Mittwoch, 27. Februar 2019

The Gas Station (Variationen) [= S / W 5.5] with illustrations by Michelle Schneider



["Handgreiflichkeit", Michelle Schneider]


Mancher findet sein Herz nicht eher,

als bis er seinen Kopf verliert.

 [Friedrich Nietzsche]




["Handreichung", Michelle Schneider]





5. 5 Avanti




Was nun aber aus Alois werden sollte? Man zerbrach sich darüber den Kopf, denn es war eine Frage, die dringend nach einer Lösung verlangte. Zum Journalisten, meinte Iben vom Südkurier, sei er jedenfalls nicht geeignet. Zu zaghaft, er brauche zu lange um einen Satz in die richtige Form zu bringen. Bei der Zeitung musste man jedenfalls in kürzester Zeit vieles und viel in treffender, scharf pointierter Form zu Papier bringen. Und dann die Weltgewandtheit, also den Eindruck mache der Alois nun gerade nicht, dass er sich in der Welt gut bewegen konnte! Dann etwas Technisches? Nein, das hieße aber den Bock zum Gärtner zu machen. Oder Kaufmann? Das hatten schon die Franzosen gemerkt, dass mit Rechengenie keine Bücher zu führen waren. In der Zeitung hatte ja gestanden, es würden dringend Lehrer gebraucht. Ein Schullehrer würde doch aus dem Alois zu machen sein, wenn er schon zu nichts anderem taugte! Am besten würde der Vater selber die Eingabe an das Landesamt für das Bildungswesen machen, da Alois ja eine Saupfote hatte und imstande war auch bei so etwas noch poetisch zu werden. Das Amt wurde also in der gehörigen Form gebeten Alois in das Pädagogische Institut aufzunehmen, was auch geschah. Auf dem Weg in die Anstalt traf er seinen Schulkameraden Fritz, der ihn mit den Worten begrüßte: "No, wo machst du denn hie? Willst du aach en Schullehrer wern?" Alois und der lebenskräftige, ess- und trinkfeste Fritz hatten wenig miteinander gemein, dennoch blieben sie gute Freunde. Fritz wohnte bei seiner Mutter, der Vater, ein Flaschenbierhändler, war tot. Er besaß ein gutes Maß an Weltkenntnis, wusste mit Leuten umzugehen und verfügte über ein schlagfertiges und treffsicheres Mundwerk, das auch frech und ungewaschen genug war und vor dem Obszönen nicht Halt machte. Herzensbildung, die sich dazwischen verbarg, entging Alois nicht und machte ihm den Fritz teuer, dessen schlüpfrige und oft offen unanständige Worte er darum spaßig finden konnte.

Kräfte habe man sowieso zu viele. "Der Geist ist willig", zitierte Fritz, "aber das Fleisch ist staaark!" Alois dagegen zerquälte sich in Gedanken über die Sündhaftigkeit der Selbstbefriedigung, der er verfallen gewesen sei, vom Alter von elf, zwölf Jahren an bis ins Mannesalter hinein. "Was, wichsen tun alle." Das konnte Alois auf sich beziehen, tat es aber nicht, so als sei klar, dass er in dieser Hinsicht eine Ausnahme machte, was Fritz auch nicht extra in Frage stellte, denn das war abgemacht zwischen ihnen, bei allen Kapriolen und bissigen Bemerkungen, trat er Alois nie zu nahe und respektierte ihn in seiner Zugeknöpftheit, für die er ihn zwar teils bedauerte, worin er aber auch etwas sah, das er selber allzu sehr entbehrte. Trotz tapferen Kämpfens und monatelangen Obsiegens erlag Alois immer wieder einem Rückfall, was ihn in schwere Depressionen trieb. Mangel an Umgang, schon gar mit Frauen, die darüber lachten, wie linkisch er war, dabei humorlos, sogar schwermütig, führten ihn hinein in eine zunehmend vollständiger werdende Abschließung von der Welt, womit er sich die Autoerotik, den Ausdruck hatte er einmal heimlich gelesen, zu erklären versuchte. Späteres herabgesetztes Vermögen in der Ehe  nebst allgemeiner Nervosität damit schrieb er der Tatsache zu, jener verhängnisvollen frühen geschlechtlichen Betätigung oblegen zu haben. Das, was an Naturkräften fehlte, durch solche Liebeskünste zu ersetzen, wie es orientalische Anweisungen oder der Schriftsteller Max Hodann in seinem Werk Geschlecht und Liebe lehrten, schlug gehörig fehl.

Ein Körper- und Nervenschwächling sei er von Kind auf gewesen, ein Außenseiter, der die Beziehung zu Welt und Menschen aus Mangel an Mut und Selbstvertrauen nur schwer finden konnte. Vom Großvater konnte das geerbt sein, noch dazu einziges Kind, das er war.

Rohlfs gehörte zu den Menschen, die Talent dazu besaßen geliebt zu werden. Wie eigenartig, immer sprach man davon, wie erfolgreich jemand darin war, eine neue Partnerin oder einen neuen Partner zu finden. Den liebte man dann eine Weile bis zum Wahnsinn, bis man nach und nach den anderen ein wenig mehr so sah, wie er wirklich war. In das Gefühl der Ernüchterung mischte sich Scham, nämlich zu bemerken, dass man eigentlich in das eigene Bild vom anderen verliebt gewesen war, es noch war. Aber in die Scham mischte sich schon Zorn, Zorn darüber, entdeckt worden zu sein, noch dazu von sich selber. Es würde nicht mehr viel fehlen, bis die Partnerin auch dahinter kam, in welche Richtung einige Vorwürfe bereits wiesen. Und dann war es bei ihr ja nicht so anders. Es mochte die Paare geben, die Stillschweigen über das Fiasko bewahrten. Das waren die, die schon oft genug gegen diese unsichtbare Wand gestoßen waren. Einmal hatte Rohlfs sich die schwarze Silhouette eines Herzens vorgestellt, so wie man Vogelschattenrisse auf Glasscheiben klebte. Da lag nun die Liebe mit gebrochenem Genick am Fuß des Fensters, an dem die schwarzen Aufkleber fehlten. Flieg, Vogel flieg!

Der geborstene Leib einer anderen Liebe versammelte die Trauergemeinde der Kinder und anderer Verwandter am Ort des Absturzes. Es war eine seltsame Melancholie, die darüber schweben sollte. Aber nur wenige waren für das Melancholische geschaffen. Sie mussten Realisten sein. Also aßen sie und tranken, kauften und verbrauchten, erklärten Tabus für gebrochen ein für alle Mal. Rohlfs fragte sich, was der Verbrauch eines anderen Menschen kostete. "Einen selbst", war eine der typischen Antworten Cos. Eine seltsame Paradoxie, in der wirklichen Liebe gab doch einer sich dem anderen. Rohlfs wollte den Gedanken nicht weiter verfolgen, und Constance hätte ihm auch gar nicht zugehört. Sie wusste, dass er so nicht dachte, es mochte wohl logisch sein, was es aber darüber hinaus auch nicht war. "Du und ich, Rohlfs, wir lieben einander, weil wir nie verliebt waren", hatte sie einmal gesagt. Sie wusste, dass sie ihn damit nicht verletzte, denn es lag nicht der leiseste Sarkasmus in ihrer Bemerkung. Sie waren ja ineinander verliebt, seit etlichen Jahren, und man würde das eben nicht Verliebtheit nennen. Beide hatten sie ziemlich gleichgültige Beziehungen hinter sich gelassen, ohne Streit, aber endgültig. Die Kinder meldeten sich kaum, wie bei richtig älteren Leuten. Man musste also nicht bis siebzig warten um zu erfahren, dass man im Alter im Stich gelassen wird. Die Jungen waren zu sehr damit beschäftigt, ihre alten Beziehungen langweilig und ganz andere Leute faszinierend zu finden. "Bist du eigentlich Großvater, Rohlfs?" - "Ja, aber ich soll nicht drüber reden. Es würde mich alt machen, hat meine jüngere Tochter Tine gesagt." - "Aber du bist alt." - "Du nicht." - "Ich liebe dich", sagte Constance.

"Rohlfs, du bildest dir das ein", sagte Constance gewohnheitsmäßig und in durchaus feststellendem Ton. Das Telefon hatte mehrfach geläutet, und Rohlfs hatte erst nicht abgehoben, was er oft tat. Lieber wollte er bei einem zweiten oder dritten Versuch des Anrufers dann sicherer sein, ob dem das Telefongespräch wirklich wichtig sei, wie er immer wieder erklärte. Was Conny nicht glaubte, wie er denn so fest davon überzeugt sein konnte, dass es auch wirklich derselbe sei, dessen wiederholten Anruf er dann entgegennahm. Zu fragen, ob jemand es vorher schon einmal versucht hätte, verbot sich für Rohlfs von selbst. Nur manchmal hörte Co, wie die Sprache darauf kam. Irgendwie wusste Rohlfs sich aber immer herauszuwinden. Hob sie das Telefon ab, was mit der Zeit immer seltener geschah, tat sie es nie, ohne sich durch Blicke zu vergewissern, ob er "anwesend" sei. Eigene Anrufe nahm sie auf dem gemeinsamen Telefon mit der Zeit immer weniger entgegen. Diesmal war es also wieder einmal Reich gewesen, was Co aus der Einsilbigkeit schloss, mit der Rohlfs in die Muschel brummte und atmete, jedenfalls kaum sprach. "Du gehst weg?", war ihre Frage wie sonst auch, wenn Reich Rohlfs in den üblichen Aufruhr versetzt hatte. Natürlich wusste sie, dass die Verabredung so gelautet hatte, dass Dr. Reich zur Wohnung kommen würde, was aber erst ein einziges Mal geschehen war. Reichs Anrufe bedeuteten für Rohlfs nur eines, Flucht, was Reich wusste.

Rohlfs floh also, er küsste Co in Eile auf den Mund und war schon auf der Treppe. Man musste ihn rennen lassen. Reich würde ihn dann ein paar Häuser weiter auf einer Haustür wartend ansprechen, und Rohlfs würde sich erst einmal geschlagen geben. Co schloss sanft die Tür. Die Schritte auf der Straße, das mussten schon seine sein.

Jetzt da er weg war, legte sich ein großer Frieden auf die Wohnung, die nach und nach ihre gemeinsame geworden war. Manchmal hatte Co daran gedacht, ihre eigene Wohnung ein paar Straßen weiter aufzugeben. Sie war dort nur noch um hin und wieder zu lüften und nach dem Rechten zu sehen. Selbst ihre Post ließ sie sich inzwischen zu Rohlfs schicken. Sie hatte das Gefühl, er brauche das, dass sie in seiner Wohnung sei, wo sie liebevoll und bewundernd die Welt in Schwung zu halten hatte, in die er sich flüchtete und wo er sie fand.

Den Wagen hatte Rohlfs selber seither nicht mehr aus der Garage geholt, und er sah es auch nicht gerne, wenn Constance ihn benutzte. Wenn er auch immer gerne neben ihr saß, wenn sie am Steuer war. Dass sie gewissermaßen über eine Macht gebot, die eigentlich ihm gebührte, hatte ihn von Anfang an auf dunkle Weise erregt. Ermöglichte doch der verborgene Rollentausch auch eine Art Rückkehr zum Sein als Mann und Frau, einer Konstellation, die politically nicht mehr korrekt war, wie unabänderlich fest zu stehen schien. Ob es Constance bewusst war? Darüber reden wollte Rohlfs lieber nicht.

Seine Vorliebe für schwere Wagen teilte sie eigentlich nicht und hatte bis vor einigen Jahren einen jener frauentypischen Kleinwagen gefahren, den allerdings auch sehr männlich. Rohlfs war dabei, als ihn ihr ein Falschabbieger zu Schrott fuhr. Von dessen Aufregung und Lamentieren ihrerseits keine Spur. Dabei verlor sie ihr Auto, schließlich konnte man sich von der Erstattung des Totalschadens keinen anderen Wagen kaufen! Und weiteres Geld hatte sie jeweils nur, wenn sie gerade einen Auftrag erledigte, was aber gerade einmal so häufig der Fall war, dass sie so eben über die Runden kam.

Es war ausgemacht, dass sie also Rohlfs Wagen gemeinsam benutzen würden, den sie einen Panzer nannte, "ton char", wie sie manchmal sagte. Tatsächlich fühlte sie sich aber wohl darin, und Rohlfs fand, dass der Wagen gut zu ihr passte, ohne Erklärung vorsichtshalber, er fürchtete, in dieser Hinsicht sei sie wohl auch eher politically correct. Nicht dass sie je auf männliche Auto-Fachsimpeleien verfallen wäre, oder beispielsweise den Radwechsel für den Winter hätte vornehmen wollen! Schon deshalb nicht, weil sie nie aufs Geldsparen aus war, schon gar nicht, wenn es sich dabei um zwanzig Mark handelte, Pipen, sagte sie, das "i" ein klein wenig zu kurz, während sie ansonsten Deutsch besser sprach als Rohlfs, fand er.

Nach einer Panne mit einem ausgehängten Gasgestänge war sie allerdings nach Hause gekommen, ohne in der Werkstatt gewesen zu sein. Wie sie sich beholfen hatte, erwähnte sie einmal, während sie den Flur vom Bad zu ihrem Zimmer überquerte, in einem Nebensatz. Sie war in ein großes weißes Badetuch gehüllt, um das Haar ein weiteres Handtuch als Turban. "Ich hab's durch Zufall gesehen, das aber gleich. So wie ich das kleine Stänglein wieder eingehängt habe, wird es die nächsten zehn Jahre halten."

Rohlfs, der die Augenblicke liebte, in denen sie nicht bemerkte, wie schön er sie fand, konzentrierte sich, damit sie seine Empfindung nicht erriet, auf den Gedanken, es mochte einen Zusammenhang geben zwischen den Kameras in der Windschutzscheibe und dem Defekt am Gashebel.

Er hatte dergleichen immer einmal bei Dr. Reich angedeutet. „Rohlfs“, hatte der gesagt, nämlich, dass man ihm nicht drohe. Es verhalte sich doch eher umgekehrt, und hatte dabei lächelnd ein Auge zugekniffen, jedenfalls gehe man im Amt davon aus, bis auf Weiteres, wie es hieß.

"Was sagt eigentlich die Werkstatt zu den Einschüssen in der Scheibe?", wollte Constance dann doch wissen. Eine relativ neue Technologie einerseits, komme aber doch in letzter Zeit häufiger vor. Im Allgemeinen würde darüber Stillschweigen bewahrt, auf jeden Fall würde auch sein Fall absolut vertraulich behandelt.

Das Schulterklopfen des Meisters bei diesen Worten hatte Rohlfs in einer Weise unangebracht gefunden, dass Constance, die die Erinnerung an das Gefühl von seinem Gesicht ablas, ihn zart auf den Mund küsste, allerdings schon im Begriff ihn allein zu lassen, da sie wusste, dass weitere Zärtlichkeiten in einem solchen Augenblick eine falsche Richtung nehmen würden.

"Hast du übrigens die Post gesehen?", fragte sie, die Tür zu ihrem Zimmer schon in der Hand. "Es ist eine Karte aus Rumänien dabei. Kennst du denn wen in Rumänien?"

"Was weiß Dein Rohlfs schon von Rumänien! Wir müssen die Räume eng machen, das eigene Stellungsspiel optimieren und dürfen den Gegner nicht zur Entfaltung kommen lassen. Mars, the Bringer of War! That's the way it is." Rohlfs wusste, dass er sich augenblicklich in Rage reden würde und hielt einen Moment inne. Indes spürte er, dass der Regen sein Gemüt zu erhitzen begann.

"Möglicherweise ist es eine Karte von Ovidiu, einem Handwerker, dem ich einmal ein wenig geholfen habe. Ich kenne Menschen aus aller Welt, meine Liebe. Berufsbedingt, wie Du weißt. Früher einmal bin ich nahezu monatlich nach Bukarest geflogen, doch das ist fast schon nicht mehr wahr. Anfangs war das sogar noch ziemlich abenteuerlich. Was steht denn drauf?" - "Pentru cel mai tare neamţ din lume." Constances hervorragendes Sprachgefühl besänftigte ihn. Er liebte die Art wie sie das R zu rollen verstand.

Rumänien, und ob, gerade in Rumänien, denn dort gab es, woran man hierzulande nur noch in Floskeln der Geschäftsmäßigkeit und in Phrasen dachte, Verbindlichkeit und den Geist der Freiheit. Bun-simţ, Anstand, man dachte, früher hätte es das vielleicht gegeben, unter den Wohlsituierten. Aber als Eigenschaft des Volkes, der Leute, da musste man beispielsweise nach Rumänien, woher bekanntlich nur Diebesgesindel kam und Sozialschmarotzertum. Gelber Sack oder Anlageberatung, Betätigungsfelder des Anstandes da, wo man flächendeckend bessergestellt war und auf solche herabblickte, die das wenige Geld, das sie besaßen, ausgaben anstatt zu sparen und zu etwas zu kommen. Zu den Göttern war es von überall her gleich weit, wohl Rumänien, zu dessen Volksweisheiten dieser Spruch gehörte. Hierzulande verfügten die meisten über ein gewisses intellektuelles Niveau, doch anständige Menschen, meinte Rohlfs, würden einem so leicht nicht einfallen. Hornauers von der anderen Seite der Mauer, die sie unter sich Hornochsens nannten, bearbeiteten ihren englischen Minirasen in einer Art Chirurgenanzug mit der Nagelschere. Sobald Strickliesel Hornochs mit ihrem Musterhausmutanten die Straße betrat, war man sich in der Nachbarschaft nicht mehr sicher, ob man nicht Gegenstand einer Anzeige wurde, schließlich war es verboten sein Auto in der Hofeinfahrt zu waschen. Dabei musste doch alles sauber sein, am besten weiß, Mauer weiß, Tor weiß, Briefkasten weiß, weiß, weiß! Unterschiedslos, weißer Wettbewerb, weiße Computer, weißestes Weiß, unterschiedslos, der hiesige Mensch, weißer Nachfahre weißer Primaten, im weißen Käfig! O Leben der Fellachen in braunen Lehmhäusern! Cine te-a făcut pe tine. Rohlfs trommelte für eine Weile abwesend auf die Karte, gegen den Rhythmus des Regens oder den Lauf der Dinge, wie sie waren. Cine te-a făcut pe tine. Er habe die Karte aus Gründen der Dankbarkeit erhalten, was Constance nun andeutungsweise verstand, weshalb sie ihm freundlich zunickte, was aber ebenso viel bedeutete, dass sie für eine weitere Vertiefung des Themas im Augenblick nicht gestimmt war. Sie müsse jedenfalls weg.

Rohlfs spürte die warme Hand Lucias auf seiner schweißnassen Stirn, auf der sein schütteres Haar klebte. Redete man im Vorderraum des Fahrzeugs über Saeed? War ihm etwas zugestoßen? War er untergetaucht? Würde man ihn vielleicht sogar zu ihm bringen? Aber wer geht schon gern zu seiner eigenen Hinrichtung?

Das Räuspern und Husten Reichs mischte sich unter den einschläfernden Rhythmus des Dieselmotors. "Sprechen Sie ein wenig deutlicher und wiederholen Sie den letzten Teil noch einmal!" Rohlfs hörte ein Klicken. Ein Diktiergerät wurde zurückgespult. Schneller Rücklauf. An wen richteten sich Reichs Worte? Rohlfs kannte die Stimme nicht, die Reichs spitzfindigen und fordernden Fragen Folge leistete. "Wann haben Sie das Land Ihres Vaters zum letzten Mal besucht? Erinnern Sie sich an Einzelheiten? Kommt Ihnen das irgendwie bekannt vor? Sind Bezüge zur Realität Ihres Lebens rein zufällig oder gewollt?" Rohlfs hielt den Atem an und wartete ab. Lucias Hand strich über sein Haar und sein Gesicht. War da etwas wie eine Stimme, die ihm den Weg wies? Hatte der Feind die Strategie geändert? Wohin brachte man ihn? Nach Rumänien? Es bestand nicht der leiseste Zweifel daran, dass er sich in dem blauen Kleinlaster der Rumänen befand.

"Fuhr just heute in der Frühe mit meiner Limousine zu meinem Arbeitsplatz, als mir um ein Haar Tränen in die Augen stiegen in dem Bewusstsein, dass sich in der Geburtsstadt meines Vaters erneut eine Form von Demokratie ereignet, die in unserem Land nur selten denkbar ist und sich so vermutlich nie abspielen wird." Das Diktiergerät wurde erneut zurückgespult. Aufnahme, Stopp, Wiedergabe, schneller Rücklauf. "Täglich verfolgte ich aufgeregt die Beharrlichkeit, den Mut und die Willenskraft in dem Land, dem ich mich stets in musikalischer und gewissermaßen seelischer Hinsicht zutiefst verbunden fühlte und dessen Revolution sowie deren tragische Folgen seit nunmehr 30 Jahren auch mein Leben beispielsweise insofern verändert haben, als dass es mir fern liegt, es jemals wieder besuchen zu wollen, nachdem es ein einziges Mal, 1972, mein Wesen erfasste, etwa hinsichtlich der zahlreichen Taxifahrten durch Teheran, die ich in meiner Vatersprache, welche ich damals nahezu beherrschte, dirigieren durfte, oder der Spiele mit den zahllosen Verwandten in meinem Alter, von denen ich nur wenige wiedergesehen habe, oder den für ein Kind unendlich vielen Eindrücken, die in meinem mütterlichen Umfeld nicht existieren. Die Revolution von 1979 kostete mehr als 20.000 Menschen das Leben. Saeed, den ich über viele Jahre hinweg als meinen engsten Vertrauten betrachtete, verbrachte als überzeugter Kommunist vier Jahre seines Lebens unter Folter in einem Teheraner Gefängnis bis ihm durch ein Bestechungsgeld über Istanbul und Ost-Berlin die Flucht gelang. Lediglich der ebenfalls vierjährige Aufenthalt im Baden-Badener Asylantenwohnheim erschien ihm grausamer als der Terror in der Heimat. Saeed lehrte mich ein tieferes Verständnis für die Kultur meines Vaterlandes - und dies im doppelten Sinne des Wortes, da man die Fremde sowie die Menschen in ihr meist mit unbefangeneren Augen wahrnimmt. Das Fazit bezüglich der hiesigen Unverbindlichkeit ist vermutlich das Radikalste, dessen wir im überheblichen Westen uns stets von neuem bewusst werden sollten, zumal dieses Phänomen auch ein Grund dafür sein mag, dass die Masse immer wieder teilnahmslos bleibt." "Es ist gar nicht so schwer zu verstehen, was im Iran geschieht – wenn jemand die Kraft hat, es zu sagen. Sie haben sie!" Reichs kratzige Stimme klang nunmehr befriedigt. "Es kommt nur auf ihn an, den Gekreuzigten. Nur er ist wichtig." Aufnahme, Stopp, Wiedergabe, schneller Rücklauf. Die Rückbank des Kleinlasters war unangenehm hart. Der Transportraum roch streng nach kaltem Rauch und schmutziger Wäsche. Männergesang schwoll an zu einem Crescendo, untermalt von Lucias sanftem, tröstlichem Summen. "Ein wenig ordinär vielleicht, nicht wahr, Rohlfs? Ein wenig allzu gefühlsduselig nach meinem Dafürhalten – und schließlich sollten Sie hier vorne sitzen, Rohlfs! Hat es Ihnen die Sprache verschlagen, Rohlfs?" Reich lachte auf und schien sich auf die Schenkel zu schlagen, was Rohlfs bisher von ihm so nicht kannte. Weswegen lachte Reich auf derart seltsame, abstoßende Weise? Woher rührte dieser offene Hohn gegen ihn? Vermutlich wollte er auch nur seine Mitfahrer beeindrucken. Was aber verband Reich mit diesen Leuten, wo sie doch Rohlfs' Verbündete sein sollten, seine Retter, sein Ausweg. Mochte Reich etwa eine Antwort von ihm erwarten? Tatsächlich gelang es Rohlfs nicht seine Lippen auseinander zu zwingen. Sein Mund schien verklebt zu sein. Ein Gefühl vollkommener Lähmung überfiel Rohlfs schlagartig. Wer hatte ihn hierher gebracht? Was hatte man ihm angetan, dass er sich nicht mehr bewegen konnte? Reichs Blick schien nunmehr auf ihm zu haften wie ein Blutegel, doch Rohlfs konnte seinen Kopf nicht wenden, geschweige denn anheben. Reich wirkte angestrengt beim Atemholen, fand Rohlfs. "Aber es soll mir gleichgültig sein", sagte Reich und lachte erneut laut auf, während Rohlfs spürte wie Lucias Finger seine Augenlider sanft berührten und sie schließlich langsam schlossen, als sei er bereits tot. "Die Demokratie ist die schlechteste Staatsform, ausgenommen all diese anderen, die man von Zeit zu Zeit ausprobiert hat. Heißt es nicht so, Rohlfs?" Reich hatte sich nun von ihm gewandt, so viel stand fest, und eine plötzliche Stille erfolgte, in der Rohlfs ein hastiges Blättern sowie zunehmenden Regen wahrzunehmen glaubte. Blätterte Lucia in seinem Notizbuch? Las sie ihm daraus vor?

"Wir sollten uns nun unseres Beifahrers entledigen, Dan!", hörte Rohlfs Reich in amtlichem Ton sagen, was die Bedrohlichkeit seiner Aussage unterstrich. "Ce să-i facem acum, să-i tăiem gâtul, domnule Reich?" Rohlfs erinnerte sich nicht an die Stimme des Mannes, dessen Frage unbeantwortet blieb. Niemand schien das leise Wimmern des Beifahrers zu beachten, der sich allerdings umgehend bemühte die Beherrschung nicht vollends zu verlieren. Wie konnte man jemandem etwas anhaben wollen, der in solcher Weise über Saeed zu reden vermochte? Die Anteilnahme des Mannes ließ darauf schließen, dass es sich um einen Mitarbeiter aus dem Amt handeln musste, den er in diesem Fall zweifellos kannte. Andererseits konnte es sich auch um einen Vertrauten Saeeds handeln, den man kurzerhand zu Reich gebracht haben musste. Es war naturgemäß vollkommen unmöglich die gegebenen Zusammenhänge in seinem jetzigen Zustand auf angemessene Weise zu deuten. Rohlfs spürte den Drang aufzubegehren, doch er hatte nicht die Kraft dazu. Zumindest löste sich seine Starre etwas und es gelang ihm seinen verklebten Mund ein wenig zu öffnen. Mehr als ein Röcheln brachte er nicht hervor. Dieses Mal war es der metallische Geschmack von Blut, der sich in seinem Mund ausbreitete. Es wurde nur allmählich wieder still um ihn herum. Möglicherweise sollte er einfach versuchen einen erholsamen Schlaf zu finden, doch der Regen klatschte erbarmungslos gegen die Windschutzscheibe, was die Aufmerksamkeit aller Anwesenden aufzusaugen schien. Sollte der Wagen dem Unwetter noch lange standhalten? Niemand redete mehr. Frieden senkte sich für einen Augenblick über den Gestank, den Gesang, die Gewalt und über seine Gedanken.

Rohlfs saß ehrfurchtsvoll auf der unebenen Holzbank vor dem Haus des Urgroßvaters, der schon lange nicht mehr Patriarch in seinem Landsitz, Herrscher seines familiären Imperiums war, auch wenn sein Andenken über Generationen hinweg die Aura des Gebäudes bestimmen würde, und lauschte den Meditationen und unerwarteten Abschweifungen von Alois, dem ewigen Sohn, etwa über die Leibeigenen des Kaisers Murak-Horas oder sich der Mühsal eines tagtäglichen Aufstehens und Zubettegehens unterziehen zu müssen. Nicht selten landete ein kleiner Vogel auf der Lehne der hölzernen Bank, als ob er ebenfalls den Ansichten des gebrechlichen, alten Herren lauschen wollte. "Der schweren Fronarbeit der glatzköpfigen Fellachen, mein Junge, standen diejenigen gegenüber, die dem Kaiser für zwölf Monde entfliehen konnten und als sogenannte Freie mit nachgewachsenem Haar nun selbstverständlich auch auf den Schutz des Kaisers verzichten mussten. Wenigstens hatten sie das Leben und Arbeiten erlernt und die alten Traditionen von ihren Eltern und Großeltern übernommen. Meist überlebten sie als freie Rustikale. Vielleicht erfanden sie das Alphabet, das sie von den Hieroglyphen ableiteten. Sich mit den Augen anderer sehen, betrachten und beaufsichtigen, wie würde sich das bei mir auswirken? Was denkst Du, mein Junge? Es müsste, glaube ich, eine kluge, in allen Lebenslagen erfolgreiche Haltung daraus hervorgehen. Worauf beruht es, dass einem an manchen Tagen mit dem ersten Schritt aus dem Bett vorbestimmt zu sein scheint, ob man den Tag heiter und leicht oder missmutig und bedrückt durchleben wird? Mit mir treibt das Wetter sein Spiel, wenn ich mit dem linken Fuß zuerst aufgestanden bin, lieber Rohlfs. Mit dem Willen wird meist ein ungerechtfertigter Kult getrieben. Der Wille kann sich an manchen Tagen gar nicht oder doch nur schlecht durchsetzen. Ansätze dazu können nur in günstigen Momenten wirksam werden. Sei überzeugt, dass jede Verärgerung und Unzufriedenheit auf das Konto der eigenen Sturheit und Schwäche zu setzen ist. Betrachte nichts als Haupt-, sondern alles als eine Nebensache! Wir verbohren uns in eine Hauptsache und arbeiten, wo wir nur des Verstandes bedurft hätten, mit Gefühl und Willen, den mächtigen Verführern. Weiterer Horizont! Dann wird es dir nichts ausmachen, dass dies oder das nicht oder nicht sofort gelingt."

"Willst Du nicht endlich ins Haus kommen, Rohlfs?" Er liebte die Art wie Co das R zu rollen und ihn bereits damit meist schon zur Vernunft zu bringen verstand, doch Rohlfs breitete die Arme im Regen aus und genoss das kurze Aufflackern des trotzigen Kindes in ihm. Was man Liebe nennt, war Rohlfs schon einige Male, doch nicht mit der Gewissheit des Bleibenden und Endgültigen zuteil geworden wie jetzt. Constance kam besser als Rohlfs mit den kleinen – und großen – Schwierigkeiten des Lebens zurecht; ihm fehlten die Anstelligkeit und Flinkheit, die sie besaß.

"Weißt Du, Constance, wenn ich an Rumänien denke, denke ich, allen Vorurteilen zum Trotz, an Verbindlichkeit und den Geist der Freiheit. Nicht zuletzt denke ich an bun-simţ, Constance. Vermutlich sollten wir hierzu Anstand sagen. Was soll ich von Anstand sagen? Oder den Einschüssen in der Scheibe? Die größten Errungenschaften unsrer Generation sind doch der Gelbe Sack und die Anlageberatung, Constance. Vielleicht werde ich aus Anstand dieses Land einst verlassen. Zu den Göttern ist es von überall her gleich weit. Die allermeisten Menschen, Constance, die ich hierzulande näher kennenlernen durfte, berichteten mir allenfalls von ihrem gewaltigen Intelligenzquotienten und ihrer reichhaltigen Bildung. Zweifellos verfügten die meisten von ihnen über ein gewisses intellektuelles Niveau, moralisch aber, in ethischer Hinsicht, Co, denke doch nur etwa an Palle, den Dänen, völlig unterentwickelt, infantil, unverbindlich, doch an anständige Menschen, Constance, an anständige Menschen kann ich mich kaum erinnern – und von dem geweihten Hirsch auf der anderen Seite der Mauer, der in seinem Chirurgenanzug seinen englischen Rasen mit der Nagelschere bearbeitet, rede ich überhaupt nicht. Sobald dieser Musterhausmutant mit seinem Stricklieschen das Haus verlässt, erstattet er eine Anzeige, etwa weil irgendein armer Teufel sein Auto in der Hauseinfahrt gewaschen hat. Sieh doch nur, Co, alles ist weiß gestrichen. Sauber muss es sein. Weiß. Alles. Und wodurch unterscheiden wir uns von diesen Leuten, Co? Wie unterscheiden wir uns von den Marktteilnehmern? Wie unterscheiden wir uns vom Wettbewerb? Wie lange unterscheiden wir uns noch vom Computer? Wie sehr unterscheiden wir uns von den Affen? Wodurch unterscheiden wir uns? Ist dir all dies nicht auch zu wenig? Lass uns mit den Fellachen in braunen Lehmhäusern leben, Co! Cine te-a făcut pe tine, Constance?"

Rohlfs klatschte für eine Weile abwesend gegen den Rhythmus des Regens oder den Lauf der Dinge. "Cine te-a făcut pe tine? Die Karte, Constance, ist ein Zeichen von Dankbarkeit." Aber Constance, die ihm noch immer freundlich zunickte, hörte ihn längst nicht mehr.

Rohlfs wusste, dass das Leben, das ihn als mit sich eins umgab, dieses darum umso mehr war, als er nicht Teil daran hatte. Er war ein Fremder, dessen Anwesenheit man bemerkte, nicht dass er gestört hätte, man behandelte ihn auch höflich, ein wenig in der Art, wie man es mit Kindern tat, weil sie ja nichts verstanden. Auf die Idee ihn in irgendetwas von Belang ernstlich nach seiner Meinung zu fragen kam man jedenfalls nicht. Geschah es dennoch einmal, gewissermaßen aus Versehen, sah man ihn verlegen an, bis er einen derart unmöglichen Standpunkt zu Ende vorgetragen hatte. Das Gespräch verlief dann auch ungefähr von dem Punkt aus weiter, an dem es durch Rohlfs´ Bemerkung unterbrochen worden war. Er mochte wohl irgendwie anders gesprochen haben als beispielsweise manche Ausländer, die sich großspurig anmaßten mitreden zu können. Als ob man in den "armen" Ländern beispielsweise wirklich so arm sei! Schließlich sei der Lebensstandard dort ja auch wesentlich niedriger und alles koste entsprechend weniger! Ja, die Wärme mache auch insgesamt fauler, das sehe man schließlich sogar hier, wenn das Thermometer einmal bestimmte Grade überschritten habe.

Rohlfs wusste, dass seine Geschichte sozusagen ohne Chance war, weil sie nämlich keinen Plot hatte. Es war Constance, die manchmal darüber sprach. "Warum schreibst du eigentlich nicht?", hatte sie gefragt. "Ich finde, die Art, wie du über die Dinge redest, eigentlich die ganze Art, wie du bist, so habe ich mir immer einen Schriftsteller vorgestellt. Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob ich in deinem Roman vorkommen möchte. Schließlich bin ich auch nicht mit allem einverstanden. Warum kannst du nicht kritisch und klug sein, ohne buchstäblich in allem gegen den Strom zu schwimmen. Verstehe mich nicht falsch, ich liebe dich ja so, wie du bist, und trotzdem machst du es dir nur unnötig schwer." Im Grunde hatte Constance Recht, man musste keineswegs aus Oppositionsgeist gegen den Strom schwimmen, wie sie sagte, und doch zuckte Rohlfs bei dem Gedanken daran, was sozusagen der Strom war, als sei das Wort elektrisch aufgeladen, der Strom ein Schwarm wimmelnder Störe, denen pudelwohl war.

"Du bist also altmodisch", sagte Rohlfs zu sich selber, das also hinzufügend zu der Feststellung Constances, die sie so gewohnheitsmäßig wiederholte, dass sie jeden Anklang an einen Vorwurf verloren hatte. Er sah ja, dass sie selber nur wenig glücklich war, wenn sie sich einmal hinreißen ließ, etwas Modisches zu kaufen. Tatsächlich war sie in dieser Hinsicht nur wenig vom Zeitgeist korrumpiert, denn im Gegensatz zu ihm kaufte sie eben hin und wieder etwas Neues, und dabei achtete sie darauf, dass es stilvoll war, also Qualität besaß und – warum denn nicht – für den Augenblick auch modisch war. Seltsamerweise war es etwas, wofür er sie liebte, vielleicht weil sie so unbefangen mit einem Thema umging, das für Rohlfs voller Fallstricke war.

In Wirklichkeit war es für Constance niemals leicht sich in punkto Äußerlichkeiten frei und unbekümmert zu verhalten. In Rohlfs’ Reaktionen witterte sie immer Anklänge von Ironie, was für ihn ein Spiel mit seiner eigenen Unzulänglichkeit war, er konnte das aber nicht klarstellen, so wenig wie man einen Witz erklären und dann noch darüber lachen kann. Altmodisch zu sein als Flucht und Versteck, denn was ließ sich jemandem leichter vorwerfen, als modisch nicht auf dem letzten Stand zu sein? Alle wussten immer, was Mode war, wenn sie auch spürten, dass es dabei um Oberflächliches und schlimmer noch, um Zwänge ging. Darum sagten sie auch nicht modisch, was ja auch ein Wagnis darstellen konnte, sondern modern. Rohlfs war also unmodern, was den Vorwurf, den man ihm machen zu dürfen glaubte, auf den wahren und unangenehmeren Punkt brachte. Der moderne Mensch gab sich ungezwungen. Man redete laut, was sich aus dem mobilen Telefonieren ohnehin gewissermaßen zwangsläufig ergab. Welche Anteilnahme an dem eigentlich ja gar nicht peinlichen, dafür umso lästigeren Missgeschick, dass ein Handy irgendwo schrillte, wo gerade Handyverbot galt! Peinlich eigentlich nur der mehr oder weniger geschmacklose Handyton, für Rohlfs immer eine Offenbarung besonderer Art. Es wurde erwartet, dass man ein Individualist sei, also besaß man eines von Hunderten Millionen Handys und wählte aus einer Anzahl von Klingeltönen den, den andere gerade nicht gewählt hatten.

Was hatte Constance eigentlich für einen Klingelton? Wohl keinen besonderen, sie kannte ja Rohlfs Aversion und fürchtete sein Urteil, wenn sie es nicht sogar wenigstens ansatzweise teilte. Aber natürlich hatte sie eines, aus beruflichen Gründen, wie sie sagte, aber auch aus sozialen. Schließlich hatte jeder ein Handy, sollte sie alle Welt vor den Kopf stoßen? Das Handy, das sie Rohlfs einmal geschenkt hatte, hatte er wirklich eine Weile auch in Betrieb, ohne allerdings seine Gewohnheiten hinsichtlich des Telefonierens zu ändern, was darauf hinauslief, dass das Handy bei irgendeiner Gelegenheit, Rohlfs hätte nicht sagen können, wann, wieder aus seinem Alltag verschwand. Constance selber hatte es erst bemerkt, da konnte er nicht mehr recht sagen, wie das zugegangen war. Er suchte eine Weile arg verlegen, was allein Constance schon versöhnte. Sie hatte von Anfang an gewusst, dass es nicht zu ihm passte. "Nicht dass du denkst, ich sei schon immer unmodern gewesen", sagte er, "zum Beispiel hatte ich einmal eine Uhr mit Sonnenkollektor, und das schon vor ..." – er wusste, dass Constance bei bestimmten Zahlen mit den Augen rollte – "ich glaube ziemlich am Anfang, als es so etwas gab."

Er würde sich wohl überhaupt nicht mehr ans Steuer setzen, schön bequem mache er es sich, sie immerzu fahren zu lassen. Rohlfs blickte geradeaus, mit den Gedanken nicht recht bei der Sache. Tatsächlich fuhr Constance seinen Wagen, seit ihrer sich bei der nächtlichen Kollision gewissermaßen in nichts aufgelöst hatte. Von der lächerlichen Versicherungssumme für den Totalschaden hatte sie nichts wissen wollen. Das Autochen war auf dem Schrottplatz verschwunden, Constance war nicht einmal bereit die erforderliche Zeit für die Abmeldung zu investieren. Rohlfs hatte das damals für sie erledigt. Der Wartebereich der Kraftfahrzeugzulassungsstelle war allerdings auch ihm besonders widerlich. Zwar gab es dort inzwischen eine aufwendige Anlage, die das Warten in derart technische Bahnen lenkte, dass man ihm sich willig unterwarf, wie allem Technischen.

"Oben!", oder besser: "Owe!", wie es die Mundart verlangte, rief man ihm aus der Schar der Wartenden zu, als er noch die Angaben auf dem Gerät studierte, das den Zettel mit der Wartenummer ausgab. Die wurden dann auf Bildschirmen angezeigt, nicht ohne Zusätze, die man auch zuerst nicht verstand. Rohlfs erkannte dann aber doch, dass er wohl bald an der Reihe sein würde und überlegte die Wartezeit stehend zu verbringen, was ihm die Entscheidung erspart hätte, wohin er sich nun setzen sollte. Die Stühle waren in Reihen vor den Bildschirmen aufgestellt. Da Rohlfs keinen Ort fand, an dem man sich mit einem kleinen Buch stehend hätte aufhalten können, nahm er doch unter den Wartenden Platz, von wo aus man zur Not an einer Säule vorbei immer einmal wieder zu einem der Bildschirme spähen konnte. An Lektüre war natürlich nicht zu denken, während eine Großmutter in der Spielecke ihrer Enkelin auf jede Weise zuredete, in dieser oder jener Weise Gebrauch zu machen von den dort vorhandenen Plastikspielzeugen. Mit kleinen Kindern musste man bekanntlich ja reden wie mit Schwerhörigen. Alle konnten dankbar sein einer derart fürsorglichen Großmutter dabei zuhören zu dürfen, wie sie ein offenbar durch noch so viele Wiederholungen derselben Aufforderung ungeneigtes Kind ihrer Zuwendung teilhaftig werden ließ. Was natürlich niemand war, man ertrug es aber auch widerspruchslos, die meisten hätten es übrigens so oder so ähnlich gemacht, nicht ohne froh zu sein für ihren Teil aber ohne Kleinkind diesen Besuch eines Amtes absolvieren zu dürfen. In das laute Reden der Großmutter hinein ertönte in unregelmäßigen Abständen ein Gong, wenn die Angabe der Wartenummer gewechselt hatte, zu laut auch der für jeden, der auf ihn hätte hören wollen, so aber ebenso unüberhörbar wie das überlaute Sprechen der Alten zu dem Kind.


Mittwoch, 20. Februar 2019

Bzw. ۲ ۲ ۴ [Zehn Standpunkte mit sechs »Sichtwinkeln« von Nachgeborenen, geboren um die Jahrtausendwende]



["Einsicht", Michelle Schneider]



Jeder Lehrer, der nicht völlig blind durch die Welt stolpert, lernt von seinen Schülern, ob man dies Unterricht nennt oder nicht; und ein lernbegieriger Mensch wird kaum auf die Fragestellungen unbefangener junger Menschen, seien es auch „nur“ Kinder, verzichten wollen. [Herbert Henck]


I.

Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten!
[Bertolt Brecht]

Besiedelung

Neulich sah ich den Film "Der Marsianer", in dem es um einen Mann geht, welcher zusammen mit einem Team von Wissenschaftlern zum Mars geflogen ist. Dort soll er den Grundstein zur Besiedelung des Mars legen. Jedoch kommt es zu unerwarteten Komplikationen und er sitzt anschließend allein, 80 Millionen Kilometer von der Erde entfernt, auf dem Mars fest. Auch in der sogenannten Realität arbeiten viele Wissenschaftler weltweit daran, die Probleme, die bei der Besiedelung des Mars auftreten können, zu lösen. Aber warum wollte man den Mars überhaupt besiedeln und Millionen von Kilometern reisen, um auf einem lebensfeindlichen Planeten ohne Sauerstoff zu leben?
Zuerst möchte ich erläutern, warum Menschen überhaupt einen anderen Planeten besiedeln wollen. Gewiss hat dies mehrere Gründe, doch einer dieser Gründe ist der grenzenlose Forschungsdrang des Menschen. Die Weltraumpioniere haben das gleiche Ziel wie beispielsweise Christoph Kolumbus, denn ihr Ziel ist es, eine Umgebung, die dem Menschen bis jetzt noch fast unerschlossen ist, zu erforschen. Dabei nehmen sie alle Risiken auf sich und begeben sich auf eine lange gefährliche Reise, ohne zu wissen, ob sie überhaupt Erfolg haben werden. Die Besiedlung der Mars wäre in gewisser Hinsicht ein gewaltiger evolutionärer Schritt und hätte große Auswirkungen auf das Leben der nächsten Generationen. Außerdem wäre das Problem der Überbevölkerung auf unserem Planeten aller Voraussicht nach gelöst und das Überleben der menschlichen Rasse vorerst gesichert.
Der verborgene Anlass für die Besiedelung ist die Zerstörung unseres Planeten. Wir Menschen produzieren nahezu ausschließlich Müll und verunreinigen, durch unsachgemäße Entsorgung, unsere Umgebung, also unsere Umwelt. Ist die Kolonialisierung anderer Planeten indes wirklich ein Ausweg? Sollte man sich nicht eher darauf konzentrieren, wie man noch möglichst lange auf unserem Planeten leben kann und die Probleme, die wir auf der Erde haben, mit aller Entschlossenheit lösen, anstatt zu versuchen, einen anderen Planeten zu kolonialisieren für den Fall, dass wir hier nicht mehr leben können?
Meiner unmaßgeblichen Meinung nach ist die Kolonisierung des Mars ein gewaltiger evolutionärer Schritt, mit dem einige der momentanen Probleme gelöst wären, jedoch sollten sich die Menschen nicht darauf verlassen, dass wir eines Tages auf einen anderen Planeten umgesiedelt werden können, wenn wir die Erde zerstört haben. Denn: Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis die Erde endgültig und unwiderruflich unbewohnbar ist, wenn wir unseren Lebensstil als Konsum- und Wegwerfgesellschaft nicht ändern. Jeder kann etwas dafür tun, dass auch die nachfolgenden Generationen noch auf der Erde leben können. [Calvin Altenhofer]

II.

Living is easy with eyes closed
Misunderstanding all you see
[The Beatles]


Fortschritt – Das „Fortschreiten“ der Menschlichkeit von der Erde

Es ist wie jeden Abend, ich schalte den Fernseher ein, möchte eigentlich nur gemütlich einen Film schauen - und zack: Fünf Minuten später wird der Film plötzlich abrupt gestoppt und ich erfahre, dass es nun endlich das brandneue Samsung Galaxy S9 gibt - viel leistungsstärker, viel moderner und, nicht zu vergessen, viel teurer als mein altes Samsung Galaxy S8, welches ich erst vor einem halben Jahr gekauft habe.
Dass für dieses weltverändernde neue Flaggschiff Kinder tage- und sogar ganze nächtelang für einen jämmerlichen Lohn bis an ihre Schmerzensgrenzen gearbeitet haben, das interessiert natürlich nicht. Alles was zählt ist doch, dass ich nun meine nächste Urlaubsreise um 0,01 Sekunden schneller buchen kann. - Ich will doch nicht rückschrittlich sein!
Es muss alles immer schneller, immer besser, immer leistungsstärker und immer rekordverdächtiger werden. Wir Menschen sind dabei längst überflüssig, dafür haben wir Maschinen erschaffen, die unsere körperliche Arbeit übernehmen, während unsere Psyche unter dem unglaublichen Druck, den nächsten „Highscore“ zu brechen, leise zerbricht.
Etwas weniger still zerbricht auch unsere Erde, unser Lebensraum; doch es scheint mir, als hätten wir bereits ganz fortschrittlich Abwehrmechanismen entwickelt, die uns die Hilfeschreie unserer Erde in Form von Hitzewellen, Tsunamis oder Erdbeben gar nicht mehr wahrnehmen lassen. Wir haben ja Plan B schon im Visier: Die Besiedelung des Mars. Also alles halb so schlimm!
Nach mir die Sintflut!“, so der neue Lifestyle - supereffektiv und superfortschrittlich.
Welchen Planeten knüpfen wir uns eigentlich als nächstes vor, nachdem wir den Mars ebenfalls erfolgreich ausgeraubt und völlig zerstört haben? Vielleicht den Jupiter? Oder vielleicht doch lieber den Saturn? [Jana E.]




                                                     ["Voraussicht", Michelle Schneider]


III.

Werbung

Ich öffne Google, um mich über die Ausbildung zu informieren, die ich nach dem Abitur machen möchte. Ich habe nicht die geringste Chance etwas einzugeben, da flackert schon die erste Werbeanzeige auf und unterbricht mich: Amazon zeigt das Buch, das ich soeben dort bestellt habe. Ich schließe genervt die Werbung und widme mich wieder meiner Suche. Mehrere Seiten werden mir vorgeschlagen, aber wie üblich kann man die ersten drei ignorieren; also Wikipedia. Ich finde eine vielversprechende Seite und öffne sie. Wieder eine Werbeanzeige. Ebay zeigt mir weitere Bücher des Autoren von dem gerade bestellten Buch. Ich schließe die Werbung und sehe die Internetseite. Zuerst nehme ich erneut die bunten, grellen Werbeanzeigen am Rand wahr: Adidas, Nike und Co. - natürlich interessiert mich das total. Darum habe ich die Seite geöffnet. Ich lese Artikel über die Ausbildung, aber erfahre nicht, was ich wirklich wissen will. Wie immer. Ich gehe zurück zu Google und öffne die nächste Seite, wieder unterbrochen von einer Werbeanzeige. Diesmal ist es Audible; da kann ich mir das bestellte Buch auch noch anhören. Die nächste Seite ist auch voller Werbeanzeigen und genauso wenig informativ wie die erste Seite. Ich suche noch eine halbe Stunde auf zwei weiteren Seiten mit Unterbrechungen von Netflix und Maxdome, damit ich mir gleich noch den Film zum Buch anschauen kann. Ich habe immer noch nicht erfahren, was ich erfahren wollte und bin mittlerweile zu Tode genervt von den vielen Werbeanzeigen. Es zählt wohl nicht mehr, dass sich Menschen im Internet über ihren zukünftigen Weg informieren wollen. Das ist ja auch unwichtig. Hauptsache die Werbung stimmt und ist blendend auf die Interessen des Benutzers abgestimmt. Ich fahre den Computer herunter und nehme kurz das Handy in die Hand, um eine Nachricht zu lesen. Als ich mich endlich durch den Dschungel aus Werbeanzeigen von Amazon und Co. vorgekämpft habe, bin ich so genervt, dass mich die Nachricht nicht mehr interessiert. Das Handy weiß nämlich auch über die Bestellung Bescheid. Alle sind superinformiert über mein Leben außer ich selbst. Aber das ist ja auch zweitrangig, nicht wahr? [Laura T.]



                                                     ["Aufsicht", Michelle Schneider]

IV.

Schönheitsideale

Wie so oft in der Woche erledige ich einen Einkauf. Ich gehe durch die Regale, komme ganz von den Produkten ab. Ich bin abgelenkt. - „Was ich sehe?“ - Es ist eine sehr korpulente Dame, daneben zwei junge, schlanke, gut aussehende Mädchen. Sie flüstern sich etwas ins Ohr, während sie immer wieder mit einem angewiderten Blick hinüberschielen. Ich weiß nicht, was ich tun soll, wende mich von dem Geschehen ab und versuche weiter, den Einkauf zu erledigen. Als ich eine Zeitschrift in die Hand nehme, werde ich erneut konfrontiert mit dem Trend des Schlankheitswahns. Diesmal in Form einer Diät. Ich lege das Heft zurück, ohne es zu kaufen, und mache mich auf den Heimweg. Zu Hause angekommen wage ich mich vor den Spiegel und reflektiere das heutige Ereignis. - „Was hat es mit diesem Wahn auf sich?“ – Es scheint ein Bedürfnis zu sein, ein Drang, dem ein Großteil der Gesellschaft folgt. Der Weg zum optimalen Körper steht anscheinend im Mittelpunkt und medienbasierte Traumkörper stellen die Vision zur Verfügung. Entspricht man nicht diesem Ideal, wird man nicht akzeptiert. - „Doch wird man akzeptiert, wenn man dem Körperideal entspricht?“ – Dazu gehören wohl noch andere Komponenten, unter anderem etwa die Markenkleidung. Es ist fast wie ein Zwang der Masse, der die Menschen nicht nur zum Hungern bringt. [Lisa Dreher]

V.

Messer

Ist es nicht wahr, dass wir alle einem bestimmten Ideal entsprechen wollen oder eher gerecht werden müssen?
Die meisten Menschen denken bei einem Vorbild nicht an eine Person, die - wie soll man es ausdrücken, ohne diskriminierend zu werden? - etwas zu viel auf den Hüften hat, deren Haar nicht perfekt ist oder die ein schräges Lächeln hat.
Nein! Wieso denn auch? Aber woran könnte dieses Selbstverständnis liegen? Nicht etwa daran, dass alle Menschen, die nur einen Grad von Berühmtheit erreichen wollen, genau diese sogenannten Mängel nicht besitzen?
Der Großteil der High Society striegelt und poliert sich bis auf den letzten Millimeter, bevor wir ihn zu Gesicht bekommen. Gefärbte Haare, Schminke, falsche Wimpern und Nägel mit einem High Fashion Outfit kombiniert sind nicht das Einzige, das diese Personen auszeichnet. Sie magern sich ab, machen regelmäßig Sport und legen sich vielleicht sogar unters Messer.
Wie soll man diesem Ideal gerecht werden, fragen wir uns? Aber sollte man sich nicht viel eher die Frage stellen, warum man diesem Ideal gerecht werden will? Warum will man sich so etwas antun?
Die Antwort darauf ist sonnenklar: Um Anerkennung zu bekommen und um dem Ideal der heutigen Gesellschaft zu entsprechen. Wir machen es einfach, um dazuzugehören oder um zumindest ein Gefühl von Zugehörigkeit zu empfinden.
Aber zeichnen wir uns nicht gerade dadurch aus, dass jeder von uns einzigartig ist? Sollte nicht jeder trotz seiner Individualität dazugehören? [Phoebe]




                                                     ["Erdsicht", Michelle Schneider]


VI.

CITIUS, ALTIUS, FORTIUS ... das Motto der alle vier Jahre stattfindenden Olympischen Spiele. Übersetzt heißt dies so viel wie „schneller, höher, stärker“, wobei wir es eher als „höher, schneller, weiter“ im Sprachgebrauch nutzen. Diese drei Wörter kann man ohne weiteres auf den Leistungsdruck in der heutigen Gesellschaft übertragen. Von Zeit zu Zeit muss immer alles schneller, einfacher und besser funktionieren. Egal in welchem Bereich, ob im Sport, wie bei den Olympischen Spielen, in der Schule, im Beruf, in der sogenannten Freizeit, der Entwicklung der Technik et cetera: Überall geht es darum, sich mit anderen zu messen, besser als der andere zu sein. Schon in der Schule fängt es mit dem Notenvergleichen an. Man lernt für den angekündigten Tag der Klassenarbeit und an genau diesem Tag muss man dann seine Leistungen bringen, egal wie aufgeregt man ist oder ob man einen schlechten Tag hat. Und wenn es die Arbeit zurückgibt, geht es los mit „Was hast du?“, „Ich war besser als du!“, „Wir haben dieselbe Note, aber du hast zwei Punkte weniger als ich“ und so weiter. Nicht jeder kann überall gut sein und an sich kann man nicht jedes Individuum mit einem anderen vergleichen. Jeder hat seine Stärken und Schwächen in einzelnen Bereichen - und diese auf die Schulfächer zu begrenzen ist sehr fragwürdig. Um noch einmal zurück auf das Motto zu kommen, bei den Olympischen Spielen geht es doch darum, dass sich Sportler aus der ganzen Welt messen. Sie wollen jedesmal „schneller, höher, stärker“ sein als ihre Gegner, neue Rekorde aufstellen, das zu vertretende Land „glücklich“ machen – doch zu welchem Preis? Die Athleten trainieren wahrscheinlich schon, seitdem sie laufen können und machen nichts anderes. Wenn sie Glück haben, werden sie erfolgreich, gewinnen Preise, sind besser als die anderen! Wenn sie Pech haben, geht es nach dem Erfolg bergab. Den Druck, der auf einem liegt, kann man nicht immer so leicht wegstecken. Viele verlieren sich und stürzen durch den ganzen Leistungsdruck ab. War es dann den ganzen Aufwand wert? So gibt es vermutlich noch viele tausend Beispiele dafür, wie der Leistungsdruck unsere Gesellschaft bestimmt und verstimmt. [Kim B.]



                                                     ["Vorsicht", Michelle Schneider]


VII.

Maß

Ich stehe in einem der größten Sportläden Berlins. Ein paar neue Fußballschuhe sowie Schienbeinschoner will ich kaufen. Bei der Auswahl der Schienbeinschoner fragt mich die Verkäuferin: „Ja, hast du denn überhaupt schon einmal Fußball gespielt?“ Die Kritik am Frauenfußball ist deutlich zu hören. Doch wo liegt nun der Unterschied zwischen Frauenfußball und Männerfußball und warum ist Männerfußball beliebter? Die Zuschauerzahl eines Fußballspiels der Männer ist wesentlich höher als bei einem Spiel der Frauen.  Dies gilt nicht nur für die Zuschaueranzahl eines Spiels, sondern auch für das Einkommen eines Fußballers. Zugleich verdient der Sportler nicht bloß an einem Spiel, sondern auch an seinen Tätigkeiten außerhalb des Sports. Dies gilt insbesondere für die Werbung. Doch ist das der Sinn, dass ein einzelner Sportler solche Unsummen verdient? Meiner Meinung nach steht das in keiner Relation zu seiner Leistung.
Überall Werbung für Fußball. Doch überall nur Männer! Fußballweltstars werben für die unterschiedlichsten Marken. Auch wieder nur Männer. Sport ist logischerweise auch Markt. Firmen und Unternehmen können mit Männerfußball mehr Menschen erreichen. Durch diese Werbung wird Deutschland mit Fußballangeboten erdrückt. Man nimmt nur noch den Männerfußball wahr und wird lediglich damit konfrontiert.
Blickt man auf die WM 2018 zurück, wird das Phänomen offenkundig. Die WM der Männer erregt weitaus mehr Aufsehen als die der Frauen. Auf die Umstände wird dabei nicht geachtet. Das Geld der jungen Sportler steht im Mittelpunkt. Würde man all diese Investitionen für gute Zwecke nutzen, könnte man vielen Menschen ein besseres Leben ermöglichen. Als Frau kann man solche Geldsummen in diesem Mannschaftssport bisher nicht verdienen. Änderte sich indes Maßgebliches, wenn es anders wäre? [Jana Dreher]

VIII.

Risiko

Wie schon in den letzten Tagen sitze ich als Rettungsschwimmerin am See. Es ist heiß und das Strandbad ist gut gefüllt. Wir haben den Tag über schon mehrmals die Durchsage gemacht, dass Kinder mit Schwimmhilfen und Nichtschwimmer nur im Nichtschwimmerbereich verbleiben sollen. Die meisten Eltern und Kinder halten sich auch daran, aber es gibt auch Einzelfälle, die das nicht beachten. Einige Eltern kommen auf die Idee, den Kindern die Schwimmhilfe auszuziehen, um dann mit ihnen zur Badeinsel zu schwimmen. Die Kinder halten sich an den Eltern fest. Darüber wird auch nicht weiter nachgedacht. Dass das eigene Kind eventuell abrutschen könnte oder man sich selbst überschätzt, ist dann Nebensache. Die Eltern riskieren so, für ein wenig Spaß, das Leben ihrer Kinder und vielleicht sogar ihr eigenes. Die Kraft lässt meist auf halber Strecke nach und man denkt: „Das schaffe ich jetzt auch noch!“ Oder: „Es ist vielleicht schon zu spät zum Zurückschwimmen.“ Mit letzter Kraft erreichen sie dann die Badeinsel und müssen erst einmal eine Pause machen. Über den Rückweg hat sich vorher natürlich niemand Gedanken gemacht. Vor allem an solchen Tagen mit viel Betrieb ist es schwer für uns Rettungsschwimmer, den Überblick zu behalten, vor allem wenn durch Sonnenschirme oder Strandmuscheln die Sicht auf das Wasser versperrt wird. Es zählt jede Sekunde und jeder möchte in einer Gefahrensituation Hilfe bekommen.
Man sollte vorher über die Risiken nachdenken und nicht erst, wenn es zu spät ist. [Annika Müller]

IX.

Über Wahrheitsfindung: Vermischtes – Nachrichten, aktuelle Informationen und News

Erst wenn das Kind über 5 Kilogramm auf die Waage bringt, ist es gegenüber Temperaturschwankungen unempfindlicher und kann sich ihnen besser anpassen. - Erst wenn das Kühlmittel eine Temperatur von ca. 80° C erreicht hat, gibt der Thermostat den Weg zum Kühler frei und öffnet damit den großen Kühlkreislauf. - Erst wenn das Gemüse vollständig mit Salzlake bedeckt ist, kann der Gärungsprozess beginnen. - Erst wenn das eigene Einkommen und Vermögen neben dem der Kinder nicht ausreichend ist, wird die Hilfe zur Pflege bewilligt. - Erst wenn das Lachen stirbt, erst dann sind wir verlor'n. - Erst wenn das letzte Feuerwehrauto eingespart wurde und kein Freiwilliger mehr das Ehrenamt ausübt, dann merken wir, dass Geld allein kein Feuer löschen kann. - Erst wenn das Schiff untergeht, merkt man, wie glücklich man am Lande war. - Erst wenn das geschmolzene Gestein unterm Vulkan flüssig wird, droht ein Ausbruch. - Erst wenn das Zucken dauerhaft auftritt, sollte man zum Arzt gehen. - Erst wenn es zu Ende ist, sehen wir, dass es keine Ziele gibt. - Erst, wenn das Schwein am Haken hängt, wird eingeschenkt. - Erst wenn das Berufsziel erreicht ist, gilt die Berufsausbildung als beendet. - Erst wenn das Produkt fehlt, wendet man sich an die Experten. - Erst wenn das alte Bankkonto nicht mehr genutzt wird, sollte endgültig gekündigt werden. - Erst wenn das Pflichtprogramm absolviert ist, kann man eigene Vorstellungen umsetzen. - Erst wenn das gesamte Eigenkapital genutzt wurde, kann das Darlehen Stück für Stück abgerufen werden. - Erst wenn das Gericht eine Ehe als gescheitert ansieht, kann es den Scheidungsantrag bearbeiten. - Erst wenn das letzte Gebiet geräumt ist, wird Ruhe in Syrien einziehen. - Erst wenn das Flugzeug die vorgesehene Reiseflughöhe von bis zu 10.000 Metern erreicht hat, kann man das WLAN an Bord auch nutzen. - Erst wenn das Fieber abgeklungen ist und der typische Ausschlag sichtbar wird, ist die Ansteckungsgefahr gebannt. - Erst wenn das Kind das Deutsche Schwimmabzeichen in Bronze – früher auch Freischwimmer genannt – erworben hat, kann es sicher schwimmen. - Erst wenn ein Kind überfahren wird, installiert man an einer viel befahrenen Straße eine Ampel. - Erst wenn das Ohrensausen länger als 48 Stunden anhält, spricht man von Tinnitus. [Internet]




                                                       ["Absicht", Michelle Schneider]

X.

Countdown

"OK, also beruhig' dich, fahr' deinen Puls 'runter und konzentrier' dich jetzt!" Unterschwellig ist nur das Plätschern der Dusche zu hören. Ich bin ganz in mich gekehrt, so wie jedes Mal zehn Minuten vor dem Start, ganz allein unter einer Dusche des Schwimmbads. Ich warte, bis die Dusche ausgeht, ziehe Badekappe samt Brille auf und wage den Weg nach draußen in Richtung Startblock. Jetzt stehe ich da, vollkommen in mich gekehrt und warte erneut, bis man meinen Namen und meine Bahn aufruft. Als es soweit ist, trete ich an den Startblock, mache noch einmal alle Muskeln locker und drücke die Brille fest aufs Gesicht. "Jetzt ist es soweit", denke ich und bevor ich einen weiteren Gedanken fassen kann, ertönen die ersten Pfiffe des Startsignals. Alles um mich herum bewegt sich verzögert wie in Zeitlupe. Beim Kommando steige ich auf den Startblock und begebe mich in Startposition; daraufhin folgt ein tiefer Atemzug und mit dem entscheidenden Pfiff bin ich auch schon im Wasser. Ich vergesse alles um mich herum und bin in Gedanken nur beim auszuführenden Schwimmzug. Meine Muskeln ermüden und beginnen zu brennen; irgendwie versuche ich das Ziel zu erreichen. Schon wenige Atemzüge später habe ich es geschafft und lechze am Beckenrand nach Luft. "Entschuldigung, welche Zeit habe ich?" Verschwommen erreicht mich die Antwort und ich kann es kaum fassen: Eine neue Bestzeit! Nun wiederholt sich die gleiche Prozedur bis zum nächsten Start. [Nila D.]