["Haltung", Liana Helas (2004)]
26.
Oktober. - Bestehend ist für mich nur das Erdichtete
(wobei ich diesem Worte seinen vollen Sinn zurückgebe), angefangen
mit mir selbst. Es kommt mir manchmal vor, als existierte ich nicht
wirklich, sondern dächte mir nur aus, daß ich existiere. Woran zu
glauben mir am schwersten gelingt, das ist: meine eigene Realität.
Ich entrinne mir ohne Unterlaß, und wenn ich meinem Tun zusehe, so
begreife ich nicht genau, daß derjenige, den ich handeln sehe,
identisch sein soll mit dem, der zusieht und erstaunt ist und daran
zweifelt, daß er Schauspieler und Betrachter in einer Person sein
kann. [André
Gide »Die
Falschmünzer«
(1925)]
[Lord Byron an John Murray am 29. Oktober 1819]
Den
6. November. - Ich habe nie etwas erfinden können. Aber vor der
Wirklichkeit stehe ich wie der Maler, der zu seinem Modell sagt:
„Nehmen Sie die und die Haltung an, oder den und den Ausdruck –
den brauche ich!“ Die Modelle, die die menschliche Gesellschaft mir
liefert – sobald ich ihre geheimen Triebfedern kenne, kann ich sie
nach meinem Willen agieren lassen. Oder wenigstens kann ich ihrer
Unentschlossenheit das und das Problem vorschlagen, das sie nach
ihrer inneren Struktur lösen werden, so daß die Art ihres
Reagierens mir alles Nötige sagt. Den Romanschreiber in mir reizt es
dann, in ihr Schicksal einzugreifen, zu experimentieren. Hätte ich
mehr Talent zum Fabulieren, so würde ich die Verwicklungen, die ich
brauche, selbst ausdenken – jetzt rufe ich sie chemisch hervor,
beobachte das Verhalten der Personen und arbeite dann nach ihrem
Diktat. [André Gide »Die
Falschmünzer«
(1925)]
["Achtung", Liana Helas (2004)]
Den
7. November. - An allem, was ich gestern geschrieben habe, ist kein
wahres Wort. Es bleibt dieses: daß die Realität mich als
plastischer Grundstoff interessiert und daß ich mehr, unendlich viel
mehr Sinn habe für das, was sein könnte, als für das, was in
Wirklichkeit gewesen ist. Wie gebannt beuge ich mich über die
latenten Möglichkeiten eines Wesens und bin traurig über jeden
Keim, den die Stickluft der Konvention absterben läßt. [André
Gide »Die
Falschmünzer«
(1925)]
In
einem anderen Leben
What
people
in
the world
think
of you
is
really
none
of your
business.
[Martha
Graham]
Die
Advokatin des Teufels hat mich angerufen, dass ich bestimmte
Dokumente unterschreibe. Und das werde ich nicht tun, es sei denn,
sie rücken mit der Wahrheit heraus. Ich werde nur unterschreiben,
wenn sie mir den Namen meiner wirklichen Mutter sagen und mir
ausbezahlen, was mein Vater ihr schuldet. Und ob sie ihren Namen
wissen!
Welche
Strafe verdient nicht die Frau Regina Ihlendorf Pilger! Ich bringe sie
ins Gefängnis dafür, wie oft sie versucht hat mich zu ermorden,
aber auch schon für die Grausamkeit, mich und meine Mutter zu
trennen, damit einen Schmerz verursachend von bald fünfundvierzig
Jahren.
Und
noch etwas werde ich dem hinzufügen: sie muss nämlich meine
Schulden übernehmen, die sie mir verursacht hat dadurch, dass sie
bewirkt hat, dass mir das Visum für Nigeria entzogen wurde ohne jede
Berechtigung, schließlich ist sie nicht meine biologische Mutter,
sondern eine Verbrecherin, die mich ihrer besten Freundin geraubt
hat, welche nämlich meine wahre Mutter war. Und dann hat sie meiner
wirklichen Mutter eine falsche Sterbeurkunde gezeigt.
Sie
hatte niemals, noch wird sie jemals irgendein Recht mir gegenüber
haben. Also will ich dieses schriftlich und als unterschriebene
Urkunde. Denn sie war die Schuldige daran, dass ich alles verlor, was
ich in meine Reise investiert hatte.
Was
ich verlange, ist mein Recht hinsichtlich des Schadens und des
Nachteils, den mir die Frau Regina Ihlendorf Pilger verursacht hat. Aber
dank ihrer Gemeinheiten und Grausamkeit lernte ich, niemals selber
eine solche Person sein zu wollen und zugleich zu merken, wenn
Personen manipulieren und ihnen aus dem Weg zu gehen, denn sie wollen
sich nicht ändern noch Gott kann es, denn Willkür existiert nun
einmal. Das Furchtbare verursacht nicht nur Verlust, ich weiß das
Gute zu lernen und wertzuschätzen, ebenso wie das Einfache und
Schöne, das ein Herz und eine Seele sind, wenn sie mit Liebe und
Wahrheit sprechen.
Nun
gut, dieses ist mein Krieg, und gewisse Leute sind in Wirklichkeit
nicht mehr meine Familie. Immer schon, wenn ich darüber nachdachte,
war meine Feindin die Frau Regina Ihlendorf Pilger; bloß aus Neid.
Tatsächlich
habe ich eigentlich immer vermutet, dass sie nicht meine Mutter ist
und ich bin froh darüber, denn es gibt ja kalte Mütter, eiskalte
und grausame wie diese Frau, die wiederholt versucht hat mich
umzubringen, natürlich heimlich. Wenigstens ist sie keine
sadistische Mörderin. Ich habe Therapeuten zu psychologischen und
psychiatrischen Studien angeregt, und man fand heraus, dass es Kinder
gibt von Eltern, die unterirdisch lieben müssen. Immer hat mein
Vater gesagt, es gibt schlimmere Eltern. Aber da man gewöhnlich
nicht das Gefängnis besucht, versteht man es nicht, und dies hier
geht einem schon nahe genug.
Ich
habe eine biologische Mutter an irgendeinem Ort auf dieser Welt, und
sie ist wunderbar, stark, von großem Herzen und edel, und jeden Tag
bewundere ich sie mehr, und mein Vater sendet Grüße von dort. Ich
bin auch ein Medium geworden.
Nun
also, das ist meine Version, und meine Feinde werden die ihre
erzählen. Am Ende ist die Hauptsache, dass ich jetzt die Wahrheit
weiß, und ich muss niemandem etwas beweisen.
Ich
weiß, dass man als Engel geboren wird. Und in irgendeinem Augenblick
hat sich die Frau Regina Ihlendorf Pilger verirrt. Und ich glaube, es
war, weil sie Ablehnung, Ungerechtigkeit und schlechte Behandlung
vonseiten ihrer eigenen Mutter erfuhr, die ihre Schwester Laura bevorzugte, die Hübschere, die aber ungeschickt und faul war,
während sie im Gegenteil fleißig und hässlich war, und da sie
darunter so litt, hat sie sich aus Wut zu dem Monster gewandelt, das
sie ist, und ergab sich ab dem Moment der Hexerei und den Dämonen,
und ich glaube, dass sie jetzt Laura angriff und von da an schwarze
Magie betrieb.
Ich
meinerseits habe oft Exorzismus an ihr geübt und eine Menge Teufel
aus ihr vertrieben, aber ich habe es aufgegeben, und wenn sie nicht
aufhört mich anzugreifen und zu versuchen mich umzubringen, verklage
ich sie, bis sie im Irrenhaus verfault.
Im
Augenblick herrscht Ruhe, aber ich habe auch Platzverbot erwirkt;
wenn sie mich auch nur von ferne anspricht, lasse ich sie verhaften.
So
liegen die Dinge. Und wenn sie auch weiter nicht die Wahrheit sagt
und heult und lügt, sie sei meine Mutter, weil es ihr eben gefällt
zu manipulieren, so habe ich mich eben doch bereits an das Gesicht
meiner biologischen Mutter erinnert, und ich weiß, dass ich sie
eines Tages sehen werde, und wenn es auch erst in einem anderen Leben
ist und in einer anderen Dimension. [B. Karl Decker]
Am
Schopf
Fernab
vom bunten Treiben der großen Städte schreibe ich dir also noch
einmal, hochgeschätzter Hypnotiseur, packe dich am Schopf, der dir
den Namen gab, und erinnere dich an den Zufall, durch den man dich
ebenso in dieses als real empfundene Gewimmel hineingemogelt hat wie
mich selbst. Aufeinander zugelaufen sind wir, beiden von uns hat man,
wir wissen schon durch wen und wie, schallende Rufnamen erteilt, mit
denen wir auffindbar geworden sind, Heiler und Schopf, weit
voneinander entfernt und dennoch in nur geringfügigem Abstand
zueinander. Jeder Rufname fordert seine Berufung, die in den meisten
Fällen mit Erklärungen einhergeht. Wohin steuern wir also?
Aufmerksame
Abwägung machte uns zu Erforschern elektrischer Aktivitäten in der
Großhirnrinde, dich zum Hypnotiseur, mich, genau genommen, wenn man
es denn genau nehmen will, zum Berater. Da du mich nicht
hypnotisieren wirst, ist eine Beratung meinerseits vermutlich ebenso
hinfällig wie eine weitere Begegnung; Gegnerschaften wachsen rasch,
gleichermaßen Gleichgültigkeit; eine heilsame Entgegnung, eine
schöpferische, die Hochschätzung erst ermöglicht.
Stets,
wenn ich herausfand, dass ich irrte, breitete sich ein stilles Gefühl
der Dankbarkeit in mir aus; vielleicht wirst du mich sogar als
Menschen ohne Überzeugungen erkennen, was kaum gänzlich ohne
Stilisierung meinerseits möglich ist. Wer mich nicht voreilig als
Irren aussortiert, ahnt bereits, dass ich zu jenen gehöre, denen der
Volksmund ungeduldig eine lange
Leitung
zuspricht. Was ich bisher mit- und annahm, wuchs tatsächlich mit
einer kaum in Worte zu fassenden Langsamkeit, die in der gängigen
Maßeinheit von Jahren, zieht man die unendlich lang wirkende Zeit
des Spracherwerbs davon ab, höchstens vierzig an der Zahl umfasst,
was im Nachhinein wie der verzögerte Schlag eines Metronoms ertönt.
Oft höre ich eifrige Wesen, die mich meiner Lahmheit wegen als
Unwissenden entlarven, ja, fast scheint mir das Verb entlarven als
viel zu schwach, fast scheinen sie mich meiner Verweigerung der Hast
wegen hinrichten zu wollen. Manche von ihnen bezeichnet man
inzwischen als Experten, als Kundige auf den unterschiedlichsten
Gebieten: Riesige Schwärme gefräßiger Insekten, so kann man lesen,
fallen über Felder
her, die nunmehr brachliegen. Die Experten warnen und fordern ein
rasches Umdenken.
Aufgrund
meines Lahmseins lerne ich selbst die Sprache, mit der ich mich an
dich wende, noch immer; langsam gehe ich gewissenhaft durch sie
hindurch: Worte mögen Wände sein, Hindernisse sind sie nur dann,
wenn man ihnen ausweicht. Ebenso lassen sie sich als Weichen
auffassen, die andere stellten, als Schichten, Geschichten, als
Felder,
in denen Stäbe aus Buchen und Palmen sich tümmeln, von denen jede
einzelne die stille Betrachtung verdient.
Ohne
allzu sehr abschweifen zu wollen, auch wenn jede Abschweifung
verlockend ist, gestatte ich mir einen sanften Fingerzeig auf eine
flüchtige Begegnung mit dem Aufklärer auf dem Schiff, unterwegs um
den Ursprung seines zwielichtigen Berufs zu ergründen. Den Blick auf
den trüben Seegrund
gerichtet, erkennt er, Himmel,
Sonne, Mond, Luft, Wind, Meer, Regen, Strom, Fisch
vor Augen, das Unergründliche.
Verlegen
verlassen wir die Vergangenheit, um für einen Augenblick nur in der
Gegenwart zu verweilen, jener winzigen Kluft zum Künftigen hin.
Gewaltig ist das Echo der Selbstbestimmung, das seit allenfalls zehn
Generationen über uns hinwegzieht. Aus dem Drill eines Denkens
aufeinander zulaufender Gegensätze liegt die Kehrseite seit nunmehr
etwa einhundert Generationen in den jeweils mächtigsten Regionen
unseres Gestirns bereits als das furchterregend Fremde vor unseren
Augen, das wir als vernichtenden Angriff auf einen mühsam
hergestellten Anspruch wahrnehmen, den es mit aller denkbaren
Entschlossenheit am Schopf zu packen und auszulöschen gilt. Ließe
sich dieser Gegensatz, namentlich das Eigene und das Fremde, ließe
sich selbst das Wort als solches, wenn auch nur für den Bruchteil
einer vorgestellten Gegenwart, als Ganzes denken, würde eine
klaffende Wunde allmählich verheilen. [Liana Helas]
Vom
Urteil
Sehr
geehrter Herr soundso und so weiter ... teilen Ihnen mit, dass Ihnen
die am soundsovielten und so weiter gegen Sie verhängte Strafe wegen
und so weiter mit Wirkung vom heutigen soundsovielten ausdrücklich
und bis auf Weiteres aberkannt wird. Unberührt hiervon bleibt das
entsprechend gegen Sie ergangene Urteil o. a. Datums.
Derartige
Verweigerungen des Vollzugs von Strafen häuften sich zuletzt derart,
dass die Vereinigung bundesdeutscher Psychologen sich öffentlich zu
Wort meldete mit dem Hinweis auf die psychosoziale Bedeutung der
zivilisierten Rache als eines unverzichtbaren Vergeltungssystems. Die
seelische Hygiene von Straftätern stehe auf dem Spiel, werde ihnen
nicht angemessen Gelegenheit zur Sühne geboten. Habe bereits eine
empfindliche Störung des delinquenten Rechtsempfindens darin
bestanden, dass der Staat zunehmend milder strafe, so erreiche das
Maß der seelischen Grausamkeit einen zynischen Höhepunkt mit der
neuerlichen Praxis der systematischen Strafverweigerung. Es sei mehr
als offensichtlich, dass die Justiz aus Empfindlichkeit dagegen
handele, durch harte Strafen sich selbst herabzuwürdigen und
gewissermaßen mit den Übeltätern auf eine Stufe zu stellen. Dabei
hätten nicht zuletzt beispielsweise die Mörder selber, wenn auch
nicht der einzelne in seinem besonderen Falle, so doch allgemein,
sich gemeinsam mit einer Mehrheit des Volkes stets für die
Todesstrafe ausgesprochen, welcher sich ja die Rechtsprechung bereits
seit langem verweigere.
Demütigungen
wie das Aufrechterhalten der Verurteilung bei gleichzeitiger
Vorenthaltung der gerechten Strafe könnten nicht weiter hingenommen
werden, zumal auch noch die Frage im Raum stehe, ob nicht letztlich
doch Kostengründe eine Rolle spielten. Auch Verurteilte seien
Wähler, möchte man hier einmal in den Raum stellen und verwahre
sich gleichzeitig gegen die Unterstellung, bestimmte politische
Parteien erführen Unterstützung insbesondere aus Kreisen des
delinquenten Klientels.
Nicht
nur das Ding an sich verteidigt seine prinzipielle Unbegreifbarkeit
gegen das menschliche Bewusstsein. Alle unsere Begriffe unterliegen
demselben Verdikt.
Ein
verstorbener Jugendfreund, gegen den sich zu vergehen das schiere
Weiterleben genügte, umso mehr als er durch eigene Hand
dahingeschieden war, rächte sich auf zweifache Weise an mir: erstere
ist die unvermeidliche, nämlich sich selbst Gewalt angetan zu haben,
wie man sich denken kann aus dem Grund, dass ihn jedenfalls diese
Freundschaft nicht glücklich gemacht hat, wenn nicht sogar vielmehr
unglücklich.
Eines
Abschiedes und umso viel weniger eines jenseitigen Grußes wird man
in einem solchen Falle gewöhnlich eher nicht gewürdigt, Stummheit
als Strafe.
Ganz
anders in meinem Falle. Auf jenseitige Weise wurde ich mir eines
vergangenen Tages nicht eines Dinges an sich, sagen wir des Fagaröms,
bewusst wie einer der Helden eines Autors, vor dem ich mich verneige.
Vielmehr, was die Sache um einiges verzweifelter macht, eines
Verhältnisses, über das die Menschheit sich in prinzipieller
Ermangelung des Zugangs zur Wahrheit die üblichen falschen
Vorstellungen macht. Mein Freund ließ mich aus dem Jenseits wissen,
was wahre Liebe ist, weniger um mir mein Vergehen an ihm vor Augen zu
führen, als vielmehr um mich in die ungeheure Einsamkeit dessen zu
stoßen, der etwas und noch dazu so Bedeutendes weiß ohne die
geringste Chance es jemals einem anderen Menschen mitteilen zu
können. Möge der Professor meines Autors wissen, was das Fagaröm
ist, ein grenzenlos lächerliches, aber um seiner Wahrheit Willen
Verehrung heischendes Ding. Ich nun weiß um einen Gegenstand, der
uns wie kein anderer heiß berührt. Meinen Mund aber hat mein
verblichener Freund versiegelt, so dass mir jedes Wort über die
Liebe für den Rest meiner Tage ein schales Geschwätz bleiben wird,
und das umso mehr, als man es versteht. [B. Karl Decker]
Dinge
Man
ist neugierig,
die
Stellen im Buche zu lesen,
die
ein anderer unterstrichen hat.
[Jean
Paul]
Ding
۲
Stets
um uns herum, an Ort und Stelle, ist es dir schon abhandengekommen,
bevor wir es beurteilen können. Das Ding ist der Einfachheit halber
das Du.
Im
Dichten verbirgt sich ein Ich; sicherheitshalber an und für sich. Du
nimmst dir das Recht, es zu vertreten, übernimmst die Führung einer
Formation. Als Kranich richtest du Kopf und Schnabel aufwärts zum
Duettruf: „Da du ich! Da du ich!“
Ding
۳
Jenseits
der Himmelsrichtungen verflüchtigt es sich vollständig, über
Betrachtungen und Bezeichnungen erhaben. Die personalisierten
Pronomina ziehen es bloß ins Lächerliche und Profane, weil sie
keine Wahl haben.
Der
universale Blick, etwa von einer Sternwarte aus, bevölkert
andernorts Träume, die sich den uns vertrauten Räumen rasch
entziehen.
Diesseits
der Räume lässt es sich nicht beugen; allenfalls verneigt es
sich anderswo vor Worten. Sobald du ihm einen Namen gibst, lacht es
dich aus, denn die Rose kennt kein Lachen. Die Abstände zwischen den
Orten werden größer, bis sie in der Vergangenheit verschwinden.
Ding
۵
In
weisenden Sprachen ergibt bereits die Verbindung der beiden ersten
Zeichen einen Sinn, der die Möglichkeit des Lebens aufbewahrt. Aus
der Architektur des A und des B ergeben sich dort die Voraussetzungen
aller daraus entstehenden Kräfte und den hieraus sich ergebenden
Strömen.
Die
deutenden Sprachen hingegen, die von der Illusion ausgehen, man könne
der Dinge habhaft werden, legen das Denken in Ketten, das
dementsprechend als Lärm wahrgenommen wird. Der im Gedanken
verborgene Dank geht in der Folge verloren; bloße Geräusche,
fortschreitend und metallisch, rücken stattdessen in seine
Vordergründe.
Ding
۷
Versuchen
Sie doch einmal, auf Abstand zu gehen. Auf gewöhnlichen Böden ist
dies grundsätzlich nicht möglich, wie Sie leicht herausfinden
werden. Oberhalb der Erde gelingt dies, weswegen wir auch weiterhin
zu Astronauten mutieren.
Bodenständige
Wesen neigen hingegen zu Handgreiflichkeiten, die sich ohne weiteres
an beliebigen Instrumenten, beispielsweise auf einer Leier,
verwirklichen lassen. Im mitunter virtuosen Ringen mit jenen Dingen
entsteht noch immer der Anschein ferner Welten.
Ding
۱
۱
Vom
Fluch der Imperative: »Nennen
wir das Ding beim Namen!«
- . . . »Klang«;
nichts weiter.
Ding
۱
۳
Ping
ging stets davon aus, man müsse die Dinge zerlegen, woraus er
letztlich seine Überlegenheit ableitete. Pong verschmähte beides
und betrachtete sich fortan als einen Teil des Ganzen.
Ding
۱
۷
Das
Einfache und das Einfältige gehen meist freudestrahlend Hand in
Hand, denn froh zu sein bedarf es wenig . . . – und aller guten
Dinge sind vier.
Ding
۱
۹
Voyager
1 - Um einen Knoten zu lösen, bedarf es größter Hartnäckigkeit,
Geduld und Sorgfalt. Gleichzeitig setzt dies voraus, dass wir eine
Notwendigkeit erkennen, uns den Inhalt eines Dinges zugänglich zu
machen. Die Erkenntnis, dass sich innerhalb der Dinge weitere Dinge
verbergen, stieß die Nachfahren der Phryger auf die Vermutung, dass
sich ebenso auch außerhalb der Dinge die jenseitigen Dinge befinden.
Der Versuch, den Rand des äußersten Knotens zu zerschlagen, ist
noch immer höchst strittig, da wir davon ausgehen, dass sich das
Außen solange ausdehnt, bis das Innere sich aufzulösen beginnt. Sind nun
Probleme dafür da, um gelöst zu werden, oder existieren sie
schlichtweg? Falle
nur der Irrtum, nicht der Streiter! [Liana
Helas]
Blind-Quartett
Die
Thätigen rollen, wie der Stein rollt,
gemäss
der Dummheit der Mechanik.
[Friedrich
Nietzsche]
Zumindest
– und das war aus seiner Sicht nicht wenig – wollte Orb auf
seinem Sterbebett noch einmal Comme
d'habitude
summen. Der Ausdruck Sterbebett
war gegenwärtig in seiner Dreisilbigkeit an Pathos kaum zu
übertreffen, dachte Orb. Reuther würde sich vermutlich totlachen,
während ihm Weigert, obwohl er den Kontakt zu seinen Mitmenschen der
Keime wegen scheute, womöglich sogar die Hand halten und mitsummen
würde. Thön hingegen scherte sich, solange es sich nicht um seine
eigene Haut handelte, nicht im Geringsten um die Belange anderer,
abgesehen von seinem älteren Bruder vielleicht. »Keine
Katzen, Köter, Kinder oder Kirche! Das ist die Freiheit, die ich mir
nehme, um meine Beweglichkeit zu erhalten.«
Thön, der, obwohl ansonsten kompromiss- und schonungsloser
Freigeist, eine Schwäche für Wohlgerüche hatte, schmückte das
Innere seiner abgelegenen Behausung mit unzähligen leeren Odol- und
Parfümfläschchen. Allein schon wegen seiner hingebungsvollen
Verehrung für den Komponisten Giacomo Puccini und dessen L'ode
all' Odol
übernahm Weigert diesen Spleen, als er eher zufällig von jener
Marotte Thöns erfuhr. Reuther hingegen legte schon in jungen Jahren
den denkbar größten Wert auf Eigenständigkeit und Freiheit, worin
er zwar am ehesten Thön ähnelte, worauf man ihn jedoch aus den
genannten Gründen unter keinen Umständen ansprechen durfte, sofern
man seine Zuneigung genoss. Insgeheim fühlte sich Reuther
geschmeichelt, wenn man ihn, der seinen bescheidenen Lebensunterhalt damit
verdiente, in maßgeschneiderte Rollen zu schlüpfen, etwa mit Marlon
Brando oder Jack Nicholson verglich. Grundsätzlich verabscheute er
Schmeicheleien jedweder Art. Orb, den Tod stets deutlich vor Augen,
ahnte, dass er, wie all die anderen auch, durch die Überfülle von
Eindrücken um ihn herum - früher oder später - erblinden würde
und es war Weigert, der ihm unermüdlich vor Augen zu führen
versuchte, dass man seine Aufmerksamkeit auf einen bestimmten
Gegenstand richten müsse, um diese Welt und ihre Felder
nicht
gänzlich von Sinnen zu verlassen. [Liana Helas]
Feldperspektive
Wir
seien eine Reisegesellschaft bestehend aus lauter Blinden. Klar, kein
Problem, wirklich, alle blind? Der Busfahrer aber wenigstens doch
wohl nicht, haha. Wir hatten rechtzeitig gebucht, vorsichtshalber
Vorsaison, man kann ja nie wissen. Unsere Masche war, uns wie ein
Schwarm durch das Gebäude zu bewegen, stets in Berührung
miteinander, an Treppen uns zuweilen stauend, um dann nach einiger
Beratung tröpfelnd weiterzuziehen, sehr leise, unter keinen
Umständen Aufsehen erregend - was wir darum natürlich umso mehr
taten. Unsere Nacht war für die übrigen Gäste ein weitläufiges,
sich über mehrere Etagen erstreckendes Gebäude, in dem sie selber
bisweilen ihre Zimmer nicht wiederfanden. Man musste nicht besonders
blind sein, wenn man für blind galt, damit Sehende sich umso
sehender vorkamen, auch wenn sie gerade nicht die Bohne den
Durchblick hatten. Ein paar von uns sind tatsächlich fast blind,
aber es ist nicht Bedingung, um mitmachen zu können. Manche haben
die Nummer früher in Fußgängerzonen abgezogen, man kennt das, die
Leute glauben sowieso nie, dass man wirklich blind ist. Umso weniger
musst du am Abend Theater machen, wenn du die schwarze Brille in die
Stirn schiebst, um die Münzen im Körbchen zu zählen.
Weniger
als egal wer von den übrigen Hotelgästen waren wir je besorgt
hinsichtlich des richtigen Weges zu unseren Zimmern oder sonstigen
Räumlichkeiten. Erstens weil du als einer von uns nun wirklich
Bescheid wissen musst, wo du dich befindest, schon wegen der
Fluchtmöglichkeiten. Dann aber auch, weil wir ja nicht suchten,
sondern überhaupt nur unterwegs waren, um die Location optimal zu
kennen.
Wir
ließen sie freundliche Geister sein, die Türen öffneten oder mit
der Schüchternheit der Gesunden Dinge anmerkten wie: "Vorsicht
Treppe!" oder: "Der Türgriff befindet sich links."
Natürlich wurden wir auch veralbert. Den weißbärtigen Heini mit
seiner speckigen Kappe und der schwarzen Brille, der ewige Zeiten in
der Fußgängerzone auf blind gemacht hatte, drehte einer mit einem
beherzten Griff an den Schultern in Richtung der Felder
und
sagte: "Dort ist der See." Ein anderer sagte im Tonfall
freundlichen Tadels: "Hier ist der Speisesaal!", als wir
alle Mann hoch in Badehosen und mit Handtüchern unterm Arm die
gletscherhaft leuchtende Schwimmhalle betraten. Dass es ein Scherz
war, vereinte alle, Sehende wie Blinde, in erst schüchtern
meckerndem, und schließlich tosendem Gelächter. Das war es, worauf
wir es abgesehen hatten. Entscheidend ist die maximale Nähe zum
Opfer, wenn der Job erstklassig laufen soll.
Am
nächsten Tag sind wir dann weg, das Hotel ist versichert, weshalb
die Gäste eigentlich ganz entspannt sein könnten; natürlich fuchst
es sie, sich in uns getäuscht zu haben. [B. Karl Decker]