Nachwort
zu
»Ulise 22«
„Es ist auch herzzerreißend, wenn man eure Dichter, eure Künstler sieht und alle, die den Genius noch achten, die das Schöne lieben und es pflegen. Die Guten! Sie leben in der Welt wie Fremdlinge im eigenen Hause, sie sind so recht wie der Dulder Ulyß, da er in Bettlersgestalt an seiner Türe saß, indes die unverschämten Freier im Saale lärmten und fragten, wer hat uns den Landläufer gebracht?“
Friedrich Hölderlin
Hyperion
In der Gattungsgeschichte des europäischen Romans kann man vielleicht von einer Hochzeit, einem guten Jahrhundert, sprechen, wo Romanciers noch Kathedralen erbauten: die hatte Vorläufer im antiken Epos, in Heldenliedern und Utopien - und im 18. Jahrhundert mit Voltaire, Diderot und Sterne, kulminierte dann aber im 19. Jahrhundert mit Schwerpunkten im Frankreich des Realismus (Balzacs Comédie humaine, Flaubert und Stendhal), in Russland mit Dostojewskij und Tolstoi und ging über den Ästhetizismus mit Wilde (Dorian Gray), Huysmans (Gegen den Strich) und den Sonderfall Nietzsche (Zarathustra) bis zur klassischen Moderne mit Autoren wie Musil, Döblin, Proust, Kafka und nicht zuletzt James Joyce mit seinem Jahrhundertroman Ulysses, der vor genau hundert Jahren zuerst in Paris erschien.
Joyce nimmt wie Hölderlin oben Bezug auf den Mythos des antiken Helden Odysseus in Homers Epos um die abenteuerliche Irrfahrt bei der Heimkehr aus dem Trojanischen Krieg. Als Odysseus in sein altes Leben zurückkehren will, ist nichts mehr wie es war. Der wahrlich moderne Schlüssel bei Odysseus ist dabei, dass er seine Identität aufgeben muss, um sie zu wahren - und so soll es auch im metaphorischen Sinne Bloom und Rohlfs, den Helden aus dem Ulysses und Ulise 22, bei ihren Lebensbewegungen ergehen.
In seinen besseren Zeiten war und ist der (romantische) Roman dabei immer ein Gefäß und eine genresprengende und keine genrebeengende Prosapoesiegattung. Schon die Frühromantiker betonten das und unterfütterten den Roman intellektuell als Universalgattung. So schrieb Hölderlins Zeitgenosse Friedrich Schlegel in seinem Athenäum 1798: „Die romantische Poesie ist eine progressive Universalpoesie. Ihre Bestimmung ist nicht bloß, alle getrennten Gattungen der Poesie wieder zu vereinigen und die Poesie mit der Philosophie und Rhetorik in Berührung zu setzen. Sie will, und soll auch Poesie und Prosa, Genialität und Kritik, Kunstpoesie und Naturpoesie bald mischen, bald verschmelzen, die Poesie lebendig und gesellig, und das Leben und die Gesellschaft poetisch machen, den Witz poetisieren … Die romantische Dichtart ist noch im Werden, ja das ist ihr eigentliches Wesen, dass sie ewig nur werden, nie vollendet sein kann.“
Das Fragment, der Torso, das Assoziative, das Unvollendete und das Spielerische, gerne auch als Montage gestaltet, machen den Roman zur integrierenden Gattung, die beinahe alle anderen Gattungen prinzipiell zu ihrem Recht kommen lässt, sei es die Lyrik, den Aphorismus, den Essay oder die fiktiven Narrative wie die Novelle, das Märchen oder die Erzählung. Dieser Ästhetik des radikal Fragmentarischen beugt sich auch Ulise 22 von Liana Helas, einem kleinen, feinen Lehrerzimmer-Autorenkollektiv, das in einer Rahmen- und einer Kernhandlung seine mächtig-ohnmächtigen Figuren und Protagonisten zu Wort kommen lässt, die erst wieder mündig werden können, indem sie sich den Verlust der eigenen Mündigkeit eingestehen und doch Stümpfe im Sinne Becketts bleiben müssen.
In der Rahmenhandlung widmet sich der Roman dem diabolisch-kuriosen Schicksal der beiden Vagabunden Robert und Bertram, die seit den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts durch Opernwelt, Satire, Parodie, Volkstheater und Film (Meyerbeer, Nestroy, Räder, Mack und Walter-Fein) dem Publikum eine bekannte Größe sind. Robert und Bertram bewegen sich als gaukelnde Seiltänzer und gutmütige Landstreicher zwischen Geschäftstüchtigkeit und Schelmentum, Gittern und Gaunereien sowie Ideen und Idiotien, sie foppen ihre Zeitgenossen und schnorren sich mehr schlecht als recht durchs Leben. So beginnt der Roman im ersten Teil um Robert und Bertram mit einer fabelhaften Kaffeeschmuggelparabel:
Mein Vater wurde nicht müde die Geschichte vom Kaffeeschmuggel zu erzählen. Ein altes Mütterchen schmuggelte ihr halbes Pfündlein Kaffee in der Eisenbahn und packte es vor den Augen eines Mitreisenden noch einmal zurecht, sich darin ergehend, der Zoll möge es doch hoffentlich nicht entdecken. Der Zollbeamte, kaum, dass er das Abteil betreten und die obligatorische Frage gestellt hatte, die üblichen Lügen überhörend, brachte den zu erwartenden Einwand hervor, es röche aber eindeutig nach Kaffee, und was er davon halten solle. Der Mitreisende des alten Mütterchens wartete nicht eine Sekunde und im Ton des braven Bürgers, der einen Schwindel nicht durchgehen lassen will und darum dem Herrn Oberzollinspektor beispringt, sprach er: „Da schauen Sie nur im Koffer der Dame nach, sie hat Kaffee darin versteckt!“ Ob das stimme, wollte der Beamte wissen, und sie solle nur gefälligst den Koffer herabholen und unverzüglich öffnen, was die alte Frau unter vielem Ächzen und Jammern tat. Der Beamte konfiszierte sogleich das halbe Pfund Kaffee, wozu er seinen Gehilfen rief, der für den Abtransport der Asservaten zuständig war. Man konnte sich denken, wie über derlei Konfiskationen Buch geführt wurde und sah förmlich den Kaffee im Hause der Herren Zolleinnehmer dampfen. Kaum hatten die Uniformierten das Abteil verlassen, erhob das Mütterlein von Neuem sein Klagen und schimpfte, was für ein gemeiner Kerl ihr Mitreisender doch sei! Der indessen stand mit jovialem Lächeln auf: „Verehrtes Mütterchen“, sprach er, langte nun seinerseits nach dem Koffer, der über seinem Platz in der Ablage ruhte, ließ die Schlösser aufschnappen und indem er einen Schal und sonst noch ein dünnes Kleidungsstück zur Seite schob, der Frau traten die Augen vor den Kopf, kamen etliche Päckchen Kaffee zum Vorschein. „Was der Zöllner beim Betreten des Abteils gerochen hat, war natürlich nicht Ihr eines Päckchen“, wie der Frau nun auch klar wurde, die vor Staunen eine Hand mit gespreizten Fingern vor den Mund hielt, der ihr weit offenstand. Nun überreichte der Mitreisende ihr zwei seiner Pakete mit einer Verbeugung, wie es sich gehörte, die Frau aber kam mit einer solchen Unverfrorenheit nicht zurecht, denn insgeheim fand sie schon, dass man den Zoll nicht derart betrügen durfte, wie es der Reisende tat, weshalb trotz des versöhnlichen Ausgangs auf der weiteren Fahrt kein rechtes Gespräch aufkommen wollte. Denn darin sind ja die Leute sich einig, dass nämlich gelogen werden musste, aber Lüge war nicht Lüge, und davon, dass die Zöllner ihrerseits von den beschlagnahmten Waren einiges abzweigten, damit konnte man einer Frau wie ihr nicht kommen. Jawohl, es musste geschmuggelt werden in schlechten Zeiten wie den ihren, und die Staatsmacht war allzu genau, was man zu Recht beklagte. Aber Recht und Ordnung mussten darum doch sein, und dass ein Mann eine alte Frau verriet, war trotzdem schlimm, noch dazu, wenn er selber offenbar wohlhabend war. Nein, Staatsdiener würden keinen Vorteil aus ihrem Amt ziehen, jedenfalls nicht in Deutschland!
In metaphorischer Entsprechung zu diesem Rahmen entwickelt sich die Kernerzählung, die episodisch und multiperspektivisch, die Lebensreise des Protagonisten Rohlfs Bild an Bild pixelt, darstellt und montiert - und dabei geht es immer wieder generationenübergreifend auch um die Schicksale des Vaters und des Großvaters, die den Helden zu dem gemacht haben, was er zu sein scheint im Lichte und im Schatten seines Stammbaums. Rohlfs erweist sich dabei als moderner Antiheld, der sich nirgendwo zuhause fühlt, schon gar nicht im widersprüchlichen Deutschland seit dem Krieg, das sich zwischen Verdrängung des Nationalsozialismus und allgegenwärtig gewordenem Wirtschaftswunder in eine Enge laviert, die nach Kaugummi und Kitsch schmeckt, nach billiger Reklame und Benzin. Und Rohlfs erlebt, wie ihn die Wunden und Neurosen seiner Vorfahren bestimmen und im Griff behalten, sein Großvater, der als Lehrer im Dritten Reich seine hehren Ideale verraten musste und sein Vater, der als Zivilangestellter bei den U.S.-Streitkräften nach der iranischen Revolution in Ungnade fiel. Ein Beispiel für den assoziativen und multiperspektivischen Ansatz ist auch das launige Spiel mit der Zahl 250.000:
„Es mussten nahezu eine Viertelmillion Zigaretten gewesen sein, die er über eine Zeitspanne von dreißig Jahren inhaliert hatte, bevor er sich dem Gesundheitsdiktum seiner Epoche unterwarf und beim morgendlichen Frühsport das Nervengift aus seinem Körper zu verbannen versuchte. Eine Viertelmillion hatte Rohlfs für das Haus bezahlt, in dem er gehofft hatte ein sorgloses und unbeschwertes Leben mit seiner Familie führen zu können. Eine Viertelmillion Menschen im nördlichen Gazastreifen waren von Israel vermittels Flugblättern und Telefonanrufen, aufgerufen worden ihre Häuser zu verlassen.
Ahava, V'rachamim, chesed V'shalom. Bei der Hungersnot in Somalia starben zwischen Oktober 2010 und April 2012 mehr als eine Viertelmillion Menschen. Ahava, V'rachamim, chesed V'shalom. Das Mercedes S 65 AMG Coupé startet mit einem Preis von rund einer Viertelmillion Euro. Im Innenraum warten gestepptes Nappaleder sowie elektrisch verstellbare Sportsitze auf den zahlungsfähigen Kunden. Einer Hochrechnung zufolge sterben jährlich eine Viertelmillion Fledermäuse in den Rotoren der Windenergieanlagen des Wirtschaftsstandortes. Jedes Jahr erleiden darüber hinaus etwa eine Viertelmillion Deutsche einen Schlaganfall. Ahava, V'rachamim, chesed V'shalom.“ (aus dem Kapitel 5.17 Star)
Rohlfs seinerseits wird zum haltlosen und heimatlosen Vagabunden, der dem Fluch und Glück des Denkens und Relativierens nicht entkommt und der Zuflucht im Studium und im Reisen sucht, aber nicht finden kann. Der Traum vom besseren Leben kann, wie Constance als Freundin weiß, auf den Irrungen des Lebensweges, der Lebensreise, nicht erfüllt werden, löst er auch noch so große Motivationen und Anstrengungen aus, die condition humaine ist eine fragile, gar verlorene Angelegenheit, im Westen sowieso, aber auch im verklärten Osten. Wenn Georg Lukács in seiner Theorie des Romans von der transzendentalen Obdachlosigkeit des modernen Antihelden schreibt, dann macht Rohlfs in dieser Rolle eine bella figura, die unverdrossen einen Ausweg aus ihrer Misere sucht.
Rohlfs geht dabei den umgekehrten Weg – anders als unzählige andere Helden sucht er sein Glück nicht im Westen, sondern als Arbeitsmigrant im Osten, wo er als Wohlstandsflüchtling weg von der gediegenen Saturiertheit über Rumänien nach Baikonur in Kasachstan gelangt. An der Endstation, dem Weltraumbahnhof in Baikonur, sitzt man am Lagerfeuer, löffelt aus einem rußgeschwärzten Titantopf Erbsensuppe und sucht mit dem Steppenvolk nach Trümmern aus dem Weltall, das von einigen Superreichen touristisch vermarktet wird.
Ulise 22 ist eine subversive Irrfahrt durch die Überfülle und Hölle des 20. Jahrhunderts mit seinem 2. Dreißigjährigen Krieg und den Traumata nach diesem Krieg und der klassischen Moderne, die im mangelhaften 21. Jahrhundert ausläuft, und die der vornamenlose Antiheld Rohlfs unternimmt; er wird zum flüchtenden Nomaden, um heimkommen, bei sich ankommen zu können. Dabei lernt der Leser Cioran auf Rumänisch kennen, die verschiedensten Tankstellenketten in den Kapitelüberschriften und am Ende auch arabische Schriftzeichen: ein Buch von mehreren Sprachen mit dem seltenen Panoramablick von unten auf eine verlorene Gesellschaft. Und ein abenteuerlicher Roman, der den Leser in der Kunst des Lesens herausfordert und der seinen Spannungsbogen aus den inszenierten Fragmenten, den inhaltlichen und formalen Widersprüchen und den pointierten Humoresken gewinnt und der sich zu einem neoromantischen Mosaik aus verschiedenen Brüchen und Teilen zusammenfügt. Wenn man so will, schließt Ulise 22 mit seinem Personal und seinen Totalen im Fragment und seinen Rückblenden unmittelbar an die letzten 100 Jahre nach Veröffentlichung des Jahrhundertromans Ulysses von James Joyce, der an einem Tag, dem Bloomsday vom 16.06.1904 spielt, an und beschließt diesen Zeitraum mit dem runden Blick auf die drei Generationen von Rohlfs, seinem Vater und seinem Großvater, die allesamt aus der Zeit fallen.
Rohlfs kehrt den leeren Versprechungen des Westens mit seinem wütenden Konsumversprechen, seinem Lärm, seiner Bürokratie und seiner entmenschlichten Zivilisation den Rücken und erhofft sich im wilderen Osten Mitmenschlichkeit und Würde – der Osten wird zum linear bereisten Sehnsuchtsort für den aus der Zeit gefallenen Helden –, und in zarten Beziehungen unterhalb der korrumpierten Gesellschaft in Rumänien beispielsweise wird Rohlfs seine neoromantische Sehnsucht immerhin am Leben halten können, die Hoffnung ist abseits von ausgetretenen Pfaden noch eine Möglichkeit, wenigstens als Illusion, ein Ideenparadies, das er nicht aufgeben will. ECCE HOMO möchte man Rohlfs verzweifelt hoffend hinterherrufen - oder mit Elias Canetti, der sich zeitlebens mit dem Tod angelegt hatte: „Die Übertreibung retten. Nicht vernünftig sterben.“
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