Daß die Erde dir leicht sei, sagt ein Wort; ein schönes Bild, wenn die Erde dir leicht wird wie in einem Laubhaufen, wo sie noch ganz drinnen und doch schon als Verglühtes himmlisch geworden ist, ja, himmlisch ist vielleicht das Wort, das ich suche, das Überspringen und Überkippen von der Schwere des Daseins, vom Apfel und der fetten Erdscholle in diesen Raub der Lüfte, das Spielkind des Winds, der die Weite eröffnet, das Unbetretene, Zukunft. [Paul Nizon »Im Bauch des Wals. Caprichos« (1989)]
Auf Abwegen
In jenem Jahr, als meine Frau im Scherbenviertel untergetaucht war, machte ich nach dem Nachtdienst manchmal noch einen Abstecher dorthin. Da die Tage schon im Frühjahr sommerlich warm wurden, liess ich meine Uniformjacke in der Garderobe des Wachlokals zurück. Um draussen nicht gleich als Zerberus-Mann erkannt zu werden, entfernte ich auch die Achselstücke von meinem Hemd und stopfte mir die Krawatte in die Hosentasche. Von unserer Zentrale bis zur Langstrasse wäre es mit dem Bus nur eine Station gewesen; drum ging ich zu Fuss.
Am Morgen früh waren sogar noch an der Langstrasse die meisten Kneipen geschlossen. Inzwischen wusste ich jedoch, welches Restaurant als erstes geöffnet hatte, und ging geradewegs in den Aargauerhof. Übernächtigt, wie ich war, trank ich abwechslungsweise Bier und Kaffee fertig. Auch von den anderen Gästen, die sich nach und nach einfanden, schien mancher noch gar nicht im Bett gewesen zu sein. In einem von ihnen, der allein an einem runden Tisch sass, erkannte ich Peach Weber, einen Komiker, den ich einmal im TV gesehen hatte. Er hatte einen Haarkranz aus grauen Locken um den kugelförmigen Kopf und eine Schirmmütze obendrauf. Jedes Mal, wenn die Kellnerin an seinem Tisch vorüberkam, machte er einen Witz; es war, als würde er die Gags seines neuen Programms an ihr ausprobieren. Aber ihre Begeisterung hielt sich in Grenzen.
Inzwischen musste auch das Restaurant Strauss geöffnet worden sein, vor dessen Eingangstür soeben die Treppe gekehrt wurde. Hier waren wir, Marian und ich, vor einigen Jahren nach einer durchgezechten Nacht gelandet. Hier fiel man nicht auf, wenn man schon frühmorgens Alkohol trank. Auch jetzt sassen in der Spelunke nur Leute herum, die schon wieder oder noch immer betrunken waren. Ich setzte mich mit dem Rücken ans Fenster, durch welches das Licht der aufgehenden Sonne fiel. Von diesem Platz aus hatte ich die Ecke, in der die Jukebox stand, und einen Teil der Theke im Blick. Ein junges Mädchen, das in Begleitung von zwei Kerlen war, die kaum mehr aus den Augen zu sehen vermochten, hatte eine Münze eingeworfen und ein paar altbekannte Titel gedrückt. So ein junges Mädchen mit langen glatten, aber farblosen Haaren, das enge abgewetzte Jeans und zwei, drei verschiedene Shirts übereinander trug. Als die Musik ertönte, eine rumpelnde Hardrock-Nummer, kam zusehends Leben in seine schlanke Gestalt. Mit geschlossenen Augen tanzend, dehnte die junge Frau ihre Glieder, machte laszive Verrenkungen mit den Hüften und stiess plötzlich einen Schrei aus. Obwohl sie kein Publikum und schon gar keine Konkurrenz hatte, steigerte sie sich allmählich in eine solche Raserei hinein, als müsste sie alle Sängerinnen, die sie jemals gesehen hatte, in den Schatten stellen. „Die ist wohl auf Speed“, meinte der Alte, der sich an meinen Tisch gesetzt hatte, indem er mir zuzwinkerte. Früher, als wir noch Amphetamin genommen hätten, seien wir manchmal auch so abgefahren...
Da die „Räuberhöhle“ noch nicht offen war, ging ich an der Langstrasse durch die Unterführung. In einem der ausrangierten Eisenbahnwagen führte Amanda, die Marian schon als Kind gekannt hatte, neuerdings ein Restaurant. Man konnte einander wie in einem Zug gegenübersitzen und aus dem Fenster schauen. Ich fragte Amanda, als sie mir ein Glas Bier hinstellte, lieber nicht nach meiner Frau; ich konnte mir vorstellen, dass sie nicht gut auf Marian zu sprechen sein würde, wenn diese sich in ihrer jetzigen Verfassung bei ihr hätte blicken lassen. Die Wirtin war bekannt für ihre direkte Art; sie sagte einem alles auf den Kopf zu, was ihr nicht passte. Und dass Marian mit irgendeinem dahergelaufenen Kiffer das Geld durchbrachte, das sie von ihren Eltern und Grosseltern geerbt hatte, passte ihr bestimmt nicht – umso weniger, als sie mit diesen noch befreundet gewesen war. Ich brauchte nur den Blick von den Gleisen, auf denen die leeren Züge verschoben wurden, zu heben, um das Hofbräuhaus zu sehen, in dem ich meine Frau am letzten Wochenende gesucht hatte. Nachdem ich auf Umwegen in Erfahrung gebracht hatte, dass sie dort mit ihrem Macker abgestiegen sei, betrat ich das Gebäude am Ende der Unterführung von der Hofseite aus und stieg die Treppe hinauf; vom zweiten Stockwerk an war es tatsächlich bewohnt. Der Lärm, den man sonnabends von der Bierhalle und vom Biergarten her hörte, wurde in jedem Stock leiser. Ich ging in den Korridoren von Tür zu Tür und las den Namen, der jeweils unter dem Klingelknopf stand; bei den Untermietern schien es sich hauptsächlich um alleinstehende Gastarbeiter zu handeln. Auch in den Mansarden im Dachgeschoss wohnte niemand mit unserem Familiennamen. Möglich, dass sich Marian unter dem Namen ihres Begleiters ein Zimmer genommen hatte. Ich wusste nur den Vornamen von diesem, der allerdings auch auf keinem Namensschild stand.
Mit dem zunehmenden Autoverkehr hatte an der Langstrasse der Werktagsbetrieb eingesetzt, so dass von einem gemütlichen Morgenspaziergang keine Rede mehr sein konnte. Vom Tageslicht geblendet, bog ich fluchtartig in die Seitenstrasse ab, an der die „Räuberhöhle“ lag. Hier hätte zu jeder anderen Tageszeit am ehesten eine Hoffnung bestanden, meine Frau anzutreffen; aber zu dieser Stunde schlief sie gewiss, wo und mit wem auch immer. Hier befand man sich als Alkoholiker unter seinesgleichen. Ich setzte mich wieder mit dem Rücken ans Fenster zur Strasse. Nach einer Weile liess sich der Alte, der mir im Strauss zugezwinkert hatte, an meinem Tisch nieder, zusammen mit seinem Kumpel, der auch zu den Stammgästen der „Räuberhöhle“ gehörte. Ein älterer Mann mit einem gereizten Ausdruck im Gesicht; ich hatte einmal gehört, dass er ein Maler wäre, der seit Jahren eine Schaffenskrise hätte. Die beiden schienen über einen Künstlerball zu reden, der vor vielen Jahren im Limmathaus stattgefunden haben musste. Als der Name Paul Nizon fiel, horchte ich auf; es konnte mich nicht kaltlassen, mit jemandem, der Nizon gekannt hatte, am selben Tisch zu sitzen. So schob ich, es war an der Zeit für mich, nachhause zu gehen, dem Alten neben mir eine Zwanzigernote hin und sagte: „Kannst du für mich bezahlen? Ich muss auf den Bus.“ Und schon war ich aufgestanden, um die Pinte zu verlassen. Der Alte wusste meine diskrete Art, ihm ein Almosen zu geben, wohl zu schätzen; jedenfalls sandte er mir ein listiges Lächeln nach.
Es waren nur ein paar Schritte bis zur Station, an der mein Bus gerade eingetroffen war. Die Stosszeit war bereits vorüber, so dass wenigstens ein Sitzplatz für mich frei war; ich hätte jetzt nicht noch lange stehen mögen. Wie immer, wenn ich morgens getrunken hatte, vermied ich es unter den Leuten, durch den Mund zu atmen. Mir gegenüber sass ein Mann, der ein Kind im Alter von unserer Tochter auf dem Schoss hielt; es hatte runde braune Augen wie sie. Unruhig versuchte es sich den Armen seines Vaters, der es wohl in die Krippe bringen wollte, zu entwinden, indem es sich hin und her warf. Ich konnte nicht umhin, an Klein-Anna zu denken, die seit dem Weggang ihrer Mutter in fremder Obhut war. Wenn unsere Verhältnisse in Ordnung wären, dachte ich, käme es gar nie in Frage, Anna in einer Krippe abzuladen. Ja, wenn...
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