Sonntag, 10. November 2019

S / W 10 & 11 - [ماسک]



["Masken", R. A. ol-Omoum (1994)]


Der Mensch, der ich einst gewesen war, existierte nicht mehr. Selbst wenn ich ihn zu einem Gespräch hätte herbeizitieren können – wir hätten einander nicht verstanden. Er war wie ein Bekannter aus fernen Zeiten für mich., doch ich hatte keinen Teil an ihm. [Sadegh Hedayat »Die blinde Eule« (1936)]



["Demut", R. A. ol-Omoum (2009)]



اى دوست بیا تا غم فردا نخوریم
وین یکدم عمر را غنیمت شمریم
فردا که از این دیر کھن درگذریم
با ھفت ھزار سالکان ھمسفریم
[عمر خیام]



Ich schreibe nur für den Schatten, den der Schein der Öllampe an die Wand wirft; ihm muss ich mich zu erkennen geben. [Sadegh Hedayat »Die blinde Eule« (1936)]




10





"Überhaupt hat der Fortschritt das an sich,
dass er viel größer ausschaut,
als er wirklich ist."
(Johann Nepomuk Nestroy)




Wer da alles diesen Bus genommen hat! . . . dieser seltsame Orientale in der Reihe vor mir . . . . . . . . . . . . . . . . . wirkt nervös . . . . . . . Fensterplatz . . . . . . . . . . . . . gelegentlich blickt er um sich . . . reckt den Kopf . . . spricht mit sich selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . orientalisch . . . . . . . singt hin und wieder eine Strophe . . . Hafez vermutlich . . . Lieder von der Trunkenheit . . . lass ihn in Ruh . . . in unregelmäßigen Abständen . . . dann wieder sieht es von hier so aus . . . . . . . . . . . . . . . . . habe mir einen schönen Platz in der hintersten Reihe ausgesucht . . . . . . . . . . . . . . . . . links . . . . . . . bin schließlich kein Mittelfeldspieler . . . . . . . Robert sitzt ganz weit vorne inzwischen . . . Bäumler eben . . . wechselt gern die Perspektive . . . dann wieder kommt er und heckt etwas aus . . . kommt nicht umhin mich anzuhauen . . . springt dann auf wie vom Teufel gestochen . . . spricht den Orientalen an . . . "Nix da! Er ist mein Freund!", singt Robert . . . . . . . . . . . . . . . . . "Nix da! Er ist mein Freund!" . . . . . . . . . . . . . . . . . blickt forschend herum . . . . . . . . . . . . . . . . . patience is for poltroons . . . . . . . "Mach dir nix draus!", denke ich . . . . . . . und macht sich aus dem Staub . . . . . . . nennt sich Saeed, der Glückliche, sagt Robert . . . Robert glotzt dann lange in den schwarzen Sand . . . wie ein ausgestopftes Greenhorn . . . guckt mich an der Kerl . . . . . . . . . . . . . . . . . mir scheint, der Orientale merkt, dass ich mich langweil' und nicht hergehör' . . . . . . . . . . . . . . . . . aufgeregt von einem gefährlichen Ausweichmanöver des Omnibusses, so nehme ich an, knirscht ein untersetztes Männlein im vorderen Drittel des Fahrzeugs unablässig und schrill mit seinen Zähnen, dass selbst der sonst so stoische Busfahrer unruhig wird . . . . . . . schwarzer Sand . . . . . . . hat ein Gesicht wie aus Wachs geschnitzt das Männlein . . . unförmig sein Kopf . . . . . . . . . . . . . vieleckig . . . . . . . vielleicht achteckig . . . . . . . . . . . . . . . . . die Frau versucht vergeblich das Männlein zu besänftigen . . . "So beruhig' dich doch, Hugo!" . . . "Um alles in der Welt, Hugo!" . . . . . . . . . . . . . . . . . "So beruhig' dich doch, Hugo!" . . . . . . . "Mach dir nix draus!", denke ich . . . . . . . . . . . . . Ipelmeyer muss beleidigt gewesen sein, dass ich einen solchen Batzen Geld von ihm hab' mitgehen lassen . . . wenigstens hab' ich einen Ecksitz . . . sein Töchterchen, du lieber Himmel, hat nichts als Einkäufe im Sinn . . . . . . . . . . . . . . . . . und diese ewigen Schwärmereien . . . . . . . "Soll ich mich grün kleiden?" . . . vielleicht neuneckig . . . "Grün ist die Farbe der Natur" . . . vielleicht zehneckig . . . . . . . . . . . . . . . . . "Rot ist romantisch, das blutige Mittelalter" . . . . . . . . . . . . . . . . . eher achtkantig . . . . . . . "Blau ist die Farbe der Beständigkeit" . . . . . . . mehrdimensional . . . "Die Farbe des Himmels" . . . Bewohner eines Paralleluniversums . . . Preisschildchen von den vielen Hemdchen, Kleidchen und Höschen . . . "Mach dir nix draus!" . . . und mach' mich aus dem Staub . . . schwarzer Sand . . . beim nächsten Halt . . . . . . . der Fußball, so eine Gruppe von Kassiererinnen und Kassierern nahezu einstimmig . . . . . . . . . . . . . . . . . der Fußball . . . . . . . ist die Kraft . . . . . . . . . . . . . die Kraft, der schließlich die Verantwortung der Umgestaltung zukommen wird . . . den Ausgleich zu verwirklichen . . . der Mindestlohn der Athleten wird den der Richter nicht überschreiten . . . . . . . . . . . . . . . . . die überschüssigen Moneten fließen fortan in die Hände derer, die die Weltmacht der Athletinnen und Athleten begünstigt haben . . . . . . . Moneten für den Müßiggang . . . die Rentnerinnen und Rentner . . . die Kranken . . . die Traurigen . . . die Entstellten . . . die Ertrinkenden . . . . . . . . . . . . . . . . . die Gefallenen . . . . . . . . . . . . . . . . . die Auserwählten . . . . . . . die Pflegerinnen und Pfleger . . . . . . . die Dichterinnen und Dichter . . . die Bäuerinnen und Bauern . . . die Exilantinnen und Exilanten . . . die Komponistinnen und Komponisten . . . die Maurerinnen und Maurer . . . die Lehrerinnen und Lehrer . . . die Banken . . . die Kassiererinnen und Kassierer . . . . . . . . . . . . . . . . . die Umwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . den Mars . . . . . . . . . . . . . . . . . patience is for poltroons . . . . . . . die Leserinnen und Leser . . . . . . . die Glücklichen und Unglücklichen . . . . . . . Hugo . . . die Sängerinnen und Sänger . . . die Lebendigen und die Toten . . . die Zuschauerinnen und Zuschauer . . . . . . . . . . . . . . . . . die Energie . . . . . . . . . . . . . . . . . die Farben der Malerinnen und Maler . . . . . . . den schwarzen Sand . . . . . . . die Komödiantinnen und Komödianten . . . ihre unförmigen Köpfe . . . . . . . . . . . . . vieleckig . . . . . . . vielleicht achteckig . . . . . . . . . . . . . . . . . die Begleiterinnen und Begleiter . . . "So beruhig' dich doch, Hugo!" . . . "Um alles in der Welt, Hugo!" . . . . . . . . . . . . . . . . . "So beruhig' dich doch, Hugo!" . . . . . . . "Mach dir nix draus!" . . . . . . . . . . . . . das Meer . . . den Müll . . . die Mauern . . . . . . . . . . . . . . . . . die Lernenden . . . . . . . die Leidenden . . . vielleicht neuneckig . . . "Grün ist die Farbe der Natur" . . . vielleicht zehneckig . . . . . . . . . . . . . . . . . "Rot ist romantisch, das blutige Mittelalter" . . . . . . . . . . . . . . . . . eher achtkantig . . . . . . . "Blau ist die Farbe der Beständigkeit" . . . . . . . mehrdimensional . . . "Die Farbe des Himmels" . . . die Schuldigen und Unschuldigen . . . der Fußball . . . "Mach dir nix draus!" . . . und mach' mich aus dem Staub . . . schwarzer Sand . . . beim nächsten Halt . . .. . . dieser seltsame Orientale in der vorletzten Reihe . . . . . . . . . . . . . . . . . wirkt nervös . . . . . . . Fensterplatz . . . . . . . . . . . . . gelegentlich blickt er um sich . . . reckt den Kopf . . . spricht mit sich selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . orientalisch . . . . . . . singt hin und wieder eine Strophe . . . Hakim Omar-e Khayyam vielleicht . . . Lieder von der Trunkenheit . . . lass ihn in Ruh . . . in unregelmäßigen Abständen . . . dann wieder sieht es von hier so aus . . . . . . . . . . . . . . . . . habe mir einen schönen Platz in der hintersten Reihe ausgesucht . . . . . . . . . . . . . . . . . links . . . . . . . bin schließlich kein Mittelfeldspieler . . . . . . . Robert ist auf der Lauer . . . Bäumler eben . . . wechselt gern die Perspektive . . . er hat etwas ausgeheckt . . . ist auf dem Sprung . . . springt dann auf wie vom Teufel aufgescheucht . . . spricht die Kassiererinnen und Kassierer an . . . die Heldinnen und Helden . . . . . . . . . . . . . . . . . den Busfahrer . . . . . . . . . . . . . . . . . blickt forschend herum . . . . . . . . . . . . . . . . . patience is for poltroons . . . . . . . "Mach dir nix draus!" . . . . . . . und macht Leibesübungen . . . . . . . der Glückliche . . . im schwarzen Sand . . . wie ein Athlet . . . guckt mich an . . . . . . . . . . . . . . . . . der Orientale merkt etwas . . . . . . . . . . . . . . . . . aufgeregt von dem gefährlichen Ausweichmanöver des Omnibusses . . . . . . . im schwarzen Sand . . . . . . . die Kassiererinnen und Kassierer singen . . . unförmig sein Kopf . . . . . . . . . . . . . vieleckig . . . . . . . vielleicht achteckig . . . . . . . . . . . . . . . . . Geschöpfe ihrer eigenen Taten . . . "So beruhig' dich doch, Hugo!" . . . "Um alles in der Welt, Hugo!" . . . . . . . . . . . . . . . . . "So beruhig' dich doch, Hugo!" . . . . . . . "Mach dir nix draus!" . . . . . . . . . . . . . Aufruhr der Engel . . . wenigstens hab' ich einen Ecksitz . . . du lieber Himmel . . . . . . . . . . . . . . . . . und diese Schwärmereien . . . . . . . Auserwählte . . . vielleicht neuneckig . . . "Grün ist die Farbe der Natur" . . . vielleicht zehneckig . . . . . . . . . . . . . . . . . "Rot ist romantisch, das blutige Mittelalter" . . . . . . . . . . . . . . . . . eher achtkantig . . . . . . . "Blau ist die Farbe der Beständigkeit" . . . . . . . mehrdimensional . . . "Die Farbe des Himmels" . . . Mitglieder eines Paralleluniversums . . . Passantinnen und Passanten . . . "Macht euch nix draus!" . . . im . . . im schwarzen Sand . . . beim nächsten Halt . . .





11






"Iubirea de bani, de lux, de viciu, aceasta-i civilizaţia.
Un popor simplu şi cinstit nu se deosebeşte de plante."
(Emil M. Cioran)





Aus dem Land, so der Orientale, in dem man die entscheidenden Dinge, nicht mehr zu Ende zu denken bereit sei, sei er, der Exilant, in den Omnibus geflüchtet. So sträube man sich in diesem Land Integration, ein Wort, das dort wie eine Fahne im Winde klirre, als das zu verstehen, was es von Beginn an stets gewesen sei, als Erneuerungsauftrag durch die Vermehrungsorgane nämlich. Natürlich geschehe dies unwillkürlich von selbst über die Jahrhunderte hinweg. Achte man allerdings mehr auf die gewählten Worte, könne man ein wenig heiterer am Dasein dort draußen teilhaben.
Auch wenn ihm der Busfahrer, der offenbar vom rechten Weg abgekommen sei, bedrückend vorkomme, toleriere er doch jeden seiner Umwege. Nur hier im Omnibus führe er ein sicheres Leben. Er sei in Samarkand zugestiegen, um sicher in Maschhad anzukommen, da dies schon dem Namen nach der rechte Ort für ihn sei. Der Orientale sei unterwegs schon vielen Busfahrern begegnet, die ihren Omnibus auf Abwege gesteuert hätten und auf diese Weise seien ihm allerlei Wanderer begegnet, die das Land, das er fast die Hälfte seines Lebens vergebens bewohnt habe, aufgescheucht verlassen hätten. Auch bei diesen seien es meist die gewählten Worte gewesen, denen sie als nunmehr Fremde lebenslänglich zu entkommen suchten. Freilich brauche es seine Zeit, bis man in einer fremden Sprache ankomme, doch Geduld sei bloß etwas für Feiglinge. Mit spartanischer Strenge habe er in dem Land, das ihm nach nur vier Jahren einen vorübergehenden Aufenthalt in seinen hoheitlichen Grenzen gestattet hätte, die Sprache von ihren Wurzeln her verinnerlicht, die er nun in seinem Gepäck verstaut habe. Nie habe er sich mit der Frau eines Anderen eingelassen, da er sein Betragen den übrigen Bürgern als ein Muster habe aufstellen wollen. Er ziehe es nun vor den ehrwürdigen Ort des Märtyrers aufzusuchen, da er nicht nach fremdem Eigentum trachte. Das Eigentum seiner ihm zu eigenen Ballade, so drückte er sich aus, möge ihn bald ein allerletztes Mal umgeben; das fremde Eigentum borge er sich lediglich, um seine Hinterlassenschaft zu dichten. Durch unermüdliches Studium und Übung habe er sein Leihgut weiterentwickelt, sodass sich ihm gegenüber nur noch geneigte, alte Meister als duldsam erweisen würden. Ein einziges Mal nur sei er einer Art Wahrheit in dem fremden Land sehr nahe gekommen, als er sich dem Aufsichtsrat zur Verfügung habe stellen müssen. "Das war die Nachricht, die ich erhalten habe", sagte Saeed. "An dem Tage, an welchem ich den Auftrag zu erledigen hatte, sah ich viel Volk, welches bloß aus alten Männern und Frauen bestand, auf Erledigung ihrer Sachverhalte warten. Ich trat in einen langen Flur ein, in welchem das alte Volk auf den einander gegenüberstehenden Bänken saß, und nahm mir, ohne dass ich nach rechts oder links blickte, den nächsten leeren Platz, der sich gerade jenem alten kleinen Manne gegenüber befand, welchen ich auf meinem alltäglichen Nachhauseweg immer Geige spielen sah." Jener sei es auch gewesen, der ihn darauf aufmerksam gemacht habe, dass man eine Nummer vom Automaten ziehen müsse, bevor man Platz nehme, da man sonst nicht aufgerufen werde. "Der Alte hatte recht, denn in dem Augenblick, als er mich ansprach, läutete es und an dem Zähler, welcher am äußersten Ende des Flures über der Ausgangstüre hing, leuchtete eine Nummer. Ich beugte meinen Kopf nach vorne und dann nach rechts, um einen besseren Überblick zu gewinnen, und sah, dass jeder, der da auf der Bank saß, ein Zettelchen in der Hand hielt. Um keine Zeit zu verlieren, stand ich auf, ging rasch einen Schritt auf den Alten zu und fragte ihn leise, wo eigentlich der Automat sei, von welchem ich, wie er mir sagte, eine Nummer ziehen sollte. Der Alte hob seine Hand und lenkte sie mit dem Zeigefinger in jene Richtung, an deren beiden Seitenwänden bis zum äußersten Ende, wo der Zähler hing, das Volk nebeneinander und einheitlich auf den Bänken saß. Ich zögerte einen Augenblick und sah den schmalen Weg, welcher zwischen den beiden Seitenwänden einzuschlagen war, und fragte mich aufrichtig, ob er sich wirklich lohnte."



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