Samstag, 20. November 2021

Z. Z. XXVI [»Unseglich VI (2071 – 2.2)«]

 


[»Hand Game I«, Lorena Kirk-Giannoulis (2021)]






Poetry is what gets lost in translation.

[Robert Frost]






[»Hand Game II«, Lorena Kirk-Giannoulis (2021)]







Forgive me my nonsense as I also forgive the nonsense of those who think they talk sense.

[Robert Frost]






[»Hand Game III«, Lorena Kirk-Giannoulis (2021)]




You've got to love what's lovable, and hate what's hateable. It takes brains to see the difference.

[Robert Frost]




2071 (#46 - 59)


#46 Rahsaan Roland Kirk „Something For Trane That Trane Could Have Said“

Der unermüdliche Versuch, lyrischer zu werden, lyrischer als der Niederschlag, das Tauwerk und der Kettenbruch, sei die einsamste und daher sanfteste Form des Aufbegehrens, sagte einer. Und doch bleibe jene Aufgeregtheit, von der man aber schließlich zu lassen lernen müsse, allenfalls eine Etappe auf dem Weg zum Gleichmut.


#47 Mungo Jerry „You Don't Have To Be In The Army To Fight In The War“

Das Idiotische ist, na klar, dieses Warten hier auf den Typen, der mich erschossen hat. Wahrscheinlich haben sie ihn, ich will mal sagen "unten" eingebuchtet, wenn es so gelaufen ist, wie ich es mir vorstelle. Ich weiß natürlich nichts. Nur das, woran ich mich erinnere, bis es krachte. Es ist alles so, wie man es sich immer vorstellt. Die siehst den Blitz des Mündungsfeuers der Waffe. Dann der unglaubliche Schlag, wenn die Kugel dich trifft. Also das war ungefähr hier. Wie es dann weitergeht, keine Ahnung. Ich meine das Körperliche, welche Organe verletzt werden, wo die Kugel wieder austritt, ob sie stecken bleibt und so weiter. Aber schlagartig das, was man ja unten (siehe oben) auch die Erlösung nennt. Nichts von dieser Panik, dass du jetzt stirbst, oder wie vorher, dass man überhaupt stirbt. Das Krampfhafte des Lebens irgendwo deshalb. Dabei ist der Tod tatsächlich, wie jedes Kind ihn sich unten (sic) vorstellt. Zum Beispiel friedlich. Ich kann wirklich sagen, dass sich sofort ein geradezu idiotischer Friede um mich herum eingestellt hat. Ich war noch eine Weile unter den Bäumen dort, wo der Typ mich abgeknallt hat, fühlte die Panik seiner Flucht, hörte das Stampfen seiner rasenden Schritte im Laub. Wie seltsam die Verwunderung darüber ist, dass es einen nun wirklich ereilt hat, das Schicksal, meine ich, und wie man ja auch immer gedacht hat. Dass es nämlich eines Tages kommen muss, natürlich nicht so, aber wie alle Dinge, so eben auch der Tod. An seinem Platz auch er, einmal geschehen, nicht mehr ungeschehen zu machen. Du kannst nicht versuchsweise sterben, einfach um mal zu sehen, wie es so ist. Bist eines Tages tot, t o t eben, OK, du kannst nicht wieder sterben, so wie du eine Reise wiederholen kannst. Aber genaugenommen wiederholst du ja auch keine Reise, machst sie nicht zweimal, kein einziges Ereignis tut das. Darum ist der Tod ja auch nicht so anders, wie man immer denkt, und es stimmt, dass wir jeden Tag etwas sterben, weil der Fluss dessen, was sich für uns ereignet, sich nicht umkehren lässt. Genau genommen bin ich nicht ermordet worden, sondern es war, vielleicht musste das bei mir so sein, ein Missverständnis.


#48 The Oscar Peterson Trio & The Singers Unlimited „Sesame Street“

Der Holzfäller liebäugelte mit der falschen Annahme, er könne die Horde von Schurken dadurch überlisten, dass er sich mit deren Zauberspruch, einem alten Machtwort über das Innere jener Ölpflanze, Zutritt zu den verborgensten Träumen seiner sieben Töchter verschaffen würde. Das Wort aber verhöhnte schließlich nicht nur ihn selbst, sondern überdies das Geschick seiner Nachfahren bis zum heutigen Tag.


#49 Kimiko Kasai With Kosuke Mine Quartet „Alone Together“

Herr Kafka, sind Sie so einsam wie Kaspar Hauser? - Ich bin viel einsamer. Ich bin so einsam wie Franz Kafka. - - - Mr. Coltrane, are you as lonesome as Franz Kafka? - I'm much more lonesome. I'm as lonesome as John Coltrane. - - - And you, how lonesome are you?


#50 Astrud Gilberto & Stanley Turrentine „Ponteio“

Er übertrage von nun an – und das bringe es auf den Punkt – die Summe aller ihm bekannter Handgreiflichkeiten auf seine Saiten, verkündete einer der drei übriggebliebenen Gitarristen der berüchtigten Stadtmusikanten. Der Waldhornist sei erst kürzlich auf der Pirsch hinterrücks erschossen worden, man stelle sich so etwas nur einmal vor, und dies nachdem im vergangenen Jahr der Kontrabassist spurlos verschwunden sei, ganz zu schweigen von dem angeblichen Suizid der beiden Violinistinnen, Zwillinge übrigens, die nichts als pure Lebensfreude ausgestrahlt hätten. Auch wisse man bisher noch nichts Genaues über die Stichverletzungen an Hals und Brust des inzwischen verstorbenen Trommlers; es deute jedoch alles darauf hin, dass der Musikant weder durch Fremdverschulden noch durch einen Unfall umgekommen sei. Der Gitarrist, man nehme sich in Acht, werde der wachsenden Tücke jener verschlagenen Horde mit einer solchen Fülle vertikaler Klänge begegnen, dass ihr dadurch schon sehr bald der Garaus gemacht werden würde.


#51 George Benson „Somewhere In The East“

Als der Botschafter den Scheich fragte, was er von der Gleichberechtigung der Geschlechter halte, erwiderte dieser, dass es letztlich bloß auf den richtigen Zeitpunkt ankomme, zu dem man die Lehren der westlichen Welt in die Tat umsetzen werde. Der Westen, so der Scheich, habe sich durch die Vielzahl seiner teils einander widersprechenden Theorien, seiner Symbole und Lippenbekenntnisse derart diskreditiert, dass es nunmehr an der Zeit sei, die richtigen Dinge schlicht einzurichten.


#52 Billy Joel „Everybody Loves You Now“

Und wenn jedes einzelne Wort zumindest doppeldeutig wäre? - Achtung: Kaum könnte man sich etwas vorstellen, versuchen Sie es ein einziges Mal bloß, das, vielleicht gelingt es Ihnen ja, nicht auf Gegenseitigkeit beruhen würde; freilich ist es mit der Würde, um eine weitere Redensart zu bemühen, eben so eine Sache, ach, wie erfreulich, dass das Englische uns so nahesteht, ohne irgendjemanden in die Enge treiben zu wollen, denn schließlich achten wenige nur die verspielten Zahlen, wenn wir einmal die Acht in Betracht ziehen, die rasch der Vorstellung von Unendlichkeit auf die Pelle rückt, sofern wir hier tatsächlich von jedem Körper reden, dem Jetzt und dem Du.


#53 Nina Simone „Here Comes The Sun“

Du irrst dich, ich war nicht komisch. Das bildest du dir ein. Du hast deine Touren, dann erscheint dir alles fad und grau. Ja, der Winter ist kalt, besonders dieser. Das kommt hin und wieder vor. Die Leute sind mies drauf. Die Leute halt, na wenn schon! Die Leute, sowieso egal, oder? Ich, ich bin dir nicht egal. Das wäre auch noch schöner! Und ich war nicht mies drauf, aber du. Es hilft nichts, wenn mir das leid tut. Im Gegenteil, es frisst dich an. Das seh' ich ja. Stimmt, wir sind nicht getuned, wenn es so zwischen uns läuft, und das ist schade, geht aber vorbei. Jetzt geht wieder die Sonne auf, na prima! Und die Leute haben ein Lächeln im Gesicht. Es wäre taktlos zu sagen, die Leute seien einem doch egal. Aber jedenfalls bin ich nicht komisch gewesen und jetzt auch nicht überheblich. Ich will bloß kein Drama daraus machen.


#54 Tim Hardin „Georgia On My Mind“

O Sehnsuchtsort, dessen man mit Wehmut gedenken kann, und gar erst mit Reue! (Scheiße aber auch), warum ist man je dort weggegangen? Was, ein Statement des eigenen ewigen Misserfolgs sei das, oder wenigstens des augenblicklichen? Oder sagen wir nicht Misserfolg, sondern einfach des Realitätssinns. Insofern jede Garantie, ein beliebiger Ort hat das Zeug dazu, ein Sehnsuchtsort zu werden. Man braucht ihn nur aus Frust zu verlassen, um allerdings woanders genauso auf die Schnauze zu fallen, versteht sich. Die Einsicht, wo man herkam, sei es aber auch nicht besser gewesen, rührt bedauerlicherweise nicht an den wohligen Schauer ein heiliges Gut fallen gelassen zu haben, hätte man bloß besser darauf geachtet! Und da haben wir sie, die Essenz aller Rührstücke à la Sehnsucht: ein seliges Gestern, ein verheißungsvolles Morgen. Bloß heute, da können wir nicht glücklich sein (aus begreiflichen Gründen). Aber morgen, morgen ist heute ja gestern! Sehne dich nach morgen, dann kannst du dich nach gestern sehnen (also heute).


#55 Jack Bruce „The Consul At Sunset“

Dem Beamten wurde vom Entsendestaat ohne Angabe näherer Gründe mitgeteilt, er habe jegliche Aktivitäten im Rahmen seiner Mission unverzüglich einzustellen. Ohnehin, so der Beamte noch am Abend vor seiner Abreise, brauche man weitaus dringlicher Vulkanologen vor Ort, um die Interessen der Landsleute im Empfangsstaat zu vertreten. In jüngerer Vergangenheit sei es beim Abgang pyroklastischer Ströme immer wieder zu tödlichen Unfällen gekommen, die man ohne weiteres hätte vermeiden können.


#56 Idris Muhammad „I'm A Believer“

An etwas zu glauben, etwa an die Ewigkeit eines Windhauchs oder daran, eine einzelne Biene sei in unteilbarer Weise zu Höherem bestimmt, als handle sie nicht allein im Interesse ihrer Königin, ist süßer denn Honig und Honigseim.


#57 Santana „No One To Depend On“

Diese wunderbare Illusion vollkommener Unabhängigkeit: Kaum jemand wusste seine Umgebung mehr mit seiner Überzeugung zu verblüffen, er sei sein eigener Herr und Erlöser, als der ewige Junggeselle. Sich in keiner Lebenslage in die Enge treiben zu lassen, ja selbst dem Tod mit Gelassenheit zu begegnen, sei die höchste Form der Gegenwärtigkeit, zu der man sich erheben könne.


#58 Lou Donaldson „The Caterpillar“

Ebenso wie die Raupe lehrte die Evolution den Satz sich gegen zerstörerische Angriffe abzuschotten, ist er doch die Larve der Entfaltung.


#59 The Dave Pike Set „Big Schlepp“

Mit nahezu mathematischer Gewissheit schleuste Pietkowski pixelierte Versionen seiner Arrangements, von denen er annahm, sie täten not, keineswegs von A nach B durch den Raum, da die Dinge nach seiner Auffassung eben weder einzeln noch linear erfahrbar seien. In der Eigenartigkeit des Raums manövrierte er das soeben Aufgerichtete und Vorgestellte in konsonanten und dissonanten Intervallen ins Ungewisse. Ob er wirklich gegen die Zeit, also zugunsten einer kommenden Gegenwart, zu wirken vermöge, treibe vorerst im Schlepptau seines unmöglichen Vorhabens, das nur in fortwährender Verneinung durchgeführt werden könne.



Dienstag, 9. November 2021

Z. Z. XXV [»Hängepartie« aus Val Sidals »Zeit. E - Voicings« (2013)]

 


[»Adjourned I«, Lorena Kirk-Giannoulis (2020)]



Der Künstler ist zwar der Sohn seiner Zeit, aber schlimm für ihn, wenn er zugleich ihr Zögling oder gar noch ihr Günstling ist. Eine wohlthätige Gottheit reiße den Säugling bei Zeiten von seiner Mutter Brust, nähre ihn mit der Milch eines bessern Alters und lasse ihn unter fernem griechischen Himmel zur Mündigkeit reifen. [Friedrich Schiller »Über die ästhetische Erziehung des Menschen, in einer Reihe von Briefen; Neunter Brief« (1795)]




[»Adjourned II«, Lorena Kirk-Giannoulis (2020)]


Lebe mit deinem Jahrhundert, aber sei nicht sein Geschöpf; leiste deinen Zeitgenossen, aber was sie bedürfen, nicht was sie loben. [Friedrich Schiller »Über die ästhetische Erziehung des Menschen, in einer Reihe von Briefen; Neunter Brief« (1795)]




Hängepartie



 

Unerwarteter Nahschuss, so nannten die das in der Zentralen Hinrichtungsstätte …“, sagt mein Gegenüber. 

 

Ich hasse Konversation. Lese gerade Luhmanns Das Recht der Gesellschaft. Das Deckblatt des Buches scheint ihn angesprochen zu haben. Suhrkamp, Ferrari-Rot. ... eine Norm schreibt vor, was gesollt ist

 

Im Erdgeschoss der Leipziger Arndtstraße 48 wurde eine Hausmeisterwohnung umgebaut.“

 

Ich reagiere nicht. Will keine Konversation. ... in interdisziplinäre Kontaktsuche getriebene Reflexionstheorie des Rechtssystems mit

 

Der Staatsanwalt hat lediglich mitgeteilt, dass das Gnadengesuch abgelehnt wurde und die Hinrichtung unmittelbar bevorstand.“

 

Die Ansichten der Leute interessieren mich nicht. Habe genug mit meinen Gedanken zu schaffen. Und den Meinungen meiner Studenten, meiner Frau. Ich möchte nur in Ruhe lesen.

 

So war das damals in der DDR.“

Normalerweise würde ich jetzt meine Sachen packen und den Platz wechseln. Oder in den Speisewagen gehen – der Kaffee ist zwar ungenießbar, aber fünf Euro soll mir meine Ruhe wert sein. Stattdessen blicke ich in sein Gesicht und sage: „Sie kennen sich mit der Materie gut aus …“, vielleicht war er mal ein DDR-Henker – vom Alter her könnte es passen.

 

Ach wo! Das kann man im Internet nachlesen.“

 

Auf Familienfesten entkomme ich dem Smalltalk, indem ich den Kindern Geschichten erzähle. Ihre Gesellschaft ist mir auch sonst lieber.

 

72 wurde der Kindermörder Erwin Hagedorn hingerichtet …“

 

Der Schaffner schiebt den schwer beladenen Servierwagen, eckt an Hindernissen an.

Wenn der Zug im letzten Bahnhof vor der Endstation hält, wird mein Gegenüber von einem Jungen erzählt haben, den er mal kannte.

 

Er war immer schon ein Außenstehender. Die anderen Jungs in der Vorstadt waren Fußballbegeisterte ...“; er sagt es, als müsste der Junge verteidigt werden, „er musste für eine große Zukunft üben ...“

 Er blickt durch das Fenster und schweigt. Als suchte er jene große Zukunft, da draußen.

 

Die Züge nach Berlin sind immer überfüllt. Die Klimaanlage ist wohl auch ausgefallen ... Die Bahn könnte da mal was tun", sage ich.

 

... Schach spielen. Mit seinem Schachlehrer. Privat. Während Mutter …“

 

Der Schaffner hält an unserem Tisch den Servierwagen an. Das Fenster spiegelt das Getränkesortiment.

 

Mein Gegenüber blickt auf. Beunruhigend, der Glanz in seinen Augen.



Sie wünschen …?“, fragt der Schaffner.

 

Er nimmt Kaffee im Pappbecher – ohne Milch, mit viel Zucker. Seine Stimme kratzt wie Sandpapier. Klingt gehaucht, wie seine Brust die Luft – fast alles – zurückhält, was drängt und droht zu entweichen.

 Während er lächelnd bezahlt, sagt er: „Es war nicht alles schlecht in der DDR.“