Montag, 27. Mai 2019

Bzw. ۲ ۲ ۶ [»Als Wäre Das Land Jemals Trocken Gewesen« für Klavier (1995), R. A. ol-Omoum]



["An Land", Horst Paetzold (1969)]



Was veraltet ist, ist deswegen nicht falsch. [Herbert Marcuse]

Denn wie auf dem tobenden Meere, das, nach allen Seiten unbegrenzt, heulend Wasserberge erhebt und senkt, auf einem Kahn ein Schiffer sitzt, dem schwachen Fahrzeug vertrauend; so sitzt mitten in einer Welt voller Qualen ruhig der einzelne Mensch, gestützt und vertrauend auf das principium individuationis oder die Weise, wie das Individuum die Dinge erkennt, als Erscheinung. [Arthur Schopenhauer, »Die Welt als Wille und Vorstellung« IV § 63]



["Handreichung II; gespiegelt", Michelle Schneider]


»Als Wäre Das Land Jemals Trocken Gewesen« [verfolgt] ein kompromisslos induktives Kompositionsverfahren, das heißt, dass die Komposition erst im Laufe der Entstehung ihre Form gewinnt. Diese Arbeitsweise ist der Morton Feldmans verwandt, im Gegensatz zu diesem wird aber eine wesentlich größere Klangvielfalt zugelassen. Aus wenigen "Initial"-Akkorden entstanden, braucht das Stück gewisse Zeit, bis es seine volle Kraft entfaltet, um schließlich wieder zum Ausgangspunkt zurückzukehren – die Wiedergeburt einer barocken Form, jedoch in völlig neuem Gewand. [Albert Kaul]




["Aleph", R. A. ol-Omoum]






















Montag, 20. Mai 2019

The Gas Station (Variationen) [= S / W 5.13]



["Nur noch wenige Meter ...", Goedart Palm (2016)]




So you see, my friend,
it is somewhat as you stated:
man has but one truly effective weapon
against the juggernaut of modern matriarchy,
but it certainly is not laughter.
[From: Ken Kesey »One Flew Over The Cuckoo's Nest« (1962)]




5. 13 Butan




Wovor eigentlich konnte man solche Angst haben, dass man am Ende in der geschlossenen Abteilung einer Psychiatrie lag als ein Fall, der nicht einmal dessen mehr bedurft hätte, nämlich weil der Angstzustand sich in einer Weise manifestiert hatte, dass die Patientin, die man bereits liegend eingeliefert hatte, weil sie sich wochenlang zu Hause nicht mehr aus dem Bett wagte, nun auch seit Tagen nicht einmal mehr den Mut aufbrachte die Augen zu öffnen? Sprach man zu ihr, dann wälzte sie verzweifelt den Kopf, nichts weiter als unartikulierte Laute aus halb geöffnetem Mund hervorpressend. Etwa zu weinen, selbst dazu war sie zu schwach.

Am Bett dieser Frau Else verbrachte Meggi, der man es zuerst nicht erlauben wollte, ganze Tage. Obschon selber in einer Wolke von Haldol mit seinem süßlichen Aroma, wusste sie, dass man Frau Else nicht ansprechen durfte, wollte man ihr nicht schreckliche Qualen bereiten. Die Welt, von der Meggi sich sicher war, wie sehr zu Recht ihr Schützling sich vor ihr fürchtete, drang, wenn überhaupt, dann nur noch in Form von Stimmen an ihre Seele. Sie dagegen sah, wer vom Krankenhauspersonal zur Mafia gehörte. Da man an das Haldol glaubte, wähnte man sich vor ihren Blicken in Sicherheit.

Aber es stimmte ja nicht, dass das Haldol blind machte, es nahm einem die Kraft, die man brauchte, sollte man in wildem Ausbruch schreien müssen, mit der bloßen Hand gläserne Türen einschlagen, wobei man sich zum Schrecken seiner Peiniger furchtbare Wunden zuzog, oder auch nur sich in innerem Krampf zu winden.

Nach außen bot Meggi ein Bild des Jammers, wenn auch nur für Besucher, denn die Symptomatik des Mittels war dem Personal so alltäglich wie der Mehlstaub der Mannschaft einer Backstube.

Die Patienten, die man jetzt nach einem neuen Format, über das Rohlfs sich auch schon in Senioreneinrichtungen gewundert hatte, Bewohner genannt wurden, wobei ja in jeder Weise das Entscheidende verschwiegen wurde, nämlich was man hier bewohnte, sie kamen aus den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Milieus und offenbarten darüber hinaus einen Teil ihres Alltags, den man ansonsten nicht zu Gesicht bekam.

Meggi trug Feinstrumpfhosen, die sie auf jene Art zerriss, die gerade nicht mehr zuließ in ihnen Feinstrumpfhosen zu sehen. Ihre schwarzen Birkenstocks hatte sie, einer Intuition folgend, einmal mit den hellblauen Plüschpantoffeln Elses vertauscht und trug diese jetzt, es sei denn, jemand von Elses Familie, die sie ohnehin mit schrägen Blicken bedachte, kam zu Besuch, was aber, wie bei allen Patientinnen, die bettlägrig waren, immer seltener geschah. Meggis Bruder Stephane nickte wissend beim Blick auf ihre Füße zugleich sehend, dass dafür die Birkis unter Elses Bett standen oder lagen, je nachdem.

Natürlich durfte man nirgendwo rauchen, weshalb Stephane sich die nötige Dröhnung auf dem Weg zu Fuß hinauf in die Klinik schon reingezogen hatte. Die Pfleger, die einen Blick für so etwas hatten, teils weil sie selber kifften, teils weil üblicherweise ein Gutteil der Kundschaft irgendetwas nahm, mochten ihn in der Hinsicht taxieren, wann er reif wäre für ihren Laden hier. "Das Thema könnt ihr knicken", dachte Stephane, der sicher war, dass Dope bei dem Problem seiner Schwester keine Rolle spielte. Sie war hier um rauszukommen, raus aus diesem Schweineladen eines Schweinesystems. Es würde die Zeit kommen, da man ihnen entkam. Vielleicht musste man warten, bis Else wenigstens wieder halbwegs laufen konnte. Das war klar, sie würden sie mitnehmen. "Es ist echt zu hart, Megg, aber wir holen dich hier raus", er hatte so leise gesprochen, dass man eigentlich nur die Bewegung seiner Lippen sah und das Nicken seines Kopfes. Er wusste auch nicht, ob man Meggi schon zumuten könnte im Auto unterwegs zu sein, was ja auf jeden Fall nötig würde. Selbst wenn man zu Fuß ging, würde sie denn die Stadt ertragen? Nachts, schoss es ihm durch den Kopf, vielleicht würde es nachts gehen, was aber, wenn sie dann doch schrie? Die Sache war noch nicht reif, das sah er ein, und eigentlich spielte Zeit auch keine Rolle.

In einer der Zeilen, die jene Siedlungshäuser bildeten, hatte einer der Clique, der eine feste Anstellung besaß und darum Geld, eine Wohnung gemietet, wo man sich nun traf. Wohngemeinschaften standen nicht mehr unter Generalverdacht, immerhin wurde man an sie ganze Häuser los, oder wie in diesem Fall eine Wohnung über zwei Etagen, ohne dass größere Renovierungsinvestitionen fällig geworden wären, denn den jungen Leuten gefielen meist Objekte sogar besser, an denen der Zahn der Zeit  schon etwas genagt hatte. Dass etwas technisch nicht auf dem neuesten Stand war, konnte gut für alternativ durchgehen, wenn es nicht gar voll abgefahren war wie das Fabrikgebäude, das Fabio mit Frau und Kind bewohnte, einer der Chefs der Szene.

In Stephanes WG war man offiziell zu dritt, die Siedlungsgesellschaft hatte die Unterschrift von Katharinas Vater akzeptiert. Katharina war mit Stephane zusammen. Alfred, der bei einer Versicherung arbeitete, war Meggis Verflossener und als einziger solvent, die Kaution war eine Kleinigkeit für ihn ebenso wie alles andere, was in finanzieller Hinsicht anfiel. Seine Eltern waren wohl froh, dass er auf diese Weise sozusagen auf eigenen Füßen stand, jedenfalls kam der eine oder andere Hunderter von ihnen, für die Anschaffung von Lampen zum Beispiel. Das waren allerdings solche Lampen, wie man sie für die Bestrahlung von Pflanzen brauchte. Alfred, großer Bastler, hatte fachmännisch in den Wandschränken diese Lampen installiert. Rohlfs hatte sich schon über den bläulichen Schein gewundert, der durch die Ritzen zu sehen war, wenn die Zeitschaltuhr die Strahler in Betrieb setzte. Stephane zeigte ihm die Anlage, vier oder fünf beinahe mannshohe Cannabisstauden, wie es die Art dieser Pflanzen war, strotzend vor Wohlbefinden, standen im gleißenden tropischen Licht und verströmten ihr süßlich-herbes Aroma in betörender Aufdringlichkeit, Stephane war mächtig entzückt davon.

Dasselbe gab es noch einmal eine Etage höher und deckte, wie Rohlfs hörte, den Eigenbedarf weitgehend. Für später war daran gedacht, leer stehende Häuser am Stadtrand oder in den eingemeindeten Dörfern zu mieten, die man dann, erklärte Stephane mit glänzenden Augen komplett als Gewächshäuser umbauen würde. Sogar für den Strombedarf hätten sie da schon eine Idee, gerade in den Randbezirken sei das erheblich leichter zu machen als hier in der Stadt. Alfred, der auch Fotoamateur sei, habe dem Typen von der Siedlung etwas von Fotolabor vorgelabert. Auf jeden Fall sei die elektrische Anlage der Blocks auch einem erhöhten Bedarf gewachsen. Nein, so etwas wie Nachtstrom würde nicht laufen, und ob es in einer Dunkelkammer nicht sowieso dunkel sei, wozu dann der ganze Strom. Solange bezahlt wurde, gab es sowieso keinen Stress. Auf jeden Fall sei da aber noch etwas zu machen, auf dem Land auf jeden Fall.

Meggi flieht vor der Mafia, Rohlfs flieht vor Dr. Reich, Frau Bauer flieht vor den Erwachsenen, Mj Thomson flieht vor der Ekstase, Pia flieht vor der Melancholie, Astronauten fliehen von der Erde, Autofahrer fliehen vor dem aufrechten Gang, Rohlfs flieht in die Empathie, Constance sucht ihre Zuflucht zur Gelassenheit.

Weitere Zufluchten: Dr. Reichs Zwangskäufe, Palles Perfidie und sein Denunziantentum, Stephanes Cannabis indica, Rohlfs' Rumänischkenntnisse, Saeeds Kommunismus, der Konsumismus in seiner Spielart des Tankstellenbistros, mehr oder weniger vorgetäuschte psychische Abirrungen, die Vereinigten Staaten von Amerika, die Diskothek des Fernschreibers, der Reservistendienst, Bobs Bier, die weiblichen Schöße, Alois' Flucht vor dem herannahenden und tatsächlichen Faschismus in die Poesie oder die Unmöglichkeit zu leben, das Schreiben in Notizbücher, das Sehen von Zeichen.

Es komme also eine Mutter, deren Schürze alle diese Muster trägt, woran der kleine Rohlfs seine Tränen trocknet!

Es komme ein Futter, das Rohlfs' Bauch wohlig fülle!

Es komme ein Gewitter, das all seinen Zorn für Rohlfs in die Welt brülle!

Es werde ein Tanz getanzt, in dem man Rohlfs sieht, wie er hüpft und sich dreht!

Hauptmann Kasper hatte sich schwer vom Stuhl erhoben und stand nun schwankend, vornübergebeugt, das breite Gesicht gefährlich gerötet, als sammle er sich für eine Rede, womit niemand je gerechnet hätte, weshalb das allgemeine Gespräch langsam abebbte. Der Hauptmann, der sich des Missverständnisses halb bewusst werden mochte, räusperte sich dröhnend, was seinen Körper in seinem Schwanken gänzlich erschütterte, so dass die Hände, mit denen er sich bisher am Tisch abgestützt hielt, mit einem Male einknickten, worauf er der Länge nach krachend auf alles hin stürzte, was in seiner Bahn lag. Niemand hätte sich gewundert, wenn der Tisch unter ihm entzweigebrochen wäre. Frau Bauer kreischte auf, man blickte einander an, stand wohl auch auf um dem Gefallenen zu helfen, der aber wild mit den Armen ruderte um schließlich, das Tischtuch mit sich reißend, vollends zwischen Tisch und Stuhl auf dem Fußboden zu landen. Bob hatte in Geistesgegenwart seine Bierflasche ergriffen und stellte sie auf die jetzt nackte Tischplatte zurück. Der Hauptmann war bleischwer, Hauptfeldwebel Weber, der mit ihm in einem Büro saß, redete ihm gut zu, worauf er sich auf alle Viere erhob.

Schließlich hatte man ihn soweit wieder auf den Beinen, dass man ihn unter vielem Wanken Richtung Tür bewegen konnte, wobei er immer versuchte, die helfenden Hände mit rudernden Bewegungen abzuschütteln.

Im Bad blieb er dann ewig; da man ihn fortwährend hörte, wie er sich räusperte und wie sein schwerer Atem ging, versuchte man auch nicht ihn etwa durch die Tür anzusprechen.

Er war ganz und gar unversöhnlich in seiner Lage und würde auch niemandem je verzeihen ihn unpässlich gesehen zu haben. Wilhelmy, der wohl schon einmal etwas Ähnliches mitgemacht hatte, meinte zu Rohlfs, das Schwein käme ihm ins Helmet nie und nimmer. Wilhelmy, der Betrunkene verabscheute, würdigte den Hauptmann gewöhnlich keines Blickes, auch wenn der, was allerdings selten vorkam, sich am Kühlschrank in der Fernschreibstube eine Limonade holte. Das fortwährende Grummeln, das Kasper und alles, was er tat, begleitete, konnte bedeuten, dass es mühsam gewesen sei die Treppe bis hier herauf unters Dach zu steigen, oder aber, dass der Fernschreiber natürlich nicht an seinem Arbeitsplatz saß, sondern gar nicht zu sehen war und womöglich auf der Couch schlief. Natürlich herrschte auch in dem Kühlschrank nicht rechte Ordnung, und die Tatsache, dass er über und über voller Bier stand, mochte ein Übriges zu Hauptmann Kaspers übler Laune beitragen.

Inzwischen war der amerikanische Sergeant in das Fernschreiberbüro eingetreten und wartete geduldig, bis der außerordentlich breitleibige Hauptmann unter mehreren völlig gleichen Limonadenflaschen die richtige ausgesucht hatte, fortwährend unter schwerem Seufzen und Ausatmen.

Letztlich hatte er Bob doch bemerkt, überlegte in zähem inneren Widerstreit, ob er grüßen sollte, quälte sich dann aber unter neuerlichem Grummeln an Bob vorbei, so dass dieser, den die Sturheit des Deutschen nicht anfocht, seinerseits aber entgegnete: "How are you, Sir", worüber Kasper leicht zusammenzuckte, als sei ihm seine Schroffheit doch für einen Augenblick bewusst geworden und peinlich. "Did you ever listen to crazy Captain Kasper speaking a single fucking word, Rohlfs? This guy is really fucked up." Es war die Gelegenheit, bei der Dr. Reich von der Sekretärin Kaspers erzählte, die jahrelang im selben Zimmer mit ihm gesessen hatte und darüber verrückt geworden sein soll, dass er niemals mit ihr sprach. Die Schreibtische standen Kante an Kante einander gegenüber, und Hauptfeld Weber, dessen Platz es jetzt war, kam offenbar mit der Situation klar. Was die beiden in ihrem Büro wohl den ganzen Tag trieben, konnte man sich nicht recht vorstellen. Sie bearbeiteten die französischen Transporte. Wie sie das machten, da niemand von beiden Französisch sprach, blieb ihr Geheimnis. Auch kam nicht jeden Tag einmal eine Aufstellung von Marschknotenpunkten ins Fernschreibbüro. Wenn das aber der Fall war, konnte es vorkommen, dass Hauptmann Kasper und zwar mehrmals telefonisch nachfragte, ob der Vorgang raus sei, was auch Hauptfeldwebel Weber wohl zu kontrollieren hatte, der diesem Gang durch einen Blick in den Kühlschrank eine gewisse versöhnliche Note zu geben wusste. Er trank sehr wohl Bier und hatte auch kein Problem damit, es mit ins Büro zu nehmen, wo es der Hauptmann übersah. Spannungen zwischen den beiden bemerkte man jedenfalls nicht, wofür Hauptfeld Weber alle mit einer gewissen dankbaren Kameradschaftlichkeit begegneten.

Hauptmann Kasper und Hauptfeld Weber fuhren eines schönen Nachmittags vor dem Helmet auf den Parkstreifen, der sich dort entlang des alten Kinosaales parallel zum Gehsteig erstreckte. Der Hauptmann lenkte seinen VW 1500, der metallic-blau und penibel geputzt war, in leicht schräge Position, welcher sich der Käfer Webers rechts daneben anschloss.

Frau Kasper, die wartete, bis der Vorgang des Einparkens vollständig abgeschlossen war, hielt eine Tasche auf dem Schoß und trug ein fliederfarbenes Hütchen. Hauptfeld Weber wartete seinerseits, bis die Frau des Hauptmanns zuerst  ihre Tür öffnen möge, wozu wohl erst der Hauptmann selbst das Signal gab, der erst noch die Brille in ein offenbar dafür eigens im Wagen vorhandenes Etui ablegte und dann schwerfällig, sich umständlich abstützend ausstieg. In Zivil sah er aus wie ein älterer Herr, also in die für dieses Lebensalter für eine bestimmte Generation oder Bevölkerungsklasse obligate missfarbene Kombination gehüllt von grauen Hosen, etwas hellgraueren Socken in glänzend braunen Sandalen und beiger Windjacke, als Krönung ein hellgrau kariertes Bogarthütchen.

Frau Kasper, gleichermaßen unflott, irritierte insofern etwas weniger in ihrer altbackenen Gediegenheit, als man sie ja nicht die Woche über in grauer Heeresuniform mit silbernen Sternen auf den Schulterklappen sah.

Hauptfeld Weber erwies sich auch bei dieser Gelegenheit als der weniger Spröde. Da es warm war, trug er gar keine Jacke, auch keinen Hut auf dem gebräunten weitgehend kahlen Kopf. Er behielt sogar die Sonnenbrille auf, die er während der Fahrt getragen hatte.

Frau Weber, die gar nicht Frau Weber war, sondern das, was man heute Herrn Webers Lebensgefährtin nennen würde, war möglicherweise der eigentliche Grund für diese Art von gemeinsamer Freizeit, zu der der Hauptmann den Kollegen mehr oder weniger nötigte. Sie war keine Schönheit, auch eher schon in mittleren Jahren, wenn nicht sogar eine gut erhaltene Fünfzigerin, besaß aber die Ausstrahlung einer Frau, die sich ihre Freiheit schon genommen hatte und die darum den Mann an ihrer Seite nicht argwöhnisch bewachte und mütterlich bevormundete. Dieses nun musste der arme Hauptmann sich von seiner Ehefrau in jeder Weise gefallen lassen, je schlechter das Gewissen war, mit dem er es ertrug, umso demütiger. Denn aller übertriebener Frohsinn, ein für seine Verhältnisse geradezu federnder Gang, sogar eine solche Sonnenbrille wie Weber hatte er inzwischen aufgesetzt, entsprangen dem inneren Tumult, in den ihn die Begleiterin des im Rang unter ihm stehenden Kollegen versetzte, auch wenn er es peinlich vermied etwa verstohlen zu ihr hinzublicken. Er war die Aufmerksamkeit in Person, was seine Frau betraf, der er, ebenfalls umständlich aus dem Wagen geholfen hatte, die Tasche, die er ihr dabei aus der Hand genommen hatte, trug er immer noch. Nun wollte man erst einmal beratschlagen, wie weiter vorzugehen sei. Offensichtlich war das Lokal noch gar nicht geöffnet, Wilhelmys auffälliges überschweres Motorrad parkte allerdings chromblitzend und ordentlich abgestellt parallel zur Hauswand. Die Männer würdigten es, anders als sonst, kennerischer Blicke, das heißt, sie kannten natürlich das Motorrad. Es war oft genug Gegenstand abfälliger Bemerkungen in der Dienststelle gewesen. Kasper soll einmal erwogen haben, das Parken auf dem Bürgersteig der Polizei anzuzeigen, wovon Weber ihn aber abbrachte, das Militär nahm nicht gerne die Dienste der gewöhnlichen  Polizei in Anspruch, wie Kasper dann allerdings bestätigte. Oft war ja auch die Rede davon, der Oberstleutnant habe vorher in Polizeidiensten gestanden, sei also gewissermaßen ein Nachgemachter. Das wiederum wollte der Hauptmann so nicht gelten lassen, auch er habe sich vom Unteroffizier hochgedient, wozu der Hauptfeldwebel schwieg. Das ursprüngliche Thema hatte man über der Debatte vergessen.


Freitag, 10. Mai 2019

The Gas Station (Variationen) [= S / W 5.12]




[Aus: Stowassers Lateinisch-Deutsches Schul- und Handwörterbuch]





Mas acompañados y paniguados debe di tener la locura que la discrecion.

[Miguel de Cervantes]





5. 12 Avia



Die rasanten Handbewegungen des Fahrers am Sendersuchlauf des Radios entließen Rohlfs in die Poesie Joni Mitchells und für den Zeitraum, in dem die Musik aus den Lautsprechern des Transporters drang, nahm sie ihn nahezu vollständig in ihren Bann. Es schien, als wisse der Fahrer wie er ihn verführen konnte, als kommuniziere er über den Sendersuchlauf mit ihm, ja, als wolle er ihm einen Beweggrund mitteilen doch noch eine Verbundenheit mit dem Heimatplaneten zu empfinden. Und tatsächlich brannten sich die Worte der Malerin in seinen zerschundenen Leib und seine gärende Seele, tatsächlich entstand etwas in ihm, etwas, das seine Entschlossenheit ins Wanken brachte, etwas, das ihn tröstete und versöhnte, das ihn davon abhielt die Reise nach Baikonur fortzusetzen. Hatte er sich nicht lange genug zur Verfügung gestellt? Es sah für einen Augenblick so aus, als habe er eine Wahl, als gäbe es eine Zeit des Handelns in all dem Beschleunigungstaumel. All this is from God, who reconciled us to himself through Christ and gave us the ministry of reconciliation that God was reconciling the world to himself in Christ, not counting people’s sins against them. And he has committed to us the message of reconciliation.

Das Paradigma der Liebe schließt die philosophische These des freien Willens in sich ein, als ob man wollen könne in einer Welt, in der man nicht erkennen kann, was man will, sondern nur das, was man liebt, weshalb ja Eva und Adam gerade diesen besonderen Apfel essen, einen Granatapfel, wenn jemandem der Kalauer über die US Army in diesem Zusammenhang gefällt, zu schweigen von Bikini, wo die fatalen Atombombenversuche stattfanden, woher Evas Zweiteiler seinen Namen hat, die Bibel spricht, wohl aus Rücksicht auf Adam, der dessen ja nur eines bedurfte, vom Feigenblatt. Was die beiden nun erkannten, ist geradezu der Dreh- und Angelpunkt der Liebe, nämlich dass sie nackt waren, oder jedenfalls, dass man es sein könnte! Dann wiederum sein müsse, und zwar so oft wie möglich, und da auch das inzwischen sozusagen in jedermanns Reichweite lag, dann also unter der Prämisse des Guten, und zwar ganz ethisch verstanden: kein schlechter, guter Sex, wir standen vor weitläufigen Regalen des Sexkitschs und des Sexwahns, dem wir uns anvertrauten, einem archimedischen Punkt in der kolossalen Weite unseres Nichtwissens, was wir wollen sollten.

Religion war, wie Rohlfs bestürzt klar wurde, geradezu das Gegenteil von Glauben. "Herrgott", durchfuhr es ihn, "alles, woran ich mich festhalte, ist mit mir im freien Fall! Nichts, buchstäblich nichts wäre wahr, oder gar gut? Auch meine Frage nach der Wahrheit eine feige Lüge!" - "Wenn du nur ein einziges Mal, Rohlfs, auch nur ein einziges Mal, auch wolltest, was du tust!" Svenya Thomson, die ihn nicht liebte, schien zu wissen, was sie wollte. Es war etwas, das man ihr weggenommen hatte, und sie wollte es zurückhaben.

"...Shine on the Catholic Church/And the prisons that it owns/Shine on all the Churches/They all love less and less"

Nach und nach erfuhr Rohlfs von einem Karl, mit dem sie seit Studienzeiten zusammengelebt hatte. Er lebte weiter in der ehemals gemeinsamen Wohnung, nach und nach würde er ihr ihren Anteil ausbezahlen. Für das Auto, das sie gerade erst gemeinsam gekauft hatten, besaßen sie beide ihren Schlüssel, der Rhythmus der gemeinsamen Nutzung wurde einfach aufrechterhalten, und da der Wagen immer ungefähr am selben Platz geparkt wurde, lief in dieser Hinsicht wie noch in mancher anderen alles weiter wie bisher.

Rohlfs, der nie in Erfahrung brachte, ob Karl irgendetwas von ihm wusste, wünschte halb, Svenya würde zu ihm zurückkehren. Die tiefe Verletzung, die sie davon abhielt, erfüllte ihn mit Grauen vor den Folgen seines eigenen Verrats, dessen, den er bereits begangen hatte, und derer, die ihm möglicherweise noch bevorstanden. Religion, so dachte Rohlfs, war nichts anderes als die Anpassung an die Dinge, wie sie nun einmal sind: Geld, Mode, Fortschritt, Computerei, Jugend, Kampf, Sport.

Sie habe, sagte Svenya, das Kind wegmachen lassen und erwarte nicht, dass er sich an den Kosten beteilige. Rohlfs, der sich völlig vor den Kopf geschlagen fühlte, rang nach Fassung. Es war klar, dass er kein Kind wollte, was es also zu diskutieren gegeben hätte, stellte Svenya fest, die behauptete, sie sei inzwischen völlig über die Sache hinweg, weshalb sie ja auch mit ihm darüber rede. Sie habe wohl die Pille ausgekotzt, es müsse an dem Abend passiert sein, als sie den duseligen Schnaps, praktisch die ganze Flasche zu zweit, gekippt hätten.

"Anders als betrunken läuft ja auch schon länger nichts mehr zwischen uns", stellte sie ätzend fest, "aber nicht dass du glaubst, ich denke, du seist Alkoholiker."

Rohlfs fühlte, wie eine Lawine aus schmutzigem Eis und Geröll ihn innerlich zuschüttete. Er blickte im Zimmer umher. Trost, Svenya war es wohl nicht, in deren Armen er welchen suchen dürfte. Umgekehrt, er musste sie trösten, dachte er ohnmächtig, das Glas Bacardi sinnlos in der Hand drehend. Svenya dagegen,  als habe sie nicht gerade vom alkoholischen Teil ihrer Beziehung gesprochen, nahm einen tiefen Schluck. Er roch ihren alkoholischen Atem, sah, dass ihre Augen leicht neblig waren.

"Es war ein kleines Mädchen", sagte sie und wischte eine Träne mit der Hand ab, in der sie das Glas hielt. Sie war zornig darüber, dass sie weinte.

"Ich habe beschlossen, dass du es dieses Mal wissen solltest. Trotzdem sage ich, es ist alleine meine Angelegenheit, gerade weil ich seit längerem finde, dass ich die Beziehung abbrechen sollte, du wirst dich nie entscheiden. Aber ich frage mich, wieso ich es sein soll, die sich trennt, wo ich es gar nicht will!" - "Du willst dich trennen, jetzt?", hörte Rohlfs sich fragen. "Es geht mir ja schon besser, jedenfalls, wenn ich nicht an das Schwein denke, das es gemacht hat." - "Und damit meinst du mich." - "Nein, den Arzt. Er hat es für Geld gemacht, was sonst", sie schnaubte durch die Nase, "und dass ich ihn einmal drüber lasse, jetzt wo nichts passieren konnte." Der Satz traf Rohlfs wie ein Faustschlag in den Magen. "Du hast, ich meine, er hat, bevor er den Eingriff vorgenommen hat, ist er, hat er, ich verstehe das nicht." - "Und er war nüchtern. Er trinkt nicht. Er ist einfach ein geiler Bock, kann sein, dass er den idealen Beruf hat für seine Veranlagung. Mir war alles egal, es ging in einem hin." Sie hatte sich inzwischen die Nase geputzt und brachte das Taschentuch weg. Es sei wohl besser, wenn er heute Nacht nicht hier bliebe, sie wisse auch nicht, ob sie morgen zu Hause sei, falls er anrufen wollte. Er könne sich ja dieser Tage einfach einmal melden. Womit sie Recht hatte, Svenya konnte mit einer dauerhaften Beziehung, was Rohlfs anging, eher nicht rechnen, woraus sie nur die Konsequenzen zog, ein Akt der Klugheit, der aber Rohlfs vor den Kopf schlug. Hatten sie nicht stets den Charakter des Vorübergehenden ihrer Beziehung als ein Moment der Freiheit betrachtet? Wozu jetzt dieser Kampf, dessen Botschaft doch letztlich die eines Vorwurfs war, nämlich, dass Rohlfs Svenya nicht liebe?

Es war, als schwöre Rohlfs heimlich Rache, aber er fühlte sich schwach, so als werde er auch bei diesem Schwur demnächst ertappt und mache sich einmal mehr zum Spielzeug Svenyas, die ihn kalt durchschaute. Seine Schlechtigkeit führte sie ihm auch vor Augen, indem sie ihm von Männern erzählte, die sich nach ihr verzehrten und sie wohl auch eher verdient hätten als er. Allerdings machten sie sich lächerlich in der Berechenbarkeit ihres Begehrens, auch ihres Hasses gegenüber Rohlfs, der ja besaß, wonach ihre Gier fieberte. Noch dazu waren es Kollegen Svenyas. Er solle seine dreckigen Flossen bei sich behalten, habe sie zu einem gesagt, kalt darin, damit nicht etwa das Gespräch und Beisammensein zu beenden, sondern ihn grausam auf das zurückzustoßen, was er offenbar war, ein geiler Bock über und vor allem. Der andere, mit dem zu allem Übel Rohlfs selbst sie bekannt gemacht hatte, wurde regelrecht krank nach ihr. Zu ihren Füßen habe er geweint, und wenn sie ihn schon nicht lieben könne, warum sie nicht wenigstens mit ihm schlief. Als ob man mit einem Mann schlafen könnte, der sich derartig erniedrigt. Rohlfs, verwirrt von den Erzählungen Svenyas, fühlte sich dennoch geschmeichelt und schlief auch in dieser Nacht mit ihr. Dabei tröstete sie ihn wie ein Kind, hatte sich zuvor ihrer Lust weich und vertrauensvoll hingegeben, sie mochte seinen Zorn auf sich selbst wohl fühlen. Anders als in den letzten Wochen meist blieb Rohlfs am nächsten Morgen, ließ auch einen Termin sausen, er fühlte sich matt. Svenya, die ihre Klienten in der Wohnung empfing, hatte gewöhnlich erst am Nachmittag Verpflichtungen, wickelte aber eine Reihe von Telefonaten ab. Zu manchen schloss sie die Tür zur Diele, wo das Telefon stand.

Rohlfs, an diese Marotte dessen, was sie Professionalität nannte, gewöhnt, glaubte doch gehört zu haben, dass sie über ihn sprach, jedenfalls dass er da sei. Natürlich fragte er nicht, andererseits teilte sie ihm schonungslos mit, was sie mit einem bestimmten Kollegen, mit dem sie zusammenarbeitete auch über ihn besprach. Auf die Idee, sie könnte mit ihm auch weiter gehende Beziehungen unterhalten, wäre er nie gekommen.

Warum er so seltsam willensschwach sei, festhalte an Dingen, die er nicht wollte, auch an ihr, wie sie kühl feststellte, ob er erwarte, dass sie sich trennte? Aber das würde ja bloß das Problem in sein Gegenteil verkehren, sie würde sich aufzwingen lassen, an seiner Stelle eine Entscheidung gegen sich selbst zu treffen. Das dürfe man einfach nicht mit sich machen lassen. Sie würden sich eben gut verstehen, Svenya und Boris, mit dem sie neuerdings zusammenarbeitete. Bestimmte ihrer Klienten seien besser bei ihm aufgehoben und umgekehrt.

Im Übrigen redeten sie auch über ihn, worüber Rohlfs automatisch einen Augenblick lang dachte, es müsse sich darum handeln, dass Svenya dem befreundeten Kollegen, dem er wohl auch schon einmal begegnet war ohne weiter über den Grad der Vertrautheit Svenyas mit ihm nachzudenken, ihr Leid klagte. Die Beziehung mit Rohlfs sei von Anfang an eine vorläufige, also per se nicht auf ein vollkommenes Glück ausgelegt. So war es ja auch besprochen gewesen. Nur dass Svenya, die das normal fand, inzwischen eben doch tiefere Gefühle hege.

Das Thema, das sie also in Hinsicht auf Rohlfs besprachen, war seine Unfähigkeit sich auf eine andere Person einzulassen. Boris, der solche Fälle natürlich haufenweise kannte, bestätigte Svenya in ihrer Sicht der Lage. Immerhin war klar, dass sich daran bis auf Weiteres nichts ändern würde, weshalb, schmerzhaft oder nicht, ein Abbruch der Beziehung über kurz oder lang nicht zu vermeiden sei. Sich dieses zuzumuten, wieder einmal, sei im Augenblick nicht der rechte Zeitpunkt, sie müsse auf sich achten und sehen, wie sie die Angelegenheit unter besseren Umständen handhabte.

Rohlfs erwartete den Engel des Herrn vergeblich, der ihm kündete, er möge nicht auf Flucht sinnen und Verrat üben an der Frau, die ausersehen sei durch die Frucht ihres Leibes. Sie war ja dahin, diese Frucht. Und richtig, sie wäre auch sein Wunsch nicht gewesen, Wunsch nicht, aber durfte man wünschen, was geschehen war? Dass das Ergebnis dem entsprach, was Rohlfs durchaus wünschte, war wohl der Grund dafür, dass kein Engel des Herrn ihn irgendeiner Aufmerksamkeit würdigte. Stattdessen trachtete er danach, wie er Svenya verließe. Warum eigentlich drehte er den Spieß nicht um, den sie in seine Richtung hielt durch ihre wiederholten Ankündigungen die Beziehung abzubrechen?

Auch als die Katastrophe bereits geschehen war, kam er noch lange nicht darauf, dass sie ihn bereits öfter und zuletzt mit eben diesem psychologischen Kollegen betrogen hatte. Seine symptomatische Desorientierung ging so weit, dass er auch nicht hätte sagen können, ob es nur eine Abtreibung oder deren mehrere gegeben hatte. Wieso eigentlich trug er nicht selber zur Empfängnisverhütung bei, wenn es um das gemeinsame Tragen von Verantwortung ging?

Noch etliche Jahre später durchfuhr ihn ein wilder Zorn, als eine Frau, zu der er in einer vorübergehenden Beziehung stand, von ihm verlangte, er werde sich doch wenigstens an den Kosten für die Pille beteiligen. Immer war ihm, als stünden ihm derartige lebenspraktische Fragen im Weg auf seiner Suche nach der vollkommenen Illusion. Mühsam, sehr schwerfällig nur konnte er das beiseite schieben, was ihm an weniger Idealem an seinen Partnerinnen bewusst wurde. Er war wohl gewohnt und stellte sich vor selber in einem solchen idealen Licht gesehen zu werden. Schwächen und Fehler hatte er keine, es sei denn solche, die eine Beziehung zu ihm, und sei es auch nur Freundschaft, unmöglich machten. Trat ein solches Zerwürfnis zutage, dann befielen ihn Verzweiflung und Trotz gleichermaßen, letzterer behielt aber für lange Zeit die  Oberhand. Letztlich geschah die Trennung von Svenya im Tumult einer Kette zeitlich schlecht koordinierter Entscheidungen. Erschöpft von vielem Hin und Her des sozialen und des beruflichen Alltags hatte er sich mehr oder weniger für ein paar Tage bei einem Freund eingeladen, ausgerechnet bei einem derer, die verzweifelt um Svenyas Gunst warben. Dieser mochte eine Chance wittern und ließ sich auf den Besuch ein. Dass es dabei zu keinerlei Erholung kommen konnte, hielte man von außen betrachtet für das Wahrscheinlichste. Die meiste Zeit war der Freund, selber beruflich erheblich eingespannt, abwesend. Die verbleibenden gemeinsamen Stunden umlauerte man sich, geschweige denn, dass etwas wie Herzlichkeit aufkam. Das Ende war ein überstürzter Aufbruch in dem Gefühl, dass alles vielleicht ein Irrtum sei. Jetzt Sehnsucht zu empfinden erschien wie die wunderbare Auflösung einer Schwierigkeit, die sich nicht lösen ließ und die man Gott sei Dank nicht lösen musste. In dem Hochgefühl überraschend und entsprechend glücklich zu Svenya zurückzukehren fuhr er die Autobahnstrecke in dem sicheren Bewusstsein, eine öde Welt in ihrer Aussichtslosigkeit schalen Verlangens hinter sich gelassen zu haben. Da war sie doch, die zwar unvollkommene, aber sich dessen bewusste Geborgenheit in einem Einvernehmen, die doch vorläufig besser war, besser auch als das, was bisher Liebe war, wenn ihr Verlust auch quälte. Aber sie hatte einem gegolten, der er selber nicht bleiben wollte. Dass Svenya nicht zu Hause sein könnte, daran hatte er gar nicht gedacht. Sie war dann auch den ganzen elenden Tag lang telefonisch nicht zu erreichen.

"Ja, du sollst rangehen, je nachdem, wer es ist, kannst du sagen, ich bin mal scheißen. Ich habe das Gefühl, das ist wieder so ein Tag, an dem mir nicht die richtigen Lügen einfallen. Ich verstehe nicht, warum sich die Frau eine Packung bei mir abholen muss, wo doch eigentlich alles klar ist. Ich bin nicht in sie verknallt, und sie will mir den Grund, den ich dafür habe, ausreden. Ich habe ihn aber einfach, verdammt, und es geht sie einen Scheißdreck an, was für mich ein Grund ist, und wenn's für sie tausendmal keiner ist. Mich stört ja ihr neunmalkluger Kopf nicht, wie sie meint. Was sie ärgert, ist, dass sie für die Liebe genauso zugeschissen sein könnte wie beispielsweise Misses Bower. Du weißt ja, die bringt es nicht, und wenn Mj Svenya sich deshalb in ihre verdammten Hosen scheißt, aus demselben Grund wie sie, aber ich sag's ihr nicht, der einen so wenig wie der anderen. Früher, als ich den Grund selber noch suchte, habe ich mich mit den Weibern rumgezankt, dass die Fetzen flogen. Und weißt du, Rohlfs, so ist es immer. Streiten tust du mit den Leuten nur so lange um eine Sache, wie du sie selber noch nicht hast. Etwas, was du in deiner verdammten Birne drin hast, das nimmt dir ja auch keiner mehr weg, nicht die tollste Gehirnwäsche, was Mj Svenya eigentlich wissen sollte, weil's ihr verdammter Job ist. Ich mache ihr keinen Vorwurf, als ob man je beigebracht bekäme, worauf es wirklich ankommt. Das ist ja im wirklichen Leben nicht anders. Meinst du die Arschlöcher, bei denen die Ärzte und so weiter studieren, würden irgendwas raus lassen, worauf es wirklich ankommt? Erstens wissen sie es nicht. Zweitens sagen sie es nicht, weil es sowieso bescheuert ist, das zu sagen, worauf es wirklich ankommt, und keiner sperrt seine verdammten Ohren auf. Und drittens kannst du's genauso gut sagen, brauchst gar kein großes Geheimnis draus zu machen, weil's eben keinen auch nur die Bohne interessiert, wenn du weißt, was ich meine."

Ob Rohlfs wisse, worauf er sich da einlässt? Ob er sich also darüber im Klaren sei, welches Spiel das sei, das hier gespielt werde? Denn es sei ein Spiel und keineswegs das, was es vorgebe zu sein. Rohlfs, der nicht recht wusste, worauf Mj Svenya hinaus wollte, fühlte dumpf, sie habe schon irgendwie Recht. Es gab wohl in all diesen Alltagsgeschichten, zumal in den dramatischeren, irgendwelche Tiefen, um die es vielleicht eigentlich ging. Bobs Alkoholismus nun also, der möglicherweise in Frustrationen gründete, auf deren eigenstes Feld er beharrlich zurückgeführt werden musste, oder so ähnlich, was die Seele aber scheute wie der Teufel das Weihwasser.

In Wahrheit hatte Bob Mj Svenya abblitzen lassen. Eins sei klar, hatte er gemeint, dass jedenfalls die psychologischsten aller Erkenntnisse in der Horizontalen gewonnen würden, das sei nämlich die therapeutischste aller Positionen. Empathie als Erkenntnisweg, die extatische Methode. Er sei ein Gentleman und hätte wenig Lust einer Pleite noch das Geschwätz darüber, wie sie zustande gekommen sei, hinzuzufügen. "Ich will´s gar nicht wissen, Rohlfs", hatte er gesagt. "Dabei weiß ich´s, mein Riecher für diesen Scheiß ist sogar ziemlich ausgeprägt. Da sitz ich beispielsweise in Mj Svenyas Wägelchen und denke, well, Bob, let´s look and see. Sie ist ja viel jünger als ich, warum, verdammt noch mal, tut sie so überlegen? Ja, Mann, es ist ein Spiel, und sie braucht es jedenfalls so herum. Aber, das sage ich dir, Rohlfs, jede dieser Maschen hat nur einen einzigen Haken. Und dieses Häkchen, verdammt, es piekst in den ganzen großen, schönen Ballon rein, dass er platzt, weiß Gott, oder, was schlimmer ist, die Luft geht raus, du weißt nicht wo. Das Ding liegt da, jämmerlich, Herrgott!"

Lediglich das Raunen Reichs, den die Musik aus seinem rumorenden Tiefschlaf gerissen hatte, erinnerte Rohlfs daran, dass es nunmehr kein Zurück mehr geben konnte, zumal sich Reichs Murren bald in Ärger wandelte. Reich trug weiße Schuhe, deren Spitzen noch unter seinem Bischofsgewand erkennbar waren. Sein Omophorion war mit vier griechischen Kreuzen verziert. Reichs Kasel war blau, seine Stola goldfarben und in seiner linken Hand stemmte er den schweren Bischofsstab. "Ite, missa est!", rief er Rohlfs zu, wobei sein Blick auf unheimliche Weise hündisch wirkte. "Männer werden nicht geboren, Rohlfs, Männer werden gemacht! Auf Sie können wir verzichten! Glauben Sie die 66th Military Intelligence Brigade könne sich nur mit ihren idiotischen kleinen Dummheiten auseinandersetzen? Wen glaubten Sie eigentlich mit Ihren Petitionen beeindrucken zu können? Ihr Beitritt zum NSA-Spion-Schutzbund ist nur eine weitere der zahllosen Kasperliaden, die Sie uns in der jüngsten Vergangenheit zugemutet haben, lieber Rohlfs, ganz zu schwiegen von Ihren Geldüberweisungen an dubiose Privatpersonen in Rumänien direkt vom Army Post Office aus. Ist Ihnen bewusst, dass Sie etwa zehntausend sonderbare Musikdateien an unsere Mitarbeiter versendet haben? Es gingen zahllose Beschwerden und, lieber Rohlfs, Rechnungen im Amt ein, die mir persönlich vorgelegt wurden, Rohlfs, ja, Sie haben richtig gehört, mir persönlich. Sie haben wiederholt Einsätze und Aufträge verpasst! Ihre idiotischen Schmierereien an den Toilettentüren lassen tief blicken! Wen wollten Sie mit ihren Kalendersprüchen denn bekehren? Den iranischen Kommunisten etwa? Man soll ihn jüngst erwischt haben, als er seine Landsleute mitten in der Nacht darüber aufzuklären versuchte, dass das Gesicht des Propheten einer Rundfunkmeldung entsprechend nicht im Mond zu sehen sei. Außer ein paar bizarren Kratern sehe man einfach gar nichts. Natürlich wäre er beinahe zu Tode geprügelt worden. Oder Ihren Freund Palle? Denn sinnlicher sind Menschen in dem Brand der Wüste. Wir werden schon ein Plätzchen für Sie auftreiben, Rohlfs! Was sollte uns davon abhalten Sie in die Wüste zu schicken? Was meinen Sie? Glauben Sie tatsächlich Sie könnten uns übertölpeln? Und Ihr vertrauter, vermeintlicher Komplize Palle, lieber Rohlfs, ist einer unserer am besten ausgebildeten Abhörspezialisten. Überrascht Sie das? Nun, ich glaube kaum, dass Sie das überrascht, Rohlfs. Allem Anschein nach sind Sie ja allwissend. Aw, fuckin' A!" Rohlfs merkte, dass Reich sich in Rage zu reden begann, zuckte mit den Schultern und vertiefte sich in seine Aufzeichnungen. Es gelang ihm einen Großteil von Reichs Tirade zu überhören, doch die plötzliche Gewissheit, dass Palle nicht nur dienstlich, sondern auch ihm und Saeed gegenüber ein Doppelspiel getrieben hatte, beeindruckte ihn nachhaltig. Ob es ihn überraschte? Allenfalls verursachte Reichs Bestätigung etwas wie ein Sodbrennen in seiner Brust. Rohlfs war jedoch nicht so leicht davon abzubringen, dass es auch verbindliche und aufrichtige Momente in ihrer gemeinsamen Zeit gegeben haben musste. Er wollte bei Gelegenheit eine Kerze für Palle anzünden, zumindest für das, was er als den guten Willen in ihm bezeichnete. Für fatal hielt Rohlfs allerdings die kollektive Verleumdung Saeeds. Trotz seiner Heimatlosigkeit wusste man über jeden seiner Schritte Bescheid. Entweder man überschätzte seine Beziehungen maßlos oder die Verantwortlichen begnügten sich in ihrem paranoiden Dünkel einfach mit einem Sündenbock. Andererseits hatte ihm Saeed anvertraut, dass sein Schwager von Anfang an ein abgekartetes Spiel mit ihm getrieben hatte. Weshalb hatte man Saeed und ihm nicht einfach gekündigt? Das Ganze war eine Falle, dachte Rohlfs. Versprach man sich etwa durch seine Verschleppung profitable Kontakte zu neuen und bestehenden Verbindungsleuten im Osten Europas herzustellen? Rohlfs begann eine gewisse Schadenfreude über den enormen Aufwand, den man mit ihm und Saeed betrieb, zu empfinden. Reichs Biss schien nicht mehr tödlich, denn Rohlfs' Vertragslaufzeit war, so dachte er geistesgegenwärtig, ohne Sachgrund befristet und er würde sich gewiss nicht absichtlich um eine Verlängerung seines Aufenthalts auf dem Heimatplaneten bemühen. Die befristete Zeit würde ihm den Raum lassen Möglichkeiten einer eigenen Gesetzlichkeit in Betracht zu ziehen, die die Gesetze der Macht, in welcher Hand sie sich auch befinden möge, außer Kraft setzte. "Shine on lousy leadership/Licensed to kill/Shine on dying soldiers/In patriotic pain/Shine on mass destruction/In some God's name..." Politiker hatten die Aufgabe die üblichen Gemeinheiten und Ressentiments in einer Sprache zu äußern, die ihrerseits an Gemeinheit und Widerlichkeit nichts zu wünschen übrig ließ, aber im Gewand auch der offiziellen Rechtmäßigkeit auftrat. Dass beispielsweise die Ausländer zu bleiben hätten, wo sie herkommen, bedurfte ja nicht etwa einer eigenen Begründung, so selbstverständlich war einem der Gedanke; da man selber für sich aber in Anspruch nahm hinzufahren, wo es einem beliebte, nahm man schon mit einer gewissen Erleichterung etwa die Formulierung des Innenministers auf, es sei hinsichtlich der Ausländer etwas im Gange, was nichts anderes als die Bezeichnung "Missbrauch der Freizügigkeit" verdiene, nämlich dass man ausschließlich nach Deutschland komme, um sich dort aus den Sozialkassen zu bedienen. Dieser Umstand war schließlich schlimm genug in Bezug auf das eigene Gesindel, das doch beispielsweise einmal nach Rumänien gehen solle um zu sehen, ob man da etwa Wohngeld, Kleidergeld und was es sonst noch für Segnungen des sogenannten Sozialstaates gebe, wohlgemerkt bei uns gebe, fürs Nichtstun bekommen würde.

Bis zu einem gewissen Grade steigerte sich auch der Minister in diese Auffassung hinein, da er aus Erfahrung wusste, dass man dem Volk seine Dummheiten nicht einfach nachäffen durfte. Hauchdünn war ja die Grenze zu einer anderen Volksmeinung, nämlich die Politiker bedienten sich - was dazu noch stimmte - aus den öffentlichen Kassen. Dabei an zehn-, zwölftausend Euro zu denken war entsprechend naiv, aber fürs gewöhnliche Volk bombastisch genug, man wollte besser nicht daran rühren. Jemand hatte vorgerechnet, was die öffentlichen Kassen der Steuerbetrug kostete, oder auch nur die Steuerflucht, und zwar im Vergleich zu den Ausgaben für Sozialhilfeempfänger, nicht auszudenken, es gäbe noch eine kritische Arbeiterschaft, vertreten durch kluge politische Vertreter, die in den armen Leuten aus anderen Ländern diejenigen bereit wären zu sehen, die dort entsprechend schlimmer der Selbstbedienung derer unterliegen, deren Geschäften Missbrauch der Freizügigkeit nicht gerade vorgeworfen wurde. Da aber seit längerem die Not der Niedertracht gewichen war, sah man zu denen, die einen übervorteilten, nicht etwa mit Zorn hin, sondern mit der scheinheiligen Einsicht, man wäre selber nicht besser, wenn man die Gelegenheit dazu hätte. Rohlfs wollte darüber verzweifeln, dass menschliche Gemeinschaft genannt wurde, worin er lebte.

Es stand Regen bevor, vielleicht auch ein Gewitter, denn die Luft war schwül und drückend wie Jonis Blues aus dem Radio.

Aus der Erinnerung heraus notierte sich Rohlfs die letzten Verse des Gesangs in einer etwas größeren Lücke zwischen Fragmenten einiger früher, journalistischer Versuche von Alois, wie jener nicht ohne eine gewisse Selbstironie oft zum besten gab.

Während dieser Zeit nahm die Französin Florence André nachmittags Deutschunterricht bei mir. Monsieur und Madame André wohnten nicht weit von dem Haus, in dem die Gewerkschaften ihre Büros hatten, in der Kaiser Friedrich-Straße, jede Woche zweimal sprach ich dort vor. Einmal wartete ich eine gute Viertelstunde, klingelte mehrmals, niemand öffnete. Als ich, um sicher zu gehen, dass niemand zu Hause sei, auf die Türklinke drückte, gab sie nach, und ich trat ein. Gleiches ereignete sich vor der Wohnzimmertür; ich klopfte, niemand antwortete. Als ich eintrat, sah ich die Ehegatten schweigend, doch wie mir schien, etwas verstört nebeneinander auf dem Sofa sitzen. Warum hatte keiner ein "Entrez" gerufen? Jetzt fragte mich Monsieur André trocken und nahezu unwillig, was ich wolle. Sie hatten wohl die Lektion, die immer zu dieser Zeit stattfand, vergessen. Mir kam das nicht sehr gelegen; ich hatte ein wichtiges grammatisches Kapitel in Aussicht genommen und eine Menge von Beispielen zusammengestellt. Hatte ich mir umsonst die Mühe gemacht? So war es; die beiden hörten nur halb hin, waren nicht bei der Sache und brachen die geplante Unterrichtsstunde vorzeitig ab.

Monsieur André las Romane von Paul Bourget, sprach mit mir über sie und schenkte mir den "Le Démon de Midi". Ich las ihn mit Begeisterung, sowohl des interessanten Inhalts als der feinen Form wegen. Monsieur André und seine Gattin waren übrigens der Meinung, das deutsche Volk sei schuld am Krieg gewesen, während ich überzeugt war, dass der Kaiser – Wilhelm II. - die Deutschen in ihr Unglück gestürzt habe. Bei den Franzosen verneinten die beiden André die Schuldfrage energisch.

Anders ein Kunstmaler, der vorbeikam, als ich eine Deutschstunde gab. Er war in Rom preisgekrönt worden, musste demnach etwas können; jetzt besorgte er im Mainzer Viehmarkt Fourage. Er stand auf der Seite von Henri Barbusse, dessen "Le Feu" ich gelesen hatte, und nannte alle kriegführenden Nationen "complice".




Die rasanten Handbewegungen des Fahrers am Sendersuchlauf des Radios entließen Rohlfs in die Poesie Joni Mitchells und für den Zeitraum, in dem die Musik aus den Lautsprechern des Transporters drang, nahm sie ihn nahezu vollständig in ihren Bann. Es schien, als wisse der Fahrer wie er ihn verführen könne, als kommuniziere er über den Sendersuchlauf mit ihm, ja, als wolle er ihm einen Beweggrund mitteilen doch noch eine Verbundenheit mit seinem Heimatplaneten zu empfinden. Und tatsächlich brannten sich die Worte der Malerin in seinen zerschundenen Leib und seine gärende Seele, tatsächlich entstand etwas in ihm, etwas, das seine Entschlossenheit ins Wanken brachte, etwas, das ihn tröstete und versöhnte, das ihn davon abhielt die Reise nach Baikonur fortzusetzen. Hatte er sich nicht lange genug zur Verfügung gestellt? Es sah für einen Augenblick so aus, als habe er eine Wahl, als gäbe es eine Zeit des Handelns im Beschleunigungstaumel.
  All this is from God, who reconciled us to himself through Christ and gave us the ministry of reconciliation that God was reconciling the world to himself in Christ, not counting people’s sins against them. And he has committed to us the message of reconciliation.


["Vorzeichen", Michelle Schneider (2019)]

Das Paradigma der Liebe schließt die philosophische These des freien Willens in sich ein, als ob man wollen könne in einer Welt, in der man nicht erkennen kann, was man will, sondern nur das, was man liebt, weshalb ja Eva und Adam gerade diesen besonderen Apfel essen, einen Granatapfel, wenn jemandem der Kalauer über die US Army in diesem Zusammenhang gefällt, zu schweigen von Bikini, wo die fatalen Atombombenversuche stattfanden, woher Evas Zweiteiler seinen Namen hat, die Bibel spricht, wohl aus Rücksicht auf Adam, der dessen ja nur eines bedurfte, vom Feigenblatt. Was die beiden nun erkannten, ist geradezu der Dreh- und Angelpunkt der Liebe, dass sie nackt waren, oder jedenfalls, dass man es sein könnte! Sein müsse, und zwar so oft wie möglich, und da auch das inzwischen sozusagen in jedermanns Reichweite liegt, dann also unter der Prämisse des Guten, und zwar ganz ethisch verstanden: kein schlechter, guter Sex, wir stehen vor weitläufigen Regalen des Sexkitschs und des Sexwahns, dem wir uns anvertrauen, einem archimedischen Punkt in der kolossalen Weite unseres Nichtwissens, was wir wollen sollen.
Religion war, wie Rohlfs bestürzt klar wurde, geradezu das Gegenteil von Glauben. "Herrgott", durchfuhr es ihn, "alles, woran ich mich festhalte, ist mit mir im freien Fall! Nichts, buchstäblich nichts wäre wahr, oder gar gut? Auch meine Frage nach der Wahrheit eine feige Lüge!" - "Wenn du nur ein einziges Mal, Rohlfs, auch nur ein einziges Mal, auch wolltest, was du tust!" Svenya Thomson, die ihn nicht liebte, schien zu wissen, was sie wollte. Es war etwas, das man ihr weggenommen hatte, und sie wollte es zurückhaben.
"...Shine on the Catholic Church/And the prisons that it owns/Shine on all the Churches/They all love less and less"
Nach und nach erfuhr Rohlfs von einem Karl, mit dem sie seit Studienzeiten zusammengelebt hatte. Er lebte weiter in der ehemals gemeinsamen Wohnung, nach und nach würde er ihr ihren Anteil ausbezahlen. Für das Auto, das sie gerade erst gemeinsam gekauft hatten, besaßen sie beide ihren Schlüssel, der Rhythmus der gemeinsamen Nutzung wurde einfach aufrechterhalten, und da der Wagen immer ungefähr am selben Platz geparkt wurde, lief in dieser Hinsicht wie noch in mancher anderen alles weiter wie bisher.
Rohlfs, der nie in Erfahrung brachte, ob Karl irgendetwas von ihm wusste, wünschte halb, Svenya würde zu ihm zurückkehren. Die tiefe Verletzung, die sie davon abhielt, erfüllte ihn mit Grauen vor den Folgen seines eigenen Verrats, dessen, den er bereits begangen hatte, und derer, die ihm möglicherweise noch bevorstanden. Religion, so dachte Rohlfs, war nichts anderes als die Anpassung an die Dinge, wie sie nun einmal sind: Geld, Mode, Fortschritt, Computerei, Jugend, Kampf, Sport.
Sie habe, sagte Svenya, das Kind wegmachen lassen und erwarte nicht, dass er sich an den Kosten beteilige. Rohlfs, der sich völlig vor den Kopf geschlagen fühlte, rang nach Fassung. Es war klar, dass er kein Kind wollte, was es also zu diskutieren gegeben hätte, stellte Svenya fest, die behauptete, sie sei inzwischen völlig über die Sache hinweg, weshalb sie ja auch mit ihm darüber rede. Sie habe wohl die Pille ausgekotzt, es müsse an dem Abend passiert sein, als sie den duseligen Schnaps, praktisch die ganze Flasche zu zweit, gekippt hätten.
"Anders als betrunken läuft ja auch schon länger nichts mehr zwischen uns", stellte sie ätzend fest, "aber nicht dass du glaubst, ich denke, du seist Alkoholiker."
Rohlfs fühlte, wie eine Lawine aus schmutzigem Eis und Geröll ihn innerlich zuschüttete. Er blickte im Zimmer umher. Trost, Svenya war es wohl nicht, in deren Armen er welchen suchen dürfte. Umgekehrt, er musste sie trösten, dachte er ohnmächtig, das Glas Bacardi sinnlos in der Hand drehend. Svenya dagegen,  als habe sie nicht gerade vom alkoholischen Teil ihrer Beziehung gesprochen, nahm einen tiefen Schluck. Er roch ihren alkoholischen Atem, sah, dass ihre Augen leicht neblig waren.
"Es war ein kleines Mädchen", sagte sie und wischte eine Träne mit der Hand ab, in der sie das Glas hielt. Sie war zornig darüber, dass sie weinte.
"Ich habe beschlossen, dass du es dieses Mal wissen solltest. Trotzdem sage ich, es ist alleine meine Angelegenheit, gerade weil ich seit längerem finde, dass ich die Beziehung abbrechen sollte, du wirst dich nie entscheiden. Aber ich frage mich, wieso ich es sein soll, die sich trennt, wo ich es gar nicht will!" - "Du willst dich trennen, jetzt?", hörte Rohlfs sich fragen. "Es geht mir ja schon besser, jedenfalls, wenn ich nicht an das Schwein denke, das es gemacht hat." - "Und damit meinst du mich." - "Nein, den Arzt. Er hat es für Geld gemacht, was sonst", sie schnaubte durch die Nase, "und dass ich ihn einmal drüber lasse, jetzt wo nichts passieren konnte." Der Satz traf Rohlfs wie ein Faustschlag in den Magen. "Du hast, ich meine, er hat, bevor er den Eingriff vorgenommen hat, ist er, hat er, ich verstehe das nicht." - "Und er war nüchtern. Er trinkt nicht. Er ist einfach ein geiler Bock, kann sein, dass er den idealen Beruf hat für seine Veranlagung. Mir war alles egal, es ging in einem hin." Sie hatte sich inzwischen die Nase geputzt und brachte das Taschentuch weg. Es sei wohl besser, wenn er heute Nacht nicht hier bliebe, sie wisse auch nicht, ob sie morgen zu Hause sei, falls er anrufen wollte. Er könne sich ja dieser Tage einfach einmal melden. Womit sie Recht hatte, Svenya konnte mit einer dauerhaften Beziehung, was Rohlfs anging, eher nicht rechnen, woraus sie nur die Konsequenzen zog, ein Akt der Klugheit, der aber Rohlfs vor den Kopf schlug. Hatten sie nicht stets den Charakter des Vorübergehenden ihrer Beziehung als ein Moment der Freiheit betrachtet? Wozu jetzt dieser Kampf, dessen Botschaft doch letztlich die eines Vorwurfs war, nämlich, dass Rohlfs Svenya nicht liebe?
Es war, als schwöre Rohlfs heimlich Rache, aber er fühlte sich schwach, so als werde er auch bei diesem Schwur demnächst ertappt und mache sich einmal mehr zum Spielzeug Svenyas, die ihn kalt durchschaute. Seine Schlechtigkeit führte sie ihm auch vor Augen, indem sie ihm von Männern erzählte, die sich nach ihr verzehrten und sie wohl auch eher verdient hätten als er. Allerdings machten sie sich lächerlich in der Berechenbarkeit ihres Begehrens, auch ihres Hasses gegenüber Rohlfs, der ja besaß, wonach ihre Gier fieberte. Noch dazu waren es Kollegen Svenyas. Er solle seine dreckigen Flossen bei sich behalten, habe sie zu einem gesagt, kalt darin, damit nicht etwa das Gespräch und Beisammensein zu beenden, sondern ihn grausam auf das zurückzustoßen, was er offenbar war, ein geiler Bock über und vor allem. Der andere, mit dem zu allem Übel Rohlfs selbst sie bekannt gemacht hatte, wurde regelrecht krank nach ihr. Zu ihren Füßen habe er geweint, und wenn sie ihn schon nicht lieben könne, warum sie nicht wenigstens mit ihm schlief. Als ob man mit einem Mann schlafen könnte, der sich derartig erniedrigt. Rohlfs, verwirrt von den Erzählungen Svenyas, fühlte sich dennoch geschmeichelt und schlief auch in dieser Nacht mit ihr. Dabei tröstete sie ihn wie ein Kind, hatte sich zuvor ihrer Lust weich und vertrauensvoll hingegeben, sie mochte seinen Zorn auf sich selbst wohl fühlen. Anders als in den letzten Wochen meist blieb Rohlfs am nächsten Morgen, ließ auch einen Termin sausen, er fühlte sich matt. Svenya, die ihre Klienten in der Wohnung empfing, hatte gewöhnlich erst am Nachmittag Verpflichtungen, wickelte aber eine Reihe von Telefonaten ab. Zu manchen schloss sie die Tür zur Diele, wo das Telefon stand.
Rohlfs, an diese Marotte dessen, was sie Professionalität nannte, gewöhnt, glaubte doch gehört zu haben, dass sie über ihn sprach, jedenfalls dass er da sei. Natürlich fragte er nicht, andererseits teilte sie ihm schonungslos mit, was sie mit einem bestimmten Kollegen, mit dem sie zusammenarbeitete auch über ihn besprach. Auf die Idee, sie könnte mit ihm auch weiter gehende Beziehungen unterhalten, wäre er nie gekommen.
Warum er so seltsam willensschwach sei, festhalte an Dingen, die er nicht wollte, auch an ihr, wie sie kühl feststellte, ob er erwarte, dass sie sich trennte? Aber das würde ja bloß das Problem in sein Gegenteil verkehren, sie würde sich aufzwingen lassen, an seiner Stelle eine Entscheidung gegen sich selbst zu treffen. Das dürfe man einfach nicht mit sich machen lassen. Sie würden sich eben gut verstehen, Svenya und Boris, mit dem sie neuerdings zusammenarbeitete. Bestimmte ihrer Klienten seien besser bei ihm aufgehoben und umgekehrt.
Im Übrigen redeten sie auch über ihn, worüber Rohlfs automatisch einen Augenblick lang dachte, es müsse sich darum handeln, dass Svenya dem befreundeten Kollegen, dem er wohl auch schon einmal begegnet war ohne weiter über den Grad der Vertrautheit Svenyas mit ihm nachzudenken, ihr Leid klagte. Die Beziehung mit Rohlfs sei von Anfang an eine vorläufige, also per se nicht auf ein vollkommenes Glück ausgelegt. So war es ja auch besprochen gewesen. Nur dass Svenya, die das normal fand, inzwischen eben doch tiefere Gefühle hege.
Das Thema, das sie also in Hinsicht auf Rohlfs besprachen, war seine Unfähigkeit sich auf eine andere Person einzulassen. Boris, der solche Fälle natürlich haufenweise kannte, bestätigte Svenya in ihrer Sicht der Lage. Immerhin war klar, dass sich daran bis auf Weiteres nichts ändern würde, weshalb, schmerzhaft oder nicht, ein Abbruch der Beziehung über kurz oder lang nicht zu vermeiden sei. Sich dieses zuzumuten, wieder einmal, sei im Augenblick nicht der rechte Zeitpunkt, sie müsse auf sich achten und sehen, wie sie die Angelegenheit unter besseren Umständen handhabte.
Rohlfs erwartete den Engel des Herrn vergeblich, der ihm kündete, er möge nicht auf Flucht sinnen und Verrat üben an der Frau, die ausersehen sei durch die Frucht ihres Leibes. Sie war ja dahin, diese Frucht. Und richtig, sie wäre auch sein Wunsch nicht gewesen, Wunsch nicht, aber durfte man wünschen, was geschehen war? Dass das Ergebnis dem entsprach, was Rohlfs durchaus wünschte, war wohl der Grund dafür, dass kein Engel des Herrn ihn irgendeiner Aufmerksamkeit würdigte. Stattdessen trachtete er danach, wie er Svenya verließe. Warum eigentlich drehte er den Spieß nicht um, den sie in seine Richtung hielt durch ihre wiederholten Ankündigungen die Beziehung abzubrechen?
Auch als die Katastrophe bereits geschehen war, kam er noch lange nicht darauf, dass sie ihn bereits öfter und zuletzt mit eben diesem psychologischen Kollegen betrogen hatte. Seine symptomatische Desorientierung ging so weit, dass er auch nicht hätte sagen können, ob es nur eine Abtreibung oder deren mehrere gegeben hatte. Wieso eigentlich trug er nicht selber zur Empfängnisverhütung bei, wenn es um das gemeinsame Tragen von Verantwortung ging?
Noch etliche Jahre später durchfuhr ihn ein wilder Zorn, als eine Frau, zu der er in einer vorübergehenden Beziehung stand, von ihm verlangte, er werde sich doch wenigstens an den Kosten für die Pille beteiligen. Immer war ihm, als stünden ihm derartige lebenspraktische Fragen im Weg auf seiner Suche nach der vollkommenen Illusion. Mühsam, sehr schwerfällig nur konnte er das beiseite schieben, was ihm an weniger Idealem an seinen Partnerinnen bewusst wurde. Er war wohl gewohnt und stellte sich vor selber in einem solchen idealen Licht gesehen zu werden. Schwächen und Fehler hatte er keine, es sei denn solche, die eine Beziehung zu ihm, und sei es auch nur Freundschaft, unmöglich machten. Trat ein solches Zerwürfnis zutage, dann befielen ihn Verzweiflung und Trotz gleichermaßen, letzterer behielt aber für lange Zeit die  Oberhand. Letztlich geschah die Trennung von Svenya im Tumult einer Kette zeitlich schlecht koordinierter Entscheidungen. Erschöpft von vielem Hin und Her des sozialen und des beruflichen Alltags hatte er sich mehr oder weniger für ein paar Tage bei einem Freund eingeladen, ausgerechnet bei einem derer, die verzweifelt um Svenyas Gunst warben. Dieser mochte eine Chance wittern und ließ sich auf den Besuch ein. Dass es dabei zu keinerlei Erholung kommen konnte, hielte man von außen betrachtet für das Wahrscheinlichste. Die meiste Zeit war der Freund, selber beruflich erheblich eingespannt, abwesend. Die verbleibenden gemeinsamen Stunden umlauerte man sich, geschweige denn, dass etwas wie Herzlichkeit aufkam. Das Ende war ein überstürzter Aufbruch in dem Gefühl, dass alles vielleicht ein Irrtum sei. Jetzt Sehnsucht zu empfinden erschien wie die wunderbare Auflösung einer Schwierigkeit, die sich nicht lösen ließ und die man Gott sei Dank nicht lösen musste. In dem Hochgefühl überraschend und entsprechend glücklich zu Svenya zurückzukehren fuhr er die Autobahnstrecke in dem sicheren Bewusstsein, eine öde Welt in ihrer Aussichtslosigkeit schalen Verlangens hinter sich gelassen zu haben. Da war sie doch, die zwar unvollkommene, aber sich dessen bewusste Geborgenheit in einem Einvernehmen, die doch vorläufig besser war, besser auch als das, was bisher Liebe war, wenn ihr Verlust auch quälte. Aber sie hatte einem gegolten, der er selber nicht bleiben wollte. Dass Svenya nicht zu Hause sein könnte, daran hatte er gar nicht gedacht. Sie war dann auch den ganzen elenden Tag lang telefonisch nicht zu erreichen.
"Ja, du sollst rangehen, je nachdem, wer es ist, kannst du sagen, ich bin mal scheißen. Ich habe das Gefühl, das ist wieder so ein Tag, an dem mir nicht die richtigen Lügen einfallen. Ich verstehe nicht, warum sich die Frau eine Packung bei mir abholen muss, wo doch eigentlich alles klar ist. Ich bin nicht in sie verknallt, und sie will mir den Grund, den ich dafür habe, ausreden. Ich habe ihn aber einfach, verdammt, und es geht sie einen Scheißdreck an, was für mich ein Grund ist, und wenn's für sie tausendmal keiner ist. Mich stört ja ihr neunmalkluger Kopf nicht, wie sie meint. Was sie ärgert, ist, dass sie für die Liebe genauso zugeschissen sein könnte wie beispielsweise Misses Newman. Und weißt du was, die bringt es ja auch nicht, und wenn Mj Svenya sich deshalb in ihre verdammten Hosen scheißt, aus demselben Grund wie sie, aber ich sag's ihr nicht, der einen so wenig wie der anderen. Früher, als ich den Grund selber noch suchte, habe ich mich mit den Weibern rumgezankt, dass die Fetzen fliegen. Und weißt du, Rohlfs, so ist es immer. Streiten tust du mit den Leuten nur so lange um eine Sache, wie du sie selber noch nicht hast. Etwas, was du in deiner verdammten Birne drin hast, das nimmt dir ja auch keiner mehr weg, nicht die tollste Gehirnwäsche, was Mj Svenya eigentlich wissen sollte, weil's ihr verdammter Job ist. Ich mache ihr keinen Vorwurf, als ob man je beigebracht bekäme, worauf es wirklich ankommt. Das ist ja im wirklichen Leben nicht anders. Meinst du die Arschlöcher, bei denen die Ärzte und so weiter studieren, würden irgendwas raus lassen, worauf es wirklich ankommt? Erstens wissen sie es nicht. Zweitens sagen sie es nicht, weil es sowieso bescheuert ist, das zu sagen, worauf es wirklich ankommt, und keiner sperrt seine verdammten Ohren auf. Und drittens kannst du's genauso gut sagen, brauchst gar kein großes Geheimnis draus zu machen, weil's eben keinen auch nur die Bohne interessiert, wenn du weißt, was ich meine."
Ob Rohlfs wisse, worauf er sich da einlässt? Ob er sich also darüber im Klaren sei, welches Spiel das sei, das hier gespielt werde? Denn es sei ein Spiel und keineswegs das, was es vorgebe zu sein. Rohlfs, der nicht recht wusste, worauf Mj Svenya hinaus wollte, fühlte dumpf, sie habe schon irgendwie Recht. Es gab wohl in all diesen Alltagsgeschichten, zumal in den dramatischeren, irgendwelche Tiefen, um die es vielleicht eigentlich ging. Bobs Alkoholismus nun also, der möglicherweise in Frustrationen gründete, auf deren eigenstes Feld er beharrlich zurückgeführt werden musste, oder so ähnlich, was die Seele aber scheute wie der Teufel das Weihwasser. In Wahrheit hatte Bob Mj Svenya abblitzen lassen. Eins sei klar, hatte er gemeint, dass jedenfalls die psychologischsten aller Erkenntnisse in der Horizontalen gewonnen würden, das sei nämlich die therapeutischste aller Positionen. Empathie als Erkenntnisweg, die extatische Methode. Er sei ein Gentleman und hätte wenig Lust einer Pleite noch das Geschwätz darüber, wie sie zustande gekommen sei, hinzuzufügen. "Ich will´s gar nicht wissen, Rohlfs", hatte er gesagt. "Dabei weiß ich´s, mein Riecher für diesen Scheiß ist sogar ziemlich ausgeprägt. Da sitz ich beispielsweise in Mj Svenyas Wägelchen und denke, well, Bob, let´s look and see. Sie ist ja viel jünger als ich, warum, verdammt noch mal, tut sie so überlegen? Ja, Mann, es ist ein Spiel, und sie braucht es jedenfalls so herum. Aber, das sage ich dir, Rohlfs, jede dieser Maschen hat nur einen einzigen Haken. Und dieses Häkchen, verdammt, es piekst in den ganzen großen, schönen Ballon rein, dass er platzt, weiß Gott, oder, was schlimmer ist, die Luft geht raus, du weißt nicht wo. Das Ding liegt da, jämmerlich, Herrgott!"
Lediglich das Raunen Reichs, den die Musik aus seinem rumorenden Tiefschlaf gerissen hatte, erinnerte Rohlfs daran, dass es nunmehr kein Zurück mehr geben konnte, zumal sich Reichs Murren bald in Ärger wandelte. Reich trug weiße Schuhe, deren Spitzen noch unter seinem Bischofsgewand erkennbar waren. Sein Omophorion war mit vier griechischen Kreuzen verziert. Reichs Kasel war blau, seine Stola goldfarben und in seiner linken Hand stemmte er den schweren Bischofsstab. "Ite, missa est!", rief er Rohlfs zu, wobei sein Blick auf unheimliche Weise hündisch wirkte. "Männer werden nicht geboren, Rohlfs, Männer werden gemacht! Auf Sie können wir verzichten! Glauben Sie die 66th Military Intelligence Brigade könne sich nur mit ihren idiotischen kleinen Dummheiten auseinandersetzen? Wen glaubten Sie eigentlich mit Ihren Petitionen beeindrucken zu können? Ihr Beitritt zum NSA-Spion-Schutzbund ist nur eine weitere der zahllosen Kasperliaden, die Sie uns in der jüngsten Vergangenheit zugemutet haben, lieber Rohlfs, ganz zu schwiegen von Ihren Geldüberweisungen an dubiose Privatpersonen in Rumänien direkt vom Army Post Office aus. Ist Ihnen bewusst, dass Sie etwa zehntausend sonderbare Musikdateien an unsere Mitarbeiter versendet haben? Es gingen zahllose Beschwerden und, lieber Rohlfs, Rechnungen im Amt ein, die mir persönlich vorgelegt wurden, Rohlfs, ja, Sie haben richtig gehört, mir persönlich. Sie haben wiederholt Einsätze und Aufträge verpasst! Ihre idiotischen Schmierereien an den Toilettentüren lassen tief blicken! Wen wollten Sie mit ihren Kalendersprüchen denn bekehren? Den iranischen Kommunisten etwa? Man soll ihn jüngst erwischt haben, als er seine Landsleute mitten in der Nacht darüber aufzuklären versuchte, dass das Gesicht des Propheten einer Rundfunkmeldung entsprechend nicht im Mond zu sehen sei. Außer ein paar bizarren Kratern sehe man einfach gar nichts. Natürlich wäre er beinahe zu Tode geprügelt worden. Oder Ihren Freund Palle? Denn sinnlicher sind Menschen in dem Brand der Wüste. Wir werden schon ein Plätzchen für Sie auftreiben, Rohlfs! Was sollte uns davon abhalten Sie in die Wüste zu schicken? Was meinen Sie? Glauben Sie tatsächlich Sie könnten uns übertölpeln? Und Ihr vertrauter, vermeintlicher Komplize Palle, lieber Rohlfs, ist einer unserer am besten ausgebildeten Abhörspezialisten. Überrascht Sie das? Nun, ich glaube kaum, dass Sie das überrascht, Rohlfs. Allem Anschein nach sind Sie ja allwissend. Aw, fuckin' A!" Rohlfs merkte, dass Reich sich in Rage zu reden begann, zuckte mit den Schultern und vertiefte sich in seine Aufzeichnungen. Es gelang ihm einen Großteil von Reichs Tirade zu überhören, doch die plötzliche Gewissheit, dass Palle nicht nur dienstlich, sondern auch ihm und Saeed gegenüber ein Doppelspiel getrieben hatte, beeindruckte ihn nachhaltig. Ob es ihn überraschte? Allenfalls verursachte Reichs Bestätigung etwas wie ein Sodbrennen in seiner Brust. Rohlfs war jedoch nicht so leicht davon abzubringen, dass es auch verbindliche und aufrichtige Momente in ihrer gemeinsamen Zeit gegeben haben musste. Er wollte bei Gelegenheit eine Kerze für Palle anzünden, zumindest für das, was er als den guten Willen in ihm bezeichnete. Für fatal hielt Rohlfs allerdings die kollektive Verleumdung Saeeds. Trotz seiner Heimatlosigkeit wusste man über jeden seiner Schritte Bescheid. Entweder man überschätzte seine Beziehungen maßlos oder die Verantwortlichen begnügten sich in ihrem paranoiden Dünkel einfach mit einem Sündenbock. Andererseits hatte ihm Saeed anvertraut, dass sein Schwager von Anfang an ein abgekartetes Spiel mit ihm getrieben hatte. Weshalb hatte man Saeed und ihm nicht einfach gekündigt? Das Ganze war eine Falle, dachte Rohlfs. Versprach man sich etwa durch seine Verschleppung gewinnbringende Kontakte zu neuen und bestehenden Verbindungsleuten im Osten Europas herzustellen? Rohlfs begann eine gewisse Schadenfreude über den enormen Aufwand, den man mit ihm und Saeed betrieb, zu empfinden. Reichs Biss wirkte nicht mehr tödlich, denn Rohlfs' Vertragslaufzeit war, so dachte er geistesgegenwärtig, ohne Sachgrund befristet und er würde sich gewiss nicht absichtlich um eine Verlängerung seines Aufenthalts auf dem Heimatplaneten bemühen. Die befristete Zeit würde ihm den Raum lassen Möglichkeiten einer eigenen Gesetzlichkeit in Betracht zu ziehen, die die Gesetze der Macht, in welcher Hand sie sich auch befinden möge, außer Kraft setzte. "Shine on lousy leadership/Licensed to kill/Shine on dying soldiers/In patriotic pain/Shine on mass destruction/In some God's name..." Politiker hatten die Aufgabe die üblichen Gemeinheiten und Ressentiments in einer Sprache zu äußern, die ihrerseits an Gemeinheit und Widerlichkeit nichts zu wünschen übrig ließ, aber im Gewand auch der offiziellen Rechtmäßigkeit auftrat. Dass beispielsweise die Ausländer zu bleiben hätten, wo sie herkommen, bedurfte ja nicht etwa einer eigenen Begründung, so selbstverständlich war einem der Gedanke; da man selber für sich aber in Anspruch nahm hinzufahren, wo es einem beliebte, nahm man schon mit einer gewissen Erleichterung etwa die Formulierung des Innenministers auf, es sei hinsichtlich der Ausländer etwas im Gange, was nichts anderes als die Bezeichnung "Missbrauch der Freizügigkeit" verdiene, nämlich dass man ausschließlich nach Deutschland komme, um sich dort aus den Sozialkassen zu bedienen. Dieser Umstand war schließlich schlimm genug in Bezug auf das eigene Gesindel, das doch beispielsweise einmal nach Rumänien gehen solle um zu sehen, ob man da etwa Wohngeld, Kleidergeld und was es sonst noch für Segnungen des sogenannten Sozialstaates gebe, wohlgemerkt bei uns gebe, fürs Nichtstun bekommen würde.
Bis zu einem gewissen Grade steigerte sich auch der Minister in diese Auffassung hinein, da er aus Erfahrung wusste, dass man dem Volk seine Dummheiten nicht einfach nachäffen durfte. Hauchdünn war ja die Grenze zu einer anderen Volksmeinung, nämlich die Politiker bedienten sich - was dazu noch stimmte - aus den öffentlichen Kassen. Dabei an zehn-, zwölftausend Euro zu denken war entsprechend naiv, aber fürs gewöhnliche Volk bombastisch genug, man wollte besser nicht daran rühren. Jemand hatte vorgerechnet, was die öffentlichen Kassen der Steuerbetrug kostete, oder auch nur die Steuerflucht, und zwar im Vergleich zu den Ausgaben für Sozialhilfeempfänger, nicht auszudenken, es gäbe noch eine kritische Arbeiterschaft, vertreten durch kluge politische Vertreter, die in den armen Leuten aus anderen Ländern diejenigen bereit wären zu sehen, die dort entsprechend schlimmer der Selbstbedienung derer unterliegen, deren Geschäften Missbrauch der Freizügigkeit nicht gerade vorgeworfen wurde. Da aber seit längerem die Not der Niedertracht gewichen war, sah man zu denen, die einen übervorteilten, nicht etwa mit Zorn hin, sondern mit der scheinheiligen Einsicht, man wäre selber nicht besser, wenn man die Gelegenheit dazu hätte. Rohlfs wollte darüber verzweifeln, dass menschliche Gemeinschaft genannt wurde, worin er lebte.
Es stand Regen bevor, vielleicht auch ein Gewitter, denn die Luft war schwül und drückend wie Jonis Blues aus dem Radio.


["Blue", Michelle Schneider (2019)]

Aus der Erinnerung heraus notierte sich Rohlfs die letzten Verse des Gesangs in einer etwas größeren Lücke zwischen Fragmenten einiger früher, journalistischer Versuche von Alois, wie jener nicht ohne eine gewisse Selbstironie oft zum besten gab.
Während dieser Zeit nahm die Französin Florence André nachmittags Deutschunterricht bei Alois. Monsieur und Madame André wohnten nicht weit von dem Haus, in dem die Gewerkschaften ihre Büros hatten, in der Kaiser Friedrich-Straße, jede Woche zweimal sprach Alois dort vor. Einmal wartete er eine gute Viertelstunde, klingelte mehrmals, niemand öffnete. Als er, um sicher zu gehen, dass niemand zu Hause sei, auf die Türklinke drückte, gab sie nach, und er trat ein. Gleiches ereignete sich vor der Wohnzimmertür; er klopfte, niemand antwortete. Als er eintrat, sah er die Ehegatten schweigend, doch wie ihm schien, etwas verstört nebeneinander auf dem Sofa sitzen. Warum hatte keiner ein "Entrez" gerufen? Jetzt fragte ihn Monsieur André trocken und nahezu unwillig, was er wolle. Sie hatten wohl die Lektion, die immer zu dieser Zeit stattfand, vergessen. Alois kam das nicht sehr gelegen; er hatte ein wichtiges grammatisches Kapitel in Aussicht genommen und eine Menge von Beispielen zusammengestellt. Hatte er sich umsonst die Mühe gemacht? So war es; die beiden hörten nur halb hin, waren nicht bei der Sache und brachen die geplante Unterrichtsstunde vorzeitig ab.
Monsieur André las Romane von Paul Bourget, sprach mit Alois über sie und schenkte ihm den "Le Démon de Midi". Alois las ihn mit Begeisterung, sowohl des interessanten Inhalts als der feinen Form wegen. Monsieur André und seine Gattin waren übrigens der Meinung, das deutsche Volk sei schuld am Krieg gewesen, während Alois überzeugt war, dass der Kaiser – Wilhelm II. - die Deutschen in ihr Unglück gestürzt habe. Bei den Franzosen verneinten die beiden André die Schuldfrage energisch.
Anders ein Kunstmaler, der vorbeikam, als Alois eine Deutschstunde gab. Er war in Rom preisgekrönt worden, musste demnach etwas können; jetzt besorgte er im Mainzer Viehmarkt Fourage. Er stand auf der Seite von Henri Barbusse, dessen "Le Feu" Alois gelesen hatte, und nannte alle kriegführenden Nationen "complice".