Robert und Bertram
(Epilog im Omnibus)
6
"Ev'ry man, has a flaming star
A flaming star, over his shoulder
And when a man, sees his flaming star
He knows his time, his time has come"
(Sid Wayne/Sherman Edwards)
Liste zu sterbender Tode, es war ein Blatt, das Welck eines Tages in Händen hielt. Er hatte es einst entworfen als eine morbide Agenda. Sie ergab sich direkt aus der Idee des verdienstvollen Sterbens, mehr oder weniger verdienstvoll, wie Welck einräumen wollte. Es musste gestorben werden, rein physisch, das wollte jeder gerne zugestehen, wenn auch der allgemeine Kampf der Herauszögerung dieses Ereignisses galt, insgeheim die Möglichkeit der Abschaffung des Todes jedenfalls nicht ausschließend. Sie blieb trotz allen Realismus sozusagen ein Ideal. Dass nun nicht nur überhaupt zu sterben sei, im radikalen Widerspruch zu jenem Ideal, sondern auch noch dazu in jener mannigfachen Weise, wie sich der Tod ja, wenn auch nicht vor jedermanns Augen, doch aber tatsächlich ereignete, das hatte Welck zum Ausgangspunkt seiner Mission gemacht. Die Welt bedurfte unseres Todes auch in der konkreten Weise, wie er sich jeweils ereignete, eben einer solchen Naturgesetzlichkeit folgend, wie wir an Krankheiten und Altersschwäche dahinstarben. Wir starben in der und der Weise aus den und den Gründen und unter den und den Umständen, und es konnte unter Beibehaltung der Voraussetzungen und Umstände nicht anders sein. Aus eben dem Jenseits, in das wir auf diese Weise hineinstarben, gebar uns die Welt, deren Geschöpf im Leben und im Tod wir waren auch in die Zusammenhänge hinein, in denen wir unser Dasein darlebten.
Ein zu sterbender Tod von Belang war der Unfalltod, wie man sagte. Dabei war der Unfall zuerst einmal ein Fall unter Fällen. Zum Unfall wurde er ja erst dadurch, dass uns dieser Fall eben unerwünscht war, wenn man einmal von denen absah, die ihren Lebensunterhalt damit bestritten, dass sie sich der Unfälle annahmen. Welcks interessante Fälle waren die gewissermaßen redundanten, plumpe Beispiele wie die des Unfalls des Unfallkommandos nicht ausgeschlossen. Gerade las man in der Zeitung vom Selbstmord eines Pfarrers. Ein zu sterbender Tod, durchaus. Das Leben der Betroffenen hatte sich in schöner Folgerichtigkeit entfaltet bis zu jenem Tag, an dem der dusselige Verkehrsunfall in blödsinniger Verkettung unglücklicher Ereignisse sich ereignete. Wer dächte auch, dass ausgerechnet der Fahrer des Rettungswagens bei geöffnetem Fensterspalt hinter seinem Lenkrad eine Zigarette raucht! Überhaupt, rauchendes Medizinpersonal! Aber jeder kennt das, als ob Ärzte und so weiter keinen Lungenkrebs bekämen. Und wer sich von der herunterfallenden Glut einer Zigarette ablenken lässt, riskiert einen schlimmen Verkehrsunfall, Martinshorn und Blaulicht hin oder her. In der Zeitung stand, der Patient habe den Verkehrsunfall des Krankenwagens überlebt. Es war aber derjenige, der dennoch einige Tage später in der Klinik seinem Krebs erlag. Pfarrer mit Selbstmordgedanken gab es mehr, als man glauben mochte. Ob man hier einen Zusammenhang mit der erhöhten Scheidungsrate von Pfarrerehepaaren sehen wollte, darüber mochte man so oder so denken. Pfarrer und Pfarrerinnen mit Alkoholproblemen setzten sich vielleicht mehr unter Druck und fanden ihr Handicap fataler als gewöhnliche Sterbliche. Womit sich für Welck der Kreis schloss. Gifttod eines Geistlichen, in besagtem Fall musste es so sein, Alternativen gab es höchstens im Detail. Wegen dieses Muss entfiel auch die Frage des Vergeltens eines Lebens und Sterbens im Jenseits. Das Jenseits empfing einen mit der Gelassenheit der Natur, in der alles seinen geordneten Verlauf nahm. Als ob sich die Schwerkraft über den Magnetismus aufregte, oder das Licht über den Schall! Sie waren einander auch nicht gleichgültig, wusste doch jeder, der andere musste in genauso schöner Regelmäßigkeit den Gesetzen gehorchen, die für ihn eben galten. Sollte man sich also darüber wundern, dass das Jenseits nun gerade ganz und gar nichts Außergewöhnliches für uns vorsah?
Bäumler gab Welck in allem recht, "außer", sagte er in größerer Trockenheit, als er sich eigentlich zutraute, "dass es das Jenseits natürlich gar nicht gibt." - "Klar", entgegnete Welck, "ein Diesseits allerdings entsprechend auch nicht, was unter der Voraussetzung ja keinen Sinn ergäbe."
7
"Die Schlange war listiger als alle Tiere des Feldes"
(1. Mose 3,1)
"Vier kaufen, nur drei bezahlen", meinte der Kerl namens Tristan in der ersten Reihe des Omnibusses zu seinem Banknachbarn, "das ist so ziemlich das Ausgebuffteste, was man mir im letzten Vierteljahrhundert vorgesetzt hat."
In letzter Zeit, so Tristan, fühle er sich von den Übergriffen der Werbung geradezu terrorisiert. Es sei schrecklich, wie man seine Aufmerksamkeit erhaschen wolle und er erhoffe sich ein wenig Stille am Rande der Wüste, hier in Turkmenistan. "Was ist in der Welt momentan angesagt? Von Deutschland bis in die USA, entdecken Sie hier internationale Must—Haves." Zumindest sieze man ihn, den Kunden, hier wenigstens noch. Ja, auch vor seiner Ehefrau und seinen Kindern sei er auf der Flucht in den Osten. "Isidora ist in letzter Zeit nicht einmal mehr dazu gekommen, die Preisschildchen von den vielen Hemdchen, Kleidchen und Höschen zu entfernen. Und diese ewigen Schwärmereien. Soll ich mich grün kleiden? Grün ist die Farbe der Natur. Rot ist romantisch, das blutige Mittelalter. Blau ist die Farbe der Beständigkeit, die Farbe des Himmels."
Es ging ein Raunen durch den Omnibus, als der Fahrer etwa fünfundachtzig Kilometer westnordwestlich von der Provinzhauptstadt Bukara entfernt einem entgegenkommenden TV-14 C ausweichen musste.
Nachdem der Fahrer die Fahrgäste beruhigt und auf die Anschnallpflicht hingewiesen hatte, verkündete er, dass man in wenigen Stunden am Tor zur Hölle ankommen würde. Er wies weiterhin darauf hin, dass man sich im Jenseits als Flüchtling fühle und auch so behandelt werde. "Man bildet sich irdische Bedürfnisse mehr oder weniger ein", sagte er, "und zwar aus Befremden über die eigenartige Situation." Auch erinnerten sich nicht alle an ihren Aufenthalt im Jenseits nach einem früheren Ableben. Entsprechend inszenierten einige eine Art himmlischen Schwulst, weil sie sich im Himmel auch fühlen wollten wie im Himmel.
Tristan entwickelte den Gedankengang des Busfahrers seinem Banknachbarn gegenüber, indem er ihn darauf hinwies, dass man sich das entsprechende Konsumangebot dort leicht vorstellen könne. "Jeder, der hienieden Weihnachtsmärkte besucht", sagte er, "weiß, wovon ich spreche. Sakralien ganzjährig gibt es schließlich nicht seit gestern. Der Tatsache des Wiedergeborenwerdens stellen sich die Gemüter so vielfältig, wie das Konzert der Meinungen schließlich beliebig vielstimmig ist, also ganz wie im wirklichen Leben."
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