[»Leben
des Zarathustra«]
Ich
mußte Zarathustra, einem Perser, die Ehre geben: Perser haben zuerst
Geschichte im Ganzen Großen gedacht. [Friedrich Nietzsche »Fragmente
aus dem Nachlass«
(1884/85)]
Die
Perser sind das erste geschichtliche Volk, Persien ist das erste
Reich, das vergangen ist. Während China und Indien statarisch
bleiben und ein natürliches vegetatives Dasein bis in die Gegenwart
fristen, ist dieses Land den Entwicklungen und Umwälzungen
unterworfen, welche allein einen geschichtlichen Zustand verraten.
Das chinesische und indische Reich können nur an sich und für uns
in den Zusammenhang der Geschichte kommen. Hier aber in Persien geht
zuerst das Licht auf, welches scheint und Anderes beleuchtet, denn
erst Zoroasters Licht
gehört der Welt des Bewußtseins an, dem Geist als Beziehung auf
Anderes. [G. W. F. Hegel »Vorlesungen
über die Philosophie der Geschichte«
(1837)]
Religiosität
auf dem Rückzug in der islamischen Welt
Meinungsforscher
widerlegen die politisch instrumentalisierte Religionsstatistik in
vielen islamisch geprägten Ländern. In Iran bekennen sich laut
einer Umfrage der Universität Utrecht nur etwa 40 % der Bevölkerung
zum Islam, in der offiziellen öffentlichen Statistik sind es aber
99,2%.
Amtlichen
Zahlen zufolge sind die allermeisten Bewohner der Region zwischen
Marokko und Pakistan Muslime, oft mit Anteilen an der Bevölkerung
von über 99%. Diese Zahlen ähneln in auffallender Weise den
Ergebnissen der kommunistischen Parteien bei Wahlen in den ehemaligen
Ostblockstaaten, jeder weiß, wie sie zustande kamen. Während als
Christen nur diejenigen gelten, die getauft wurden und einer Kirche
angehören, gilt beim Islam, wo es Religionswechsel oder
Religionsabfall nicht geben darf, das reine Abstammungsprinzip,
deshalb gibt es auch die Pflicht zu einem islamischen Namen. Alle,
die von muslimischen Eltern abstammen, sind deshalb automatisch
Muslime. In Teilen der islamischen Theologie wird sogar das
islamische Naturrechtprinzip vertreten, womit alle Neugeborenen, wenn
sie nicht im Laufe ihres Lebens den Islam verleugnen, automatisch
Muslime sind. Glaubenszweifel, wie sie in allen anderen Religionen
möglich sind und oft sogar ein wesentlicher Bestandteil dieser
Religionen sind, stehen im Islam unter Strafe und werden oft mit
Gewalt unterbunden.
Aber immer mehr
Muslime zweifeln an ihrer Religion, nicht nur die, die in
nichtislamische Länder auswandern, weil sie verfolgt wurden. Selbst
hierzulande, wo sich sogar Verbände von Ex-Muslimen organisieren,
versuchen Islamverbände mit gefälschten Zahlen und Mitgliederlisten
die ausgewanderten Muslime mit Druck an sich zu binden und werden
darin leider oft noch von der öffentlichen Verwaltung unterstützt.
Die Säkularisierung wirkt jedoch bei Muslimen ebenso stark oder
sogar stärker als bei Christen, für die Religion Privatsache ist.
Für die Muslime in den offiziell muslimischen Ländern ist es genau
umgekehrt, wegen des starken öffentlichen Drucks, bleiben für die
allermeisten Muslime Glaubenszweifel Privatsache. Nicht die Religion,
wie in den westlichen Ländern, ist es, die im Privaten gepflegt
wird, sondern es sind die Religionszweifel. Einen öffentlichen
Diskurs über diese Entwicklung gibt es in den muslimischen Ländern
nicht, deshalb zweifelt auch niemand die offiziellen
Religionsstatistiken an.
Der
Islam wird zur Minderheit im Gottesstaat
Jetzt
hat ein der Universität Utrecht angegliedertes
Meinungsforschungsinstitut, "Group for Analyzing and Measuring
Attitudes in Iran" (GAMAAN), in einer Umfrage unter über 50.000
Iranern über 19 Jahren die religiösen Glaubensinhalte untersucht
und analysiert. Die Verantwortlichen von GAMAAN sind Dr. Ammar
Maleki, Assistenzprofessor für vergleichende Politikwissenschaft an
der Universität Tilburg, und Dr. Pooyan Tamimi Arab,
Assistenzprofessor für Religionswissenschaften an der Universität
Utrecht. Die Umfrage mit dem Titel "Iranians' attitudes towards
religion" (Einstellungen der Iraner zur Religion) wurde vom 6.
bis 21. Juni 2020 durchgeführt. Die Ergebnisse dieser Studie
spiegeln die Ansichten der iranischen Einwohner aller Regionen und
aller sozialer Schichten im Alter von über 19 Jahren wider und
können mit einem Glaubwürdigkeitsniveau von 95% auf die
Zielpopulation verallgemeinert werden. Ziel der Umfrage war es, die
Einstellung der Iraner zur Religion und zu damit verbundenen
politischen Konzepten zu messen und zu dokumentieren, über die im
Iran aufgrund der derzeitigen Restriktionen nicht offen diskutiert
werden kann.
Die
Ergebnisse zeigen, dass 78% der Iraner an Gott glauben, 37% glauben
an ein Leben nach dem Tod, 30% glauben an Himmel und Hölle, 26%
glauben an die Existenz von Dschinns und 26% glauben an das Kommen
eines Erlösers. Etwa 20 % der Zielbevölkerung glauben an keine der
oben genannten Dinge. Ungefähr die Hälfte der Bevölkerung gab an,
ihre Religion verloren zu haben. Dagegen berichteten 41%, dass sich
ihre religiösen oder nicht-religiösen Ansichten im Laufe ihres
Lebens nicht wesentlich geändert haben. Etwa 6 % der Bevölkerung
gaben an, von einer religiösen Orientierung zu einer anderen
konvertiert zu sein. Etwa 60 % gaben an, dass sie nicht beten,
während 27 % angaben, fünfmal am Tag zu beten. 68% der Bevölkerung
waren der Meinung, dass religiöse Vorschriften aus der staatlichen
Gesetzgebung ausgeschlossen werden sollten. 71% waren der
Meinung, dass religiöse Institutionen für ihre Finanzierung selbst
verantwortlich sein sollten. Auf der anderen Seite waren 10% der
Meinung, dass alle religiösen Organisationen, unabhängig von ihrem
Glauben, staatliche Unterstützung erhalten sollten, während nur 3%
sagten, dass nur islamische Institutionen Anspruch auf solche
Leistungen haben sollten. 41% waren der Meinung, dass alle Religionen
ein Recht auf öffentliche Missionierung haben sollten, während nur
4% meinten, dass dieses Recht ausschließlich den Muslimen
vorbehalten sein sollte. 56% wollten nicht, dass ihre Kinder in
der Schule Religionsunterricht erhalten, aber rund 54% befürworteten,
dass ihre Kinder die Möglichkeit haben, in der Schule etwas über
verschiedene Glaubensrichtungen zu lernen. Rund 72% lehnen die
Hijab-Pflicht ab, während 15% auf der gesetzlichen Verpflichtung zum
Tragen des Hijab in der Öffentlichkeit bestanden. Fast 60% kannten
die religiöse Legitimierung des Schleierzwangs überhaupt nicht.
Trotz gesetzlich verordneter Alkoholabstinenz trinken etwa 35% der
Bevölkerung gelegentlich oder regelmäßig Alkohol. Andererseits
gaben 56% an, dass sie keine alkoholischen Getränke konsumieren.
Fast 9 % trinken nicht, weil sie nicht wissen, wie sie alkoholische
Getränke kaufen können.
Sehr interessant
waren die Ergebnisse bezüglich der religiösen Zugehörigkeiten: Nur
32% der Bevölkerung identifizierten sich als schiitische Muslime,
weitere 5% als sunnitische Muslime und 3% als Sufis, während in den
öffentlichen Statistiken 99,2% der Iraner als Muslime geführt
werden. Erstaunlich hoch war der Anteil der Atheisten mit 9%,
Spiritisten mit 7%, und Agnostiker mit 6%. Überraschend auch
der Anteil der Zoroastrier, der alten vorislamischen Zarathustra
Religion des persischen Reiches, zu welcher sich 8% der Befragten
bekannten. In den öffentlichen Statistiken werden Anhänger dieser
altpersischen Religion mit weniger als 0,1% beziffert. Etwa 22%
identifizierten sich mit keiner der oben genannten Weltanschauungen,
die Christen waren mit 1,5% darunter und Bahai Anhänger mit 0,5%.
Auch der Religionswissenschaftler Michael Blume hatte in seinem Buch
„Islam in der Krise“ 2017 bereits die Wiederauferstehung des
Zoroastrismus festgestellt, denn sogar in der kurdisch verwalteten
Autonomiezone des Irak in Erbil war ein Tempel dieser Religion, die
viele Iraner und Schiiten als die authentische Religion des alten
Zweistromlandes ansehen, errichtet worden. Auch andere
Analysten waren in den letzten Jahren die leeren Moscheen und
Gotteshäuser im Iran, die zu Zeiten des Schahs noch voll waren,
aufgefallen.
Glauben
kann man nicht verordnen, wie Fasten oder Gebete
Pooyan Tamimi Arab
betrachtet die Ergebnisse der Umfrage als Wunsch nach religiösem
Wandel und als logische Folge der Säkularisierung des Iran. Die
iranische Gesellschaft habe große Veränderungen durchlaufen: Die
Alphabetisierungsrate sei enorm gestiegen, die Verstädterung massiv
vorangeschritten, die wirtschaftliche Entwicklung habe die
traditionellen Familienstrukturen aufgelöst, die Geburtenraten
gleichen sich denen im Westen an", so Tamimi Arab im Gespräch
mit der Deutschen Welle. Auch die intensive Verflechtung von Staat
und Religion im Iran, offiziell nach der Staatsdoktrin der
Vertreter-Herrschaft (Velayet e Fakih) ist der Iran ein Gottesstaat,
sorgt in der Bevölkerung für Unmut über die
institutionalisierte Religion. Gebete und Fasten kann man verordnen,
aber Glauben nicht. Reformen kann es jedoch laut Staatsverfassung
nicht geben. Michael Blume diagnostizierte den Islam in seinem
Buch so: „Der Islam ist noch nicht tot, doch er gleicht einem
Schwerkranken, der vor Verzweiflung und Schmerz um sich schlägt.“
Zur Heilung schlug Blume vor: „Die muslimischen Gelehrten und
Theologen müssen einsehen, dass die Geschichte nicht linear
verläuft, nach dem Motto: ‚Unsere Religion setzt sich durch –
und der Rest, der ist irgendwie minderentwickelt.‘ Sondern, dass
sie einsehen müssen, der Islam ist eine Religion wie andere
Religionen auch. Er blüht auf, er hat Erfolge, er gerät aber auch
in Krisen und er kann auch untergehen.“ [Bodo
Bost]