[Willy Piehler]
Wir
sind alle Possenreißer: wir überleben
unsere
Probleme.
[E.M.
Cioran]
5.
7 Stone
Gewiss
mochten es auch die zunehmenden Anflüge trotziger, vielleicht auch
lächerlicher Sabotageversuche gewesen sein, die Constance
selbstverständlich missbilligte, während Rohlfs sie beglückten und
bereicherten. Über einen längeren Zeitraum schickte er den Kollegen
im Amt winzige aufrührerische, irritierende Musikdateien auf ihre
Dienstrechner, die er mit Palles technischer Unterstützung beliebig
von seinem Arbeitsplatz aus öffnen und zum Tönen erbringen konnte –
meist pianistische Miniaturen, Momentaufnahmen, Improvisiertes,
raffinierte Bagatellen, Elektronisches. Niemand verstand sich in
einem solchen Maß auf Datenverarbeitung wie Palle. Musik als Waffe.
"Die Weichen sind zu stellen, Palle, um aus diesem Umfeld
wegzukommen. Meine Vorstellungen konkretisieren sich von Tag zu Tag
und ich werde mein ganzes Organisationstalent in Anspruch nehmen
müssen um nicht kläglich zu scheitern. Sobald ich Genaueres
erfahren habe, werde ich es dich naturgemäß wissen lassen, doch
will ich mich vorerst in Geduld üben, denn die Dienstwege sind
ungeheuerlich zäh. Tatsache ist, dass das Leben im Amt an mir nagt
wie eine feiste, blutrünstige Ratte."
Palles
vermeintliche Komplizenschaft erwies sich jedoch bald als Sackgasse,
auch da ihm die Auswahl der Musik allzu eklektisch erschien, wie er
immer wieder betonte. Die Weltmechanik sei nun einmal nicht
schöngeistig. Unter vorgehaltener Hand suchte Palle schließlich das
Gespräch mit dem Personal des Amts und es konnte kein Zufall sein,
dass man ihn, Rohlfs, fortan öffentlich als Harlekin
bezeichnete.
Palle
wähnte sich als romantischen
Idealisten,
scheute aber den opportunistischen Verrat in keiner Weise, auch wenn
Rohlfs hierin nicht einmal einen Widerspruch sah. Zur Entfaltung
seines Selbstkonzepts warb Palle fortwährend um Rohlfs'
Freundschaft, zumal er über ein Redetalent von unwiderstehlicher
Gewalt verfügte. Sein Wesen schwankte zwischen eisiger
Zurückhaltung, überschwänglicher Vereinnahmung und eindringlicher
Vertraulichkeit. Seine Welt unterteilte er in heroes, friends and
shitheads. Die ewige Erfüllung und die Vollendung allen irdischen
Strebens sah er in der Vereinigung mit einem weiblichen Pendant,
möglichst auf Lotosblumen, was er etwa alle vier Jahre von neuem
verwirklicht zu haben glaubte. Stets sprach er dann vom Königsweg,
den er fortan heldenhaft zu beschreiten gedachte.
Rohlfs
gestand sich ohne weiteres ein, dass auch er, wie übrigens die
meisten seiner Generation, diesem Irrweg aufgesessen war. Wie hätte
er sonst diesem Blumenmädchen, der Mutter Rudolfas, verfallen
können?
Des
Weiteren verfügte Palle über die Gabe den Slang der Amerikaner bis
hin zum Mimikry nachzuahmen und in eben diesem Slang, so schien es
zumindest, denunzierte und verspottete Palle ihn derzeit im Amt.
Seltsamerweise mochte Rohlfs Palles Virtuosität, Palle, der ihn zum
Lachen brachte wie kaum ein anderer, ihn aus der Fassung zu bringen
verstand, der den Spielgefährten in ihm weckte. "Use the right
song in the right moment, you know what I mean, Rohlfs. I'm bleeding
for you, man. Don't doubt yourself! It's destiny's dance, it's simply
the Jazz Thing which makes it become fuckin' cinematic. You see, man
made the cars to take us over the road. In
the end you really have no choice anyway, so I wouldn't think
about it too much.
Come on, Rohlfs, some
people like to roll."
Mitunter erweckte es den Anschein, als habe Palle sein Vokabular aus
den Jukeboxes der 60er und 70er Jahre.
Neben
der Abwicklung von Manöverschäden oder Verkehrsunfällen mit
Militärfahrzeugen, einer Aufgabe, die Palle eher beiläufig
erledigte, ohne dass man ihm andererseits nachsagen konnte, er würde
seine Arbeit nicht erledigen, widmete er sich fast ausschließlich
der Vervollständigung seines Wissens über Hard- und Softwaretechnik
sowie seinen Helden
der Computerrevolution.
Man müsse seinen Beitrag dazu leisten, dass jedwede Information für
alle frei verfügbar sei um die Macht zu dezentralisieren. Ein
gutgeschriebener Programmcode sei ein Kunstwerk und verleihe dem
Leben völlig neue Dimensionen. Vermutlich manifestierte sich in
solchen Gedanken Palles Idealismus, dessen Faszination für den
Computer und jene, die ihn beherrschten, die Grundlage für eine
bessere
Welt
darstellte.
Die
Arbeit im Amt betrachtete Palle als Sprungbrett in die ständig
wachsende Schicht der digital
natives,
immer vernetzt und auf der Suche nach dem virtuellen Glück.
In
den späten, an niemanden adressierten, Briefen von Alois aus der
Lungenheilanstalt sah Rohlfs dementgegen eine leuchtende Spur, eine
Wahrheit, die vielleicht veraltet, deswegen aber nicht falsch war,
die er der Kaugummi kauenden Belegschaft, ja, bestenfalls der ganzen
westlichen Welt, entgegenschleudern wollte, was er selbstverständlich
nicht tat, zumal man ihn im Amt ohnehin längst für verrückt
erklärt hatte.
Dennoch ließ er sich einmal im Amt dazu hinreißen sie Palle aus
seinem Notizbuch heraus vorzulesen.
Ein
großes Finale hat eingesetzt, und das, was übrig bleibt,
verschlingt der Markt, denn alles wird an Umsatz und Profit gemessen.
Nam
June Paik (ein inzwischen verstorbener Videokünstler) hat in den
Tagen, als Protest noch möglich war, eine Geige hinter sich an einer
Schnur auf der Erde hergezogen - zum Ärger der Kölner Passanten;
doch in späteren Jahren malte er einmal einen großen Scheck über
eine Million Dollars (oder waren es Mark?), ausgestellt auf einen
"Ludwig van Beethoven", von dessen Genie die Menschen
zweihundert Jahre lang zehrte, ohne ihm noch einen Pfennig vergüten
zu können. Sie wissen, dass van Gogh zu Lebzeiten nur ein einziges
Bild verkaufen konnte?
Die
Kunst der Opernhäuser und Konzertsäle ist längst zu Ende (und dies
brauchte mir nicht erst eine Erkrankung zu sagen). Im Fernsehen
erscheint nur noch Schwachsinn dank des "Quoten-Denkens",
weshalb wir vor vielen Jahren das TV aufgaben; und der Rundfunk
stellt allmählich aber sicher seine Sendungen mit "Zeitgenössischem"
ganz ein, die Redaktionen werden aufgelöst, die Festivals
verschwinden. Stattdessen hört man jetzt nur noch einzelne Sätze
aus Mozarts Symphonien, etc.. Ich vermute, dass erst wieder der Durst
erwachen muss, und dass alles, was inzwischen geschaffen wird, in die
Schubladen wandert und dort bleibt, sofern es sich nicht zu Geld
machen lässt. Zu dieser Art von Kunst, die hier oder dort geboten
wird, habe ich keine Beziehung mehr, auch wenn dies überheblich
klingen mag. Ich finde die Überheblichkeit freilich auf der anderen
Seite! Und war Ravel überheblich, als er jemanden ohrfeigte, der ihn
lobte? Und Berlioz musste vor seinem Tod zweimal auf sein Gesicht
fallen (an zwei aufeinander folgenden Tagen). Niemand tröstete ihn,
der ja so "modern" und so "in" war, als er noch
jung und stark war.
Man
wird durch diese Abdankung der Kultur nicht umhin kommen, den
eigenen Bettel hinzuwerfen, denn es ist reine Zeitverschwendung, den
ein oder anderen bekehren zu wollen. Man wird auch fernerhin sich auf
die Schulter klopfen und vom Volk der Dichter und Denker
schwadronieren, auch wenn man kein einziges Buch dieser Menschen
kennt und nicht so recht weiß, ob einer dazugehört oder nicht.
Alles wird sich auf einer billigen Ebene des Journalismus abspielen.
Das Einfachste wäre, ohne jede Bedeutung zu verschwinden von der
Landkarte der vermeintlich "Bedeutenden" und das Feld
wieder einmal den Reichen, Mächtigen und Großmäulern zu
überlassen, weil dann die ganzen Mitverdiener, Erben und Epigonen
leer ausgehen und eine größere Chance hätten, sich auf sich selbst
zu besinnen, auf ihren eigenen Wert und Wandel. Was macht schon den
Unterschied zwischen zweien, zwanzig oder zwei Millionen Jahren des
Nachlebens?
Es
ist ja stets alles nur für die anderen da, und ich bin dankbar, das
Gewäsch, mit dem sie sich rechtfertigen, nicht mitanhören zu
müssen. Da sind mir doch jene Künstler lieber, die hoch oben in den
Kathedralen (wie der zu Köln) ihren Schmuck namenlos auslebten, wo
ihn kein Sterblicher sehen kann, und vor ihnen ziehe ich den Hut.
Irgendwann
ist es ja selbst mit Mozart vorbei und mit Beethoven, und wie man
ihren Namen einst ein erstes Mal aussprach, wird man in grauer
Zukunft ein letztes Mal ihren Namen ausgesprochen haben, nachdem man
sich mühsam an den Namen zu erinnern versuchte, der sich schon
längst nicht mehr mit Werken verband. Danach ist dann Schweigen für
den Rest der Zeit. In diesem Zusammenhang fällt mir das Zitat eines
der Beatles aus den 1960er Jahren ein, dass er zur Musik Beethovens
nichts sagen könne; aber seine Bilder seien recht schön.
In
Folge des zunehmenden Aufruhrs im Amt beschränkte sich Rohlfs
vorübergehend darauf die Türen der Diensttoiletten zum Gegenstand
seiner Übergriffe zu wählen. In gestochener Sütterlinschrift
standen bald auf allen Innenseiten der Toilettentüren die Sprüche
und Verse, mit denen er die nach seinem Dafürhalten notwendige
Irritation des Personals herbeizuführen wünschte. Denn
sinnlicher sind Menschen in dem Brand der Wüste. Schließlich
mussten in irgendeiner Form Zeichen gesetzt werden gegen die perfide
Art wie man Saeed im Amt ausgeschaltet hatte. Selbst die Tage, an
denen er das Personal während des Diensts nicht grüßte oder in
seinem Büro eingeschlafen war, wurden protokollarisch festgehalten
und gegen ihn verwendet.
Reich
spielte eine Schlüsselrolle bei der Ausarbeitung und Umsetzung des
strategischen Plans gegen Saeed, der aus gegebenem Anlass quasi über
Nacht mit der Achse
des Bösen
in Verbindung gebracht wurde. Konnte man eine solche Vorgehensweise
ungesühnt lassen? Es war notwendig, so dachte Rohlfs, wenn auch auf
subversive Weise, Partei zu ergreifen.
Constance
maß all dem nur geringen Wert bei; vielmehr verhielt sie sich meist
eher zurückhaltend und unparteiisch. Musste es indes Jeremias sein?
Reich, der Freund des Hauses, dessen alljährlich im Frühjahr
wechselnde Limousinen seine sowie die Erfolgsgeschichte der
Bayerischen Motoren Werke nachzeichneten? Die zweitürige Limousine,
beim Vorgängermodell in den Abmessungen identisch mit dem Viertürer,
ersetzte er 1992 durch ein flacheres und breiteres Coupé und 1993
durch das neue Cabrio, woraufhin 1994 die dreitürige
Compact-Version mit rund 20 Zentimeter kürzerem Heck folgte, wobei
der Radstand allerdings gleich blieb. 1995 tauschte er das
Modell mit Heckantenne gegen eines mit der neuen Heckscheibenantenne.
Reich
beherrschte die Werbetexte, insbesondere Rohlfs gegenüber.
Vermutlich zahlte man ihm dafür eine Firmenprovision, die für
solche vermeintlichen Empfehlungen ausgeschüttet wird. Die heutige
Gesellschaft macht anfällig für Derartiges. Reich pflegte
außergewöhnliche Beziehungen innerhalb des Wirtschaftsstandortes,
so rühmte er sich stets. Als Co ihn schon nach dem Fall der Mauer,
so Reich noch zur Jahrtausendwende, zum Wendepunkt in Rohlfs'
Zeitachse, zunehmend herzlicher als Jerry zu empfangen begann, Jerry,
my dear, was für wundervolle rote Rosen,
holte
die Ausweglosigkeit bereits zum finalen Schlag aus. Seit 2006
begleitete sie ihn dann regelmäßig auf Kundgebungen etwa gegen die
Lohnlücke zwischen Frauen und Männern, gewappnet mit roten
Handtaschen. Schließlich müsse man, so Reich, solidarisch sein.
Solidarität als Paarbildungsstrategie. Seinerseits, so sah es
Rohlfs, war sein Missgeschick ausschließlich auf Momente
verhängnisvoller Unachtsamkeit, auf ein Abweichen von seinem
Grundsatz der allgegenwärtigen Feindseligkeit dieser
fühllosen Welt
möglichst keinen Raum zu gestatten, zurückzuführen. Es galt seine
gelegentliche Vertrauensseligkeit nach und nach auszumerzen wie
eine üble Erbkrankheit.
Es
war ein tiefer Blick, den er da in die eigene Seele tat. Plötzlich
sah er klar – so klar, als ob er die Regungen eines fremden Lebens,
vielleicht eines Tieres, beobachte -, wie sein tiefstes Sein,
unbeeindruckt von dem Selbstbetrug des Ich, seine derzeitige Lage
beurteilte. Diese Lage war ausweglos; er hatte sich hoffnungslos
verfahren, er war ein auf Grund gelaufenes Schiff.
[Willy Piehler]
Die
Donau und der Inn mussten wieder über die Ufer getreten sein. Der
Transporter bewegte sich mitunter nur sehr schleppend voran, immer
wieder abgebremst von den enormen Wassermassen des Hochwassers.
Indessen fiel Rohlfs an der Aufmachung der Autobahnschilder auf, die
er en passant bemerkt zu haben glaubte, dass man sich nicht mehr auf
deutschem Bundesgebiet befinden konnte. Hätte man folglich nicht an
einer Raststätte Halt machen müssen um ein Mautpickerl zu erwerben?
Doch möglicherweise verfügte das Fahrzeug auch bereits über eine
Monats- oder Jahresvignette.
Rohlfs
meinte die Ausfahrt Braunau am Inn aufgefallen zu sein und dachte an
den russischen Abgeordneten, der Geld sammelte,
um Hitlers Geburtshaus
zu kaufen und es zerstören zu lassen. "Mei,
des is doch nur a Haisl",
heißt es in Braunau
am Inn.
Rohlfs beschloss sich bis zur rumänischen Staatsgrenze, die man in
frühestens acht bis zehn Stunden erreichen würde, sofern sich die
Wetterlage nicht drastisch verschlechterte, möglichst unauffällig
zu verhalten.
Der
Eindruck, dass man ihn offensichtlich vorerst in Ruhe zu lassen
gedachte, versöhnte ihn ein wenig mit seiner misslichen Situation,
zumal ihn Lucia immer wieder sanftmütig anlächelte. "Du musst
Schlimmes durchgemacht haben, mein Herz," sagte sie sogar einmal
zu ihm. Die
Art, wie man eine Frau kennen lernte, warf ein eigenartig wahres
Licht auf einen, wie Rohlfs fand, teils aber auch zweifelte, andere
möchten in diesem Licht seine Wahrheit sehen wie er selber, zum
anderen hoffte er es, denn wessen Wahrheit war schon halbwegs
schmeichelhaft, oder gar überwiegend? Am meisten Anerkennung erfuhr
die Tatsache, dass man eine Frau auf der Straße kennen gelernt habe,
sozusagen aus freien Stücken den Mut besessen hat, sie nach Lust und
Laune eines Augenblickes für sich einzunehmen. Eine der Geschichten
Rohlfs ließ sich sogar so erzählen, allerdings nur unter Weglassung
einiger Details, die Rohlfs natürlich wohl wusste und die auch
dieses Abenteuer auf den Boden der eher alltäglichen Ereignisse
herunter holten, weshalb er, wenn die Rede darauf kam, versuchte zu
taxieren, mit welchen Nachfragen etwa zu rechnen wäre. Wie die
meisten war Rohlfs in Bezug auf Eroberungen kein Held, im Gegenteil,
er neigte zum Erwähltwerden, was ihm, zumindest am Anfang etwas von
der Last der Verantwortung nahm, die man so oder so in einer
Beziehung übernahm. Von einer Frau erwählt worden zu sein konnte
auf wunderbare Weise unvoreingenommen gegen sie machen. Man fühlte
ihre Wärme, roch ihren Duft, hörte ihre Stimme am Telefon ohne
jedes ängstliche Forschen, ob man selber etwa sich geirrt hätte, ob
doch bald die Enttäuschung über einen zerplatzten Traum drohte;
oder aber dass sich die neue Herzenskönigin entrüstet von einem
abwendete, einem derart unwürdigen Kandidaten auf den Leim gegangen
zu sein.
Constance
hatte Rohlfs, leider, durch einen Freund kennen gelernt, womit er
erst einmal wenig Ehre einlegen konnte im Kreis derer, die sie beide
schon länger kannten als sie einander. Wie alles in der Gesellschaft
wich dies aber bald anderen Neuigkeiten und ward für bekannt und so
und so genommen. Rohlfs machte sich mehr Gedanken als nötig, denn
was die Leute wirklich redeten, wusste er nicht, dass sie redeten,
war klar, aber das war alles bereits geschehen, man hatte sich eine
Meinung gebildet, Rohlfs wäre ohnehin der letzte, der sie von etwas
anderem überzeugen konnte. Constance war nicht einsam wie er von
Natur aus, sie war allein, weil sie Abhängigkeiten scheute.
Tatsächlich gab es noch jemanden, allerdings so auf Distanz, dass
sie es wohl auf den Versuch ankommen lassen wollte, was nun mit
Rohlfs würde. Einen wenn auch fernen Konkurrenten aus dem Feld zu
schlagen beflügelte ihn, dass Constance nicht erklärte, sie werde
sich trennen, gab ihrem Zusammensein den Reiz eines Seitensprunges,
noch dazu von der erleseneren Sorte, da ja nicht mit den üblichen
Zusammenstößen, Drohungen und Frustrationen zu rechnen war, sondern
im Gegenteil, man setzte sich über ein eigentlich gehöriges
Hindernis hinweg, nahm sich, was ein anderer einem nicht nehmen
konnte. Rohlfs rechtfertigte sein Tun damit, dass er Constance haben
wollte, worin er schon eine Leistung sah, denn es war eine Festlegung
und wie alle Festlegungen nicht ohne Risiko. Constance hatte in Bezug
auf ihre bestehende Beziehung ja gerade diese Festlegung nicht
vollzogen, wozu er sie auf diese Weise bekehren wollte.
Rechtfertigung Nummer zwei. Rohlfs entging nicht vollständig das
Sonderbare, das darin lag, dass man sich nun in diesem blauen
Transporter befand. Alle schienen einander schon lange zu kennen, was
nun für Dr. Reich und ihn zutraf und wohl auch für die rumänischen
Arbeiter, jedenfalls auf ihre Weise. Möglicherweise hatten sie für
irgendwelche Schlepper und Nepper irgendwo in der Nähe einen
Ferienpark errichtet, bittere Monate hinter sich gebracht und waren
nun froh, so oder so in die Heimat zurückkehren zu können.
Einmal
hatte Rohlfs eine Reise unter Schmugglerinnen gemacht, einziger
Fremder er unter denen, deren Leben und Schicksal die Schmuggelei
war. So ähnlich war die Stimmung im Wagen. Man erzählte sich, wie
man letztlich doch einen guten Schnitt gemacht hätte, einige Kumpels
waren parallel mit vollgepackten Autos unterwegs, allesamt mehr oder
weniger reell erstanden. Dieses war allerdings der Bus, mit dem sie
auch gekommen waren, klapperig, löchrig, aber fahrtüchtig bis auf
Weiteres und dringend nötig wie alles Fahrbare in einem armen Land.
Der Bus der Schmugglerinnen damals trug den Ausmusterungsaufkleber
der Greyhounds aus Kalifornien aus dem Jahr 1975, bis wann er gut und
gern seine 20, 25 Jährchen dort gelaufen sein wird. Die
Verkleidungen der Wände und Sitze waren in solchen älteren
Fahrzeugen noch recht leicht zu entfernen bzw. wieder anzubringen,
was für Schmuggler wichtig ist, denn dahinter verbirgt man die
Schmuggelware, Kleider und Spielzeug, auch Medikamente. Rohlfs wurde
insofern einbezogen, als man ihn bat, doch dieses oder jenes
Kleidungsstück überzuziehen, nur bis über die Grenze! Keine ganz
einfache Aufgabe bei vierzig Grad Hitze im Bus. Und natürlich
bündelweise Baumwollkleidung, natürlich ohne Etikette und
Verpackungen. Die wurden ihrerseits besonders sorgfältig auch in die
kleinste Ritze des Autobusses gesteckt, ohne Verpackung, ohne Etikett
kein Verkauf, jedenfalls nicht als reguläre Ware. Was eigentlich
nichts heißen wollte, denn alle Waren diesseits oder jenseits der
Grenzen haben in irgendeiner Weise den Weg an den vorgesehenen
Abläufen vorbei genommen. Worauf es ankam, das waren die
Preiskategorien, und die wurden nun einmal über solche Signale wie
Originalverpackung (die die Kunden natürlich nach dem Kauf wegwarfen
wie sonst überall auch) und Etikett geregelt.
Im
Wagen der Rumänen trug man Jogginghosen der bekannten Marken, höchst
wahrscheinlich aber keine Nachahmerprodukte, wie Rohlfs vermutete,
sondern original. Das Geld, das sie dafür ausgegeben hatten, konnte
einem Leid tun, andererseits hatte Rohlfs Verständnis für die
jungen Leute, die an den Segen glauben wollten, dessen Kunde diese
Produkte über den Globus hinweg verbreiteten. Niemand in Rumänien
wird an die Armen denken, die die Markenprodukte in anderen Nationen
armer Schlucker zusammennähten.
Dass
Dr. Reich auf dem Beifahrersitz saß, mutete Rohlfs seltsam an, so
wie ein Polizist, der den Wagen offiziell begleitete. Indessen wurde
er freundlich behandelt, schließlich versah er auch nur seinen
Dienst, zum Beispiel bot man ihm eine Zigarette an, die Reich
ablehnte, der auch sichtlich unter dem Qualm im Wagen litt. Ob er
hätte verlangen können, dass das Rauchen in seiner Gegenwart
eingestellt wird?
Auf
den Beifahrersitz, der etwas breiter als der Fahrersitz war, hatte
sich Lucia gezwängt, was zu keinen Komplikationen führte, insofern
der Schalthebel vorsorglich einer besseren Nutzung der Raumkapazität
durch eine kunstvolle Schweißarbeit verlängert und in Richtung des
Fahrers abgewinkelt war.
Es
war eigenartig, dass Rohlfs sich in diesem Kleinbus befand, man hatte
ihn ohne irgendwelches besondere Erstaunen eingeladen mitzufahren.
Dass Dr. Reich auch im Wagen saß, hatte Rohlfs erst bemerkt, als
sich die Seitentür bereits geschlossen hatte. Als Letzte war dann
Lucy zugestiegen, weshalb Dr. Reich extra noch einmal kurz aussteigen
musste, so dass sie ganz vorne in der Mitte zu sitzen kam. Dr. Reich
bemühte sich auf seiner Seite des Sitzes, indessen den Berührungen
Lucys nicht abgeneigt. Rohlfs glaubte ihr Parfüm bis zu sich nach
hinten riechen zu können. Das Auto, über und über mit Reisegepäck
beladen, alte Koffer aus Vinyl, Nylonsäcke, sperrige Gegenstände,
die daraus hervorragten. Jemand auf der Bank vor ihm schnitt mit
einem groben Messer ein Stück von einer großen Wurst ab, das er
genüsslich kaute, bis er aus einem braunen fünf Liter
Plastikfässchen einen tiefen Schluck Rotwein trank. Lucys hellrot
lackierte Fingernägel sah man, wie sie etwas Ähnliches wie eine
große Einkaufstasche auf dem Schoß hielt, worin sie wohl ihre
Siebensachen gestopft hatte.
Dr.
Reich schien ohne Gepäck zu sein, sein Hut lag mehr oder weniger
zusammengeknautscht auf dem Armaturenbrett eingequetscht unter der
Windschutzscheibe. Seine Körperfülle erlaubte es ihm kaum, sich
nach hinten umzuwenden. Auch schien er ängstlich, dass sich die Tür
des klapperigen Kombis unter dem Druck, den er mit seinem schweren
Leib ausübte, versehentlich öffnete. Mitunter feixten die Arbeiter
nach vorne, dabei selber auf dem besten Weg zu deutlichen Rundungen,
die Unterhemden und T-Shirts entsprechend wölbten. Reich gehörte zu
der Generation, die nach dem Krieg gehungert und als es wieder
aufwärts ging entsprechend üppig gegessen und natürlich auch
getrunken hatte. Wie manche Dicke, war er dabei überraschend
elastisch, schnaufte kaum, wenn er die Treppe zum Büro hinaufstieg,
langsam zwar und letztlich mit gerötetem Kopf, aber nicht mehrmals
auf dem Treppenabsatz anhaltend wie Bob, der, was Reich nicht tat,
rauchte, ansonsten aber drahtig war, von seinem beträchtlichen
fußballstrammen Bierbauch einmal abgesehen. Entsprechend konnte Bob
es sich erlauben, über Reichs Körperumfang zu lästern. Einmal
stand er vor Rohlfs mit einem Hosengürtel Dr. Reichs in der Hand,
den er am ausgestreckten Arm vor sich hielt und der auf diese Weise
bis zum Fußboden reichte. "Rohlfs, look how fat this dirty old
man is. This is about sixty inches, at least, Rohlfs. How come he
eats that fucking much, God damn?"
Bob
kam auf seine Weise systematisch zu spät, indem er nicht, wie es
jeder deutsche Mitarbeiter getan hätte, den früheren Bus nahm, was
ja bedeutet hätte zu früh im Büro zu sein. Also kam er mit dem
nächstbesten. Kein Zweifel, hätte es einen Bus gegeben, mit dem er
genau pünktlich gewesen wäre, dann hätte er höchstens ab und zu
einmal den Bus verpasst, grundsätzlich aber war er loyal, im Rahmen
der Vorschriften, wie alle Amerikaner, die Rohlfs kennengelernt
hatte.
Von
den Deutschen, die in der Dienststelle die Mehrheit bildeten, wurde
die Nachlässigkeit, mit der Bob das Thema behandelte, zwar
missbilligt, man sah sich aber außer Stande ihn deshalb in die
Schranken zu weisen. Man selber kam ohnehin im Auto und fuhr
zähneknirschend eben entsprechend früher von zu Hause los. Die
Parkplatzfrage war ein alltägliches Thema, jeder hatte in der
Mozartstraße so ungefähr seinen eigenen Platz, der natürlich immer
einmal wieder von einem der Nachbarn belegt war, wogegen man nichts
tun konnte, worüber aber entsprechend gezetert wurde. Sich aber auf
den Platz eines Kollegen zu stellen, obwohl sonstwo in der Straße
noch Platz war, führte zu Zerwürfnissen, die zuweilen in
mehrtägiges gegenseitiges Anschweigen ausufern konnten. Conley wäre
nach guter amerikanischer Sitte natürlich auch mit dem Auto
gekommen, hatte es wohl vor Rohlfs' Zeiten auch getan, einem alten
Simca, den er aber abgeschafft hatte, nachdem er im Transit Office
den Führerschein hatte abgeben müssen. Keiner der deutschen
Mitarbeiter hätte sich je von seinem Auto getrennt wegen eines
vorübergehenden Führerscheinentzugs, ein höchst delikates Thema.
Es gab niemanden in der Dienststelle, der nicht tüchtig trank,
natürlich nicht während des Dienstes, es sei denn bei einer der
vielen Parties, dann allerdings nahm man mit umso größerer Sturheit
für sich in Anspruch, "noch fahren zu können", vielleicht
sogar gerade dann. Bob erzählte freimütig von seinen Terminen bei
einer Psychologin, bei der er in einem bestimmten Rhythmus erscheinen
musste. Heuchlerisch trank er an solchen Tagen, es waren wohl meist
Freitage, sozusagen nur zum Essen ein Bier, mit gehörig
schauspielerischem Talent. Auf seinem Schreibtisch hatte er
säuberlich das Einwickelpaper einer "Fricadelly"
ausgebreitet, die er mit Appetit verzehrte. Etwas anderes hatte
Rohlfs ihn in fünf Jahren nicht essen sehen, wie er überhaupt
selten aß, dafür umso mehr rauchte und trank. Eigentlich trank er
Kette, indem es kaum einmal einen Augenblick gab, wo er nicht hätte
zur Bierflasche greifen können um einen tiefen Schluck zu tun. Er
gehörte zu den Rauchern, die neben dem angebrochenen Päckchen stets
noch ein weiteres Paket Zigaretten bei sich hatten. Auch rauchte er
nicht gewissermaßen in Pausen, die er sich gönnte, sondern er
verrichtete sein Rauchen wie alle übrigen Tätigkeiten mit der
größten Selbstverständlichkeit. Zum Beispiel sagte er: "Well,
Rohlfs, I guess I should quit fucking smoking", während sein
Feuerzeug zuschnappte und er einen tiefen Zug tat.
Ob
das Thema Rauchen zu seiner "Therapie" gehörte, Rohlfs
dachte es eher nicht, denn genauso wie Alkohol bekamen die Amerikaner
Zigaretten, im Übrigen auch Benzin. Zum Teil wurde ein schwunghafter
Handel damit getrieben, was aber keinen interessierte, die Mengen
waren schließlich begrenzt, eingegriffen wurde, wenn jemand
versuchte, das Reglement zu missachten, was zum Beispiel beim Benzin
der Fall gewesen wäre. So hätte Rohlfs von Bobs Zigaretten haben
können, wenn je welche übrig gewesen wären, nicht aber von seinem
Benzin, das er ja jetzt nicht mehr brauchte, es verfiel einfach, was
die übrigen deutschen Mitarbeiter kopfschüttelnd zur Kenntnis
nahmen. "Got another date with the young little lady
psychologist today, so this is about my only bottle of beer this
morning, Rohlfs. So cheers miss lieutenent, little sweet thing."
Kein Mensch wusste, wer auf die Idee gekommen war, Frau Bauer, die
Sekretärin der deutschen Abteilung der Dienststelle "Luzie"
in allen denkbaren Variationen zu nennen. Sie wehrte sich konstant
dagegen in schrillen, lauten Tönen. Sie sah nicht sonderlich
südländisch aus, eigentlich vollkommen deutsch, mit einer modernen
Lockenfrisur, die eindeutig vom Frisör fachmännisch in Form
gehalten wurde. Sie trug Blusen über der Hose, war schlank und
adrett und ihre Versuche Bobs Anzüglichkeiten Paroli zu bieten waren
einerseits selbstbewusst, misslangen andererseits schon wegen der
Sprache. Bob sprach auch nach über zwanzig Jahren kaum drei Wörter
Deutsch, umgekehrt fand so ungefähr jeder Deutsche in der
Kommandantur, dass er eigentlich sehr wohl Englisch könne, es ihm
vielleicht ein wenig an Übung fehle. Verstehen würde er aber
durchaus jedenfalls das meiste. So auch Frau Bauer, allerdings, und
das war das Angenehme an ihr, ohne Überheblichkeit. Zwischen ihr und
Bob ging es auf das Herzlichste zu, wenn auch kein Zweifel daran
bestehen konnte, dass Bob es darauf ankommen lassen würde, wie er
auch unverblümt sagte, und was Frau Bauer, die er auf seinen Schoß
gezogen hatte, nicht für möglich hielt, gerade weil er es so
drastisch sagte, noch dazu vor allen, Dr. Reich und Rohlfs und wer
sonst noch im Büro war oder in einem der Nachbarbüros es hören
konnte.
"Oh,
juicy Lucy", sagte er pathetisch, während sie kreischte, weil
er ihr gespielt dreist in den Ausschnitt starrte: "No Lucy,
Misses Bauer!" Damit stand sie wieder und Bob entgegnete: "You
can't tell me that your name is Frow Bower, you no boring farmer, you
the secretary and supposed to sit right here, sweetheart!" -
"No, Bob!", sprach sie ein wenig weniger kreischend
bereits, "ich muss runter, arbeiten." "Oh, vielen
arbeiten", eines seiner wenigen deutschen Wörter, die man sich
aber wohl in Deutschland merkt. Es konnte gut sein, dass er bei
dieser Gelegenheit bemerkte, dass sein Bier alle war, worauf er sich
erhob, zwei Büros weiter ging in die Fernschreiberstube, wo der
Kühlschrank stand, von wo er alsbald zurückkehrte, sich an seinen
Schreibtisch setzte, eine neue Zigarette anzündete und die Brille
aufsetzte. Mit dem Bier hatte er ein Bündel Fernschreiben
mitgebracht, die jetzt vor ihm lagen. Seufzend lehnte er sich in
seinem Sessel zurück mit den Worten: "Work, work, work, work,
work, Rohlfs!", wischte sich den Bierschaum vom Mund und begann
wirklich mit den commitments,
indem er eine lange Nummer wählte. Die Bundeswehr hatte ihr eigenes
Netz, um Geld zu sparen, wie Rohlfs dachte, vielleicht auch aus
Sicherheitsgründen. Die Amerikaner benutzten das normale Postnetz,
die Gespräche über weite Distanzen mussten ein Vermögen kosten
oder waren einfach grundsätzlich frei, weil offiziell. Man hatte das
Gefühl, die Bundeswehr lebte in einer Art Spielzeugwelt, so als
sähen beispielsweise die Telefone äußerlich wie richtige aus, es
war aber nichts drin und die Kabel endeten in der Steckdose. Die Welt
der Amerikaner, eine Parallelwelt in Deutschland, wog, was die
wirkliche Welt wiegt, an der Art, wie sie miteinander umgingen, war
nichts gespielt - oder es war eben alles gespielt, das ganz große
Spiel gewissermaßen. Es war jedenfalls das Spiel, das Rohlfs auf
jeden Fall mitspielen wollte, sein Fenster in die Welt, bis auf
Weiteres.
Selbstverständlich
wurde im Wagen nichts geschmuggelt, die Grenzen waren ja offen, man
würde nicht gefragt werden, ob es etwas anzumelden gäbe. Dennoch
war die Stimmung ganz wie in jenem Bus der Schmugglerinnen, der sich
alsbald der Kontrollstation näherte. Quer über die fast bloß
einspurige Asphaltstraße die übliche Schranke, gestreift in
verblasstem Helldunkel, ein barackenartiges Gebäude, davor und
daneben Packtische, wie sich herausstellen sollte. War die Stimmung
im Bus soeben noch matt, unterbrochen von dem einen oder anderen
kurzen Auflachen, so hatte sich auf den letzten Kilometern vor der
Zollschranke eine emsige Aufgeregtheit im Bus ausgebreitet, so als
müsse doch der eine oder andere Gegenstand der Konterbande noch
einmal mit einem anderen den Platz wechseln, und richtig, hier, oder
da, wie dumm, hatte man doch allzu offensichtlich eine Abdeckung
ausgestopft, also herausgezerrt und glatt gezogen, was eben noch
prall strotzte, nur wohin jetzt mit dem überzähligen Teil, einer
vielfach gerüschten Jacke? Ob Rohlfs nicht doch vielleicht, nur
dieses eine Stück, in der Tasche zwischen seinen Beinen, es sei doch
nur für einen Augenblick, nein anziehen könne er die Jacke nicht,
wieder großes Gelächter, ob Rohlfs überhaupt verstand? Aber sah er
nicht süß aus mit seinen blauen Augen? Englisch konnte man leider
kaum, er war doch Amerikaner? Aber da hatte der Bus bereits gehalten
und zwei junge Grenzer geboten Ruhe während der Passkontrolle und ob
jemand Waren mit sich führe? Waren direkt nicht, wie eine
Frauenstimme anhob, der man die Erfahrung vieler Jahre anhörte.
Natürlich habe man eingekauft, ein paar persönliche Dinge.
Weitere
Erklärungen wurden nicht angehört, es musste der Befehl ergangen
sein, den Bus mit allem, was man bei sich hatte, zu verlassen,
woraufhin ein heilloses Durcheinander des Stemmens, Schleppens, sich
aneinander Vorbeidrängelns, des Stöhnens, des Schimpfens anhob, dem
Rohlfs aber auch ein Moment des fröhlichen Einvernehmens anzusehen
glaubte. Schließlich musste es jedes Mal so sein, wenn die Grenze
überquert wurde, möglicherweise waren es dieselben Zollbeamten, die
denselben Bus, dieselben Händlerinnen kontrollierten. Natürlich
würde ein Gruß, oder eine Frage nach dem Befinden des einen oder
anderen der Uniformierten unbeantwortet bleiben oder gar schroff
förmlich zurückgewiesen werden. In den Blicken der Frauen sah
Rohlfs aber dergleichen. Trotzdem wurde die Prozedur ansonsten bis
auf die üblichen Reibereien, wie es schien, ernsthaft und
systematisch durchgeführt. Taschen, Bündel, Koffer, alles, was sich
nur aus dem Bus heraustragen ließ, wurde Besitzerin für Besitzerin
auf den Kontrolltischen ausgelegt, die etwas erhöht waren, so dass
die Grenzer bequemer darin wühlen konnten. Der Busfahrer stand
abseits und rauchte eine Zigarette. Im Bus hatten sich zwei
Uniformierte zu schaffen gemacht, nicht ohne nach einer Weile
bündelweise T-Shirts, Röcke und Verpackungsmaterial aus dem Wagen
zu bringen, einer trug Einzelteile eines Kinderdreirads, grün, gelb
und rot, woraufhin einer der Frauen im Herumdrehen ein heller Schrei
entfuhr.
Auch
Rohlfs' Sachen wurden, flüchtiger als die der Frauen, wie er fand,
durchgesehen, die gerüschte Jacke hielt der junge Kerl, mit dem er
es getroffen hatte, hoch, tauschte einen Blick mit seinem Kollegen,
stopfte sie aber in Rohlfs' Tasche zurück, wie der Frau, die direkt
neben Rohlfs stand, nicht entgangen zu sein schien, was man an einem
raschen Blick sehen konnte, in dem ihre Augen aufblitzten, Rohlfs
glaubte auch ein Grinsen erkannt zu haben. Bei allem Ernst, mit dem
betrieben wurde, was hier geschah, so war doch jede Menge Berechnung
im Spiel.
Beim
Wiederbetreten des Autobusses sah Rohlfs, dass einige Verkleidungen
wahllos aus ihren Verankerungen gerissen worden waren, wenige, wie er
fand, der ja wusste, dass praktisch in jeder Ritze etwas steckte,
stapelweise Verpackungen, jetzt wo der Bus leer war, erschienen ihm
die Verstecke noch unvollkommener als zuvor. Nun drängte aber schon
alles in den Wagen zurück, Taschen und Koffer notdürftig
zusammengehalten, lautes Gezeter über erlittene Verluste, Geschiebe,
Gedränge, in dem man sich half die schweren Stücke in die Ablagen
über den Sitzen zu stemmen. Der Motor lief auch bereits wieder, die
meisten hatten ihre Plätze eingenommen, schauten nach draußen, wo
sich auf den Tischen die schönen Sachen ausbreiteten, die leider
hier bleiben mussten, was mit Kommentaren bedacht wurde, die teils
unflätig waren, so dass Rohlfs sie nicht bis ins Detail verstand,
teils wohl ironisch, weil sich prompt kollegiales Gelächter erhob,
dieses unterbrochen durch einen weiteren Kommentar, dieses Mal
offenbar in Richtung auf die Vorrednerin, worauf ein weiteres umso
herzlicheres Lachen anhob. Man hörte das Schnappen von Verschlüssen,
zufriedene Ausrufe und die Stimmung hob sich immer mehr, je kleiner
die Grenzstation beim Blick aus dem hinteren Fenster des Busses
wurde. Das war ein emsiges Aufreißen von Wandverkleidungen,
Rückwänden von Sitzen, Herausschieben von Leisten, die die Decke
hielten, und so wurde nun alles hervorgeholt, was vor den Augen der
Grenzer verborgen worden war. Jedes einzelne Stück wurde mit
Ausdrücken der Bewunderung emporgehalten, fein säuberlich
zusammengefaltet, auch die Etiketten waren bald gefunden, und die
auch so wichtigen Originalverpackungen der begehrten Produkte aus dem
Westen.
Ein
solcher Überlandbus bestand überhaupt nur aus Hohlräumen, keine
Idee, dass Zollbeamte so etwas nicht wussten. Was aber, wenn zu
scharf kontrolliert würde? Wäre dann der Teil zu haben, den Rohlfs
auf den Auslegetischen gesehen hatte? Würde dann nicht über kurz
oder lang das Reisen in das südliche Nachbarland ins Stocken
geraten? Die Schmugglerinnen machten ihre Witze über die Dummköpfe,
die mal wieder nur die weniger wertvollen Stücke erwischt hatten.
Das Dreirad war wohl wirklich für den kleinen Sohn einer der Frauen
bestimmt gewesen, was der Zöllner aber durchaus nicht glauben
wollte, da halfen keine Erklärungen, kein Betteln, keine Angebote,
etwas anderes dafür zu nehmen, was der Junge weit von sich wies, im
Dienst wie er war. Dr. Reich war, wie er erzählte, vor dem Krieg,
Mitarbeiter des Königsberger Rundfunks gewesen, da der Sender sich
noch im Aufbau befand, sogar an leitender Stelle trotz seiner jungen
Jahre. Wer sich die Mühe machte, konnte nachlesen, was genau er da
tat, bevor er gleich von Anfang an zur Wehrmacht eingezogen wurde, wo
er zuletzt Hauptmann war, verglichen mit den Hauptleuten der
Bundeswehr noch ein richtiger Hauptmann, wenn man verstand, was er
meinte. Nazi war er dagegen nicht, aber der Krieg hatte ihn zynisch
gemacht, was allerdings deutlich nur zu Tage trat, wenn man ihn
reizte, oder wenn er zu viel trank, was angesichts seiner Leibesfülle
eher selten vorkam. Ansonsten nahm er Rücksicht, war sogar
ausgesucht höflich, ein Mann ganz noch aus einer anderen Zeit. Am
Telefon hörte man ihn sagen: "Gnädige Frau", in einer
völlig anderen Tonlage, als es fast nur noch Vertreter im Munde
führten, wie Rohlfs als Kind zuweilen gehört hatte und was ihm
sonderbar vorgekommen war.
Königsberg
war nach dem Krieg kein Ort mehr, verloren für alle Zeiten wie
manches, so dass es Reich in den Westen verschlagen hat, das heißt,
wo er einfach blieb, weil ein Zurückkehren ausgeschlossen war,
eigenartigerweise auch in den alten Beruf, obwohl ja in der neuen
Bundesrepublik aufgebaut wurde auf Teufel komm raus. Dr. Reich blieb
beim Militär hängen, ähnlich wie manche bei der Army, die immer
und immer wieder neu unterschreiben. Anfangs konnte man bei der US
Army gut einen Job finden, wenn man Englisch sprach, später hatte
die Bundesrepublik einen eigenen Sprachendienst, der zuverlässige
und erfahrene Leute einfach übernahm. So blieb Reich in Tuchfühlung
mit dem Militär ohne selber Soldat zu sein, eine Distanz, die er
auskostete, einerseits, weil er die Bundeswehr mit Geringschätzung
betrachtete, unprofessionell, wie er sie fand, andererseits fand er
das US-Militär in seiner Siegerrolle weniger beeindruckend als
allgemein üblich, schließlich kannte er es gewissermaßen von
innen. Seine Hauptstärke bestand in erster Linie im ungeheuren
wirtschaftlichen Reichtum des Landes jenseits des Atlantiks, des
Landes des zwanzigsten Jahrhunderts schlechthin. Da war gut Sieger
sein, wenn alles, aber buchstäblich alles schiffsladungsweise oder
als Luftfracht ohne jegliche Einschränkung hergebracht wurde, in ein
Land, in dem noch nie etwas zur Verfügung gestanden hatte ohne die
Frage: Wer soll das bezahlen?
Reich
selber war auf eine Weise geizig, die an jene Zeiten der Sparsamkeit
erinnerte; vollends zum Tick hatte sich dieser Geiz in seiner
Wühltischvariante bei Reich ausgebildet. Sgt. Conley war nie um ein
Witzchen verlegen, was Dr. Reich alles in seinem Schreibtisch und
erst in dem großen Büroschrank hinter sich gehortet hatte. "Stupid
old Reich, can't believe, what this crazy man hides down in his
desk!" Wenn Rohlfs Reich an seinem Platz vertrat, zog er
manchmal vorsichtig an einer der Schubladen, wo er vielleicht ein
Lineal suchen konnte. Tatsächlich war aber alles vollgestopft mit
kleinen Gegenständen, meist noch in der Plastiktüte, in der er die
Sachen eingekauft hatte, samt Kassenzettel, wie Rohlfs las, zehn,
zwölf Jahre alt.
In
armen Ländern, weitgehend also dem Süden, war man, wie es Rohlfs
schien, den Torheiten der Mode schon deshalb in einem gewissen Maße
enthoben, weil dazu einfach das Geld fehlte. In einem bestimmten
Alter hörte man auf modisch zu sein, während die Jugend durchaus
bestrebt war den globusumspannenden Trends zu folgen, was sich im
Kontext des Kolorits des jeweiligen Landes durchaus komisch ausnehmen
konnte. Erwachsene waren irgendwann einer Art des sich Gebens
gefolgt, die nur noch minimale Spuren der Tatsache aufwies, dass sich
ihre Jugend in dem und dem Jahrzehnt ereignet hat. Alte Leute zeigten
sich gewissermaßen als zeitlos alt, wenn man einmal von der
beliebten Schlägermütze der Greise absah, die wohl in den
Zwanzigerjahren modern war und eventuell sogar Aufsehen erregte. Bert
Brecht hatte man nie mit Hut gesehen, sondern mit eben dieser
Schlägermütze, die er vielleicht aus praktischen Gründen trug,
ebenso wie seine Lederjacke, das Urteil seiner eher weniger
proletarischen Umgebung mochte ihm dabei egal gewesen sein. Rohlfs
erinnerte sich einmal Klagen Brechts darüber gelesen zu haben, dass
sich Hosen an den Knien zu leicht ausbeulten, ob sich denn kein Stoff
erfinden ließe, der das verhinderte. Also durchaus eitel, fragte
sich Rohlfs, oder eben vor allen an praktischen Dingen im Sinne des
Machbaren interessiert. Alte Männer trugen nicht Jeans, jedenfalls
keine, die an den Beinen eng angelegen hätten, überhaupt keine eng
anliegende Kleidung, aus Gründen, über die sie sicherlich nie
nachdachten. Frauen, die so dick waren, wie man es im Süden aus den
verschiedensten Gründen, die jedenfalls für die armen Leute solche
waren, wurde, trugen auch nicht Jeans, allenfalls Frauen zu
besonderen Anlässen, die glaubten sich gerade noch darin sehen
lassen zu können, was im Kontext alles anderen, womit sie sich bei
dieser Gelegenheit schmückten, tatsächlich auch nicht hässlich
aussah. Überhaupt unterschied man zwischen Alltags- und festlicher
Kleidung, so wie man überhaupt unterschied zwischen dem, was als
normal oder natürlich zu gelten hatte, und dem, worauf es einem
ankam.
Niemand
kam auf die Idee sich etwa in natürlicher Haltung fotografieren zu
lassen. Zum Foto gehörte die Pose. Zu glauben, je zufälliger man
auf einem Foto getroffen sei, desto weniger Verantwortung müsse man
dafür tragen, wie man darauf aussah, lag den Leuten völlig fern.
Natürlich waren die Posen völlig konventionell, Rohlfs kam kaum auf
ein Dutzend und wusste ansonsten auch niemanden, der sich darüber
auch nur einen Gedanken gemacht hätte. Überhaupt suchte niemand
nach dem Unkonventionellen, das Neue war wirklich neu, in dem Sinne
nämlich, dass das Alte verbraucht war.
Wie
anders in der Welt, aus der und vor der er ständig floh! Das Wort
"neu" hatte überhaupt keine gegenständliche Bedeutung
mehr, weil man ständig alles neu hatte. Rohlfs hörte von Kindern,
die ihr Mobiltelefon vor den Eltern versteckten und behaupteten, sie
hätten es verloren, weil ein neues auf dem Markt war, das alle
anderen schon hatten. Nur dass es bei denen weiter kein Thema war,
dass bereits vier, fünf völlig intakte, aber veraltete
Handys in Schubladen lagen. Natürlich sah man die neuesten Handys
auch in armen Ländern in den Reklamen, aber kaum einer konnte sie
sich leisten. Ein altes hatte praktisch jeder, schon deshalb, weil
das Festnetz Gesetzen gehorchte, die man auf diese Weise umgehen
konnte. Ständig zu telefonieren war eine Sitte der armen Leute
geworden wie Radiohören oder Fernsehen. Man hörte die
gleichgültigsten Unterhaltungen auf Parkbänken oder im Vorbeigehen
auf dem Bürgersteig, und natürlich telefonierte man auch am
Lenkrad, das allerdings ohne in Deutschland geltende Verbote, die man
erst gar nicht aussprach, wenn sie selbst in den reichen Ländern
missachtet wurden. Das Handyverbot in der Schule wiederum
funktionierte, weil es wie die vielen anderen widersinnigen Verbote,
die es auch nur in der Schule geben konnte, hingenommen wurde, weil
es eben die Schule war. Greise telefonierten nicht mobil, Alte schon.
Offenbar war der Gebrauch des Handys in Mode gekommen zu einer Zeit,
als die heutigen Alten sich noch eines zulegten. Damit hielten sie
die Jüngeren auf Trab. Die Tatsache, dass der einzelne Anruf nichts
kostete, brachte sie außer Rand und Band. Immerhin konnte man das
Mobiltelefon abschalten, wenn man in Ruhe gelassen werden wollte, was
wiederum die Alten, vielleicht aus Pflichterfüllung, nicht taten,
weshalb es in ihrer Umgebung ständig tirilierte, summte und was
sonst noch alles von Enkeln und so weiter als Klingelton installiert
worden war. Telefonitis war eine Marotte der heutigen Alten, so wie
es solche derer von früher gegeben haben mochte, da war Rohlfs sich
sicher, aber offenbar hatte ihm dafür der Sinn gefehlt, als die
jetzt Achtzigjährigen erst sechzig waren.
Rohlfs'
Großvater hatte noch Hut getragen, jedenfalls wenn er ausging, sogar
Rohlfs' Vater noch, wenn auch später dann seltener. Ein kleines
grünes Cordhütchen, wie man es in den Sechzigern trug, hatten sie
noch mit in den großen Sack mit Textilien gesteckt, als sie seine
Wohnung ausräumten. Einen Augenblick lang hatte Rohlfs gedacht, dass
man von allem vielleicht am ehesten diesen Hut aufheben müsste. Aber
wo bewahrte man ein proletarisches Hütchen von vor fünfzig Jahren
auf, speckig wie es war, und im übrigen waren schon einige andere
Kleidungsstücke ohne weitere Bedeutung über den Hut in den Sack
gekommen, so dass Rohlfs den Gedanken bald fallen ließ. Der Gebrauch
von Kopfbedeckungen war im Verlauf der sechziger Jahren dem Tragen
immer längerer Haare gewichen. Ein Hütchen auf einer
Prinz-Eisenherz-Frisur würde erst die Erfindung einer ganz anderen
Generation werden, übrigens dann bereits genau wieder jenes kleinen
Hutes, der die Hüte mit breiten Krempen früherer Zeiten verdrängt
hatte. Die Version, die man jetzt in den Kaufhäusern und auf den
Märkten zu kaufen bekam, war seinerseits eine Reaktion der
Modeindustrie auf jenen Gag, was soviel bedeutete, dass das Hütchen
seine hippesten Zeiten wieder einmal hinter sich hatte.
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