Mittwoch, 27. März 2019

The Gas Station (Variationen) [= S / W 5.8] with illustrations by Michelle Schneider



["Gesichtswinkel"]


Alle Widersprüche finden sich in mir, je nach Gesichtswinkel und Umständen.
Schamhaft und unverschämt;
keusch und geil;
geschwätzig und schweigsam;
tatkräftig und zimperlich;
geistreich und blöde;
mürrisch und leutselig;
lügnerisch und wahrhaftig;
kenntnisreich und unwissend,
geizig und verschwenderisch,
von allem finde ich etwas in mir, je nachdem ich mich drehe;
wir sind alle aus lauter Flicken und Fetzen so kunterbunt unförmlich zusammengestückt,
dass jeder Lappen jeden Augenblick sein eigenes Spiel treibt.
[Michel de Montaigne]



["Gunst"]


Kein Wind ist demjenigen günstig, der nicht weiß,
wohin er segeln will.
[Michel de Montaigne]



["Zeitvertreib"]

Wenn ich mit meiner Katze spiele,
bin ich nie ganz sicher,
ob nicht ich ihr Zeitvertreib bin.
[Michel de Montaigne]






5. 8 Elf




Bienen schwangen an den langen Stängeln ausgewachsener Lavendelsträucher, jeweils spielerisch gerade so lange, bis die Blüte, an der sie sogen, den größtmöglichen Ausschlag genommen hatte. Dann schienen sie sich abzustoßen um das gleiche Spiel in der nächsten Rispe zu wiederholen und so fort. Dasselbe taten etliche Kolleginnen. Nie hatte Rohlfs gesehen, dass eine die andere dabei in irgendeiner Weise behinderte, dass etwa ein Streit ausgebrochen wäre um eine besonders fette Beute versprechende Blüte. Man flog, schwang, blieb etwas länger, wo sich der Aufenthalt lohnte, verließ die Blüte sogleich wieder, wenn sie nichts hergab, sei es, weil man sie selber schon einmal besucht hatte, oder - merkte man sich so etwas? - sei es, dass gerade erst ein anderes Tier dagewesen war. Man musste nicht Kenner sein um die schönen pelzigen Bienenleiber etwa von Wespen zu unterscheiden. Ihr Gelb im Abendlicht ins Rötliche spielend, das Schwarz ebenso flaumig wie das Gelb, übrigens Stille, auch dies wiederum ganz anders als bei den Wespen, die man auch in einiger Entfernung hörte, wie sie Löcher umflogen, die das Wasser in einer Bruchkante roter Erde ausgespült hatte. Ob die Insekten einander wahrnahmen, wenigstens die Artgenossen? Es hatte nicht den Anschein, vielmehr machte es den Eindruck eines gelassenen Nebeneinanders, wenn auch des Gleichen. Dass weißflügelige Schmetterlinge die Lavendelhalme mit umflatterten, sich auf den Blüten niederließen, wohl sich an Ort und Stelle sättigten, anders als die fleißigen Bienen, auch durch die unstetere Art ihres Fliegens weniger emsig erscheinend, ob jene es zur Kenntnis nahmen, ihm die geringe Bedeutung zumessend, die dem Essen verglichen damit zukam, Vorräte anzulegen, den Nachwuchs damit aufzuziehen, Bürgerinnen eines Staates zu sein? Rohlfs' Gedanken schweiften zu Josef, dem Ernährer, der gar zweiter Mann eines Staates geworden war, in den man ihn allerdings verkauft hatte, wo er im Gefängnis saß. Dann wieder die Tiere, fette Kühe, die mageren, und das Korn, bei dem auch der Pharao sich fragte, wie denn ein Halm den anderen auffressen konnte, was ja auch Kühe nicht taten. Und diese Bienen, waren sie also auch, so wie Rohlfs sie sah, lediglich Gleichnis, in diesem Falle ganz volkstümlich des Fleißes, wenigstens der Emsigkeit? Was waren sie einander? Sie besaßen Ränge, wenigstens dort, wo Staat war, wo sie hausten. Hier, wo sie Nahrung sammelten, schienen sie einander gleich zu sein, was man an ihrem Verhalten zu erkennen glaubte. Was waren sie sich selber? Was sollte man über sie denken, da sie sich auch diese Frage nicht stellten, die ja ganz und gar menschlich war?

Die weiße Katze der Nachbarn kam ihres Weges und schritt versonnen hinter den Büschen entlang, die ihr Rohlfs verbargen, der sie allerdings im spiegelnden Glas eines Fensters gesehen hatte. Den Weg, den sie nehmen würde, konnte er sich vorstellen, nachdem sie auch seinen Augen entschwunden war, indem sie das Fenster passiert hatte. Nun kam sie wie erwartet um die Biegung des Gartenpfades, schwer in der nachmittäglichen Hitze, allein auf den Pfad bedacht, den sie nach oben nahm und noch steiler nehmen würde.

Rohlfs spürte, dass sie erschrecken würde, wenn sie ihn plötzlich erblickte. Er überlegte darum einen Augenblick, ob er den Blickkontakt mit ihr suchen, oder dieses Extrem der unerwarteten Begegnung vermeiden sollte. Da er selber nichts Böses im Schilde führte, nicht etwa absichtlich die Katze erschrecken wollte, ließ er es darauf ankommen und blickte unentwegt zu der Katze hin. Es geschah buchstäblich nichts, die Katze hatte ihn nicht bemerkt. Läppisch wäre es gewesen sie nun noch, da sie ihm bereits den Rücken zuwandte, zu erschrecken.

Auch ein Insekt konnte reagieren auf das, was man tat, hatte darum eine Begegnung stattgefunden? Sehnte man sich überhaupt nach Begegnungen, da sie doch so überaus häufig auf Missverständnisse hinausliefen. Man besaß Dasein, wünschte es sogar, auch die Tiere verteidigten es. Man befriedigte Bedürfnisse, war interessiert sogar an Reichtum, wie die Verhaltensforscher sagten um Sexualpartner zu beeindrucken und in diesem Zusammenhang Konkurrenten aus dem Feld zu schlagen. Damit würde das Ideelle auch auf seine materielle Basis zurückgeworfen, was die Naturforscher begeisterte, die ja nur diese materielle Welt sehen wollten und das ihrerseits um Konkurrenten zu besiegen, ihnen die Weibchen abzujagen?

Rohlfs hing dem Gefühl nach aneinander vorüber gegangen zu sein. An der zufälligen Überlegenheit über die Katze, die ihn nicht bemerkt hatte, lag ihm nichts. Die Begegnung erfüllte ihn mit dem Gefühl eines stummen Grußes eines Individuums, eines anderen in der Ewigkeit des Daseins. Es war eine selige Melancholie und des Einverständnisses mit der Welt, die man sich an einem ruhigen Sonntagnachmittag getrost leisten konnte.

"Denkst du etwas?", fragte Constance in die Stille hinein. "Doch, du denkst doch etwas. Nie willst du sagen, was du denkst." - "Nein, Schatz, ich habe wirklich nichts gedacht." Constance gab sich ausnahmsweise zufrieden und sagte: "Hast du gesehen, wie dick die Katze von nebenan geworden ist?" - "Wir werden alle dicker." - "Ja, du, aber nicht alle." Sie blinzelte noch ein wenig gegen die Sonne zu Rohlfs hin und widmete sich dann wieder dem Artikel, den sie noch zu Ende lesen wollte.

Die Hühner lebten in diesem paradiesischen Garten als ein Völkchen, dem all der Luxus, der es umgab, so wenig auffiel wie Paul, zu dem alle Paolo sagten, denn seine Frau hieß Paula, Paul und Paula, das legendäre Märchen. Sie hatten das ererbte Häuschen kurzerhand abreißen  und sich vom Architekten einen kühnen Würfel an derselben Stelle errichten lassen.

Der Schwiegervater war ins Nachbarhaus gezogen, das er seinerseits in den Siebzigern bereits als Alterssicherung gebaut hatte, und nun wohnte er dort unter den Mietern, mit denen er Freundschaften unterhielt. Den Garten hatte er seit jeher hinter beiden Häusern bearbeitet.

Es war, wie man auf den ersten Blick sah, ein wahrer Gärtnergarten, alles darin war aufs Beste bestellt, in Reih und Glied, beschnitten, gejätet, mit Schnürchen festgebunden, die Wasserfässer wohl gefüllt.

Der Schwiegersohn, des gärtnerischen Überflusses in Zeiten des Supermarktes wohl eingedenk, hatte ganz auf Pracht und Zierde umgestellt. So fand das aparte Haus, selber Prediger einer neoklassischen Moderne, seine würdige Fortsetzung in jenem Garten, wo früher Wäsche an den Leinen geflattert haben mochte. Jetzt gab es ein Gewächshaus, dem, verglichen mit solchen wirklicher Gärtnereien, es an nichts fehlte, vom Format einmal abgesehen, denn es war hinten an die Garage angebaut und nahm ungefähr noch einmal dieselbe Fläche ein. Ein Teil eben jener Garage barg auch Gartenkleidung, Schaufel, Spaten, Säcke mit Gartenerde, wohl auch Dünger wurden auf Vorrat gekauft und hier gelagert. Von dort nahm Paolo auch in einem kleinen Plastikeimerchen Hühnerfutter mit.

Rohlfs, der sich grundsätzlich nicht einmischte, hatte wohl Hühnergackern gehört, als man auf der Terrasse Saft trank, Maracuja oder Orange mit Eis, Paula, der Rohlfs vorgestellt wurde, saß seitlich mit einer Illustrierten auf einer Hawaiischaukel. Wie üblich kannte sie ihn aber bereits, was er für möglich hielt, leider konnte er sich nicht erinnern.

"Seit wann um alles in der Welt interessierst du dich denn für Hühner?" - "Eigentlich schon immer. Das heißt, als Jugendlicher interessierte ich mich nicht für sie, denn wir hatten ja welche. Ich glaube, ich schämte mich sogar ein wenig für sie, weil wir immer noch welche hatten, während es anderswo längst Rasen gab und diese Hollywoodschaukeln. Unsere Garage stand in dem Gelände, in dem auch die Hühner frei liefen, ein alter Maschendrahtzaun lief darum herum und man musste durch eine wackelige Tür zuerst regelrecht durch den Pferch hindurch zum Auto. Unweigerlich trat man in die Hühnerkacke, mehr oder weniger vertrocknete, meine ich. Als Kinder mochten wir natürlich die kleinen Küken, die mein Großvater in einer Schachtel vom Markt mitbrachte. Schade nur, dass sie so rasch zu gerupft aussehenden Halbwüchsigen wurden unter ihrem Gestell, wo es auch bald zu eng für sie war. Wenn sie erst mit den anderen Hühnern zusammengetan wurden, waren sie bald nicht mehr von den alten Hennen zu unterscheiden und hatten jeglichen Reiz für uns verloren. Ich mag bis heute die braunen etwas lieber als die weißen Hühner, vielleicht weil sie nicht so rasch schmutzig und erbärmlich aussehen, was weiße ja tun, besonders natürlich in der Mauser." - "In der Mauser." - "Ja, dann verlieren sie die Federn um neue zu bekommen." - "Und deshalb willst du diese Mäntelchen für sie hier kaufen." - "Das ist ein Katalog aus England. Ehrlich gesagt, ich wollte es auch nicht glauben. Capes fürs liebe Federvieh. Sie wärmen sie ein wenig, so dass sie mehr Eier legen." - "Hatten nicht früher bescheuerte Hundefrauchen so etwas für ihren Pudel?" - "Ja, schon, Hühner mit Mänteln, schon etwas strange. Aber vielleicht frieren sie ja wirklich. Also wegen der Eier würde ich's ja nicht tun. Die Werbung sagt, wegen der Signalfarbe würden auch weniger Hühner überfahren. Hühner leben gefährlich. Drunten in Rumänien hat so ein verrückter Taxifahrer eins zwischen die Räder genommen, nicht dass das einen furchtbaren Schlag tun würde. Dann würden diese Taxifahrer ja bremsen oder einen Bogen machen, aus Rücksicht auf das Auto. Aber du fühlst doch genau, dass da unter dir gerade einem Tierchen der Garaus gemacht wird. Im Spiegel meiner Sonnenblende sah ich gerade mal ein paar Federn aufwirbeln, wie in einem lächerlichen Comic. Sag mal, Emilios Kinder, oder so, die leben doch in England?" - "Du willst doch nicht im Ernst diese Hühnermäntelchen kommen lassen?" - "Es ist nur so eine Idee, aber weißt du, ich mag Hühner wirklich."

Ein Kollege hatte Rohlfs einmal ein Versandhaus empfohlen, das Herrenbekleidung vertrieb. Besonders Standard-Herrenbekleidung sei interessant, also Dinge, die man nicht jedes Mal extra aussuchte, sondern, die man sowieso brauchte, beispielsweise Socken, in diesem Falle ungemusterte in den drei Farben Schwarz, Blau und Grau. Auch braune gab es natürlich. Der Clou war, dass diese Socken, natürlich nach Farben gesondert, untereinander vertauschbar waren, so dass das lästige Sockensortieren entfiel. Dabei blickte der Kollege Rohlfs vielsagend über die Lesebrille hinweg an. Die Firma wusste auch, wann durchschnittlich so viele Socken verbraucht, also an Zehen oder Fersen dünn geworden waren, und je nachdem, welchen Vertrag man mit ihr hatte, kamen in Verbrauchsstufen gestaffelt neue Socken. Die alten musste man allerdings selbst entsorgen. Neulinge neigten dazu zu finden, dass der Termin doch zu früh gewählt sei und begannen die jeweils neuen Socken zu horten. Sie unter Freunden oder Bekannten weiterzuverkaufen lohnte sich natürlich nicht, aber es wurde, wie bei allen schlechten Geschäften, Werbung gemacht, so dass man jedenfalls dadurch, dass man auch andere davon überzeugen konnte, noch eine Weile selber an den Unsinn glauben konnte.

Möglicherweise war es aber auch wirklich eine kluge Idee, an die  man sich aber erst gewöhnen musste. Wer wusste schon, wie viele Leute mit löchrigen Socken in ihren Schuhen steckten, beziehungsweise wer hatte einmal ausgerechnet, wie viel Zeit damit vertan wurde, Socken zu sortieren. Ein Freund meinte einmal zu Rohlfs, das komme alles auf dasselbe heraus, die einen sparen sich die Zeit des Sockensortierens und verdienen währenddessen das Geld, mit dem sie den Sockenvertrag bezahlen, andere, zugegebenermaßen noch die meisten, sortierten eben und hätten naturgemäß keine Zeit mehr zu verdienen. Rohlfs dachte an die Löcher in seinen Socken beziehungsweise daran, dass er neulich sogar zwei verschiedene Schuhe getragen hat, schwarze wenigstens. Dennoch ist ihm der Schreck in die Glieder gefahren, als er es bemerkte, nämlich als er vom Dienst nach Hause ging.

Der Gedanke, dass das wahrscheinlich auch anderen Leuten ständig passierte, man aber ebenso wenig wie heute bei sich selber auf die Idee gekommen ist, darauf zu achten, nahm der Angelegenheit nichts von ihrem Schrecken. Schließlich fragte man sich häufig, Rohlfs jedenfalls, ob man nicht eigentlich verrückt sei. Wenn man nun beispielsweise nicht darunter litt, konnte das dann doch Verrücktheit sein? Spielte sozusagen das Befinden dabei eine Rolle? War es verrückt, sich die Sache mit dem Sockenvertrag anzuhören, rein von der Sache her? Hörten sich also normale Leute so etwas nicht an, beziehungsweise war das Gefühl, das Rohlfs beim Zuhören hatte, irgendwie ein Hinweis auf seinen Geisteszustand?

Tatsächlich hatte er sich allerdings nicht gefragt, ob es verrückt sei, sich so etwas anzuhören, oder nicht vielmehr die Tatsache, dass es so etwas gab?

Es kam hin und wieder vor, dass Dr. Reich verspätet aus der Mittagspause kam, die er gewöhnlich in der Kantine für Bedienstete des Bahnhofs verbrachte, wohin er Rohlfs einmal mitgenommen hatte. Es war ein merkwürdiges Begängnis, indem Rohlfs zwei älteren Damen, die den flieder- bzw. graurosafarbenen Hut aufbehielten, vorgestellt wurde, er aber während der gesamten Begegnung nicht einen einzigen Satz herauszubringen vermochte.

Dr. Reich dagegen betrug sich mit formvollendeter Höflichkeit, spendierte sogar den Nachtisch, wenn auch lediglich von seinen Bons, die er teilweise wohl auch sammelte, offenbar eigens für solche Gelegenheiten, was aber der Dankbarkeit der Damen keinerlei Abbruch tat.

Man unterhielt sich, wie Rohlfs verwirrt fand, über völlig Belangloses, man möchte sagen Banales, wozu ihm nun wirklich nichts einfiel, und eben schon gar nicht in diesem Ton der übertriebenen Freundlichkeiten, die nur auf fortwährenden Missverständnissen beruhen konnten. Dr. Reich trank, wie immer, Wein, was die Bedienerin wusste, und von dem sie ihm brachte, wenn sein Glas leer war.

Ein solches gemeinsames Mittagessen mit Rohlfs wiederholte sich nicht, Dr. Reich hatte sehr wohl bemerkt, dass es den Jüngeren überforderte, wenngleich Rohlfs zu dem Schluss kam, dass es Dr. Reich ehrlich damit meinte, der die Gesellschaft solcher Damen schätzte, vor allem natürlich, wenn sie sich formvollendet zu benehmen wussten.

An diesem Tag nun musste es bei den drei, vier Gläsern Wein, die Reich wohl infolge seiner Leibesfülle problemlos vertrug, nicht geblieben sein, weshalb er gegen halb vier schwer schnaufend und mit hochrotem Kopf im Türrahmen des Büros im vierten Stock erschien. Dort blieb er, bevor er eintrat eine geraume Weile stehen, so als prüfe er, ob bei der Arbeit alles seinen gewöhnlichen Lauf nahm. Da diese Prüfung sich sehr in die Länge zog angesichts der Tatsache, dass der Türrahmen zu schwanken schien, weshalb Reich versuchte besonders fest zu stehen, war Conley es, der zuerst sprach: "It's about time! You're drunk, dirty old man!", wofür Dr. Reich nur ein Einatmen als Entgegnung aufbrachte, sich aber leicht schwankend und starken Alkoholduft verbreitend in Bewegung setzte und sich sogleich schwergewichtig auf dem Kunstledersofa niederließ. "Yeah, you better let him sleep now, Rohlfs", sagte Sgt. Conley und wandte sich seinen Fernschreiben zu.

"Du glaubst es nicht, was mir passiert ist", sprach Conley und rückte an seiner schwarz geränderten Army-Lesebrille. Rohlfs, der an diesem Morgen Dr. Reich an seinem Platz vertrat und dem Sergeant gegenüber saß, hatte sich schon gewundert, warum der zerstreut in alten Unterlagen gestöbert hatte, eines zum anderen legend, um dann wieder etwas hervorzuziehen, das er dann später aber doch wieder an den alten Ort zurücksteckte. Darüber begann er seine Rede, also: "Guess what, Rohlfs", er sei ja am Wochenende in München gewesen. Rohlfs wusste, dass das für Amerikaner keine Entfernung war, man traf eben Freunde und Bekannte in anderen Städten in Deutschland, wo es auch amerikanische Einrichtungen gab, warum nicht München, wo Bob selber ja auch früher einmal stationiert war. "And I met this girl, you know, I hadn't seen for twenty-five years, walking down right one of those streets I was used to." Eine unglaubliche Sache, im Nachhinein betrachtet ja auch wieder so nahe liegend. Natürlich war sie inzwischen verheiratet gewesen, hatte eine Tochter in dem Alter wie sie selber damals, wohnte wieder in München, fast in derselben Straße, und du wirst es nicht glauben: "I fell in love." Rohlfs war beinahe selber begeistert beim Zuhören, fand die Geschichte, wie Bob sie erzählte, irgendwie drollig, zum Beispiel, weil das "girl" wie Bob selber um die fünfzig sein musste. Irgendwie war auch dieses Wort der Dreh- und Angelpunkt dazu, wie Bob immer erzählte, nämlich dass die Geschichte noch eine Wendung zur Komik nehmen würde - was sie auch tat, fürs Erste einmal. "Ich bin genauso verliebt wie damals, Rohlfs. Wir waren drauf und dran zu heiraten, wollten nur, sozusagen probeweise, vorher einmal zusammen verreisen. Um elf Uhr sollte es losgehen. Ich war also mit meinem Koffer unterwegs zu ihr, die Schuhe auf Hochglanz gewienert, sogar beim Frisör gewesen, in meinem brandneuen Trenchcoat, da treffe ich ein paar Ecken vor ihrem Haus diesen alten Kumpel von mir. Na ja, du weißt, wie das geht. Was, sozusagen auf Hochzeitsreise? Zeit für ein Bier hatten wir schließlich noch. Aber, was soll ich sagen, wir sind hängen geblieben, und um drei hätte ich gar nicht erst aufzukreuzen brauchen. Du weißt ja, wie ich das hasse, Frauen, wenn sie total verheult sind. Und es ist dann auch so bis gegen drei in der Nacht geworden. Zum Glück hatte ich meinen Koffer nirgends vergessen. Es war auch noch genug Zeit für eine Mütze voll Schlaf. Also dann los um halb elf, damit nichts mehr anbrennt, in meinen blank gewienerten Schuhen, dem Trenchcoat, du weißt schon. Die Treppe rauf, da stand ich dann, punkt elf Uhr, und klingelte. Sie riss die Tür auf, gab meinem Koffer einen Tritt, der ist zum Glück nicht aufgegangen, wie er die Treppe runtergepoltert ist. Ja, Mann, und dann habe ich sie all die fünfundzwanzig Jahre nicht mehr gesehen, bis letzten Samstag, und ich sage dir, Rohlfs, ich habe mich verliebt."

Dr. Reich führte eine Wochenendehe. Anzunehmen, dass er sich seiner Frau gegenüber, die persönliche Sekretärin eines ziemlich hohen Tieres war, mit derselben vollendeten Höflichkeit betrug, wie Rohlfs sie sonst schon bei ihm beobachtet hatte. Tatsache war, dass sie außer gelegentlichen Erwähnungen völlig vom Leben im Office herausgehalten wurde. Niemals hatte Rohlfs ihre Stimme am Telefon gehört oder auch nur, dass Dr. Reich am Telefon mit ihr sprach. Sie führte wohl das gleiche unabhängige Leben die Woche über wie Reich, der in der Stadt eine Zweitwohnung besaß, wahrscheinlich bereits seit einer Zeit, als diese Gegend mehr dahermachte als heute, in einem siebenstöckigen Komplex beim Betriebshof der städtischen Busse. Rohlfs stellte sich vor, wie dort alles voll gestellt war mit Einkäufen, die Dr. Reich nicht auspackte und nur erst einmal abstellte, das aber seit zwanzig Jahren oder mehr. Es war schwer sich vorzustellen, an welche Grenzen ein solcher Tick doch einmal stoßen musste. Ob Reich auch Sachen nach Hause mitnahm, wenn er am Wochenende zu seiner Frau fuhr?

Montags kam er grundsätzlich nicht pünktlich zur Arbeit. Es war seine Art denselben Standpunkt zu vertreten wie Bob. Er fuhr wohl mit seinem Käfer zur selben Stunde los wie die Woche über, vielleicht auch das nicht einmal. Jedenfalls war er gegen neun am Telefon: "Reich", rief er mit seinem rollenden R, "guten Morgen, Rohlfs. Hat der Oberstleutnant schon angerufen? Nein, na, sagen Sie ihm, auf der B 10 steht ein Panzer quer, ich komme später."

Meist dauerte es keine zehn Minuten, bis wirklich der Oberstleutnant anrief und nach ihm fragte, während er die Woche über eigentlich nichts mit Dr. Reich zu tun hatte, dessen Vorgesetzter er auch nicht war, weil Reich einer Zivilbehörde unterstand. Dass Kaufmann stellvertretender Kommandant war und sich solche Unregelmäßigkeiten in seiner Dienststelle zutrugen, brachte ihn innerlich auf, woran Dr. Reich sich weidete, wie es nur ging. Auch Bob, den der „Hurensohn“ regelmäßig bei seinem Captain anschwärzte, der froh war einen zuverlässigen Mann auf dem Außenposten bei den seltsamen Deutschen zu haben, zumal einen, der im Headquarter wesentlich schwieriger zu führen wäre. War förmlicher US-Besuch im Haus, kamen solche Peinlichkeiten natürlich nicht zur Sprache. Der Captain, der elegant in seiner grünen Uniform steckte, wirkte unpassend in dem schäbigen Ambiente, in dem alles um ihn scharwänzelte in jener giftigen Mischung aus Neid und Unterwürfigkeit, schon wegen der Sprache, denn es war klar, dass die Leute aus dem Headquarter nicht Deutsch sprachen. Jetzt vermittelte Dr. Reich großartig zwischen den Parteien, nicht ohne den Oberstleutnant immer einmal wieder ein "Oh, I see" entgegnen zu lassen, was immerhin besser klang als das "Yes, yes" Hauptmann Bubels. "Wissen Sie, was das ist, Rohlfs, O. I. C. und warum der Captain immer so seltsam schaut, wenn der Oberstleutnant "O. I. see" sagt?", fragte Dr. Reich später im Büro. "Es heißt Officer in Charge, aber ich habe es ihm erklärt, nein, nicht dem Oberstleutnant." Den Versuch Kaufmanns Dr. Reich durch das Sprachenamt zur Ordnung zu rufen, hatte man dort auf ähnliche Weise im Sande verlaufen lassen wie die Beschwerden des Oberstleutnants bei den US-Headquarters. Dr. Reich schicke regelmäßig Berichte über seine Tätigkeit und erwähne im übrigen auch die Schwierigkeiten die Dienststelle an Montagmorgenden zu erreichen. Ob es nicht letztlich bei ihnen doch um Truppenbewegungen gehe? Na, also, wes Brot ich ess, oder so ähnlich. Was nichts daran änderte, dass Kaufmann montags anrief. Ausdrücklich den quer stehenden Panzer zu erwähnen war Rohlfs allerdings schon peinlich, es schien auch, dass der Oberstleutnant keine genaueren Erläuterungen wünschte. Was seiner Stimme anzumerken war, dass auf diese Weise ein subalterner Angehöriger der Dienststelle in die Angelegenheit Einblick nahm; Rohlfs wunderte sich, dass Kaufmann es nicht lassen konnte.

Im Fernschreiberbüro, dadurch noch mehr Dachkammer als die anderen Büros, weil lediglich mit einem Fenster versehen, arbeitete Herr Wilhelmy, dem seine Eltern unsensiblerweise den Vornamen Helmuth gegeben hatten, was aber insofern weniger ins Gewicht fiel, als es noch nicht Sitte geworden war, sich beispielsweise am Telefon mit dem vollständigen Namen zu melden. In der Fernschreibstube befand sich der Kühlschrank, in dem auch die büroüblichen angebrochenen Sprudelflaschen, hauptsächlich aber das Bier, das Bob und Dr. Reich praktisch ohne Unterbrechung tranken. Alkoholismus war kein Thema, da gab es Schlimmeres, wie beide ins Feld geführt hätten, wären sie je darauf angesprochen worden, was sich aber offenbar längst als aussichtslos erwiesen hatte; zumal niemand ernstlich glaubte, dass das tatsächlich ein Problem sei, außer natürlich für das persönliche Fortkommen. Schließlich war eine diesbezügliche Vorschrift zu beachten, weshalb Reich seinen "Stein", wie Bob den Krug weltmännisch nannte, möglichst in dem Augenblick, in dem der Oberstleutnant das Büro betrat, den Ertappten spielend in die Schreibtischschublade stellte, auch dann, wenn nichts darinnen war und nachdem er ihn extra hervorgeholt hatte, weil er die Schritte auf der Treppe richtig dem stellvertretenden Dienststellenleiter zuschrieb. Bobs Bierflasche stand immer auf dem Tisch, wenn er auch nicht in Gegenwart des Lieutenant Colonel daraus trank, den er militärisch korrekt mit "Sir" anredete, durchaus ohne jeden Anflug von Unterton, etwa ironischer Art, so wie es bei Dr. Reich immer klang, der die Anrede mit dem Dienstgrad betont stramm aussprach, fehlte, dass er aufsprang und die Hacken zusammenschlug, ein Ding der Unmöglichkeit bei seiner Leibesfülle. Der Oberstleutnant hatte stets kein besonderes Anliegen, schaute sozusagen höflichkeitshalber vorbei und nach dem Rechten, offensichtlichen Schlendrian konfliktscheu übersehend und sich den Anschein gebend, als sei alles soweit in Ordnung. Bobs Telefon läutete sowieso den ganzen Tag, und allein die Tatsache, dass daran englisch gesprochen wurde, stellte den Kommandanten zufrieden, auch wenn Worte fielen wie: "Yes, turkey, this is about the third time you ask me the same fucking question." Dr. Reich machte Rohlfs darauf aufmerksam, der Oberstleutnant habe gar nicht "oh, I see" gesagt.

Zufällig oder aus Taktgefühl verbreitete auch Wilhelmys Büro eine Art von Geschäftigkeit, wie sie für diese Uhrzeit durchaus eher selten vorkam. Wilhelmy war der einzige in der oberen Etage, der nie Bier trank, dafür schlief er gewöhnlich während des größeren Teils des Vormittags unter der Dachschräge auf seinem Sofa, denn er betrieb in einem Dorf an der Grenze eine Diskothek und kam am Morgen offenbar direkt von dort. Er war ein richtiger Fachmann, wohl vor längerem einmal Zeitsoldat gewesen und hatte als Zivilangestellter hier den Job, mit dem man Krankenkasse, Altersversorgung und die Miete bestreitet. Wer weiß, vielleicht gab es im Diskothekengeschäft auch einmal Flauten, und da Wilhelmy alleinstehend war, das heißt, er wohnte bei seiner Mutter, musste er den Job, durch den regelmäßig etwas einkam, selber machen, was andere Leute mit riskanten Berufen gewöhnlich ihrer Frau überließen.

Auch mit ihm hatte der Oberstleutnant, wenn auch widerwillig, letztlich seinen Frieden gemacht, wenn er auch ähnlich seinen Anrufen auf dem Telefon von Dr. Reich am Montagmorgen, hin und wieder in seinem Büro das Telefon läuten ließ, um angeblich nach diesem oder jenem Fernschreiben zu fragen, was Wilhelmy mit Kopfschütteln quittierte, wenn er aufgelegt hatte. Aber er war ein friedlicher Mensch und behandelte den stellvertretenden Kommandanten mit der gleichen Gelassenheit, mit der er seine Diskothekenbesucher wohl behandelte, auch die Spinner.

Rohlfs wusste, dass das Leben, das ihn als mit sich eins umgab, es darum umso mehr war, weil er nicht Teil daran hatte. Er war ein Fremder, den man bemerkte, der nicht störte, den man höflich behandelte, etwa in der Art, wie man es früher und hier auch heute noch mit Kindern tat, weil sie ja nichts verstanden. Das nahm man naiverweise an, wie er nur wissen konnte, schließlich kam niemand auf die Idee ernstlich in irgend einem Belang nach seiner Meinung zu fragen. Wenn man es dennoch tat und er sich bemühte möglichst sachlich zu sein, sah man ihn geduldig an, bis er einen derart unmöglichen Standpunkt zu Ende vorgetragen hatte und war verlegen darum, wie das Gespräch nun weitergehen sollte. Tatsache war, dass er irgendwie anders gesprochen hatte als andere Ausländer, weniger großspurig vielleicht, was sie sich immerhin leisten konnten angesichts der Tatsache, dass sie reich waren, letztlich musste es aber auf dasselbe herausgekommen sein, schließlich wusste man, was alle wussten.

In Deutschland unterschied sich dasselbe Phänomen davon darin, dass Länder der so genannten Dritten Welt gar nicht in Betracht kamen als Orte, an denen man glücklich sein konnte. Ja, es stimmte, dass man letztlich nicht so arm sei, wie es zunächst den Anschein habe, denn es sei ja auch alles billiger als hier, jedenfalls seien die Leute das allgemein niedrigere Niveau auch gewöhnt, und wer weiß, ob sie dann noch so viel verdienen wollten wie die Leute bei uns, wenn sie auch so viel arbeiten müssten.

Rohlfs, der wusste, dass solche Diskussionen zu nichts führten, reagierte mit einem Lächeln, früher hatte er versucht einen Standpunkt zu vertreten und auch lange mit sich gerungen, ob das nicht auf jeden Fall sein muss, wollte man auf die Dauer nicht die Selbstachtung verlieren. Manchmal sagte er etwas, zum Beispiel, mit dem buchstäblichen Fleiß, an dem sich hier alle hochzögen, würde auch viel Mist geleistet, lauter Zeug, das keiner braucht. "Aber jeder haben will, und meinst du vielleicht die Leute da unten nicht?" Das seien doch die ersten, die mit Handys und Markenklamotten herumlaufen. Und wo letztlich die Wirtschaft bliebe und die Arbeitsplätze, wenn keiner mehr was kaufen würde und jeder seine Sachen anziehen würde, bis sie ihm vom Hintern fallen? Was sollte man gegen die Bedürftigkeit sagen, dessen, der noch den Golf fünf fuhr, wo es schon den siebener gab? Der mit zwanzig Tagen Urlaub im Jahr sich zehn Tage All inclusive verdient hatte? Dessen, der noch nie irgendwo war, der mit zweihundert Dollar seine Familie durchbringen musste? Keine Frage, dass der den siebener Golf auch haben will, wenn's geht den achter, neuner, oder eben den einser. Diese Giftschleudern überhaupt zu importieren war neuerdings verboten, nicht etwa wegen der Umwelt, wie sich in den großen Städten nicht etwa durch Messungen, sondern mit dem Taschentuch vorm Mund jeder selber überzeugen konnte. Der Altautoimport drückte auf den Absatz der Neuen, wofür eine Lizenz zu haben eine erhebliche Investition darstellte, insbesondere auch in die Behörden, womit die entscheidende Schaltstelle einbezogen war um den Markt an dieser Stelle zu korrigieren. Verkauft wurden den armen Leuten Altwagen frisch vom Band, hauptsächlich aus China. Rohlfs hatte gehört, bei einem Crash würden sie sich zusammenfalten wie eine Konservenbüchse. Aber wer dachte daran, sein schönes Auto zu Schrott zu fahren und sich darin einstampfen zu lassen?

Wilhelmy war im Unterschied zu allen im Haus auf seine Weise effizient. Seine Fernschreiben waren akkurat, sowohl die, die er empfing, die er mit Schwung von der Rolle abriss, ohne dass je eine Ecke hängen geblieben oder gar das Blatt eingerissen wäre, als auch die, die er versandte. Nicht einmal wäre es vorgekommen, dass er nicht Vorlage und Sendeausdruck fein säuberlich zusammengeheftet an die Büros zurückgegeben hätte. Bob warf seine stets je nachdem in oder auf seinen meist überquellenden Papierkorb. Er hasste jede Form des Aufbewahrens. Dr. Reich erzählte, früher sei er auch verschwenderisch gewesen, habe Bleistifte, von denen er natürlich immer ganze Schachteln besaß wie von allem anderen Büromaterial auch, wenn sie stumpf waren, in der Mitte durchgebrochen und in den Eimer geworfen. "Machs nix, haben viel", ganz perfekt war Dr. Reichs Version von Conleys Deutsch nicht. Die Beziehung der beiden zueinander ließ sich überhaupt eigentlich nur erfühlen als in einzelnen Zügen begreifen. Die Atmosphäre war die einer abgeklärten Heiterkeit. Es war Bob, den man zornig sehen konnte, aber nie böse. Dr. Reich konnte boshaft sein, auch schien es nichts zu geben, was er nicht wusste. Natürlich war er es auch, von dem Rohlfs das wenige erfahren hatte, was es über Wilhelmy zu sagen gab, dessen Fernschreiberklingel man hörte, wie sich der Zentralist erst eine Ewigkeit lang bei ihm anmelden wollte, sich wie üblich drein fand und schließlich eine ellenlange Serie von Meldungen dann auflaufen ließ. Eine weitere Ewigkeit lang konnte er dann die Kürzel für die Bitte um Quittung schreiben und wieder schreiben, bis Rohlfs nachschaute, ob Wilhelmy schlief. Der aber lag nicht, sondern saß mit übereinander geschlagenen Beinen auf seinem Sofa, das aussah, als sei es noch ein Stück der zivilen Vormieter, und las eine Illustrierte. Er konnte dann gelassen um den Schreibtisch herumspazieren, gekonnt die Quittung mit seinem Kürzel in die Tastatur rattern und nach einem ebenso kurzen OK war Ruhe, möglicherweise wieder für Stunden, in denen man aus der Fernschreibstube nichts hörte. Aus den unteren Büros brachte man die eine oder andere Vorlage in der Erwartung, der Fernschreiber nehme sie beflissen von seinem Schreibtischstuhl aus in Empfang, was auch der Fall war, wenn man von der Beflissenheit einmal absah, jedenfalls immer freundlich, wenn Wilhelmy zufällig dort saß. Die Schmach um die Ecke zur Couch zu schauen, wo er meistens dann doch lag, tat man sich nicht an. Also sei er gerade vielleicht zur Toilette. War er überhaupt heute da? Wenn er Urlaub hätte, wäre jedenfalls ein Kollege da, Gott sei es geklagt. Denn dann ging es im Fernschreibbüro drunter und drüber. Die Rufklingel schrillte in einem fort, sogar erboste Anrufe aus der Zentrale gingen ein, zuletzt gar beim Oberstleutnant, der doch zu gerne gehabt hätte, dass ein Soldat in der Stube Dienst tat anstelle Wilhelmys mit seinen offenen geblümten Hemden und der Afrofrisur. Aber es war nicht zu machen. Halb zerrissene Fernschreiben gerieten in die falschen Büros, es kamen welche von falschen Adressen zurück, zu spät um sie noch an die richtige Adresse zu schicken, weshalb dann wiederum erboste Anrufe in den Büros geschahen. Und in all dem arbeitete mit großen Schwitzflecken unter den Armen, die übliche fleckige Krawatte mit Dauerknoten umgebunden, ein pickeliger Unteroffizier, man fragte sich, wie lange das noch so weiter gehen sollte.

Wilhelmy kam, hatte er nun Urlaub gehabt, oder hatte man ihn, um ihn zu schikanieren in eine andere Dienststelle gesteckt, nicht dass er je ein Wort darüber verloren hätte, weder über das eine noch über das andere, wieder ins Büro. Die alte Ruhe kehrte wieder ein, fast hätte jemand gesagt, Gott sei Dank, Wilhelmy ist wieder da, auch das dann doch nicht. Aber es herrschte Frieden, wie man so sagte, Erleichterung, denn natürlich war die Stimmung sehr gereizt, schließlich war man auf diese Weise auf jede Art von Missständen aufmerksam geworden, die sonst im Verborgenen blieben. "Fuckin' Wilhelmy is back, well everything's so silent round here, probably he's asleep." Bob hatte gewöhnlich nichts mit dem Fernschreiber zu tun, er erledigte seine commitments sämtlich am Telefon.

Pia liebte Rohlfs, und sie liebte Amerika, wo sie eine Weile Austauschschülerin war, woher ihr perfekter Akzent rührte, mit dem sie auf der Leitung von Bob anrief. "How are you, Miss sweetheart? Well, he's sittin' right in front of me, workin' his ass off. Just a second, my dear."

Sie trafen sich am Abend nach dem Dienst, aber da Pia eigentlich nichts zu tun hatte, rief sie gerne vorher einmal an, vielleicht wollte sie wissen, in welcher Stimmung Rohlfs war. Eigentlich vermutete er aber, dass ihr einfach langweilig war. Wie seltsam, sie genoss das Nichtstun, und wenn Rohlfs sie am Telefon fragte, was sie gerade so tat, kam ihr "nichts" aus den tiefsten Tiefen ihrer Überzeugung, das gerade sei ihr Recht, und jede Betriebsamkeit eine Art Sklaventum, was Rohlfs umso mehr ankratzte, als er unter der Vergeblichkeit vieler Mühen, die er sich auferlegte, litt. Pia besaß mehr Talent als er in vielerlei Hinsicht, auch sonst bessere Voraussetzungen, wie er fand, um - nichts daraus zu machen?

Sie studierte auf dem Bauch liegend, neben sich ein Glas mit einem Fantasiegetränk, sehr bunt, sehr süß, das sie mit einem Strohhalm genoss: Russisch! Das sie mit der gleichen schauspielerischen Begabung sprach wie ihr amerikanisches Englisch. Rohlfs, der ihre Beweggründe nicht verstand, empfand die Art, wie sie studierte, als eine Art Verschwendung von Kräften, die ihm fehlten. Immerhin, Englisch sprach er nach einer Weile in der Kommandantur ohne jede Behinderung. Dabei war er anfangs völlig blockiert gewesen. Wie eine Zentnerlast wog auf seinem Gewissen sich als des Englischen mächtig zu diesem Dienst gemeldet zu haben, während sich herausstellte, dass ihn in den ersten Tagen und Wochen die Situation völlig überforderte. Er wusste ja nicht, dass das ganz normal war und bald überwunden. Wie auch, da doch bis auf Dr. Reich alle schon Ewigkeiten in der Kommandantur arbeiteten ohne je sich auch nur halbwegs auf einer Ebene, die man Sprache nennen konnte, mit Bob oder gar mit jemandem von den amerikanischen Dienststellen, mit denen er zusammenarbeitete, zu verständigen in der Lage waren. Pia war gegen Militär, was sie nicht hinderte von Bob Conley völlig hingerissen zu sein, dessen Uniform sie "cute" fand, und von dem sie sich gerne mit "sweetheart" anreden ließ. "Rohlfs, you got such a sweet little lady. Are you sure to deserve such a peace of sugar? Come on, Rohlfs, you so fuckin' serious, and she's so damn smooth. And the worst thing of all, she loves you. She'd better love me. I'm no fuckin' ol' man like fuckin' Dr Reich. He could be her fuckin' grandfather, dirty old sucker. Well, Rohlfs, are you goin' to marry her? You shouldn't fuck around with her and then kick her in her sweet little ass, don't you!"

Es war einer jener Abende, an denen sie schon lange ohne Licht im Büro sitzen geblieben waren. Genauso pünktlich wie die reguläre Belegschaft am Morgen kam, hörte man das Türenschlagen am Nachmittag, bis es dann ganz ruhig im Haus geworden war. Wenn Pia die Woche über in Heidelberg in der Uni war, dann war Rohlfs, wie Dr. Reich und Conley auch, Junggeselle und frei. Tatsächlich erwartete niemand, dass er um eine bestimmte Stunde zu Hause sei.

Der eigentliche Verrat an der Liebe war, wie die Liebe selber, eine existenzielle Macht, die einen Baum an der Wurzel packend diesen nach oben halten und schütteln konnte. Nie wieder würde ein Blatt daran grünen, die wenigsten Bäume, einmal dem Erdreich entrissen, wuchsen je wieder an. Rohlfs' Baum erfuhr solche Erschütterungen aus sich selber, weil er fühlte geliebt zu werden, aber aus den falschen Gründen, wenn man so sprechen konnte, denn er wusste wohl, dass die Liebe keiner Gründe bedurfte. Dennoch liebte er Pia wegen ihrer Schönheit, auch wegen ihrer Selbstgewissheit, mit der sie Dingen und Ansichten anhing, die er darum keineswegs teilen musste. Umgekehrt genoss sie seine Bewunderung ohne sie zu teilen, was nicht hieß, dass sie weniger selbstverliebt war als Menschen, die sich tatsächlich für schön hielten. Es war ihr Phlegma, das sie zur Genießerin machte, so dass sie sich mit schönen Dingen umgab und sich auch schön machte. Ihr Parfüm hieß "Amazone" und blieb in genau der Dosierung, in der sie es benutzte, ein Duft, von dem Rohlfs der Atem stockte, wenn es ihm aus der Schar der Passanten in irgendeiner Fußgängerzone entgegenströmte. Verrat war ein großes Wort, und es hing tragisch über Rohlfs, der hörte, wie Bob mit Pia am Telefon schäkerte. Den Klang ihrer Stimme, nachdem der Sergeant ihm den Hörer gereicht hatte, schwebte noch in einem Timbre, das er nur haben konnte, weil der Amerikaner ein Mann war, wie er eigentlich sein sollte. Rohlfs rächte sich mit Kühle und bereute sofort. Wie auch immer gelassen und fröhlich ein solcher Nachmittag mit Pia noch beginnen würde, ebenso konnte er sich bis in den späten Abend dann windungsreich von einer geheimen Macht gelenkt in tränenreiche Verzweiflung wandeln. Bob, der feinfühlig war, betrachtete Rohlfs durch seine schwarzgeränderte Brille, mit der er ein Taschenbuch las, seine Zigarette rauchend. Es waren die Augenblicke, in denen kein Witzchen weiterhelfen würde, und die Dinge mussten so sein, wie sie sind. Auch war der Roman zu Ende, das Papier billig genug, so dass man das Buch trotz seiner beträchtlichen Dicke mitten entzwei reißen konnte, was Bob, der nie etwas aufhob, und schon gar nicht ein Buch, auch tat: "Another stupid story. Well, Rohlfs, I ran out of cigarettes, too, better get my ass home soon today. You're leavin' for sure within a moment. Let's get the hell out of here, fuckin' crazy place."

Recht brüsk nahm der Fahrer des Transporters unter Flüchen eine Ausfahrt, die er, so nahm Rohlfs an, erst im letzten Moment gesehen hatte. "Futu-ţi biserica şi paştele şi adormirea morţilor mă-tii! Te omor!", schrie einer der Rumänen dem Fahrer zu, da er sich offenbar, vermutlich aus tiefem Schlaf gerissen, durch den rasanten Wechsel der Fahrtrichtung am Kopf verletzt hatte, den er sich aufgeregt rieb. "Taci din gură nenorocitule, n-ai dreptul să-i spui nimic, clar?", schleuderte der Fahrer ihm entgegen und bremste den ins Schleudern kommenden Wagen mit übertriebener Härte ab. "Sunteţi nişte mere stricate! Să vă ia dracu pe toţi, pentru că sunteţi nişte nemernici fără suflet!", erkannte Rohlfs nun auch die aufgebrachte Stimme Lucias. Der plötzliche Aufruhr löste einen pulssynchronen Tinnitus in Rohlfs aus, wobei er lediglich gern gewusst hätte, wie weit man bisher gefahren war. Wagentüren wurden aufgerissen und zugeschlagen, was das dreigestrichene A in seinem Kopf an Intensität verstärkte. Die Tatsache, dass er keinerlei Kenntnis über den Verlauf der Fahrt hatte, ob man Österreich verlassen hatte und sich bereits in Ungarn befand, ob man angehalten hatte um zu tanken oder ob eine Meinungsverschiedenheit Anlass für die abrupte Bremsung gewesen war, irritierte Rohlfs aufs Stärkste. Aus der raschen Wahrnehmung durch eines der Seitenfenster des Transporters glaubte er indes schließen zu dürfen, dass man die österreichische Berglandschaft längst hinter sich gelassen hatte, zumal sich Rohlfs einbildete zwischenzeitlich grüne Autobahnschilder gesehen zu haben, wobei er sich eingestand, dass es sich hierbei auch um ein Trugbild seiner Erinnerung handeln konnte.

Nach wie vor schien es ihm unmöglich sich zu bewegen, geschweige denn aufzustehen, sodass er beschloss tief durchzuatmen um seinen Puls zu regulieren und seine Konzentration auf das Hier und Jetzt richten zu können. Währenddessen wurde das Fluchkonzert in nicht allzu großer Entfernung des Transporters fortgesetzt. Gelegentlich öffnete jemand die Hintertüren des Fahrzeugs um sich jedoch sogleich wieder mit einer neuen Salve von Flüchen zu entfernen.

Die Rumänen waren derbe Leute und im Wagen so gekleidet, wie man sich zu Hause anzieht, weshalb man sich auch auf dem Rastplatz rasierte, mit reichlich Schaum im Gesicht vor dem Außenspiegel des hellblauen Lieferwagens, oder das Zahnputzwasser ausspuckte, natürlich zur Seite, es sollte ja niemand in die Pfütze gerade hineintreten. Aus feingerippten Unterhemden, die sich über wohlgerundete Bäuche spannten, quoll reichlich Brusthaar, oder man fror und hatte deshalb die Trainingsjacke oder einen Trawler übergezogen. Strümpfe sah Rohlfs nicht, Gummilatschen allenthalben, oder nackte Füße in Straßenschuhen. Die ausgefallensten Turnschuhe, wild-funktional den ausgefeilten Materialien folgend gezeichnet und gefärbt, trug ausgerechnet der älteste unter ihnen, über sie fiel eine braune Anzughose, die seit geraumer Zeit kein Bügeleisen gesehen hatte.

Rohlfs selber war inzwischen reichlich zerknittert und von irgendetwas, worauf er halb gesessen und im Verlauf der Nacht dann wohl mehr gelegen hatte, hatte er sich einen dunklen Fleck am Hosenbein eingefangen. Das Jackett glättete sich gerade wieder etwas, da er doch auch fröstelte und aus dem Kopfkissen, das es ihm gewesen war, wieder ein halbwegs wärmendes Kleidungsstück gemacht hatte. Die Druckstelle, die von seinem Notizbuch herrührte, fühlte er etwas wärmer unterhalb seines rechten Ohres.

"Schreiben, Mann!", hatte einer der Rumänen mit rollendem R artikulierend gesagt, indem er mit einem dicken Zeigefinger auf ihn wies. "Yeah, back at the roadhouse they got some bungalows. And that's for the people who like to go down slow", intonierte Rohlfs mit ungewohnt brüchiger Stimme um dem Rumänen zu signalisieren, dass er sich unter keinen Umständen einschüchtern lassen würde. Zu seinem Erstaunen entgegnete dieser ihm jedoch in nahezu akzentfreiem Englisch: "The future's uncertain, and the end is always near. Chiar crezi că eşti cineva? Chiar crezi că sunt prost? Am citit printre rânduri şi mi-am dat seama imediat cum stă treaba." Bevor Rohlfs Gelegenheit hatte, irgendetwas zu erwidern, schloss der Rumäne die Hintertüren des Transporters betont schwungvoll um nunmehr mit Reich die weitere Vorgehensweise zu besprechen. Man war sich einig, dass man das Land schnellstmöglich verlassen wollte, da man Polizeikontrollen in Ungarn vermeiden wolle. Reich betonte indes mehrmals, er werde mit den Kerlen schon fertig werden. Ein deutscher Ausweis sei in Europa noch immer wirkungsvoller als eine Schusswaffe. Auch um Rohlfs müsse man sich keine Sorgen machen, da man ihm ohne weiteres eine höhere Dosis des Betäubungsmittels verabreichen könne. Vielmehr würde man sich seinen Zustand möglicherweise sogar zunutze machen, was noch abzuwarten bleibe.

Dr. Reich und Lucy mussten während der Nacht an der Raststätte ausgestiegen sein. Woher auch sonst sollte das Fläschchen roten Nagellacks in Rohlfs Jackentasche sein? Es gab also tatsächlich einen Nagellack namens Lucy Red, und den hatte Frau Bauer, es konnte nicht mehr als ein Spielzeug sein, so wie er sie kannte. Da sie aber ein Doppelleben als rumänische Putzfrau führte, war ihr doch wohl mehr zuzutrauen, als Rohlfs immer dachte. Natürlich hätte er nie geglaubt, dass es etwas mit ihm zu tun hatte. Musste es ja auch nicht, schließlich hatte sie bei Dr. Reich gesessen und war auch mit ihm verschwunden, oder waren sie an unterschiedlichen Stationen ausgestiegen. Rohlfs, der keinen Wein vertrug, hatte doch aus Durst den einen oder anderen Zug aus dem braunen Plastikfässchen getan, das die Runde machte. Frau Bauers gellendes Lachen, wenn Dr. Reich, der ansonsten harmlos war, was Frauen betraf, ein Witzchen machte, hatte er bald nicht mehr gehört. Die Rumänen schwiegen ohnehin die meiste Zeit, ganz leise dudelte das Radio, dessen Lautsprecher ganz weit vorne im Wagen war, so dass außer gelegentlichen atmosphärischen Störungen und den Fanfaren, mit denen der Sender für sich selber warb oder Einzelheiten seines Programms ankündigte, kaum etwas zu hören war.


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