Life is pleasant. Death is peaceful. It's the transition that's troublesome.
[Isaac Asimov]
Man unterstellt mir Boshaftigkeit, Hinterhältigkeit. Unwissende halten mich für ungerecht. Greise für gnädig. Eltern für grausam und Kinder für gemein. Nichts davon ist richtig – und doch alles wahr. Seit der Zusammenführung aller Intensivstationen der Region ist meine Arbeit stressiger geworden. So erlaube ich mir dann und wann eine Auszeit auf dem „Hügel“ – wie man die Krebsklinik nennt. Am Botanischen Garten. Tolle Aussicht, sogar im November. Beste Gegend. Nicht nur vom Preis her. Auch das menschliche Material – sozusagen. Hier erhole ich mich aber nur. Habe nichts zu verrichten – Freizeit.
In der Onkologie wird schon lange nicht mehr gestorben. Das letzte Mal vor zwei Jahren, ein Chirurg. Herzinfarkt.
Der gewöhnliche Krebstod wurde ausgegliedert. Die meisten Patienten gehen austherapiert nach Hause. Oder in ein Hospiz. Sieht besser aus und ist wirtschaftlicher.
Hier denken alle positiv. Ich beobachte sie in aller Ruhe. Hier wissen alle von meiner Anwesenheit. Manche können mich sehen. Einige können mir in die Augen schauen und die einfache Wahrheit ertragen, die ich ihnen eröffne: Es geht nur darum, welches Datum in der Todesanzeige stehen wird. Es ist wie eine Terminvereinbarung: Nächste Woche? In fünf Jahren? In dreißig Jahren? Hier versteht jeder die Bedeutung, das Gewicht der Entscheidung. Keine Spielchen mehr. Dies ist kein Ort für leichtfertige Zusagen, leere Versprechen. Wer hier liegt, überlegt sich genau, was er will.
Wie Nicks Frau, die nach ihrem zweiten Rezidiv gleich aus dem Morphium-Schlummern aufwachen wird. Sie war auch vor fünf Jahren, bevor der Tumor entdeckt wurde, ein zierliches aber starkes Persönchen. Sie wird mich sehen und erkennen. Ich freue mich schon auf das Gespräch.
Krebs ist keine Krankheit. Im Gegenteil. Nicks Frau versucht verzweifelt, wenigstens in Teilen erhalten zu bleiben: ein Überlebenskampf auf Zellebene. Wenn das Ganze schon verloren geht. Wenn die Organe ersticken. Um seine Haut zu retten, vereinfacht sich der Körper energiesparend. Eine clevere Strategie. Ich muss es mir jedes Mal ansehen und bin bereit, meinen Job zu tun.
Bei Nicks Frau sind es die Zellen ihres linken Eierstocks. Halt! –, sie öffnet langsam die Augen. Benommen und geschwächt, braucht sie einige Minuten, bis sie begreift, was los ist. So viel Zeit muss sein – sie soll bei Sinnen sein, wenn wir die ernsten Dinge besprechen, die sie schon lange nicht mehr auf dem Schirm hat, obwohl sie von ihnen erwürgt wird.
Menschen verwechseln Verdrängen mit Vergessen. Wenn man vergisst, spart man Energie – die Sache kommt unter Verschluss. Es kostet was, sie wieder hervor zu holen; also lässt man es sein. Feng Shui für die Seele. Gesund.
Verdrängen ist wie Angst und Schmerz in Schubladen verstecken, die getarnt gedrückt werden müssen, damit der ganze Dreck nicht herausströmt und einen normalen Alltag unmöglich macht. Viel Einsatz, um die Lügen, die nötigen Trugbilder aufrecht zu halten.
Es kostet Kraft, die unsichtbare Hand zu lösen, die über Jahre und Jahrzehnte die Schubladen des Unbewussten geschlossen hält. Krank.
Wehe, die Hand ermüdet. Oder bricht.
Mit Nicks Frau wird es nicht einfach werden. Zu viele Schubladen. Wir werden weit zurückgehen und tief bohren müssen, denn bei ihr beginnt das Krebsleben schon bevor sie entbunden wird.
Im Alkohol- und Nikotinbauch ihrer Mutter. Beim dilettantischen Versuch, den unerwünschten, gehassten Wurm in ihrem Bauch abzutreiben.
Ich beuge mich über sie: „Plötzlich sind sie alle richtig lieb – nicht wahr?“, flüstere ich ihr ins Ohr.
Panisch reibt sie sich die Augen. So reagieren sie manchmal, wenn sie mich sehen. Aber es ist ein gutes Zeichen: ein Lebenszeichen.
„Das ist keine Liebe! Er hat nur Schiss! Es dämmert ihm langsam: wenn du weg bist, dann muss er die Verantwortung für die Kinder tragen. Kann sich nicht mehr einfach aufs Motorrad schwingen und mit den Kumpels ins weiberfreie Lager verpissen. Saufen. Zocken. Ficken. An Wochenenden. Manchmal auch sonst.“ Ich muss schnell auf den Punkt kommen – Diplomatie liegt mir nicht.
Ihre Empörung gefällt mir: Ihr vergilbter Teint – durch die Lebermetastasen verursacht – erfährt eine winzige Rotverschiebung. Sie spürt die Härte der Worte und kämpft gegen ihre Wahrheit. Kämpft!
Nick, die Kinder, die sie so liebevoll belagern, wollen ihre Wünsche jetzt aus kleinsten Regungen lesen: möchtest du ein Eis, Mama, oder soll ich dir ein Buch, eine Zeitung bringen? Entscheide! Jetzt!
Mutter hat Kohlrouladen geschickt. Sie sind ihr besonders gut gelungen, mit viel Liebe zubereitet. Extra für dich. Weil du sie so gerne hast. Möchtest du jetzt essen? Oder lieber später? Sind sie warm genug? Ich kann sie in der Küche aufwärmen lassen – soll ich? Oder möchtest du doch lieber später essen? Jetzt vielleicht einen Joghurt? Oder lieber nur Obst? Ich habe auch frische Datteln mitgebracht. Vom Türken. Sollen sehr gesund sein. Möchtest du?
Oder doch lieber was Richtiges? Entscheide! Jetzt!
Jetzt, da ihre Energie kaum noch zum Atmen reicht, und sie befürchten muss, dass es jetzt so weit sein könnte. Dass es vielleicht diesmal nicht mehr gut ausgehen wird. Jetzt erstickt sie in Aufmerksamkeit und Zuwendung.
Es ist keine Zärtlichkeit, keine liebevolle Berührung. Panisches Grapschen, aggressives Schnappen – Festhalten, damit sie bleibt. Egoistisches Zerren und Zupfen. Klammern, damit sie bleibt, solange sie gebraucht wird. Für Liebe und Sex schon lange nicht mehr. Für das Management und Betrieb im Haus und Garten.
Eine sehr nette, harmonische Familie, würde jeder sagen, der sie kennt.
„Halt' dir die Kinder vom Leib – das ist keine Liebe!
Es ist nur schlechtes Gewissen: hätten wir der Mama vielleicht doch im Haushalt helfen, ihr vielleicht manchen Kummer ersparen sollen, vielleicht Mal die U-Bahn genommen, statt Jahre lang, manchmal drei Mal am Tag, die Taxi-Fahrerin Mama bemüht – auch um drei Uhr nachts; mal Oma sagen sollen, dass sie Mama in Ruhe lassen und nicht dauernd kontrollieren solle; dass Mama, keine Versagerin sei, die nichts zustande bringt.
Dass sie nicht von Omas Geld, in Omas Haus lebte, sondern eine liebe Mama sei. Dass Mama sehr wohl kochen könnte, wenn sie nur dürfte.“
Sie versucht mich anzuschreien, zu widersprechen – schafft es aber nicht. Zu schwach. Aber es liegt nicht am Kraftmangel. Ich erkenne es am Glanz ihrer Augen:
„Wie heißt du?“, sie schaut mich dabei milde an und kratzt sich wund. Wenn jeder Quadratzentimeter Haut juckt, ist das die Hölle. Es sind die Gifte – innerlich und äußerlich.
Eine bildhübsche Krankenschwester kommt herein, um die Infusion zu prüfen. Adrett, seitdem das Klinikum eine GmbH ist, lächelt sie freundlich:
„Nicht weinen“, sagt sie warm und berührt sanft die Schulter der Patientin „das wird schon!“ –, sie spürt, dass ich da bin, verdrängt es aber.
Nicks Frau nickt, wischt sich die Tränen, und schüttelt den Kopf, als die Schwester beim Hinausgehen fragt, ob sie noch einen Wunsch hätte.
„In L.A. nennt man mich Joe Black“, antworte ich, „Der Schwarze Sepp, und du hast den Schwarzen Peter ...“, ich lache über mein Wortspiel.
Ihre Tränen zeigen: sie lässt die Wahrheit zu, vor der sie sich immer verkrochen hatte. Geflüchtet in geschäftiges Machen-und-Tun und Lächeln dazu und in Pilcher-Filme, in Volksmusik und in Schönfärberei. Und leugnen, lügen und heucheln, bis es nicht mehr nötig war, weil es von selbst geschah. Eine zweite Natur wurde – und eine Krankheit.
Eine Bedingung für ein Krebsleben. Nicht der Grund.
Das Abheben in Traumwünsche, für deren unerreichbar gleichen Abstand, sie, die Umstände und ihre Lieben gesorgt haben – unbewusst, aber tatkräftig – bis sie irgendwann zum Traum-vom-Traum mutierten, um später noch wie Floskeln geplappert zu werden, und heute nur noch die verblasste Erinnerung von etwas zu sein, was einmal ein Wunschtraum, vielleicht sogar Wirklichkeit hätte sein können. Es war komfortabel – bösartig bequem. Was es aber genau war ...
„Ihr seid alle krank, führt ein asymmetrisches Leben: Sie sind Räuber! Nehmen ohne zurückzugeben! Natürlich aus freien Stücken. Aus FREIEN! Dass ich nicht lache! Das ist die größte Verarschung. Böses Kind! Du hast den schlimmsten Verrat begangen: dein Selbst verraten. Ja – heule nur!“
Sie wird durch die wuchtigen, krampfartigen Erschütterungen ihres ausgemergelten Körpers im Bett hin- und hergeworfen. Nicks Frau wiegt fast nichts mehr. Ich jedenfalls bin bei ihr und bereit.
„Du bist der Tod! Hier bin ich! Halte dein Versprechen und hole mich! Erlöse mich! Aber quäl' mich nicht!“, brüllt sie.
Ich muss innerlich lachen.
Bei Krebs muss auch der Tod paradox denken: der Patient meint oft das Gegenteil von dem, was er sagt.
„Ich quäle dich nicht. Die Erkenntnis deiner Wahrheit quält dich. Das Fühlen der Wahrheit.
Wenn es gut geht, dann wirst du sogar wütend sein. Glaub' es mir: Ich kann dich nicht täuschen – der Tod lügt nie.“
Sie hat schon lange nicht mehr aus vollem Herzen geweint: ihr Kinn verkrampft sich. Die Kraft der stärksten Muskeln, die ein Mensch besitzt, packt gnadenlos zu. Ihre Zunge blockiert. Sie würgt – übergeben kann sie sich aber nicht. Es ist süß, wie ihre dünnen Ärmchen in die Luft schlagen, wie ein Boxer ohne Gegner, bekämpft sie ihr eigenes Schattendasein.
Ich habe sie richtig eingeschätzt: sie kämpft. Aber sie wird Zeit brauchen, bis sie sich davon erholt. Bis sie ihre Wahrheit ertragen kann.
„Hallo!“, begrüßt mich Nicks Frau, jetzt, sechs Monate später, bei ihrer letzten Chemo: „Komm herein! Ich erkenne dich wieder!“ Sie lächelt.
„Oh ja, die Therapie greift ...“, ich beobachte einige kleine Veränderungen an ihr.
„Bin dir wieder einmal von der Schippe gesprungen!“, strahlt sie.
Es ist nicht nur so dahingesagt. Ich merke es natürlich sofort. Wer, wenn nicht ich.
„Warst du oft beim Pferd?“, ich sauge ihre Antwort auf: Sie nickt.
„Du hattest Recht. Mit allem, was du über Nick und den Kindern gesagt hattest. Ich habe es verstanden. Ich denke wieder positiv. Ich werde leben!!
„Werde leben – wenn ich das schon höre! Du hast nichts begriffen! Du lebst jetzt, und wirst sterben!“
„Doch! Ich werde alles verändern.“
„Langweile mich nicht mit diesem Positiv-Denken-Gequatsche! Die Friedhöfe sind voll von Positiv-Denkern – ich habe sie alle dahin bringen müssen. Und Nick …“
„Oh, das ist jetzt alles anders. Wir haben viel miteinander gesprochen und sind uns dabei sehr nahegekommen. So gut war unser Verhältnis noch nie. Offen. Vertrauensvoll. Klar – es wird nicht mehr die große Liebe sein. Aber wir werden echte Partner. Keine Lügen, kein Heucheln mehr.“
„Und die Kinder? Haben sie sich auch geändert?“
„Sie brauchen noch ihre Mutter – das ist doch normal. Ich werde es ihnen schonend beibringen, wenn sie so weit sind. Wichtig ist sowieso, dass ich es kapiert habe. Dass ich mein Leben ändern muss! Ändern werde!“
„Du täuschst dich – es ist immer noch deine alte Masche. Du glaubst verstanden zu haben, du denkst, du wirst es schon richten, du wirst …! Du, du und wieder du! Eigentlich warst du immer schon ein Kontrollfreak! Aber ein Blatt kann den kranken Baum nicht heilen.“
„Ich lasse mich von dir nicht entmutigen – nicht jetzt! Du kriegst mich nicht! Nicht bevor meine Zeit, meine mir von Gott gegebene Zeit gekommen ist!“
„Ich muss lachen!“, ich muss wirklich lachen, wenn meine Kandidaten mit Gott kommen: „Lass bitte Gott aus dem Spiel! Das hier ist eine Sache zwischen uns – zwischen dir und mir.“
Sie weint.
Nicht mehr so gequält.
Das ist gut.
„Die Blätter müssen im Herbst vom Baum fallen, damit sie in einem neuen Frühling wieder knospen können. Der Stamm muss – von seiner Last befreit – sich erholen können. Die Wurzeln müssen genesen. Nick, die Kinder – sie sind nur Blätter einer Kriechpflanze auf deinem darbenden Stamm. Parasiten. Und die Wurzeln ... Erkenne es: Du gehörst immer noch mir!“
„Das verstehe ich nicht. Seit wann bemüht der Tod Bilder, die kein Mensch versteht?“
„Nick und die Kinder – sind nicht der Grund!“
„Was bitte schön ist der Grund? Raus mit der Sprache!“
Sie gefällt mir. Ihre Kraft, ihre Energie fließt noch. Es liegt an ihrem Pferd! Wenn es um Angst geht, sind Pferde Experten – ihre Rettung?
Wenn sie wieder reiten wird …
„Du kennst den Grund – genauer gesagt: du spürst den Grund. Es ist wie mit der Luft, die du atmest: unbewusst immer da. Erst wenn sie knapp wird, wirst du ihr gewahr. Nur: deine Luft ist vergiftet. Sie heißt MUTTER.
Deine MUTTER, die seit drei Jahren kein Wort mehr spricht, weil du – ihre böse Doktor-Tochter –, die sie von ihrer Depression nicht heilen will, bestraft werden muss.
GroßMUTTERs böser Blick, ihre Stimme: Da darfst du nicht anfassen! Böser Finger!
Der Teufel wird dich holen!
Deine SchwiegerMUTTER, die im Laufe der Jahre deine allgegenwärtige ÜberMUTTER geworden ist.
Wenn dich jemand besucht, schaust du unwillkürlich durch die Decke des Wohnzimmers, als müsstest du dich vergewissern, dass sie in ihrem Reich nicht gestört wird. Redest leise und bittest den Besuch, ebenfalls leise zu sein, Rücksicht auf die alte Frau zu nehmen. Sie könnte schlafen. Etwas Wichtiges erledigen. Kochen. Vielleicht schreiben.
Aber die schlimmste, die gemeinste, die brutalste MUTTER, das bist du! Ein Tyrann. Wenn dich jemand lobt, dann denkst du: Wenn ihr wüsstet, wie schwach, gemein ich bin! Eine böse Mutter. Nicks Frau: Nichts.
Eigentlich wolltest du keine Kinder haben. Du hattest doch so viel vor. So viele Begabungen. So viele Möglichkeiten. Energie im Überfluss.
Und dann scheitert deine erste Ehe. Es ist meine Schuld, sagtest du, denn bei deiner Überlegenheit und deinem Potenzial konnte es nur einen Schuldigen geben: dich.
Dein Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein hatten aber Schaden genommen. Ein Baustein deiner Katastrophe wurde die Krise allerdings erst durch deine Mutter. Durch ihre Enttäuschung. Sie wollte immer Enkelkinder – von ihrem lieben Schwiegersohn, den sie regelrecht angehimmelt hatte.
In den Jahren eurer Ehe hatte sie ihn hundertmal öfter in den Arm genommen, als dich in deinem ganzen Leben. Sie hat dich nie gewollt – das weißt du! Sie sah in dir den Grund für das Misslingen ihres eigenen Lebens.
Das hat sie dir zwar nie gesagt, dich aber jeden Tag, jede Minute spüren lassen und dir nie verziehen.“
Das saß.
Sie zieht die Decke über den Kopf.
Ich glaube, sie schämt sich. Das ist gut. In ein paar Stunden komme ich wieder. So lange überlasse ich sie ihren Tränen. Damit sie ihr und sich selbst verzeihen kann. Dass ich dabei mein Tagesgeschäft nicht vernachlässigte, ist doch klar. Auf die Krebsstation komme ich ja nur, um mich zu erholen. Und um mir über den Sinn meines Seins immer aufs Neue bewusst zu werden.
Wenn ich am Abend vor ihrer Entlassung das Zimmer betrete, sitzt Nicks Frau nackt auf dem Boden neben ihrem Bett. Sie weint nicht – lächelt, denn sie erkennt mich sofort. Winkt mich zu sich.
„Man hatte damals festgestellt, dass ich keine Kinder haben kann, es sei denn … Eine Hormontherapie, um meine zweite Ehe zu retten. Den Gedanken, wieder zu scheitern und alleine zu sein, konnte ich nicht ertragen. Ich konnte doch meine Mutter nicht wieder enttäuschen. Wie sollte sie sonst eine Chance bekommen, mich endlich lieb zu haben? Mein Mann wollte auch unbedingt Kinder. Er hätte das Recht gehabt, mich zu verlassen. Ich war unfruchtbar, unfähig eine normale Ehefrau zu sein. Ich hätte alles getan, um nicht alleine zu bleiben! Tod, du kennst keine Angst! Du kannst nicht fühlen, was ich all die Jahre durchgemacht habe. Du hast es leicht. Du bist leicht. Wieso habe ich dich nie gesucht?
Als ich die Zwillinge bekam – das war Glück pur. Mein Sieg: Ich kann, wenn ich will! Es gibt immer einen Weg.“
Sie redet leise, farblos – wie Novemberwolken, die, um nicht aufgelöst zu werden, das Wasser für sich behalten.
Was ich sehe, gefällt mir gar nicht. Es sieht nach Arbeit aus. „Ein Pyrrhussieg, Liebste! Auf dem falschen Gleis bloß nicht beschleunigen! Der Crash kommt schneller und der Knall ist lauter.“
„Das stimmt! Dann wollte ich die beste aller Mütter werden. Und auch noch alle Menschen retten. Mal eben eine Heilpraktikerausbildung absolviert, obwohl ich schon Ärztin war. Durfte aber nie praktizieren – mein Mann und meine Schwiegermutter hatten es mir untersagt. Sie hätten es nicht ertragen, wenn ich gearbeitet hätte. Das Gerede der Leute würde mich umbringen: Deine Schwiegertochter ist eine Rabenmutter, sie lässt ihre Kinder im Stich! Habt ihr es wirklich nötig? So weit ist es schon mit euch gekommen?
Wie viel Geld wir haben, wie viel mein guter Mann in seiner leitenden Position verdient – das interessierte niemanden, nicht einmal mich. Ich hatte mein Haushaltsgeld, mein Taschengeld – und wenn ich mehr brauchte, musste ich es nur sagen. Ich musste nur darum bitten. In meinem ganzen Leben habe ich noch nie Geld gehabt – mein wirklich eigenes Geld.“
Auf dem Stuhl neben ihrem Bett liegt ein angebissener Apfel. Sie greift danach, kratzt mit dem Fingernagel die braunen Flecken ab und beißt kräftig in die Frucht. Ein gutes Zeichen: Lebenszeichen.
„Es gibt noch mehr Gründe. Aber sie liegen viel tiefer. Um sie zu erkunden, musst du von hier weg!“, betone ich langsam, „Es ist deine einzige, deine letzte Chance – keine Garantie: Du musst das Gleis wechseln. Frage jetzt nicht, welches das Richtige ist. Jedes ist besser. Warte nicht auf eine Weiche. Warte nicht auf ein Zeichen. Spring in ein ganz anderes Leben! Jetzt! Sollte es schief gehen, sei gewiss: ich werde da sein.“
Sie lächelt: „Ich schaffe das nicht. Mir fehlt die Kraft. Der Mut.“
„Das war gut“, lache ich, denn bei Krebsmenschen muss man paradox denken: sie sagen oft das Gegenteil von dem, was sie meinen. „Um die Sache zu vereinfachen – darum bin ich hier. Um dir das zu sagen: Es gibt nur dich und mich. Es sieht folgendermaßen aus: Gehe ich vor dir, dann nehme ich dich mit, und wir verbringen deine letzten Stunden zusammen mit deinen Lieben und deinem Nierenversagen."
Mühsam, sich an dem Stuhl festhaltend steht Nicks Frau auf. Ihr Kreislauf lässt sie fast im Stich. Wankend schleppt sie sich zum Fenster und öffnet es – atmet die kühle Luft, die aus dem benachbarten Botanischen Garten mit Sauerstoff angereichert herüber weht.
„Kehrst du mir den Rücken zu und verlässt dieses Zimmer vor mir, weg von den Kindern und von Muttern, von Nick – wenn es sein muss, nackt und auf allen Vieren –, dann folge ich dir geduldig auf dem langen Weg in die freie Zeit. Immer mit gebührendem Abstand zum Leben.“
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