwendigkeit der Umgestaltung nichts Geringeres als eine Gesetzmäßigkeit sei, an der gemessen alle anderen Erscheinungsformen unseres Strebens belanglos, ja, unsinnig wirken mussten.

Immerhin versammelten sich bereits im Frühjahr 1991 auf seinem ersten Gartenfest vierzehn Kassiererinnen sowie ein Kassierer. Zur Verfügung standen seinen Gästen und ihm die großzügigen Anlagen einer namhaften Villa. Häufig ließ Bäumler sich von Lena als Mitarbeiterin bei der Moderation seiner Gartenfeste begleiten. Rasch verstand Lena es, sich unter dem Namen MM unentbehrlich zu machen. MM erdete Bäumlers Gartenfeste, indem sie etwa dafür Sorge trug, dass er nicht allzu sehr abschweifte oder gar abhob und Bäumler wusste um die Gefahr, die damit verbunden war, frühzeitig abzuschweifen oder gar abzuheben. Gerade ein Gegenüber wie das der von ihm bestimmten Berufsgruppe verlange eine erdige und behutsame Vorgehensweise.

Meine Rolle ähnelte am ehesten der eines Gesellschafters oder eines Animateurs. Gelegentlich sorgte ich auch für einen passenden musikalischen Rahmen. Eine Gruppe von fünf Kassiererinnen performte unter Anleitung von MM Gedanken aus Winnetou, Papillon und Anna Karenina, in die jeweils eine persönliche Geschichte einzuflechten war. Bianka, die Bissgurn, wie sie angeredet werden wollte, stach unter ihren Kolleginnen hervor. Bianka hatte Stimme und eine klare Vorstellung von einem Hotel mit fünfundzwanzig Zimmern am Schwarzen Meer und, wenn möglich, einem Mann, der ihr den Rücken stärken würde. Neben Bianka verblassten die weiteren Mitglieder der Gruppe. Louisa sagte, sie sei weder dumm noch besonders klug, weder hässlich noch auffallend schön. Alles, was sie erwirtschafte, verschenke sie grundsätzlich. Nataly hatte ihren Mann durch einen Autounfall verloren und einen neunjährigen Jungen zu versorgen. María José ging gern wandern und liebte die Lyrik. Bianka dagegen erhob ihre Stimme und sprach: "Die Anna hatte ihren Vater ungefähr zur gleichen Zeit wie ich selbst verloren und so entschlossen wir uns zu einem kleinen Club in der Nähe von Basel. Anna hatte schon bald einen Stammkunden, einen, der sie nach einer Weile fast täglich aufsuchte. Pierre, glaube ich, hieß der Typ. Einfach nur reden, in Annas Nähe sein wollte er. Brachte ihr Blumen. Und später immer mal wieder Schmuck, der ziemlich teuer aussah. Kaum, dass er sie je anfasste, nur ab und zu, meinte Anna, eine zarte Berührung, völlig absichtslos, allem Anschein nach. Nichts, was mir Anna hätte verheimlichen müssen. Wir waren sowas wie Blutsschwestern, möchte ich mal sagen, Zimtblüte nannte ich sie. Wollte sich mit ihr treffen schon nach so einem Vierteljahr. Pierre, ja, so hieß der Typ, wollte ihre Nummer. In sie verliebt sei er. Ja, sie hatte was für ihn übrig. Klar. Aber, hat sie ihm gesagt, das sei nicht so ganz ohne. Sie wollte mit ihren Chefs sprechen. Die meinten, er müsse zahlen. Zu mir meinte sie, sie sei wohl schon auch verliebt."

"Du kennst vielleicht diesen Typen, Pierre, glaube ich, der sich über seine Frau ärgert und ihr deshalb aus dem Weg geht. Er hat nämlich Angst, dass er sich ihr gegenüber vergessen könnte." Bäumler gab wie gewöhnlich nicht zu erkennen, ob er nun den Roman Tolstois kannte, und wartete ab, bis sich herausfinden ließ, worauf Welck hinauswollte. Er für seinen Teil ärgerte sich nicht über Frauen. Meistens hatten sie ja Recht, und am besten ließ man es vorübergehen, wenn dicke Luft war, suchte sich irgendeine Beschäftigung. "Gibs zu, du kennst den Roman nicht, ist aber auch egal. Die Antwort auf die schwierigen Fragen im Leben, meint dieser Pierre, würden sich nicht finden lassen, sondern die gibt das Leben selber." - Na bitte, dachte Bäumler, der aber Welck bloß aufmunternd ansah, am besten sagte man nichts, machte irgendwie seinen Kram und ließ besser Wetter werden. Zum Beispiel hatte er neulich das Geschirr gespült und Kaffee gekocht, da trank sie dann doch ihr Tässchen mit ihm. Was war einfacher als über den Tisch nach ihrer Hand zu langen. Das waren die Antworten, die das Leben gab. Sie hatten sich dann noch ganz schön vergessen, das hatte Welck wohl weniger im Sinn. Also gut, dieser Pierre war einer, der ins Theater ging, oder ins Konzert. Ob Welck ins Theater gehe, oder ins Konzert, wollte Bäumler wissen, da er auch Romane lese. "Ehrlich gesagt, ja", antwortete der. "Aber?", irgendetwas schien ja dabei bei ihm anders zu sein als gewöhnlich. "Na ja, ich höre mir schon die Stücke an und denke mit bei dem, was sie auf der Bühne spielen, aber hauptsächlich interessieren mich die Leute. Ich stelle mir vor, welche ..." - "Wiedergeborene sind."

Bäumler hatte schon eine Weile gespürt, dass es wieder auf dieses Thema hinauslaufen würde. Es war nun mal Welcks Macke, man konnte Gift drauf nehmen, dass er früher oder später darauf kam. Die verwickelten Fragen, die das Leben selber beantwortete, Schlaf, der nicht mehr zu finden war, da man eben schon zu viel geschlafen hatte; eine Musik, die in einem fortklang, so gut es ging, und dann Wiedergeburt, was auch sonst, diesem Welck war nicht zu helfen. Bäumler für seinen Teil schlief ja eher etwas zu wenig, weshalb er regelmäßig im Bus einnickte, sogar auf der Arbeit hin und wieder. Musik um irgendetwas zu vergessen, war so ungefähr das Letzte, was er brauchte. Und dann Wiedergeburt - das letzte Mal wie neu geboren hatte er sich gefühlt, als er an einem Tag mit beiden Mädels Schluss gemacht hatte, es war einfach nicht mehr zum Aushalten gewesen.

"Zerstochen hat er sie dann. An ihrem freien Tag hat sie sich wohl heimlich mit ihm getroffen. In seiner eigenen Wohnung hat er auf sie gewartet, hat ihr seine Adresse gesimst, hatte sie mir anvertraut. Zerstochen, immer wieder zugestochen soll er haben, so hieß es. Hat selbst gleich die Polizei benachrichtigt und alles zugegeben. Darrell Glens Indescribably Blue ließ er laufen. Der King sang noch, als die Polizei kam. Soll ziemlich reich gewesen sein, der Mann. Stand in der Zeitung. Bin dann abgehauen."

Schon das zweite Gartenfest, dieses Mal in einem Dorf in der Nähe von Bremen, mitten im Teufelsmoor gelegen, führte dazu, dass die Arbeitgeber ihre Angestellten dazu ermutigten, den Kunden an besonderen Verkaufstagen in der Vorweihnachtszeit oder an verkaufsoffenen Sonntagen eine dreiviertel Stunde lang aus ihren Festprodukten vorzutragen.

Wie's oben so sei, wollte Bäumler versuchsweise wissen, beispielsweise mit einem wirklich berühmten Verstorbenen. "Du meinst mit einem wie, sagen wir, Elvis?", Welck verzog keine Miene. - "Sagen wir Elvis", ging Bäumler auf seinen Vorschlag ein, mal sehen, wie Welck sich aus der Affäre ziehen würde. Der allerdings kannte sich in diesen Gesprächen aus wie in seiner Westentasche. So kamen sie einem schließlich immer, neunmalklug, was sonst, ohne die leiseste Ahnung, dass diese Sorte Unglaube geradezu der Türöffner für die aberwitzigsten Geschichten war, die man ihnen auftischte, a la carte, Missjöhs, sil vu plait. Also Elvis, sonst noch wer gefällig, bitteschön, der King höchstselbst, unnahbar versteht sich. Herrgott, und seine unappetitlichen Todesursachen, Darmverschluss, Arteriosklerose, Barbiturate, Opiate und so weiter. Wie nun, wenn es oben eben gar nicht so heilig zuginge, vielleicht sogar um einiges unheiliger, schließlich konnte man seinen Wehwehchen nicht wie hier so mir nichts dir nichts davonsterben! "Du meinst, der zieht sich weiter das Zeug rein, also ehrlich, im H i m m e l? Das ist ja nicht dein Ernst!" Bäumler hatte also angebissen. Und ob es Welcks Ernst war, der fühlte, wie er langsam in Stimmung kam. "Was sonst?", bemerkte Welck, der überlegte, wie weit er die Sache für heute treiben sollte. "Legal ist es übrigens auch dort nicht", hängte er darum etwas lahm noch an. Es genügte wohl, dass Bäumler auf seine Weise ins Grübeln geraten war. Warum, dachte er vermutlich, sollte sich das gesamte Elend dieser Welt in dieser zynischen Weise im Jenseits fortsetzen? Es war also nichts mit dem himmlischen Jerusalem, keinerlei Bewusstseinserweiterung, Beethoven beispielsweise, dessen sämtliche Sinfonien wahrzunehmen in einem einzigen Augenblick, Gedanken, die niemand mehr auszusprechen sich abmühen musste, weil man sie in größter Vollkommenheit einfach miteinander teilte, von Geist zu Geist, von Bruder zu Bruder und Schwester zu Schwester, und was dergleichen an Verstiegenheiten hinsichtlich des Himmlischen in Bäumlers Kopf herumgeistern mochte, und woran der dann doch wiederum nicht glaubte, weil jeder Glaube ein Kinderglaube war, und auch den Kindern sei der am besten auszutreiben.

Die Leute hörten natürlich gerne von Elvis, der allerdings zuerst nicht schlecht gestaunt habe, als nach seinem Hinsterben als erstes ein gigantisches Konzert anstand. Du denkst, jetzt wird erst einmal das bewusste leichte Hemdchen übergestreift, ein wenig so wie die OP-Hemdchen im Krankenhaus, mit denen man immer etwas unpässlich wirkte, zumal als König des Rock and Roll. Es sollte da auch für frisch Verstorbene etwas Extravaganteres geben, sagen wir mit Nieten und Fransen und so weiter. Da ist man natürlich von den Socken und fragt sich, ob man denn auch wirklich gestorben sei, blickt man in den Spiegel einer Künstlergarderobe, in der man irgendwie schon einmal gewesen zu sein glaubt. Blass war man auch im Leben oft genug gewesen, das sollte also nicht allzu viel bedeuten. Auch die Kollegen von der Band waren schon häufig genug äußerst blass um die langen Nasen; man wird bei dem Job schließlich nicht jünger, und schon gar nicht, wenn alle erwarten, dass man jedenfalls nicht älter wird. Denn alt sein auf der Bühne ist so ungefähr das Letzte, was sich ein Künstler leisten kann. "Ich hätte es dem Elvis am besten erklären können, aber irgendwie war mir klar, dass nicht der Erstbeste zum King hingehen konnte, um ihm die Sache zu verklickern. Ehrlich gesagt, es machte natürlich auch Spaß einer Größe wie ihm zuzuschauen, wie er sich zurechtfinden würde. Und das war auch nicht anders zu erwarten, er tat jedenfalls ganz professionell, als ob nichts wäre, so wie wenn dir auf der Bühne der Text nicht einfällt und du aber irgendwie weitermachen musst. Das mit den Saturnalien und so weiter, wovon die Fanpresse faselt, ist natürlich eine gewaltige Übertreibung. Irgendwie werden allen Rockern irgendwelche Ambitionen im Klassikfach angedichtet, und manche sollen's ja wirklich in dem Bereich zu einigem gebracht haben. Zappa beispielsweise, ob nun bereits vor oder nach seinem Krebs, Orchestermusiker sind auch nach ihrem Ableben alles andere als Kollegen aus einer ganz anderen Welt. Irgendwie mussten sie das dem alten Elvis vom Leib gehalten haben, damit er die Nummer mit der klassischen Musik mitmachte. Es kam eben immer gut, und man musste daran denken, dass schließlich das Publikum unserer Helden auch nicht jünger wird. Ganz Fusion sind solche Gags wie der himmlische Flügel, auf dem die Konzertpianistin, eine kleine Russin von der ganz strengen Sorte, erst nicht spielen wollte. Den pinkfarbenen Cadillac von Elvis hatte sie dann auch nicht gekannt, man konnte also ein wenig nachhelfen, indem man ihr die einschlägigen Fotos zeigte. Eigentlich war aber von Anfang an klar, dass sie den Job nicht ausschlagen würde, ein wenig Meckern gehörte einfach dazu. Irgendwie half das Theater mit der kleinen Russin Elvis sogar über die anfängliche Verwirrung und Verlegenheit hinweg angesichts der Lage, in die er geraten war, nachdem ihm einige Sekunden vor seinem Ableben jedenfalls völlig klar gewesen war, nun sei alles zu Ende.

Bäumler versuchte es mit Frotzeleien und sonstigen gelegentlichen Bemerkungen über frühere Existenzen, wobei er in der üblichen Weise übertrieb, jeder fing schließlich einmal klein an. Eine Weile blieb der ironische Ton dabei Teil des Spiels, und Welck selber sprach oft genug auf diese Weise, was Bäumler verwirrte, da er es zuerst nicht bemerkte, dass er damit begonnen hatte auch in ernsthaftem Ton über früheres Leben und Ableben zu sprechen. Dabei geriet er auf angenehme Weise in eine Art Trance, ein Gefühl, das er sonst nicht an sich kannte, das ihn aber daran erinnerte, wie er sich als Kind gefühlt hatte, wenn er ausgiebig seinen Träumen und Fantasien nachhing. Geschichten aus früheren Lebensabschnitten traten vor sein inneres Auge und wurden erzählend zu dem, was er gerne erlebt hätte. Was war auch dabei, zumal er durchaus nicht immer in der Weise erzählte, die ihn selber in einem günstigeren Licht erscheinen ließ. Im Gegenteil, zuweilen trieb er ein tatsächliches Erlebnis in einer Weise ins Extrem, dass er die denkbar schlechteste Figur dabei machte. Das war dann wie in einem bösen Traum, man konnte froh sein, sich die Sache bloß ausgedacht zu haben. Andere Geschichten waren bloß erfunden und man fand sich bald nicht mehr darin zurecht. Welck, der das alles kannte, war ein Meister im Zuhören und ließ sich nicht das Geringste anmerken, auch dann nicht, wenn Bäumler, der sich in einer in dieser Weise erfundenen Geschichte heillos verheddert hatte, sich schließlich in maßlosen Übertreibungen erging, um sozusagen das gesamte Setting ins Lächerliche zu ziehen. Dann waren sie wieder bei ihren halbironischen Plaudereien, in gemeinsamem Takt die Schwankungen des Autobusses mit ihren Köpfen ausgleichend. Bäumler war an diesem Tag ohnehin nur mit halbem Auge dabei, denn er blickte zu einer kleinen Brünetten, die zwar schon öfter im Bus gewesen war, aber immer schon weiter vorne einen Platz gefunden hatte. Bäumler, der zu der Sorte Männer gehörte, die gewissermaßen immer auf der Jagd waren, machte aus seiner Ablenkung keinen weiteren Hehl, gewisse Prioritäten hatten unter Männern als abgemacht zu gelten. Welck, der seinen Blicken gefolgt war, bemerkte, er kenne die Kleine. "Von drüben", bemerkte Bäumler sarkastisch. "Nerv mich jetzt nicht, Alter, OK?", womit weitere Unterhaltungen fürs Erste abgewürgt waren. Welck wollte aber zu einem späteren Zeitpunkt darauf zurückkommen, denn seine Theorie ging in die Richtung, dass sich sein Verfahren insbesondere in Bezug auf Herzensangelegenheiten in bemerkenswerter Weise eignete.



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