Sonntag, 20. Oktober 2019

Bzw. ۲ ۳ ۱ [Bezeichnete »Felder« nebst beschrifteten Briefen aus Übersee und anderen Regionen]



["Haltung", Liana Helas (2004)]


26. Oktober. - Bestehend ist für mich nur das Erdichtete (wobei ich diesem Worte seinen vollen Sinn zurückgebe), angefangen mit mir selbst. Es kommt mir manchmal vor, als existierte ich nicht wirklich, sondern dächte mir nur aus, daß ich existiere. Woran zu glauben mir am schwersten gelingt, das ist: meine eigene Realität. Ich entrinne mir ohne Unterlaß, und wenn ich meinem Tun zusehe, so begreife ich nicht genau, daß derjenige, den ich handeln sehe, identisch sein soll mit dem, der zusieht und erstaunt ist und daran zweifelt, daß er Schauspieler und Betrachter in einer Person sein kann. [André Gide »Die Falschmünzer« (1925)]



[Lord Byron an John Murray am 29. Oktober 1819]


Den 6. November. - Ich habe nie etwas erfinden können. Aber vor der Wirklichkeit stehe ich wie der Maler, der zu seinem Modell sagt: „Nehmen Sie die und die Haltung an, oder den und den Ausdruck – den brauche ich!“ Die Modelle, die die menschliche Gesellschaft mir liefert – sobald ich ihre geheimen Triebfedern kenne, kann ich sie nach meinem Willen agieren lassen. Oder wenigstens kann ich ihrer Unentschlossenheit das und das Problem vorschlagen, das sie nach ihrer inneren Struktur lösen werden, so daß die Art ihres Reagierens mir alles Nötige sagt. Den Romanschreiber in mir reizt es dann, in ihr Schicksal einzugreifen, zu experimentieren. Hätte ich mehr Talent zum Fabulieren, so würde ich die Verwicklungen, die ich brauche, selbst ausdenken – jetzt rufe ich sie chemisch hervor, beobachte das Verhalten der Personen und arbeite dann nach ihrem Diktat. [André Gide »Die Falschmünzer« (1925)]



["Achtung", Liana Helas (2004)]



Den 7. November. - An allem, was ich gestern geschrieben habe, ist kein wahres Wort. Es bleibt dieses: daß die Realität mich als plastischer Grundstoff interessiert und daß ich mehr, unendlich viel mehr Sinn habe für das, was sein könnte, als für das, was in Wirklichkeit gewesen ist. Wie gebannt beuge ich mich über die latenten Möglichkeiten eines Wesens und bin traurig über jeden Keim, den die Stickluft der Konvention absterben läßt. [André Gide »Die Falschmünzer« (1925)]


In einem anderen Leben


What people
in the world
think of you
is really
none of your
business.
[Martha Graham]


Die Advokatin des Teufels hat mich angerufen, dass ich bestimmte Dokumente unterschreibe. Und das werde ich nicht tun, es sei denn, sie rücken mit der Wahrheit heraus. Ich werde nur unterschreiben, wenn sie mir den Namen meiner wirklichen Mutter sagen und mir ausbezahlen, was mein Vater ihr schuldet. Und ob sie ihren Namen wissen!
Welche Strafe verdient nicht die Frau Regina Ihlendorf Pilger! Ich bringe sie ins Gefängnis dafür, wie oft sie versucht hat mich zu ermorden, aber auch schon für die Grausamkeit, mich und meine Mutter zu trennen, damit einen Schmerz verursachend von bald fünfundvierzig Jahren.
Und noch etwas werde ich dem hinzufügen: sie muss nämlich meine Schulden übernehmen, die sie mir verursacht hat dadurch, dass sie bewirkt hat, dass mir das Visum für Nigeria entzogen wurde ohne jede Berechtigung, schließlich ist sie nicht meine biologische Mutter, sondern eine Verbrecherin, die mich ihrer besten Freundin geraubt hat, welche nämlich meine wahre Mutter war. Und dann hat sie meiner wirklichen Mutter eine falsche Sterbeurkunde gezeigt. 
Sie hatte niemals, noch wird sie jemals irgendein Recht mir gegenüber haben. Also will ich dieses schriftlich und als unterschriebene Urkunde. Denn sie war die Schuldige daran, dass ich alles verlor, was ich in meine Reise investiert hatte. 
Was ich verlange, ist mein Recht hinsichtlich des Schadens und des Nachteils, den mir die Frau Regina Ihlendorf Pilger verursacht hat. Aber dank ihrer Gemeinheiten und Grausamkeit lernte ich, niemals selber eine solche Person sein zu wollen und zugleich zu merken, wenn Personen manipulieren und ihnen aus dem Weg zu gehen, denn sie wollen sich nicht ändern noch Gott kann es, denn Willkür existiert nun einmal. Das Furchtbare verursacht nicht nur Verlust, ich weiß das Gute zu lernen und wertzuschätzen, ebenso wie das Einfache und Schöne, das ein Herz und eine Seele sind, wenn sie mit Liebe und Wahrheit sprechen.
Nun gut, dieses ist mein Krieg, und gewisse Leute sind in Wirklichkeit nicht mehr meine Familie. Immer schon, wenn ich darüber nachdachte, war meine Feindin die Frau Regina Ihlendorf Pilger; bloß aus Neid. 
Tatsächlich habe ich eigentlich immer vermutet, dass sie nicht meine Mutter ist und ich bin froh darüber, denn es gibt ja kalte Mütter, eiskalte und grausame wie diese Frau, die wiederholt versucht hat mich umzubringen, natürlich heimlich. Wenigstens ist sie keine sadistische Mörderin. Ich habe Therapeuten zu psychologischen und psychiatrischen Studien angeregt, und man fand heraus, dass es Kinder gibt von Eltern, die unterirdisch lieben müssen. Immer hat mein Vater gesagt, es gibt schlimmere Eltern. Aber da man gewöhnlich nicht das Gefängnis besucht, versteht man es nicht, und dies hier geht einem schon nahe genug. 
Ich habe eine biologische Mutter an irgendeinem Ort auf dieser Welt, und sie ist wunderbar, stark, von großem Herzen und edel, und jeden Tag bewundere ich sie mehr, und mein Vater sendet Grüße von dort. Ich bin auch ein Medium geworden.
Nun also, das ist meine Version, und meine Feinde werden die ihre erzählen. Am Ende ist die Hauptsache, dass ich jetzt die Wahrheit weiß, und ich muss niemandem etwas beweisen.
Ich weiß, dass man als Engel geboren wird. Und in irgendeinem Augenblick hat sich die Frau Regina Ihlendorf Pilger verirrt. Und ich glaube, es war, weil sie Ablehnung, Ungerechtigkeit und schlechte Behandlung vonseiten ihrer eigenen Mutter erfuhr, die ihre Schwester Laura bevorzugte, die Hübschere, die aber ungeschickt und faul war, während sie im Gegenteil fleißig und hässlich war, und da sie darunter so litt, hat sie sich aus Wut zu dem Monster gewandelt, das sie ist, und ergab sich ab dem Moment der Hexerei und den Dämonen, und ich glaube, dass sie jetzt Laura angriff und von da an schwarze Magie betrieb.
Ich meinerseits habe oft Exorzismus an ihr geübt und eine Menge Teufel aus ihr vertrieben, aber ich habe es aufgegeben, und wenn sie nicht aufhört mich anzugreifen und zu versuchen mich umzubringen, verklage ich sie, bis sie im Irrenhaus verfault.
Im Augenblick herrscht Ruhe, aber ich habe auch Platzverbot erwirkt; wenn sie mich auch nur von ferne anspricht, lasse ich sie verhaften. 
So liegen die Dinge. Und wenn sie auch weiter nicht die Wahrheit sagt und heult und lügt, sie sei meine Mutter, weil es ihr eben gefällt zu manipulieren, so habe ich mich eben doch bereits an das Gesicht meiner biologischen Mutter erinnert, und ich weiß, dass ich sie eines Tages sehen werde, und wenn es auch erst in einem anderen Leben ist und in einer anderen Dimension. [B. Karl Decker]


Am Schopf


Fernab vom bunten Treiben der großen Städte schreibe ich dir also noch einmal, hochgeschätzter Hypnotiseur, packe dich am Schopf, der dir den Namen gab, und erinnere dich an den Zufall, durch den man dich ebenso in dieses als real empfundene Gewimmel hineingemogelt hat wie mich selbst. Aufeinander zugelaufen sind wir, beiden von uns hat man, wir wissen schon durch wen und wie, schallende Rufnamen erteilt, mit denen wir auffindbar geworden sind, Heiler und Schopf, weit voneinander entfernt und dennoch in nur geringfügigem Abstand zueinander. Jeder Rufname fordert seine Berufung, die in den meisten Fällen mit Erklärungen einhergeht. Wohin steuern wir also?
Aufmerksame Abwägung machte uns zu Erforschern elektrischer Aktivitäten in der Großhirnrinde, dich zum Hypnotiseur, mich, genau genommen, wenn man es denn genau nehmen will, zum Berater. Da du mich nicht hypnotisieren wirst, ist eine Beratung meinerseits vermutlich ebenso hinfällig wie eine weitere Begegnung; Gegnerschaften wachsen rasch, gleichermaßen Gleichgültigkeit; eine heilsame Entgegnung, eine schöpferische, die Hochschätzung erst ermöglicht.
Stets, wenn ich herausfand, dass ich irrte, breitete sich ein stilles Gefühl der Dankbarkeit in mir aus; vielleicht wirst du mich sogar als Menschen ohne Überzeugungen erkennen, was kaum gänzlich ohne Stilisierung meinerseits möglich ist. Wer mich nicht voreilig als Irren aussortiert, ahnt bereits, dass ich zu jenen gehöre, denen der Volksmund ungeduldig eine lange Leitung zuspricht. Was ich bisher mit- und annahm, wuchs tatsächlich mit einer kaum in Worte zu fassenden Langsamkeit, die in der gängigen Maßeinheit von Jahren, zieht man die unendlich lang wirkende Zeit des Spracherwerbs davon ab, höchstens vierzig an der Zahl umfasst, was im Nachhinein wie der verzögerte Schlag eines Metronoms ertönt. Oft höre ich eifrige Wesen, die mich meiner Lahmheit wegen als Unwissenden entlarven, ja, fast scheint mir das Verb entlarven als viel zu schwach, fast scheinen sie mich meiner Verweigerung der Hast wegen hinrichten zu wollen. Manche von ihnen bezeichnet man inzwischen als Experten, als Kundige auf den unterschiedlichsten Gebieten: Riesige Schwärme gefräßiger Insekten, so kann man lesen, fallen über Felder her, die nunmehr brachliegen. Die Experten warnen und fordern ein rasches Umdenken.
Aufgrund meines Lahmseins lerne ich selbst die Sprache, mit der ich mich an dich wende, noch immer; langsam gehe ich gewissenhaft durch sie hindurch: Worte mögen Wände sein, Hindernisse sind sie nur dann, wenn man ihnen ausweicht. Ebenso lassen sie sich als Weichen auffassen, die andere stellten, als Schichten, Geschichten, als Felder, in denen Stäbe aus Buchen und Palmen sich tümmeln, von denen jede einzelne die stille Betrachtung verdient.
Ohne allzu sehr abschweifen zu wollen, auch wenn jede Abschweifung verlockend ist, gestatte ich mir einen sanften Fingerzeig auf eine flüchtige Begegnung mit dem Aufklärer auf dem Schiff, unterwegs um den Ursprung seines zwielichtigen Berufs zu ergründen. Den Blick auf den trüben Seegrund gerichtet, erkennt er, Himmel, Sonne, Mond, Luft, Wind, Meer, Regen, Strom, Fisch vor Augen, das Unergründliche.
Verlegen verlassen wir die Vergangenheit, um für einen Augenblick nur in der Gegenwart zu verweilen, jener winzigen Kluft zum Künftigen hin. Gewaltig ist das Echo der Selbstbestimmung, das seit allenfalls zehn Generationen über uns hinwegzieht. Aus dem Drill eines Denkens aufeinander zulaufender Gegensätze liegt die Kehrseite seit nunmehr etwa einhundert Generationen in den jeweils mächtigsten Regionen unseres Gestirns bereits als das furchterregend Fremde vor unseren Augen, das wir als vernichtenden Angriff auf einen mühsam hergestellten Anspruch wahrnehmen, den es mit aller denkbaren Entschlossenheit am Schopf zu packen und auszulöschen gilt. Ließe sich dieser Gegensatz, namentlich das Eigene und das Fremde, ließe sich selbst das Wort als solches, wenn auch nur für den Bruchteil einer vorgestellten Gegenwart, als Ganzes denken, würde eine klaffende Wunde allmählich verheilen. [Liana Helas]


Vom Urteil


Sehr geehrter Herr soundso und so weiter ... teilen Ihnen mit, dass Ihnen die am soundsovielten und so weiter gegen Sie verhängte Strafe wegen und so weiter mit Wirkung vom heutigen soundsovielten ausdrücklich und bis auf Weiteres aberkannt wird. Unberührt hiervon bleibt das entsprechend gegen Sie ergangene Urteil o. a. Datums.
Derartige Verweigerungen des Vollzugs von Strafen häuften sich zuletzt derart, dass die Vereinigung bundesdeutscher Psychologen sich öffentlich zu Wort meldete mit dem Hinweis auf die psychosoziale Bedeutung der zivilisierten Rache als eines unverzichtbaren Vergeltungssystems. Die seelische Hygiene von Straftätern stehe auf dem Spiel, werde ihnen nicht angemessen Gelegenheit zur Sühne geboten. Habe bereits eine empfindliche Störung des delinquenten Rechtsempfindens darin bestanden, dass der Staat zunehmend milder strafe, so erreiche das Maß der seelischen Grausamkeit einen zynischen Höhepunkt mit der neuerlichen Praxis der systematischen Strafverweigerung. Es sei mehr als offensichtlich, dass die Justiz aus Empfindlichkeit dagegen handele, durch harte Strafen sich selbst herabzuwürdigen und gewissermaßen mit den Übeltätern auf eine Stufe zu stellen. Dabei hätten nicht zuletzt beispielsweise die Mörder selber, wenn auch nicht der einzelne in seinem besonderen Falle, so doch allgemein, sich gemeinsam mit einer Mehrheit des Volkes stets für die Todesstrafe ausgesprochen, welcher sich ja die Rechtsprechung bereits seit langem verweigere.
Demütigungen wie das Aufrechterhalten der Verurteilung bei gleichzeitiger Vorenthaltung der gerechten Strafe könnten nicht weiter hingenommen werden, zumal auch noch die Frage im Raum stehe, ob nicht letztlich doch Kostengründe eine Rolle spielten. Auch Verurteilte seien Wähler, möchte man hier einmal in den Raum stellen und verwahre sich gleichzeitig gegen die Unterstellung, bestimmte politische Parteien erführen Unterstützung insbesondere aus Kreisen des delinquenten Klientels.
Nicht nur das Ding an sich verteidigt seine prinzipielle Unbegreifbarkeit gegen das menschliche Bewusstsein. Alle unsere Begriffe unterliegen demselben Verdikt.
Ein verstorbener Jugendfreund, gegen den sich zu vergehen das schiere Weiterleben genügte, umso mehr als er durch eigene Hand dahingeschieden war, rächte sich auf zweifache Weise an mir: erstere ist die unvermeidliche, nämlich sich selbst Gewalt angetan zu haben, wie man sich denken kann aus dem Grund, dass ihn jedenfalls diese Freundschaft nicht glücklich gemacht hat, wenn nicht sogar vielmehr unglücklich.
Eines Abschiedes und umso viel weniger eines jenseitigen Grußes wird man in einem solchen Falle gewöhnlich eher nicht gewürdigt, Stummheit als Strafe.
Ganz anders in meinem Falle. Auf jenseitige Weise wurde ich mir eines vergangenen Tages nicht eines Dinges an sich, sagen wir des Fagaröms, bewusst wie einer der Helden eines Autors, vor dem ich mich verneige. Vielmehr, was die Sache um einiges verzweifelter macht, eines Verhältnisses, über das die Menschheit sich in prinzipieller Ermangelung des Zugangs zur Wahrheit die üblichen falschen Vorstellungen macht. Mein Freund ließ mich aus dem Jenseits wissen, was wahre Liebe ist, weniger um mir mein Vergehen an ihm vor Augen zu führen, als vielmehr um mich in die ungeheure Einsamkeit dessen zu stoßen, der etwas und noch dazu so Bedeutendes weiß ohne die geringste Chance es jemals einem anderen Menschen mitteilen zu können. Möge der Professor meines Autors wissen, was das Fagaröm ist, ein grenzenlos lächerliches, aber um seiner Wahrheit Willen Verehrung heischendes Ding. Ich nun weiß um einen Gegenstand, der uns wie kein anderer heiß berührt. Meinen Mund aber hat mein verblichener Freund versiegelt, so dass mir jedes Wort über die Liebe für den Rest meiner Tage ein schales Geschwätz bleiben wird, und das umso mehr, als man es versteht. [B. Karl Decker]


Dinge

Man ist neugierig,
die Stellen im Buche zu lesen,
die ein anderer unterstrichen hat.
[Jean Paul]

Ding ۲

Stets um uns herum, an Ort und Stelle, ist es dir schon abhandengekommen, bevor wir es beurteilen können. Das Ding ist der Einfachheit halber das Du.
Im Dichten verbirgt sich ein Ich; sicherheitshalber an und für sich. Du nimmst dir das Recht, es zu vertreten, übernimmst die Führung einer Formation. Als Kranich richtest du Kopf und Schnabel aufwärts zum Duettruf: „Da du ich! Da du ich!“


Ding ۳

Jenseits der Himmelsrichtungen verflüchtigt es sich vollständig, über Betrachtungen und Bezeichnungen erhaben. Die personalisierten Pronomina ziehen es bloß ins Lächerliche und Profane, weil sie keine Wahl haben.
Der universale Blick, etwa von einer Sternwarte aus, bevölkert andernorts Träume, die sich den uns vertrauten Räumen rasch entziehen.
Diesseits der Räume lässt es sich nicht beugen; allenfalls verneigt es sich anderswo vor Worten. Sobald du ihm einen Namen gibst, lacht es dich aus, denn die Rose kennt kein Lachen. Die Abstände zwischen den Orten werden größer, bis sie in der Vergangenheit verschwinden.


Ding ۵

In weisenden Sprachen ergibt bereits die Verbindung der beiden ersten Zeichen einen Sinn, der die Möglichkeit des Lebens aufbewahrt. Aus der Architektur des A und des B ergeben sich dort die Voraussetzungen aller daraus entstehenden Kräfte und den hieraus sich ergebenden Strömen.
Die deutenden Sprachen hingegen, die von der Illusion ausgehen, man könne der Dinge habhaft werden, legen das Denken in Ketten, das dementsprechend als Lärm wahrgenommen wird. Der im Gedanken verborgene Dank geht in der Folge verloren; bloße Geräusche, fortschreitend und metallisch, rücken stattdessen in seine Vordergründe.


Ding ۷

Versuchen Sie doch einmal, auf Abstand zu gehen. Auf gewöhnlichen Böden ist dies grundsätzlich nicht möglich, wie Sie leicht herausfinden werden. Oberhalb der Erde gelingt dies, weswegen wir auch weiterhin zu Astronauten mutieren.
Bodenständige Wesen neigen hingegen zu Handgreiflichkeiten, die sich ohne weiteres an beliebigen Instrumenten, beispielsweise auf einer Leier, verwirklichen lassen. Im mitunter virtuosen Ringen mit jenen Dingen entsteht noch immer der Anschein ferner Welten.


Ding ۱ ۱

Vom Fluch der Imperative: »Nennen wir das Ding beim Namen!« - . . . »Klang«; nichts weiter.


Ding ۱ ۳

Ping ging stets davon aus, man müsse die Dinge zerlegen, woraus er letztlich seine Überlegenheit ableitete. Pong verschmähte beides und betrachtete sich fortan als einen Teil des Ganzen.


Ding ۱ ۷

Das Einfache und das Einfältige gehen meist freudestrahlend Hand in Hand, denn froh zu sein bedarf es wenig . . . – und aller guten Dinge sind vier.


Ding ۱ ۹

Voyager 1 - Um einen Knoten zu lösen, bedarf es größter Hartnäckigkeit, Geduld und Sorgfalt. Gleichzeitig setzt dies voraus, dass wir eine Notwendigkeit erkennen, uns den Inhalt eines Dinges zugänglich zu machen. Die Erkenntnis, dass sich innerhalb der Dinge weitere Dinge verbergen, stieß die Nachfahren der Phryger auf die Vermutung, dass sich ebenso auch außerhalb der Dinge die jenseitigen Dinge befinden. Der Versuch, den Rand des äußersten Knotens zu zerschlagen, ist noch immer höchst strittig, da wir davon ausgehen, dass sich das Außen solange ausdehnt, bis das Innere sich aufzulösen beginnt. Sind nun Probleme dafür da, um gelöst zu werden, oder existieren sie schlichtweg? Falle nur der Irrtum, nicht der Streiter! [Liana Helas]


Blind-Quartett

Die Thätigen rollen, wie der Stein rollt,
gemäss der Dummheit der Mechanik.
[Friedrich Nietzsche]

Zumindest – und das war aus seiner Sicht nicht wenig – wollte Orb auf seinem Sterbebett noch einmal Comme d'habitude summen. Der Ausdruck Sterbebett war gegenwärtig in seiner Dreisilbigkeit an Pathos kaum zu übertreffen, dachte Orb. Reuther würde sich vermutlich totlachen, während ihm Weigert, obwohl er den Kontakt zu seinen Mitmenschen der Keime wegen scheute, womöglich sogar die Hand halten und mitsummen würde. Thön hingegen scherte sich, solange es sich nicht um seine eigene Haut handelte, nicht im Geringsten um die Belange anderer, abgesehen von seinem älteren Bruder vielleicht. »Keine Katzen, Köter, Kinder oder Kirche! Das ist die Freiheit, die ich mir nehme, um meine Beweglichkeit zu erhalten.« Thön, der, obwohl ansonsten kompromiss- und schonungsloser Freigeist, eine Schwäche für Wohlgerüche hatte, schmückte das Innere seiner abgelegenen Behausung mit unzähligen leeren Odol- und Parfümfläschchen. Allein schon wegen seiner hingebungsvollen Verehrung für den Komponisten Giacomo Puccini und dessen L'ode all' Odol übernahm Weigert diesen Spleen, als er eher zufällig von jener Marotte Thöns erfuhr. Reuther hingegen legte schon in jungen Jahren den denkbar größten Wert auf Eigenständigkeit und Freiheit, worin er zwar am ehesten Thön ähnelte, worauf man ihn jedoch aus den genannten Gründen unter keinen Umständen ansprechen durfte, sofern man seine Zuneigung genoss. Insgeheim fühlte sich Reuther geschmeichelt, wenn man ihn, der seinen bescheidenen Lebensunterhalt damit verdiente, in maßgeschneiderte Rollen zu schlüpfen, etwa mit Marlon Brando oder Jack Nicholson verglich. Grundsätzlich verabscheute er Schmeicheleien jedweder Art. Orb, den Tod stets deutlich vor Augen, ahnte, dass er, wie all die anderen auch, durch die Überfülle von Eindrücken um ihn herum - früher oder später - erblinden würde und es war Weigert, der ihm unermüdlich vor Augen zu führen versuchte, dass man seine Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Gegenstand richten müsse, um diese Welt und ihre Felder nicht gänzlich von Sinnen zu verlassen. [Liana Helas]


Feldperspektive


Wir seien eine Reisegesellschaft bestehend aus lauter Blinden. Klar, kein Problem, wirklich, alle blind? Der Busfahrer aber wenigstens doch wohl nicht, haha. Wir hatten rechtzeitig gebucht, vorsichtshalber Vorsaison, man kann ja nie wissen. Unsere Masche war, uns wie ein Schwarm durch das Gebäude zu bewegen, stets in Berührung miteinander, an Treppen uns zuweilen stauend, um dann nach einiger Beratung tröpfelnd weiterzuziehen, sehr leise, unter keinen Umständen Aufsehen erregend - was wir darum natürlich umso mehr taten. Unsere Nacht war für die übrigen Gäste ein weitläufiges, sich über mehrere Etagen erstreckendes Gebäude, in dem sie selber bisweilen ihre Zimmer nicht wiederfanden. Man musste nicht besonders blind sein, wenn man für blind galt, damit Sehende sich umso sehender vorkamen, auch wenn sie gerade nicht die Bohne den Durchblick hatten. Ein paar von uns sind tatsächlich fast blind, aber es ist nicht Bedingung, um mitmachen zu können. Manche haben die Nummer früher in Fußgängerzonen abgezogen, man kennt das, die Leute glauben sowieso nie, dass man wirklich blind ist. Umso weniger musst du am Abend Theater machen, wenn du die schwarze Brille in die Stirn schiebst, um die Münzen im Körbchen zu zählen.
Weniger als egal wer von den übrigen Hotelgästen waren wir je besorgt hinsichtlich des richtigen Weges zu unseren Zimmern oder sonstigen Räumlichkeiten. Erstens weil du als einer von uns nun wirklich Bescheid wissen musst, wo du dich befindest, schon wegen der Fluchtmöglichkeiten. Dann aber auch, weil wir ja nicht suchten, sondern überhaupt nur unterwegs waren, um die Location optimal zu kennen.
Wir ließen sie freundliche Geister sein, die Türen öffneten oder mit der Schüchternheit der Gesunden Dinge anmerkten wie: "Vorsicht Treppe!" oder: "Der Türgriff befindet sich links." Natürlich wurden wir auch veralbert. Den weißbärtigen Heini mit seiner speckigen Kappe und der schwarzen Brille, der ewige Zeiten in der Fußgängerzone auf blind gemacht hatte, drehte einer mit einem beherzten Griff an den Schultern in Richtung der Felder und sagte: "Dort ist der See." Ein anderer sagte im Tonfall freundlichen Tadels: "Hier ist der Speisesaal!", als wir alle Mann hoch in Badehosen und mit Handtüchern unterm Arm die gletscherhaft leuchtende Schwimmhalle betraten. Dass es ein Scherz war, vereinte alle, Sehende wie Blinde, in erst schüchtern meckerndem, und schließlich tosendem Gelächter. Das war es, worauf wir es abgesehen hatten. Entscheidend ist die maximale Nähe zum Opfer, wenn der Job erstklassig laufen soll.
Am nächsten Tag sind wir dann weg, das Hotel ist versichert, weshalb die Gäste eigentlich ganz entspannt sein könnten; natürlich fuchst es sie, sich in uns getäuscht zu haben. [B. Karl Decker]



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