Mittwoch, 20. März 2019

The Gas Station (Variationen) [= S / W 5.7] für Willy Piehler und Herbert Henck



[Oskar Schlemmer]








[Willy Piehler]






Wir sind alle Possenreißer: wir überleben unsere Probleme.
[E.M. Cioran]



5. 7 Stone



Gewiss mochten es auch die zunehmenden Anflüge trotziger, vielleicht auch lächerlicher Sabotageversuche gewesen sein, die Constance selbstverständlich missbilligte, während sie Rohlfs beglückten und bereicherten. Über einen längeren Zeitraum schickte er den Kollegen im Amt winzige aufrührerische, irritierende Musikdateien auf ihre Dienstrechner, die er mit Palles technischer Unterstützung beliebig von seinem Arbeitsplatz aus öffnen und zum Tönen erbringen konnte – meist pianistische Miniaturen, Momentaufnahmen, Improvisiertes, raffinierte Bagatellen, Elektronisches. Niemand verstand sich in einem solchen Maß auf Datenverarbeitung wie Palle. Musik als Waffe. "Die Weichen sind zu stellen, Palle, um aus diesem Umfeld wegzukommen. Meine Vorstellungen konkretisieren sich von Tag zu Tag und ich werde mein ganzes Organisationstalent zum Einsatz bringen müssen, um nicht kläglich zu scheitern. Sobald ich Genaueres erfahren habe, werde ich es dich naturgemäß wissen lassen, doch will ich mich vorerst in Geduld üben, denn die Dienstwege sind ungeheuerlich zäh. Tatsache ist, dass das Leben im Amt an mir nagt wie eine feiste, blutrünstige Ratte."

Palles vermeintliche Komplizenschaft erwies sich jedoch bald als Sackgasse, auch da ihm die Auswahl der Musik allzu eklektisch erschien, wie er immer wieder betonte. Die Weltmechanik sei nun einmal nicht schöngeistig. Unter vorgehaltener Hand suchte Palle schließlich das Gespräch mit dem Personal des Amts und es konnte kein Zufall sein, dass man ihn, Rohlfs, fortan unverhohlen als Harlekin bezeichnete.

Palle wähnte sich als romantischen Idealisten, scheute aber den opportunistischen Verrat in keiner Weise, auch wenn Rohlfs hierin nicht einmal einen Widerspruch sah. Zur Entfaltung seines Selbstkonzepts warb Palle fortwährend um Rohlfs' Freundschaft, zumal er über ein Redetalent von unwiderstehlicher Gewalt verfügte. Sein Wesen schwankte zwischen eisiger Zurückhaltung, überschwänglicher Vereinnahmung und eindringlicher Vertraulichkeit. Seine Welt unterteilte er in heroes, friends and shitheads. Die ewige Erfüllung und die Vollendung allen irdischen Strebens sah er in der Vereinigung mit einem weiblichen Pendant, möglichst auf Lotosblumen, was er etwa alle vier Jahre von neuem verwirklicht zu haben glaubte. Stets sprach er dann vom Königsweg, den er fortan heldenhaft zu beschreiten gedachte.

Rohlfs gestand sich ohne weiteres ein, dass auch er, wie übrigens die meisten seiner Generation, diesem Irrweg einst aufgesessen war. Wie hätte er sonst diesem Blumenmädchen, der Mutter Rudolfas, verfallen können?

Des Weiteren verfügte Palle über die Gabe den Slang der Amerikaner bis hin zum Mimikry nachzuahmen und in eben diesem Slang, so schien es zumindest, denunzierte und verspottete Palle ihn derzeit im Amt. Seltsamerweise mochte Rohlfs Palles Virtuosität, Palle, der ihn zum Lachen brachte wie kaum ein anderer, ihn aus der Fassung zu bringen verstand, der den Spielgefährten in ihm weckte. "Use the right song in the right moment, you know what I mean, Rohlfs. I'm bleeding for you, man. Don't doubt yourself! It's destiny's dance, it's simply the Jazz Thing which makes it become fuckin' cinematic. You see, man made the cars to take us over the road. In the end you really have no choice anyway, so I wouldn't think about it too much. Come on, Rohlfs, some people like to roll." Es war nur zu deutlich, dass Palle sein Vokabular aus den Jukeboxes der 60er und 70er Jahre bezog.

Neben der Abwicklung von Manöverschäden oder Verkehrsunfällen mit Militärfahrzeugen, einer Aufgabe, die Palle eher beiläufig erledigte, ohne dass man ihm allerdings nachsagen konnte, er würde seine Arbeit nicht erledigen, widmete er sich doch fast ausschließlich der Vervollständigung seines Wissens über Hard- und Softwaretechnik, sowie seinen Helden der Computerrevolution. Man müsse seinen Beitrag dazu leisten, dass jedwede Information für alle frei verfügbar sei um die Macht zu dezentralisieren. Ein gutgeschriebener Programmcode sei ein Kunstwerk und verleihe dem Leben völlig neue Dimensionen. Vermutlich manifestierte sich in solchen Gedanken Palles Idealismus, seine Faszination für den Computer und jene, die ihn beherrschten, weil sie die Basis für eine bessere Welt darstellten.

Die Arbeit im Amt betrachtete Palle als Sprungbrett in die ständig wachsende Schar der digital natives, immer vernetzt und auf der Suche nach dem virtuellen Glück.

In den späten, an niemanden adressierten, Briefen von Alois aus der Lungenheilanstalt sah Rohlfs den Schein einer leuchtenden Spur, eine Wahrheit, die vielleicht veraltet, deswegen aber nicht falsch war, die er der Kaugummi kauenden Belegschaft, ja, bestenfalls der ganzen westlichen Welt, entgegenschleudern wollte, was er selbstverständlich nicht tat, schließlich hatte man ihn im Amt ohnehin längst für verrückt erklärt. Dennoch ließ er sich dort einmal dazu hinreißen, sie Palle aus seinem Notizbuch heraus vorzulesen.

Ein großes Finale hat eingesetzt, und das, was übrig bleibt, verschlingt der Markt, denn alles wird an Umsatz und Profit gemessen.

Nam June Paik (ein inzwischen verstorbener Videokünstler) hat in den Tagen, als Protest noch möglich war, eine Geige hinter sich an einer Schnur auf der Erde hergezogen - zum Ärger der Kölner Passanten; doch in späteren Jahren malte er einmal einen großen Scheck über eine Million Dollar (oder waren es Mark?), ausgestellt auf einen "Ludwig van Beethoven", von dessen Genie die Menschen zweihundert Jahre lang zehrten, ohne ihm noch einen Pfennig vergüten zu können. Sie wissen, dass van Gogh zu Lebzeiten nur ein einziges Bild verkaufen konnte?

Die Kunst der Opernhäuser und Konzertsäle ist längst zu Ende (und dies brauchte mir nicht erst eine Erkrankung zu sagen). Im Fernsehen erscheint nur noch Schwachsinn, dank des "Quoten-Denkens", weshalb wir schon vor vielen Jahren das TV aufgaben; und der Rundfunk stellt allmählich aber sicher seine Sendungen mit "Zeitgenössischem" ganz ein, die Redaktionen werden aufgelöst, die Festivals verschwinden. Stattdessen hört man jetzt nur noch einzelne Sätze aus Mozarts Symphonien, etc.. Ich vermute, dass erst wieder der Durst erwachen muss, und dass alles, was inzwischen geschaffen wird, in die Schubladen wandert und dort bleibt, sofern es sich nicht zu Geld machen lässt. Zu dieser Art von Kunst, die hier oder dort geboten wird, habe ich keine Beziehung mehr, auch wenn dies überheblich klingen mag. Ich finde die Überheblichkeit freilich auf der anderen Seite! Und war Ravel überheblich, als er jemanden ohrfeigte, der ihn lobte? Und Berlioz musste vor seinem Tod zweimal auf das Gesicht fallen (an zwei aufeinander folgenden Tagen). Niemand tröstete ihn, der ja so "modern" und so "in" war, als er noch jung und stark war.

Man wird durch diese Abdankung der Kultur nicht umhin kommen, den eigenen Bettel hinzuwerfen, denn es ist reine Zeitverschwendung, den ein oder anderen bekehren zu wollen. Es wird sich auch fernerhin auf die Schulter geklopft werden, um vom Volk der Dichter und Denker zu schwadronieren, auch wenn man kein einziges von deren Büchern kennt und nicht so recht weiß, wer genau dazugehört oder nicht. Alles wird sich auf einer billigen Ebene des Journalismus abspielen. Das Einfachste wäre, ohne jede Bedeutung zu verschwinden von der Landkarte der angeblich "Bedeutenden" und das Feld auch weiter den Reichen, Mächtigen und Großmäulern zu überlassen, weil dann alle die Mitverdiener, Erben und Epigonen leer ausgingen und eine größere Chance hätten, sich auf sich selbst zu besinnen, auf ihren eigenen Wert und Wandel. Was macht schon den Unterschied zwischen zweien, zwanzig oder zwei Millionen Jahren des Nachlebens?

Es ist ja stets alles nur für die anderen da, und ich bin dankbar, das Gewäsch, mit dem sie sich rechtfertigen, nicht mitanhören zu müssen. Da sind mir doch jene Künstler lieber, die hoch oben in den Kathedralen (wie der zu Köln) ihren Schmuck namenlos auslebten, wo ihn kein Sterblicher sehen kann, und vor ihnen ziehe ich den Hut.

Irgendwann ist es ja selbst mit Mozart vorbei und mit Beethoven, und wie man ihren Namen einst ein erstes Mal aussprach, wird man in grauer Zukunft ein letztes Mal ihren Namen ausgesprochen haben, nachdem man sich mühsam an den Namen zu erinnern versuchte, der sich schon längst nicht mehr mit Werken verband. Danach herrscht dann Schweigen für den Rest der Zeit. In diesem Zusammenhang fällt mir das Zitat eines der Beatles aus den 1960er Jahren ein, dass er zur Musik Beethovens nichts sagen könne; aber die Bilder von ihm seien recht schön.

In Folge des zunehmenden Aufruhrs im Amt beschränkte sich Rohlfs vorübergehend darauf die Türen der Diensttoiletten zum Gegenstand seiner Übergriffe zu wählen. In gestochener Sütterlinschrift standen bald auf allen Innenseiten der Toilettentüren die Sprüche und Verse, mit denen er die nach seinem Dafürhalten notwendige Irritation des Personals herbeizuführen wünschte. Denn sinnlicher sind Menschen in dem Brand der Wüste. Schließlich mussten in irgendeiner Form Zeichen gesetzt werden gegen die perfide Art wie man Saeed im Amt ausgeschaltet hatte. Selbst die Tage, an denen er das Personal während des Diensts nicht grüßte oder in seinem Büro eingeschlafen war wurden protokollarisch festgehalten und gegen ihn verwendet.

Reich spielte eine Schlüsselrolle bei der Ausarbeitung und Umsetzung des strategischen Plans gegen Saeed, der aus gegebenem Anlass quasi über Nacht mit der Achse des Bösen in Verbindung gebracht wurde. Konnte man eine solche Vorgehensweise ungesühnt lassen? Es war notwendig, so dachte Rohlfs, wenn auch auf subversive Weise, Partei zu ergreifen.

Constance maß all dem nur geringen Wert bei; vielmehr verhielt sie sich meist eher zurückhaltend und unparteiisch. Musste es indes Jeremias sein? Reich, der Freund des Hauses, dessen alljährlich im Frühjahr wechselnde Limousinen seine sowie die Erfolgsgeschichte der Bayerischen Motoren Werke nachzeichneten? Die zweitürige Limousine, beim Vorgängermodell in den Abmessungen identisch mit dem Viertürer, ersetzte er 1992 durch ein flacheres und breiteres Coupé und 1993 durch das neue Cabrio, woraufhin 1994 die dreitürige Compact-Version mit rund 20 Zentimeter kürzerem Heck folgte, wobei der Radstand allerdings gleich blieb. 1995 tauschte er das Modell mit Heckantenne gegen eines mit der neuen Heckscheibenantenne.

Reich beherrschte die Werbetexte, insbesondere Rohlfs gegenüber. Vermutlich zahlte man ihm dafür eine Firmenprovision, die für solche vermeintlichen Empfehlungen ausgeschüttet wird. Die heutige Gesellschaft machte anfällig für derartiges. Reich pflegte außergewöhnliche Beziehungen innerhalb des Wirtschaftsstandortes, dessen rühmte er sich stets. Als Co ihn schon nach dem Fall der Mauer, so Reich noch zur Jahrtausendwende, zum Wendepunkt auf Rohlfs' Zeitachse, zunehmend herzlicher als Jerry zu empfangen begann, Jerry, my dear, was für wundervolle rote Rosen, holte die Ausweglosigkeit bereits zum finalen Schlag aus. Seit 2006 begleitete sie ihn dann regelmäßig auf Kundgebungen etwa gegen die Lohnlücke zwischen Frauen und Männern, gewappnet mit roten Handtaschen. Schließlich müsse man, so Reich, solidarisch sein. Solidarität als Paarbildungsstrategie. Seinerseits, so sah es Rohlfs, war sein Missgeschick ausschließlich auf Momente verhängnisvoller Unachtsamkeit, auf ein Abweichen von seinem Grundsatz der allgegenwärtigen Feindseligkeit dieser fühllosen Welt möglichst keinen Raum zu gestatten, zurückzuführen. Es galt seine gelegentliche Vertrauensseligkeit nach und nach auszumerzen wie eine üble Krankheit.

Es war ein tiefer Blick, den er da in die eigene Seele tat. Plötzlich sah er klar – so klar, als ob er die Regungen eines fremden Lebens, vielleicht eines Tieres, beobachte -, wie sein tiefstes Sein, unbeeindruckt von dem Selbstbetrug des Ichs, seine derzeitige Lage beurteilte. Diese Lage war ausweglos; er hatte sich hoffnungslos verfahren, er war ein auf Grund gelaufenes Schiff.

Die Donau und der Inn mussten wieder über die Ufer getreten sein. Der Transporter bewegte sich mitunter nur sehr schleppend voran, immer wieder ausgebremst von den enormen Wassermassen des Hochwassers. Indessen fiel Rohlfs an der Aufmachung der Autobahnschilder auf, wie er en passant bemerkt zu haben glaubte, dass man sich nicht mehr auf deutschem Bundesgebiet befinden konnte. Hätte man folglich nicht an einer Raststätte Halt machen müssen um ein Mautpickerl zu erwerben? Doch möglicherweise verfügte das Fahrzeug ja auch bereits über eine Monats- oder Jahresvignette.

Rohlfs meinte auch die Ausfahrt Braunau am Inn bemerkt zu haben und dachte an den russischen Abgeordneten, der Geld sammelte, um Hitlers Geburtshaus zu kaufen und es zerstören zu lassen. "Mei, des is doch nur a Haisl", heißt es in Braunau. Rohlfs beschloss sich bis zur rumänischen Staatsgrenze, die man in frühestens acht bis zehn Stunden erreichen würde, sofern sich die Wetterlage nicht drastisch verschlechterte, möglichst unauffällig zu verhalten.

Der Eindruck, dass man ihn offensichtlich vorerst in Ruhe zu lassen gedachte, versöhnte ihn ein wenig mit seiner misslichen Situation, zumal ihn Lucia immer wieder sanftmütig anlächelte. "Du musst Schlimmes durchgemacht haben, mein Herz," sagte sie sogar einmal zu ihm. Die Art, wie man eine Frau kennenlernte, warf ein eigenartig wahres Licht auf einen, wie Rohlfs fand, der teils bezweifelte, andere möchten ihn auch in diesem Licht sehen wie er sich selber, das war ihm aber auch recht, wessen Wahrheit war auch nur halbwegs schmeichelhaft, oder gar überwiegend? Am meisten Anerkennung erfuhr die Tatsache, dass man eine Frau auf der Straße kennengelernt, sozusagen aus freien Stücken den Mut besessen habe, sie nach Lust und Laune eines Augenblickes für sich einnehmen zu wollen. Eine der Geschichten Rohlfs ließ sich sogar so erzählen, allerdings nur unter Weglassung einiger Details, die Rohlfs natürlich wohl wusste und die auch dieses Abenteuer auf den Boden der eher alltäglichen Ereignisse herabholten, weshalb er, wenn die Rede darauf kam, versuchte zu taxieren, mit welchen Nachfragen etwa zu rechnen wäre. Wie die meisten war Rohlfs in Bezug auf Eroberungen kein Held, im Gegenteil, er neigte zum Erwähltwerden, was ihm, zumindest am Anfang etwas von der Last der Verantwortung nahm, die man so oder so in einer Beziehung übernahm. Von einer Frau erwählt worden zu sein konnte auf wunderbare Weise unvoreingenommen gegen sie machen. Man fühlte ihre Wärme, roch ihren Duft, hörte ihre Stimme am Telefon ohne jedes ängstliche Forschen, ob man selber etwa sich geirrt hätte, ob doch bald die Enttäuschung über einen zerplatzten Traum drohte; oder aber dass sich die neue Herzenskönigin entrüstet von einem abwendete, einem derart unwürdigen Kandidaten auf den Leim gegangen zu sein.

Constance hatte Rohlfs, leider, durch einen Freund kennen gelernt, womit er erst einmal wenig Ehre einlegen konnte im Kreis derer, die sie beide schon länger kannten als sie einander. Wie alles in der Gesellschaft wich dies aber bald anderen Neuigkeiten und ward für bekannt und so und so genommen. Rohlfs machte sich mehr Gedanken als nötig, denn was die Leute wirklich redeten, wusste er nicht, dass sie redeten, war klar, aber das war alles bereits geschehen, man hatte sich eine Meinung gebildet, Rohlfs wäre ohnehin der letzte, der sie von etwas anderem überzeugen konnte. Constance war nicht einsam wie er von Natur aus, sie war allein, weil sie Abhängigkeiten scheute. Tatsächlich gab es noch jemanden, allerdings so auf Distanz, dass sie es wohl auf den Versuch ankommen lassen wollte, was nun mit Rohlfs würde. Einen wenn auch fernen Konkurrenten aus dem Feld zu schlagen beflügelte ihn, dass Constance nicht erklärte, sie werde sich trennen, gab ihrem Zusammensein den Reiz eines Seitensprunges, noch dazu von der erleseneren Sorte, da ja nicht mit den üblichen Zusammenstößen, Drohungen und Frustrationen zu rechnen war, sondern im Gegenteil, man setzte sich über ein eigentlich gehöriges Hindernis hinweg, nahm sich, was ein anderer einem nicht nehmen konnte. Rohlfs rechtfertigte sein Tun damit, dass er Constance haben wollte, worin er schon eine Leistung sah, denn es war eine Festlegung und wie alle Festlegungen nicht ohne Risiko. Constance hatte in Bezug auf ihre bestehende Beziehung ja gerade diese Festlegung nicht vollzogen, wozu er sie auf diese Weise bekehren wollte. Rechtfertigung Nummer zwei. Rohlfs entging nicht vollständig das Sonderbare, das darin lag, dass man sich nun in diesem blauen Transporter befand. Alle schienen einander schon lange zu kennen, was nun für Dr. Reich und ihn zutraf und wohl auch für die rumänischen Arbeiter, jedenfalls auf ihre Weise. Möglicherweise hatten sie für irgendwelche Schlepper und Nepper irgendwo in der Nähe einen Ferienpark errichtet, bittere Monate hinter sich gebracht und waren nun froh, so oder so in die Heimat zurückkehren zu können.

Einmal hatte Rohlfs eine Reise unter Schmugglerinnen gemacht, einziger Fremder er unter denen, deren Leben und Schicksal die Schmuggelei war. So ähnlich war die Stimmung im Wagen. Man erzählte sich, wie man letztlich doch einen guten Schnitt gemacht hätte, einige Kumpels waren parallel mit vollgepackten Autos unterwegs, allesamt mehr oder weniger reell erstanden. Dieses war allerdings der Bus, mit dem sie auch gekommen waren, klapperig, löchrig, aber fahrtüchtig bis auf Weiteres und dringend nötig wie alles Fahrbare in einem armen Land. Der Bus der Schmugglerinnen damals trug den Ausmusterungsaufkleber der Greyhounds aus Kalifornien aus dem Jahr 1975, bis wann er gut und gern seine 20, 25 Jährchen dort gelaufen sein wird. Die Verkleidungen der Wände und Sitze waren in solchen älteren Fahrzeugen noch recht leicht zu entfernen bzw. wieder anzubringen, was für Schmuggler wichtig ist, denn dahinter verbirgt man die Schmuggelware, Kleider und Spielzeug, auch Medikamente. Rohlfs wurde insofern einbezogen, als man ihn bat, doch dieses oder jenes Kleidungsstück überzuziehen, nur bis über die Grenze! Keine ganz einfache Aufgabe bei vierzig Grad Hitze im Bus. Und natürlich bündelweise Baumwollkleidung, natürlich ohne Etiketten und Verpackungen. Die wurden ihrerseits besonders sorgfältig auch in die kleinste Ritze des Autobusses gesteckt, ohne Verpackung, ohne Etikett kein Verkauf, jedenfalls nicht als reguläre Ware. Was eigentlich nichts heißen wollte, denn alle Waren diesseits oder jenseits der Grenzen hatten in irgendeiner Weise den Weg an den vorgesehenen Abläufen vorbei genommen. Worauf es ankam, das waren die Preiskategorien, und die wurden nun einmal über solche Signale wie Originalverpackung (die die Kunden natürlich nach dem Kauf wegwarfen wie sonst überall auch) und Etikett geregelt.

Im Wagen der Rumänen trug man Jogginghosen der bekannten Marken, höchstwahrscheinlich aber keine Nachahmerprodukte, wie Rohlfs vermutete, sondern Originale. Das Geld, das sie dafür ausgegeben hatten, konnte einem Leid tun, andererseits hatte Rohlfs Verständnis für die jungen Leute, die an den Segen glauben wollten, dessen Kunde diese Produkte über den Globus hinweg verbreiteten. Niemand in Rumänien wird an die Armen denken, die die Markenprodukte in anderen Nationen armer Schlucker zusammennähten.

Dass Dr. Reich auf dem Beifahrersitz saß wie ein Polizist, der den Wagen offiziell begleitete, mutete Rohlfs seltsam an. Indessen wurde er freundlich behandelt, schließlich versah er auch nur seinen Dienst, zum Beispiel bot man ihm eine Zigarette an, die Reich ablehnte, der auch sichtlich unter dem Qualm im Wagen litt. Ob er hätte verlangen können, dass das Rauchen in seiner Gegenwart eingestellt wird?

Auf den Beifahrersitz, der etwas breiter als der Fahrersitz war, hatte sich auch Lucia gezwängt, was zu keinen Komplikationen führte, insofern der Schalthebel vorsorglich einer besseren Nutzung der Raumkapazität durch eine kunstvolle Schweißarbeit verlängert und in Richtung des Fahrers abgewinkelt war.

Es war eigenartig, dass Rohlfs sich in diesem Kleinbus befand, man hatte ihn ohne großes Aufheben eingeladen mitzufahren. Dass Dr. Reich auch im Wagen saß, hatte Rohlfs erst bemerkt, als sich die Seitentür bereits geschlossen hatte. Als Letzte war dann Lucy zugestiegen, weshalb Dr. Reich extra noch einmal kurz aussteigen musste, so dass sie ganz vorne in der Mitte zu sitzen kam. Dr. Reich bemühte sich auf seiner Seite des Sitzes weniger ausladend zu sein, war indessen den Berührungen Lucys nicht abgeneigt. Rohlfs glaubte ihr Parfüm bis zu sich nach hinten riechen zu können. Das Auto war über und über mit Reisegepäck beladen, alten Koffern aus Vinyl, Nylonsäcken, sperrigen Gegenständen, die daraus hervorragten. Jemand auf der Bank vor ihm schnitt mit einem groben Messer ein Stück von einer großen Wurst ab, die er genüsslich kaute, bis er aus einem braunen Fünfliter-Plastikfässchen einen tiefen Schluck Rotwein trank. Lucys hellrot lackierte Fingernägel sah man, wie sie etwas Ähnliches wie eine große Einkaufstasche auf dem Schoß hielt, worin sie wohl ihre Siebensachen gestopft hatte.

Dr. Reich schien ohne Gepäck zu sein, sein Hut lag mehr oder weniger zusammengeknautscht auf dem Armaturenbrett eingequetscht unter der Windschutzscheibe. Seine Körperfülle erlaubte es ihm kaum, sich nach hinten umzuwenden. Auch schien er ängstlich, dass sich die Tür des klapperigen Kombis unter dem Druck, den er mit seinem schweren Leib ausübte, versehentlich öffnete. Mitunter feixten die Arbeiter nach vorne, dabei selber auf dem besten Weg zu deutlichen Rundungen, die Unterhemden und T-Shirts entsprechend wölbten. Reich gehörte zu der Generation, die nach dem Krieg gehungert und als es wieder aufwärts ging entsprechend üppig gegessen und natürlich auch getrunken hatte. Wie manche Dicke, war er dabei überraschend elastisch, schnaufte kaum, wenn er die Treppe zum Büro hinaufstieg, langsam zwar und letztlich mit gerötetem Kopf, aber nicht mehrmals auf dem Treppenabsatz anhaltend wie Bob, der, was Reich nicht tat, rauchte, ansonsten aber drahtig war, von seinem beträchtlichen fußballstrammen Bierbauch einmal abgesehen. Entsprechend konnte Bob es sich erlauben, über Reichs Körperumfang zu lästern. Einmal stand er vor Rohlfs mit einem Hosengürtel Dr. Reichs in der Hand, den er am ausgestreckten Arm vor sich hielt und der auf diese Weise bis zum Fußboden reichte. "Rohlfs, look how fat this dirty old man is. This is about sixty inches, at least, Rohlfs. How come he eats that fucking much, God damn?"

Bob kam auf seine Weise systematisch zu spät, indem er nicht, wie es jeder deutsche Mitarbeiter getan hätte, den früheren Bus nahm, was ja bedeutet hätte zu früh im Büro zu sein. Also kam er mit dem nächstbesten. Kein Zweifel, hätte es einen Bus gegeben, mit dem er genau pünktlich gewesen wäre, dann hätte er höchstens ab und zu einmal den Bus verpasst, grundsätzlich aber war er loyal, im Rahmen der Vorschriften, wie alle Amerikaner, die Rohlfs kennengelernt hatte.

Von den Deutschen, die in der Dienststelle die Mehrheit bildeten, wurde die Nachlässigkeit, mit der Bob das Thema behandelte, zwar missbilligt, man sah sich aber außer Stande ihn deshalb in die Schranken zu weisen. Man selber kam ohnehin im Auto und fuhr zähneknirschend eben entsprechend früher von zu Hause los. Die Parkplatzfrage war ein alltägliches Thema, jeder hatte in der Mozartstraße so ungefähr seinen eigenen Platz, der natürlich immer einmal wieder von einem der Nachbarn belegt war, wogegen man nichts tun konnte, worüber aber entsprechend gezetert wurde. Sich aber auf den Platz eines Kollegen zu stellen, obwohl sonstwo in der Straße noch Platz war, führte zu Zerwürfnissen, die zuweilen in mehrtägiges gegenseitiges Anschweigen ausufern konnten. Conley wäre nach guter amerikanischer Sitte natürlich auch mit dem Auto gekommen, hatte es wohl vor Rohlfs' Zeiten auch getan, einem alten Simca, den er aber abgeschafft hatte, nachdem er im Transit Office den Führerschein hatte abgeben müssen. Keiner der deutschen Mitarbeiter hätte sich je von seinem Auto getrennt wegen eines vorübergehenden Führerscheinentzugs, ein höchst delikates Thema. Es gab niemanden in der Dienststelle, der nicht tüchtig trank, natürlich nicht während des Dienstes, es sei denn bei einer der vielen Parties, dann allerdings nahm man mit umso größerer Sturheit für sich in Anspruch, "noch fahren zu können", vielleicht sogar gerade dann. Bob erzählte freimütig von seinen Terminen bei einer Psychologin, bei der er in einem bestimmten Rhythmus erscheinen musste. Heuchlerisch trank er an solchen Tagen, es waren wohl meist Freitage, sozusagen nur zum Essen ein Bier, mit gehörig schauspielerischem Talent. Auf seinem Schreibtisch hatte er säuberlich das Einwickelpaper einer "Fricadelly" ausgebreitet, die er mit Appetit verzehrte. Etwas anderes hatte Rohlfs ihn in fünf Jahren nicht essen sehen, wie er überhaupt selten aß, dafür umso mehr rauchte und trank. Eigentlich trank er Kette, indem es kaum einmal einen Augenblick gab, wo er nicht hätte zur Bierflasche greifen können um einen tiefen Schluck zu tun. Er gehörte zu den Rauchern, die neben dem angebrochenen Päckchen stets noch ein weiteres Paket Zigaretten bei sich hatten. Auch rauchte er nicht gewissermaßen in Pausen, die er sich gönnte, sondern er verrichtete sein Rauchen wie alle übrigen Tätigkeiten mit der größten Selbstverständlichkeit. Zum Beispiel sagte er: "Well, Rohlfs, I guess I should quit fucking smoking", während sein Feuerzeug zuschnappte und er einen tiefen Zug tat.

Ob das Thema Rauchen zu seiner "Therapie" gehörte, Rohlfs dachte es eher nicht, denn genauso wie Alkohol bekamen die Amerikaner Zigaretten, im Übrigen auch Benzin. Zum Teil wurde ein schwunghafter Handel damit getrieben, was aber keinen interessierte, die Mengen waren schließlich begrenzt, eingegriffen wurde, wenn jemand versuchte, das Reglement zu missachten, was zum Beispiel beim Benzin der Fall gewesen wäre. So hätte Rohlfs von Bobs Zigaretten haben können, wenn je welche übrig gewesen wären, nicht aber von seinem Benzin, das er ja jetzt nicht mehr brauchte, es verfiel einfach, was die übrigen deutschen Mitarbeiter kopfschüttelnd zur Kenntnis nahmen. "Got another date with the young little lady psychologist today, so this is about my only bottle of beer this morning, Rohlfs. So cheers miss lieutenent, little sweet thing." Kein Mensch wusste, wer auf die Idee gekommen war, Frau Bauer, die Sekretärin der deutschen Abteilung der Dienststelle "Luzie" in allen denkbaren Variationen zu nennen. Sie wehrte sich konstant dagegen in schrillen, lauten Tönen. Sie sah nicht sonderlich südländisch aus, eigentlich vollkommen deutsch, mit einer modernen Lockenfrisur, die eindeutig vom Frisör fachmännisch in Form gehalten wurde. Sie trug Blusen über der Hose, war schlank und adrett und ihre Versuche Bobs Anzüglichkeiten Paroli zu bieten waren einerseits selbstbewusst, misslangen andererseits schon wegen der Sprache. Bob sprach auch nach über zwanzig Jahren kaum drei Wörter Deutsch, umgekehrt fand so ungefähr jeder Deutsche in der Kommandantur, dass er eigentlich sehr wohl Englisch könne, es ihm vielleicht ein wenig an Übung fehle. Verstehen würde er aber durchaus jedenfalls das meiste. So auch Frau Bauer, allerdings, und das war das Angenehme an ihr, ohne Überheblichkeit. Zwischen ihr und Bob ging es auf das Herzlichste zu, wenn auch kein Zweifel daran bestehen konnte, dass Bob es darauf ankommen lassen würde, wie er auch unverblümt sagte, und was Frau Bauer, die er auf seinen Schoß gezogen hatte, nicht für möglich hielt, gerade weil er es so drastisch sagte, noch dazu vor allen, Dr. Reich und Rohlfs und wer sonst noch im Büro war oder in einem der Nachbarbüros es hören konnte.

"Oh, juicy Lucy", sagte er pathetisch, während sie kreischte, weil er ihr gespielt dreist in den Ausschnitt starrte: "No Lucy, Misses Bauer!" Damit stand sie wieder und Bob entgegnete: "You can't tell me that your name is Frow Bower, you no boring farmer, you the secretary and supposed to sit right here, sweetheart!" - "No, Bob!", sprach sie ein wenig weniger kreischend bereits, "ich muss runter, arbeiten." "Oh, vielen arbeiten", eines seiner wenigen deutschen Wörter, die man sich aber wohl in Deutschland merkt. Es konnte gut sein, dass er bei dieser Gelegenheit bemerkte, dass sein Bier alle war, worauf er sich erhob, zwei Büros weiter ging in die Fernschreiberstube, wo der Kühlschrank stand, von wo er alsbald zurückkehrte, sich an seinen Schreibtisch setzte, eine neue Zigarette anzündete und die Brille aufsetzte. Mit dem Bier hatte er ein Bündel Fernschreiben mitgebracht, die jetzt vor ihm lagen. Seufzend lehnte er sich in seinem Sessel zurück mit den Worten: "Work, work, work, work, work, Rohlfs!", wischte sich den Bierschaum vom Mund und begann wirklich mit den commitments, indem er eine lange Nummer wählte. Die Bundeswehr hatte ihr eigenes Netz, um Geld zu sparen, wie Rohlfs dachte, vielleicht auch aus Sicherheitsgründen. Die Amerikaner benutzten das normale Postnetz, die Gespräche über weite Distanzen mussten ein Vermögen kosten oder waren einfach grundsätzlich frei, weil offiziell. Man hatte das Gefühl, die Bundeswehr lebte in einer Art Spielzeugwelt, so als sähen beispielsweise die Telefone äußerlich wie richtige aus, es war aber nichts drin und die Kabel endeten in der Steckdose. Die Welt der Amerikaner, eine Parallelwelt in Deutschland, wog, was die wirkliche Welt wiegt, an der Art, wie sie miteinander umgingen, war nichts gespielt - oder es war eben alles gespielt, das ganz große Spiel gewissermaßen. Es war jedenfalls das Spiel, das Rohlfs auf jeden Fall mitspielen wollte, sein Fenster in die Welt, bis auf Weiteres.

Selbstverständlich wurde im Wagen nichts geschmuggelt, die Grenzen waren ja offen, man würde nicht gefragt werden, ob es etwas anzumelden gäbe. Dennoch war die Stimmung ganz wie in jenem Bus der Schmugglerinnen, der sich alsbald der Kontrollstation näherte. Quer über die fast bloß einspurige Asphaltstraße die übliche Schranke, gestreift in verblasstem Helldunkel, ein barackenartiges Gebäude, davor und daneben Packtische, wie sich herausstellen sollte. War die Stimmung im Bus soeben noch matt, unterbrochen von dem einen oder anderen kurzen Auflachen, so hatte sich auf den letzten Kilometern vor der Zollschranke eine emsige Aufgeregtheit im Bus ausgebreitet, so als müsse doch der eine oder andere Gegenstand der Konterbande noch einmal mit einem anderen den Platz wechseln, und richtig, hier, oder da, wie dumm, hatte man doch allzu offensichtlich eine Abdeckung ausgestopft, also herausgezerrt und glatt gezogen, was eben noch prall strotzte, nur wohin jetzt mit dem überzähligen Teil, einer vielfach gerüschten Jacke? Ob Rohlfs nicht doch vielleicht, nur dieses eine Stück, in der Tasche zwischen seinen Beinen, es sei doch nur für einen Augenblick, nein anziehen könne er die Jacke nicht, wieder großes Gelächter, ob Rohlfs überhaupt verstand? Aber sah er nicht süß aus mit seinen blauen Augen? Englisch konnte man leider kaum, er war doch Amerikaner? Aber da hatte der Bus bereits gehalten und zwei junge Grenzer geboten Ruhe während der Passkontrolle und ob jemand Waren mit sich führe? Waren direkt nicht, wie eine Frauenstimme anhob, der man die Erfahrung vieler Jahre anhörte. Natürlich habe man eingekauft, ein paar persönliche Dinge.

Weitere Erklärungen wurden nicht angehört, es musste der Befehl ergangen sein, den Bus mit allem, was man bei sich hatte, zu verlassen, woraufhin ein heilloses Durcheinander des Stemmens, Schleppens, sich aneinander Vorbeidrängelns, des Stöhnens, des Schimpfens anhob, dem Rohlfs aber auch ein Moment des fröhlichen Einvernehmens anzusehen glaubte. Schließlich musste es jedes Mal so sein, wenn die Grenze überquert wurde, möglicherweise waren es dieselben Zollbeamten, die denselben Bus, dieselben Händlerinnen kontrollierten. Natürlich würde ein Gruß, oder eine Frage nach dem Befinden des einen oder anderen der Uniformierten unbeantwortet bleiben oder gar schroff förmlich zurückgewiesen werden. In den Blicken der Frauen sah Rohlfs aber dergleichen. Trotzdem wurde die Prozedur ansonsten bis auf die üblichen Reibereien, wie es schien, ernsthaft und systematisch durchgeführt. Taschen, Bündel, Koffer, alles, was sich nur aus dem Bus heraustragen ließ, wurde Besitzerin für Besitzerin auf den Kontrolltischen ausgelegt, die etwas erhöht waren, so dass die Grenzer bequemer darin wühlen konnten. Der Busfahrer stand abseits und rauchte eine Zigarette. Im Bus hatten sich zwei Uniformierte zu schaffen gemacht, nicht ohne nach einer Weile bündelweise T-Shirts, Röcke und Verpackungsmaterial aus dem Wagen zu bringen, einer trug Einzelteile eines Kinderdreirads, grün, gelb und rot, woraufhin einer der Frauen im Herumdrehen ein heller Schrei entfuhr.

Auch Rohlfs' Sachen wurden, flüchtiger als die der Frauen, wie er fand, durchgesehen, die gerüschte Jacke hielt der junge Kerl, mit dem er es getroffen hatte, hoch, tauschte einen Blick mit seinem Kollegen, stopfte sie aber in Rohlfs' Tasche zurück, wie der Frau, die direkt neben Rohlfs stand, nicht entgangen zu sein schien, was man an einem raschen Blick sehen konnte, in dem ihre Augen aufblitzten, Rohlfs glaubte auch ein Grinsen erkannt zu haben. Bei allem Ernst, mit dem betrieben wurde, was hier geschah, so war doch jede Menge Berechnung im Spiel.

Beim Wiederbetreten des Autobusses sah Rohlfs, dass einige Verkleidungen wahllos aus ihren Verankerungen gerissen worden waren, wenige, wie er fand, der ja wusste, dass praktisch in jeder Ritze etwas steckte, stapelweise Verpackungen, jetzt wo der Bus leer war, erschienen ihm die Verstecke noch unvollkommener als zuvor. Nun drängte aber schon alles in den Wagen zurück, Taschen und Koffer notdürftig zusammengehalten, lautes Gezeter über erlittene Verluste, Geschiebe, Gedränge, in dem man sich half die schweren Stücke in die Ablagen über den Sitzen zu stemmen. Der Motor lief auch bereits wieder, die meisten hatten ihre Plätze eingenommen, schauten nach draußen, wo sich auf den Tischen die schönen Sachen ausbreiteten, die leider hier bleiben mussten, was mit Kommentaren bedacht wurde, die teils unflätig waren, so dass Rohlfs sie nicht bis ins Detail verstand, teils wohl ironisch, weil sich prompt kollegiales Gelächter erhob, dieses unterbrochen durch einen weiteren Kommentar, dieses Mal offenbar in Richtung auf die Vorrednerin, worauf ein weiteres umso herzlicheres Lachen anhob. Man hörte das Schnappen von Verschlüssen, zufriedene Ausrufe und die Stimmung hob sich immer mehr, je kleiner die Grenzstation beim Blick aus dem hinteren Fenster des Busses wurde. Das war ein emsiges Aufreißen von Wandverkleidungen, Rückwänden von Sitzen, Herausschieben von Leisten, die die Decke hielten, und so wurde nun alles hervorgeholt, was vor den Augen der Grenzer verborgen worden war. Jedes einzelne Stück wurde mit Ausdrücken der Bewunderung emporgehalten, fein säuberlich zusammengefaltet, auch die Etiketten waren bald gefunden, und die auch so wichtigen Originalverpackungen der begehrten Produkte aus dem Westen.

Ein solcher Überlandbus bestand überhaupt nur aus Hohlräumen, keine Frage, dass Zollbeamte so etwas nicht wussten. Was aber, wenn zu scharf kontrolliert würde? Wäre dann der Teil zu haben, den Rohlfs auf den Auslegetischen gesehen hatte? Würde dann nicht über kurz oder lang das Reisen in das südliche Nachbarland ins Stocken geraten? Die Schmugglerinnen machten ihre Witze über die Dummköpfe, die mal wieder nur die weniger wertvollen Stücke erwischt hatten. Das Dreirad war wohl wirklich für den kleinen Sohn einer der Frauen bestimmt gewesen, was der Zöllner aber durchaus nicht glauben wollte, da halfen keine Erklärungen, kein Betteln, keine Angebote, etwas anderes dafür zu nehmen, was der Junge weit von sich wies, im Dienst wie er war. Dr. Reich war, wie er erzählte, vor dem Krieg, Mitarbeiter des Königsberger Rundfunks gewesen, da der Sender sich noch im Aufbau befand, sogar an leitender Stelle trotz seiner jungen Jahre. Wer sich die Mühe machte, konnte nachlesen, was genau er da tat, bevor er gleich von Anfang an zur Wehrmacht eingezogen wurde, wo er zuletzt Hauptmann war, verglichen mit den Hauptleuten der Bundeswehr noch ein richtiger Hauptmann, wenn man verstand, was er meinte. Nazi war er dagegen nicht, aber der Krieg hatte ihn zynisch gemacht, was allerdings deutlich nur zu Tage trat, wenn man ihn reizte, oder wenn er zu viel trank. Angesichts seiner Leibesfülle kam das eher selten vor. Ansonsten nahm er Rücksicht, war sogar ausgesucht höflich, ein Mann ganz noch aus einer anderen Zeit. Am Telefon hörte man ihn sagen: "Gnädige Frau", in einer völlig anderen Tonlage, als es fast nur noch Vertreter im Munde führten, wie Rohlfs als Kind zuweilen gehört hatte und was ihm sonderbar vorgekommen war.

Königsberg war nach dem Krieg kein Ort mehr, verloren für alle Zeiten wie manches, so dass es Reich in den Westen verschlagen hatte, das heißt, wo er einfach blieb, weil ein Zurückkehren ausgeschlossen war, eigenartigerweise auch in den alten Beruf, obwohl ja in der neuen Bundesrepublik aufgebaut wurde auf Teufel komm raus. Dr. Reich blieb beim Militär hängen, ähnlich wie manche bei der Army, die immer und immer wieder neu unterschreiben. Anfangs konnte man bei der US Army gut einen Job finden, wenn man Englisch sprach, später hatte die Bundesrepublik einen eigenen Sprachendienst, der zuverlässige und erfahrene Leute einfach übernahm. So blieb Reich in Tuchfühlung mit dem Militär ohne selber Soldat zu sein, eine Distanz, die er auskostete, einerseits, weil er die Bundeswehr mit Geringschätzung betrachtete, unprofessionell, wie er sie fand, andererseits fand er das US-Militär in seiner Siegerrolle weniger beeindruckend als allgemein üblich, schließlich kannte er es gewissermaßen von innen. Seine Hauptstärke bestand in erster Linie im ungeheuren wirtschaftlichen Reichtum des Landes jenseits des Atlantiks, des Landes des zwanzigsten Jahrhunderts schlechthin. Da war gut Sieger sein, wenn alles, aber buchstäblich alles schiffsladungsweise oder als Luftfracht ohne jegliche Einschränkung hergebracht wurde, in ein Land, in dem noch nie etwas zur Verfügung gestanden hatte ohne die Frage: Wer soll das bezahlen?

Reich selber war auf eine Weise geizig, die an jene Zeiten der Sparsamkeit erinnerte; vollends zum Tick hatte sich dieser Geiz in seiner Wühltischvariante bei Reich ausgebildet. Sgt. Conley war nie um ein Witzchen verlegen, was Dr. Reich alles in seinem Schreibtisch und erst in dem großen Büroschrank hinter sich gehortet hatte. "Stupid old Reich, can't believe, what this crazy man hides down in his desk!" Wenn Rohlfs Reich an seinem Platz vertrat, zog er manchmal vorsichtig an einer der Schubladen, wo er vielleicht ein Lineal suchen konnte. Tatsächlich war aber alles vollgestopft mit kleinen Gegenständen, meist noch in der Plastiktüte, in der er die Sachen eingekauft hatte, samt Kassenzettel, wie Rohlfs las, zehn, zwölf Jahre alt.

In armen Ländern, weitgehend also dem Süden, war man, wie es Rohlfs schien, den Torheiten der Mode schon deshalb in einem gewissen Maße enthoben, weil dazu einfach das Geld fehlte. In einem bestimmten Alter hörte man auf modisch zu sein, während die Jugend durchaus bestrebt war den globusumspannenden Trends zu folgen, was sich im Kontext des Kolorits des jeweiligen Landes durchaus komisch ausnehmen konnte. Erwachsene waren irgendwann einer Art des sich Gebens gefolgt, die nur noch minimale Spuren der Tatsache aufwies, dass sich ihre Jugend in dem und dem Jahrzehnt ereignet hat. Alte Leute zeigten sich gewissermaßen als zeitlos alt, wenn man einmal von der beliebten Schlägermütze der Greise absah, die wohl in den Zwanzigerjahren modern war und eventuell sogar Aufsehen erregte. Bert Brecht hatte man nie mit Hut gesehen, sondern mit eben dieser Schlägermütze, die er vielleicht aus praktischen Gründen trug, ebenso wie seine Lederjacke, das Urteil seiner eher weniger proletarischen Umgebung mochte ihm dabei egal gewesen sein. Rohlfs erinnerte sich einmal Klagen Brechts darüber gelesen zu haben, dass sich Hosen an den Knien zu leicht ausbeulten, ob sich denn kein Stoff erfinden ließe, der das verhinderte. Also durchaus eitel, fragte sich Rohlfs, oder eben vor allen an praktischen Dingen im Sinne des Machbaren interessiert. Alte Männer trugen nicht Jeans, jedenfalls keine, die an den Beinen eng angelegen hätten, überhaupt keine eng anliegende Kleidung, aus Gründen, über die sie sicherlich nie nachdachten. Frauen, die so dick waren, wie man es im Süden aus den verschiedensten Gründen, die jedenfalls für die armen Leute solche waren, wurde, trugen auch nicht Jeans, allenfalls Frauen zu  besonderen Anlässen, die glaubten sich gerade noch darin sehen lassen zu können, was im Kontext alles anderen, womit sie sich bei dieser Gelegenheit schmückten, tatsächlich auch nicht hässlich aussah. Überhaupt unterschied man zwischen Alltags- und festlicher Kleidung, so wie man überhaupt unterschied zwischen dem, was als normal oder natürlich zu gelten hatte, und dem, worauf es einem ankam.

Niemand kam auf die Idee sich etwa in natürlicher Haltung fotografieren zu lassen. Zum Foto gehörte die Pose. Zu glauben, je zufälliger man auf einem Foto getroffen sei, desto weniger Verantwortung müsse man dafür tragen, wie man darauf aussah, lag den Leuten völlig fern. Natürlich waren die Posen völlig konventionell, Rohlfs kam kaum auf ein Dutzend und wusste ansonsten auch niemanden, der sich darüber auch nur einen Gedanken gemacht hätte. Überhaupt suchte niemand nach dem Unkonventionellen, das Neue war wirklich neu, in dem Sinne nämlich, dass das Alte verbraucht war.

Wie anders in der Welt, aus der und vor der er ständig floh! Das Wort "neu" hatte überhaupt keine gegenständliche Bedeutung mehr, weil man ständig alles neu hatte. Rohlfs hörte von Kindern, die ihr Mobiltelefon vor den Eltern versteckten und behaupteten, sie hätten es verloren, weil ein neues auf dem Markt war, das alle anderen schon hatten. Nur dass es bei denen weiter kein Thema war, dass bereits vier, fünf völlig intakte, aber veraltete Handys in Schubladen lagen. Natürlich sah man die neuesten Handys auch in armen Ländern in den Reklamen, aber kaum einer konnte sie sich leisten. Ein altes hatte praktisch jeder, schon deshalb, weil das Festnetz Gesetzen gehorchte, die man auf diese Weise umgehen konnte. Ständig zu telefonieren war eine Sitte der armen Leute geworden wie Radiohören oder Fernsehen. Man hörte die gleichgültigsten Unterhaltungen auf Parkbänken oder im Vorbeigehen auf dem Bürgersteig, und natürlich telefonierte man auch am Lenkrad, das allerdings ohne in Deutschland geltende Verbote, die man erst gar nicht aussprach, wenn sie selbst in den reichen Ländern missachtet wurden. Das Handyverbot in der Schule wiederum funktionierte, weil es wie die vielen anderen widersinnigen Verbote, die es auch nur in der Schule geben konnte, hingenommen wurde, weil es eben die Schule war. Greise telefonierten nicht mobil, Alte schon. Offenbar war der Gebrauch des Handys in Mode gekommen zu einer Zeit, als die heutigen Alten sich noch eines zulegten. Damit hielten sie die Jüngeren auf Trab. Die Tatsache, dass der einzelne Anruf nichts kostete, brachte sie außer Rand und Band. Immerhin konnte man das Mobiltelefon abschalten, wenn man in Ruhe gelassen werden wollte, was wiederum die Alten, vielleicht aus Pflichterfüllung, nicht taten, weshalb es in ihrer Umgebung ständig tirilierte, summte und was sonst noch alles von Enkeln und so weiter als Klingelton installiert worden war. Telefonitis war eine Marotte der heutigen Alten, so wie es solche derer von früher gegeben haben mochte, da war Rohlfs sich sicher, aber offenbar hatte ihm dafür der Sinn gefehlt, als die jetzt Achtzigjährigen erst sechzig waren.

Rohlfs' Großvater hatte noch Hut getragen, jedenfalls wenn er ausging, sogar Rohlfs' Vater noch, wenn auch später dann seltener. Ein kleines grünes Cordhütchen, wie man es in den Sechzigern trug, hatten sie noch mit in den großen Sack mit Textilien gesteckt, als sie seine Wohnung ausräumten. Einen Augenblick lang hatte Rohlfs gedacht, dass man von allem vielleicht am ehesten diesen Hut aufheben müsste. Aber wo bewahrte man ein proletarisches Hütchen von vor fünfzig Jahren auf, speckig wie es war, und im übrigen waren schon einige andere Kleidungsstücke ohne weitere Bedeutung über den Hut in den Sack gekommen, so dass Rohlfs den Gedanken bald fallen ließ. Der Gebrauch von Kopfbedeckungen war im Verlauf der sechziger Jahren dem Tragen immer längerer Haare gewichen. Ein Hütchen auf einer Prinz-Eisenherz-Frisur würde erst die Erfindung einer ganz anderen Generation werden, übrigens dann bereits genau wieder jenes kleinen Hutes, der die Hüte mit breiten Krempen früherer Zeiten verdrängt hatte. Die Version, die man jetzt in den Kaufhäusern und auf den Märkten zu kaufen bekam, war seinerseits eine Reaktion der Modeindustrie auf jenen Gag, was soviel bedeutete, dass das Hütchen seine hippesten Zeiten wieder einmal hinter sich hatte.


1 Kommentar:

  1. http://riedel-henck.herbert-henck.de/index.php/willkommen/27-die-kunst-der-opernhaeuser-und-konzertsaele-ist-laengst-zu-ende

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