Sonntag, 20. September 2020

Z. Z. X [»Nervensegen« von B. Karl Decker]



["Johannes der Täufer in der Wildnis", Hieronymus Bosch (um 1482)]


Als nun der ganze Leib der Natur in der Räumlichkeit dieser Welt gleichwie im harten Tode erstarret war und doch das Leben darinnen verborgen war, so bewegete Gott den ganzen Leib der Natur dieser Welt am vierten Tage und gebar aus der Natur aus dem aufgegangenen Lichte die Sternen. Denn das Rad der Geburt Gottes bewegete sich wieder, wie es von Ewigkeit getan hatte. [Jakob Böhme »Aurora oder Morgenröte im Aufgang« (1612)]

Einer staunte darüber, wie leicht er den Weg der Ewigkeit ging; er raste ihn nämlich abwärts. [Franz Kafka »Die Zürauer Aphorismen« (1917/18)]

Der Begriff der Ewigkeit ist für uns unfaßbar, weil wir zu ihrer Beurteilung nur die Zeit haben, welche ein endlicher Begriff ist. Ob wir zu der Ewigkeit eine Minute oder eine Million Jahrhunderte hinzutun oder davon hinwegtun, ist gleichgültig, denn es bleibt immer Ewigkeit. [Otto von Corvin »Der Pfaffenspiegel« (1845)]



["Hl. Johannes der Evangelist", Jacopo da Pontormo (1525)]




Präpositionalpredigten (Pfarrersprech)

Gott sei vor dir, wenn du den Weg nicht weißt, Gott sei neben dir, wenn du unsicher bist, Gott sei über dir, wenn du Schutz brauchst, Gott sei in dir, wenn du dich fürchtest. Gott sei um dich wie ein Mantel, der dich wärmt und umhüllt.
Einen Mantel, Herrgott nochmal, zieht doch heutzutage kein Mensch mehr an. Versuch bloß auch mal einer im Mantel ins Auto einzusteigen! Das Auto steht in der geheizten Garage, meins jedenfalls, oder du heizt es dir vor, wenn's denn partout nochmal draußen stehen musste. Wozu gibt's intelligente Technik? Wer den lieben Gott schon braucht, weil's kalt ist, was macht der denn, wenn's wirklich mal'n Problem gibt?
Schutz braucht man, das ist Alltag. Ich sag nur Datensicherheit, überhaupt Sicherheit. Das A und O: rechtzeitig drum kümmern und dran bleiben. Versicherung, zum Teil ja auch unvermeidlich, Beispiel Auto, oder Kredit. Meine Meinung: hinter dir muss etwas stehen, nicht über dir. Das tun sie noch genug, die Versicherungsfritzen, regelrechte Akrobaten vom Kleingedruckten.
Ich sag', auskennen muss man sich. Unsicher sind besser die andern. Alles ein Poker. Die Wimper soll mir erst noch wachsen, wo ich damit zucke! 
Und vorne, mal ehrlich, bin ich am liebsten selber. Der Weg entsteht beim Gehen. Oder gleich Google Maps. Was anderes haben die andern auch nicht. Was heißt da, den Weg nicht wissen? Wege weiß man, oder es sind keine.


Alliterationspredigt (Pfarrersprech II)

Mögen die Regentropfen sanft auf dein Haupt fallen. Möge der weiche Wind deinen Geist beleben. Möge der sanfte Sonnenschein dein Herz erleuchten. Mögen die Lasten des Tages leicht auf dir liegen.
Wer nicht schwer heben kann, der soll verdammt nochmal die Finger von allem lassen, was besser jüngere Leute schleppen. Die wissen noch gar nichts von einem Rücken und sollen sich gern wichtig machen mit etwas so Lächerlichem wie Körperkraft! Bloß Ablenkung von dem, was wirklich schwer ist!
Und dann vor allem Licht, und zwar gutes! Wenn man ein Problem überhaupt erst mal sieht, ist es meist schon keins mehr. Das hebt die Stimmung! Komm mir einer mit "Depressionen"! Der Grund ist: der kann nichts. Wer was kann, der ist nicht mies drauf, warum auch? Was anderes ist Ärger. Es gibt ja kaum jemanden, über den man sich nicht ärgert. Schon dass einem ständig einer im Weg steht! Aber, sag ich, Arsch zusammenkneifen und durch die Zähne pfeifen: Hab' Sonne im Herzen.
Wind, auch so'n Problem. Draußen kannst du praktisch nichts hinlegen, was nicht demnächst irgendwie rumflattert. Schon Zeitunglesen draußen ist eigentlich eine Qual. Und regnen tut's ja sowieso fast immer.


Die Denunzianten (Der Erzählung erster Teil)

Wer sich die Sache mit der Parkzeitbegrenzung auf dem Parkplatz auf einem Abrissgrundstück überlegt hatte, war nicht bekannt. Eigentlich wurde der Parkplatz an dieser beliebigen Stelle der Durchgangsstraße in the middle of nowhere des recht abgeliebten Dorfes auch gar nicht gebraucht. Hier parkte der eine oder andere Anwohner oder auch ein Besucher, meistens gar keiner. Das Schild Parken mit Parkscheibe fand höchstens als Kuriosum Beachtung, und natürlich kannte jeder die Geschichte vom Leiter der Ortspolizeibehörde, der hier auf dem Nachhauseweg am Abend vom Amt einen Abstecher gemacht hatte um Parkscheiben zu kontrollieren. Ein einzelnes Auto hatte dagestanden, nicht bloß, wie man sich denken kann, mit abgelaufener, sondern überhaupt ohne Parkscheibe. Prompt, da es noch nicht 19 Uhr war, wurde Anzeige erstattet. Dafür entschädigte aber der Lacher, der jedes Mal erfolgte, wenn der Verkehrssünder davon erzählte, zumal alle im Dorf den Polizeiamtsleiter kannten, über den auch noch weitere kuriose Geschichten zirkulierten.
Bei solchen Gelegenheiten wurde auch darüber spekuliert, was sonst noch so zur Anzeige gebracht werden könnte, verboten waren schließlich die alltäglichsten Dinge, im Grunde machte man sich auf Schritt und Tritt strafbar, sündigte jedenfalls, wenn man auch nicht zur Beichte musste, dafür wurde man geblitzt, und was schlimmer war als Beten, zur Kasse gebeten, fünfzehn Euro hier, 25 da, das konnte ins Geld gehen. Manche waren aber auch glühende Verfechter des fest installierten Radars, zwecks Verkehrsberuhigung, wozu übrigens jeder Bürger durch "vorschriftsmäßiges" Parken vor seinem Haus seinen Beitrag leisten konnte. Ruhenden Verkehr gab es schließlich ein Mehrfaches im Vergleich zum fließenden. Eigentlich waren stehende Autos geradezu das Gegenteil von Autos überhaupt.
Die beiden Hinzbergers, Rentnerin und Rentner nach vierzigjähriger Berufstätigkeit, leisteten ihren Beitrag sowohl zum fließenden als auch zum ruhenden Verkehr, indem ihnen das Auto ein überaus angenehmer Aufenthaltsort war, mochte es sanft brummend und schaukelnd rollen, oder auch stehen. Ein Dach überm Kopf hatte man jedenfalls, man saß darin abgeschottet, windgeschützt und trocken und konnte den Ausblick nach Belieben variieren, anders als vom häuslichen Fenster aus, wo sich dem Blick bloß die immer gleiche Nachbarschaft bot.
Dort in der Nachbarschaft hatte in letzter Zeit der soziale Druck doch spürbare Formen angenommen. Die Hinzbergers hatten erkennbar bombastisch ihr Haus in einem Neubaugebiet errichten lassen. Die weiter entstehenden Allerweltseinfamilienhäuser, blieben schuldenbedingt hinter dem zurück, was das Rentnerehepaar sich verdientermaßen mit seinem Schmuckstück leistete.
Als solchen, die eher am Platz waren, zollte man den beiden Ergrauten den üblichen Respekt, hörte auch mit dem amerikanisch toleranten halb fragenden ok? die fachmännischen Statements Herrn Hinzbergers an, der im Beruf irgendeine Art Ingenieur gewesen sei, das Genauere hatte man sich nicht gemerkt. Der eine oder andere Bauarbeiter fragte sich indessen, was den alten Mann eigentlich anderer Leute Baustellen angingen, versuchte aber anfangs noch wegzuhören und sonstwie auszuweichen. Dann mussten aber doch auch Widerworte gefallen sein, mehr oder weniger feinfühlende Äußerungen der Ungeduld und des Missfallens, noch dazu hinweg über Sprachbarrieren, weit über die hinaus, des Italienischen nämlich, die man aus seiner eigenen Zeit ja kannte und zurechtzukommen wusste, man musste besonders laut sprechen, duzen und Infinitive verwenden. Die Frechheit anstatt zu verstehen sich einem Kollegen in einer völlig unbekannten Sprache zuzuwenden, schlug dann doch dem Fass den Boden aus.
Ein vorläufiger Höhepunkt des sich in dieser Weise entwickelnden und nach und nach festsetzenden Dissenses zwischen Nachbar und Bauleuten wurde erreicht, als Herr Hinzberger den vergleichsweise ahnungs-, darüber hinaus aber auch arglosen Bauherren Baumängel und Schlampereien erklärte, diese bezüglich des Hauses einerseits ängstigend, andererseits aber auch in Verlegenheit bringend. Mit dem umgänglichen Anführer des Trupps und Vertreter der Firma, mit der sie den Vertrag abgeschlossen hatten, pflegen sie den modern gewordenen kumpelhaften Ton ungefährer Altersgenossenschaft.


Attributpredigt (Pfarrersprech III)

Mögest du warme Worte an einem kalten Abend haben, Vollmond in einer dunklen Nacht und eine sanfte Straße auf dem Weg nach Hause.
Also Thema Heizung: für mich ganz klar, daheim will ich nicht frieren, und ich meine, wirklich nicht frieren!
Auch Licht; was heißt hier Strom sparen? Der Strom wird doch billiger, je mehr man verbraucht, einfaches Marktgesetz. Strom sparen ist also rein verschenktes Geld. Tja, bei Dunkelheit mit kaltem Hintern woll'n die Grünen überwintern.
Da ist natürlich auch nichts mit Straßenbau.


Allessegen (Pfarrersprech IV)

Mögen alle deine Himmel blau sein, mögen alle deine Träume wahr werden, mögen alle deine Freunde wahrhaft wahre Freunde und alle deine Freuden vollkommen sein, mögen Glück und Lachen alle deine Tage ausfüllen, heute und immerzu ja, mögen sich alle deine Träume erfüllen.
Sagen wir mal: Immer schön Wetter kann einem auch auf den Zwirn gehen. Und von den meisten Träumen, mal ehrlich, ist man doch froh, dass es Gott sei Dank bloß geträumt war. Gerade, was man beispielsweise auch ausgerechnet von Freunden träumt. Vollkommener Stuss, wenn man mich fragt. Wo kämen wir auch hin! Mit den Träumen ist es so wie mit kleinen Kindern, die nicht wissen, wann man besser den Mund hält. Der Erwachsene denkt sich seinen Teil und kommt trotzdem auf seine Kosten. Dazu muss man sich auch nicht den lieben langen Tag den Bauch halten vor Lachen. Es soll sich ja schon einmal ein ganzes Volk totgelacht haben, drunten in Afrika, oder so. Überhaupt der südliche Mensch, der reinste Kindergarten!


Mögliches und allzu Mögliches

Möge dein Magen mögen, was die Waagen wögen oder nur immer zu wiegen wagen!



["Spielendes Kind", Hieronymus Bosch (um 1500)]



Blumenpredigt (Pfarrersprech V)

Mögen aus jedem Samen, den du säst, wunderschöne Blumen werden, auf dass sich die Farben der Blüten in deinen Augen spiegeln und sie dir ein Lächeln auf dein Gesicht zaubern.
Grinsen, auch so eine amerikanische Sitte, am besten vor sonst noch einem fotogenen Hintergrund. Dabei denkt kein Mensch an Käse, wenn "cheese" gesagt wird. Die Leute sollen aussehen, wie sie aussehen, Ernst ist nichts Böses! Farben sind normal und dienen der Orientierung, im Normalfall. Das ist auch bei Blumen so. Übrigens blüht alles, bloß das meiste stellt man sich nicht in die Vase.


Irre Nervensägen (Pfarrersprech VI)

Wenn du strauchelst, weil dir die Arbeit zu schwer wird, möge die Erde tanzen, um dir das Gleichgewicht wiederzugeben.
Zu schwere Arbeit, meiner Ansicht nach ganz klarer Fall für die Gewerkschaft. Oder falsches Arbeiten, zum Beispiel ohne das richtige Werkzeug. Das ist sogar bei Büroarbeit nicht anders. Eine Arbeit, die zu schwer wird, ist einfach falsch angepackt. Wenn dann auch noch alles zu wackeln anfangen würde, ja dann gut Nacht!


Wundersegen (Pfarrersprech VII)

Mögest du dir die Zeit nehmen, die stillen Wunder zu feiern, die in der lauten Welt keine Bewunderer haben.
Zeit haben beispielsweise Pfarrer ja. Ich will nicht behaupten, schließlich ist nur sonntags Kirche, denn beerdigt wird ja auch die Woche über.
In richtigen Berufen hat man gerade keine Zeit. Wo du nicht sofort bist, da waren schon drei andere. Wer stille Wunder feiert, der wird sein blaues Wunder erleben, bei dem ist nämlich bald Feierabend.
Lärmschutz ist wichtig und ja auch vorgeschrieben. Richtig mal die Wände wackeln lassen, das braucht der Mensch aber auch. Die Stones. ACDC. Gott sei Dank ist die Welt laut. Wo Betrieb ist, da ist auch Krach. Jeder freut sich aufs Wochenende, aber doch nicht zum Trübsalblasen.


Parallelpredigt (Pfarrersprech VIII)

Nimm dir Zeit zum Träumen, das ist der Weg zu den Sternen. Nimm dir Zeit zum Nachdenken, das ist die Quelle der Klarheit. Nimm dir Zeit zum Leben, das ist der Reichtum des Lebens. Nimm dir Zeit zum Freundlichsein, Gott sei neben dir, wenn du unsicher bist, das ist das Tor zum Glück.
Absichtlich zu Träumen ist wie Lachen auf Kommando. Nach den Sternen schaut ja auch der Hans-guck-in-die-Luft.
Nachdenken allerdings geht auf Kommando und sogar mit dem Blick nach oben, oder besser nach innen. Aber aufgepasst, da fängt auch bald die Spinnerei an. Also besser genau hinsehen!
Wer etwas fertigbringt, der hat auch Zeit und somit gute Laune, ganz ohne künstliche Freundlichkeit. Ewiges Grinsen aus Unsicherheit kann mir gestohlen bleiben!



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