Montag, 20. März 2023

Z. Z. XL [Zwei Texte aus Val Sidals »Zeit. E - Voicings« (2013)]

 


[»Die Batterie der Toten«, Václav Sochor (1866)]





re: qui em auf den Krieg

 

(Weinerlich, langsam, getragen, lautmalerisch)

 

ss-ch-w---

ei-ge-n pe-in-l-ich krieg-e k-ei-ne-n mehr hoch

 

Ref Rain:

Be-sie-gt  ver-l-ætzt  in-ten-siv sta-tion-irrt

se-di-er-t mit lie-be :

 

ss-ch-w---

ei-ne-prie-st-er ich krieg-e k-ei-ne-n hö-he-punkt

 

Ref Rain:

Be-sie-gt  ver-l-ætzt  in-ten-siv sta-tion-irrt

se-di-er-t mit lie-be :

 

ss-ch-w---

ei-ne schw-es-ter be-so-rg-t es mir mit dr-oh-ne

 

Ref Rain:

Be-sie-gt  ver-l-ætzt  in-ten-siv sta-tion-irrt

se-di-er-t mit lie-be :

 

ss-ch-m---

au-s-ge-h-au-ch-t nul-li-ni-e aus die m-aus

 

Ref Rain:

Be-sie-gt  ver-l-ætzt  in-ten-siv sta-tion-irrt

se-di-er-t mit lie-be :

 

 

 

Da segno poi coda

 

 

Co da

tränen gab es

im sonderangebot –

lach

kind!





Эшафот«, Alexander Golovin (1900)]





Schafott



Seit dem 18. Jahrhundert als Hundsklipp oder Gesteins bekannt, war die enge Düsselklamm mit neun Höhlen und zwei Wasserfällen ein landschaftliches Kleinod, das in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts von Künstlern der Malerschule besucht und in zahlreichen Gemälden festgehalten wurde. Einer von ihnen, Der Gänselins, verbrachte viel Zeit malend am Bach.

Beseelt vom Anblick der unschuldigen Enten und Gänse und von der heilen Welt des Tals ergriffen, reinigte Der Gänselins gerade die Farbpalette, als ein Wanderer an ihn herantrat.

Der Unbekannte schaute Dem Gänselins eine Weile zu und bat ihn plötzlich, ihm zu erlauben, sich im Malen zu versuchen.

Nach einigem Zögern stimmte Der Gänselins zu und ermunterte den sonderbaren Fremden, der sich als Perückenmacher aus Leipzig ausgab, die Enten im Bach zu malen.

Der Herr Kunstmaler möge mir nicht zuschauen. Sein Schatten würde meine Augen trüben, sein Atem meine Seele betören. Auch ich zeige mein Werk, die Perücke, erst nachdem der letzte Griff getan.“

Der Gänselins entfernte sich und unternahm im kühlen Schatten der Buchen und Erlen des Tals einen ausgedehnten Spaziergang.

Inbrünstig begann der Unbekannte sein Werk.

Der Perückenmacher zog seine Schuhe aus und watete barfuß im Bach, fast so, als nehme er auf etwas im Wasser Rücksicht. Dann malte er weiter.

Als Der Gänselins zurückkam, eilte ihm der Perückenmacher sichtlich erregt entgegen, packte seinen Arm und zog und zerrte ihn zur Leinwand.

Wie findet der Herr Maler mein Werk?“ Er schaute mit glänzenden Augen den bedrängten Künstler bohrend an.

Der Gänselins hatte sich vorgenommen, das Tun des Fremden nicht allzu hart zu bewerten. Es war löblich, wenn jemand, mit den unzulänglichen Werkzeugen der menschlichen Gestaltung in der Hand, die göttliche Perfektion, die beängstigende Leichtigkeit und Flüchtigkeit der vollendeten Form einzufangen wagte, die in ewiger Harmonie, mit dem Hoffnung und Sinn spendenden, immerwährenden Werden verflochten, in der Gestalt einer Gans erstrahlte.

Beim Anblick des Werkes erschauderte er.

Das Leinentuch war durch einen dicken, dunklen Strich in ein oberes Drittel und den unteren Teil getrennt.

Oben schimmerte der Himmel in einem noch nie da gewesenen Blau. Mal sog und zog es den Betrachter in unendliche Fernen, mal strömte es ihm wärmstes Licht strahlend entgegen.

Die unteren zwei Drittel ruhten sauerstoffarm und fäulnisgrün. Der Gänselins wusste, niemand könnte totes Wasser besser malen. In der Tiefe des verdorbenen Baches, wie an unsichtbaren Fäden suspendiert, trieben tote Enten und Gänse, verschränkt und teilweise verstümmelt.

Der Perückenmacher redete nun unentwegt.

Sie haben sehr gelitten, glauben Sie es mir! Die Flut kam völlig unerwartet. Sozusagen aus heiterem Himmel.“ Er zeigte aufgeregt auf den blauen Streifen auf der Leinwand. „Die armen Tiere hatten keine Zeit sich zu retten. Riesengeschrei und Flügelflattern! Zwecklos! Dem Hunger des Wassergeistes entkommt niemand!“ Dabei zeichnete er mit dem Zeigefinger auf der grünen Fläche einen unsichtbaren Strudel und beobachtete schräg die Reaktion des Künstlers.

Der Gänselins war sprachlos.

Was soll man sagen, dachte er, wenn das, was man sein Leben lang sucht, und ahnt, wahrscheinlich nie zu finden, einem unvermittelt und in voller Größe und Kraft entgegentritt.

Alle Irrtümer und Vorurteile werden auf einen Schlag entlarvt und vernichtet. Mühelos und zweifelsfrei wird die grausame Wahrheit offenbar: „Es ist ein Meisterwerk!“

Als die erste Verblüffung durch die Gewissheit zersetzt wurde, es nie greifen, nie erreichen zu können, spürte er das erhebende Gefühl: Als blickte er auf ein fernes, von Raum und Zeit losgelöstes, jenseitiges Ufer, getrennt von dem, was ihm, Dem Gänselins, anstrebbar und zugänglich war.

Er würde sich nie wieder mit den gleichen Sinnen und Ansinnen einem Bach, einer Gans zuwenden können: Ich gehöre nun zu den Auserwählten und zugleich Verdammten, die der wahren Kunst begegnet sind – dem Genius!

Wie haben Sie das gesehen?“

Der Fremde starrte ihn an.

Sehen sie es nicht?“, staunte er.

Nein“, bekannte Der Gänselins, „ich sehe ein friedlich tänzelndes Bächlein und niedlich schwimmende Entlein.“

Das ist richtig“, nickte der Fremde, „das sieht jeder! Das ist jetzt. Ich dachte, der Künstler malt, was nur er sehen kann – das, was war, oder das, was hinter oder in dem ist, was jeder sehen kann. Und ich habe das gemalt, was kommen wird!“, protzte er mit breiter Brust.



Der Fremde zog dann weiter und hinterließ ein Vakuum, das, um Den Gänselins nicht zu vernichten, irgendwie gefüllt werden musste.

Was für ein göttlicher Irrtum, dachte er. Gott ist ein Narr, wenn er die kostbarste Gabe, die einem Menschen ermöglicht, einen Blick in die Magie der Schöpfung zu werfen, und, gewissermaßen als Beleg dafür, ihm erlaubt, unvergängliche Kunstwerke hervor zu bringen, an einen Perückenmacher verschwendet.

Die ersehnte Erleichterung des Gemüts konnte er aber mit dem Lamento nicht erfahren. Doch die quälende Leere füllte sich allmählich mit den gewöhnlichen Partikeln einer Seele in Not. Er warf einen letzten Blick auf das Bild des Fremden. Er konnte es niemandem zeigen: Keine Galerie der Welt würde es ausstellen.

Dann zerschnitt er es behutsam, als wäre er bemüht, bei der heiklen Operation so wenig Schmerzen wie möglich zu verursachen. Doch, obwohl in kleinste Schnipsel zerlegt, blieb die diabolische Kraft und finstere Magie des Tuches unversehrt. Er beschloss, alles zu verbrennen. Es für sich zu behalten, hätte bedeutet, nie wieder einen Pinsel in die Hand nehmen zu können.

Viele Jahre nach der Begegnung erfuhr Der Gänselins aus einem Brief eines Freundes vom späteren Schicksal des Perückenmachers:



Das Schaffot war mitten auf dem Markt gebaut. 54 Cürassiere von Borna hielten Ordnung um das Schaffot; das Halsgericht wurde auf dem Rathause gehalten.

Kurz vor halb 11 Uhr war der Stab gebrochen, dann kam gleich der Delinquent aus dem Rathause, Goldhorn und Hänsel gingen zur Seite und die Rathsdiener in Harnisch, Sturmhaube und Piken voran, rechts und links; die Geistlichen blieben unten am Schaffot; der Delinquent ging mit viel Ruhe allein auf das Schaffot, kniete nieder und betete laut mit viel Umstand, band sich das Halstuch selbst ab, setzte sich auf den Stuhl und rückte ihn zurecht, und schnell mit großer Geschicklichkeit hieb ihm der Scharfrichter den Kopf ab, so dass er noch auf dem breiten Schwerdte saß, bis der Scharfrichter das Schwerdt wendete und er herabfiel.

Das Blut strömte nicht hoch empor; sogleich öffnete sich eine Fallthür, wo der Körper, der noch ohne eine Bewegung gemacht zu haben auf dem Stuhl saß, hinabgestürzt wurde; sogleich war er unten in einen Sarg gelegt und mit Wache auf die Anatomie getragen.

Alsbald wurde auch schnell das Schaffot abgebrochen, und als dies geschehen war, ritten die Cürassiere fort. Die Gewölbe, die vorher alle geschlossen waren, wurden geöffnet und alles ging an seine Arbeit.

Dass vormittags keine Schule war, versteht sich.“



Es war eine gerechte Strafe, dachte Der Gänselins, denn der Perückenmacher hatte seine Geliebte getötet. Er wollte sich für geisteskrank erklären, aber in zwei Gutachten, erstellt von einem verdienstvollen Hofrat und Professor der Anatomie und Chirurgie, der ihn in je fünf Gesprächen untersucht hatte, wurde ihm Zurechnungsfähigkeit attestiert: Er sei zwar „tiefsinnig“, Stimmen hätten ihm zugerufen „spring ins Wasser“, was zu einem Suizidversuch führte. Es konnte auch festgestellt werden, dass er unter Herzjagen litt und von dem Gefühl gequält und geängstigt wurde, sein Herz würde „mit einer Nadel berührt“. Seinen Behauptungen, er würde „gezupft“ und „es“ gehe „neben ihm“, oder er habe streitende Stimmen gehört und leide unter dem Zwang, laut redend allerhand bei sich auszufechten, oder dass er unterirdisches Glockenläuten und Stimmen höre, die ihm zurufen „o, komm doch!“, und eine „Stimme“, die ihn auffordere, „stich die Frau tot!“ –, diesen Behauptungen kann kein Glauben geschenkt werden. Im Gutachten hieß es weiter: Die „drei feurigen Gesichter“ am Himmel, „Geister“ und „die Freimaurer“, die ihn verfolgten, seien zweifellos frei erfunden.

Der Gänselins wandte sich endgültig vom Bach ab und malte fortan romantische Szenen für den guten Geschmack.