Sonntag, 10. Februar 2019

Bzw. ۲ ۲ ۳ [Fünf Intermezzi über »Andere Häfen« von Christopher Ecker]



["Kälteschlaf", MM]




Fünf Intermezzi über »Andere Häfen« von Christopher Ecker

Die Eidechsenmenschen glauben, Geschichten wären Fallen, die den, der sie hört, oder den, der sie erzählt, hoffnungslos in sich hineinziehen und für immer in einem bodenlosen Loch jenseits des Kontinuums eines Universums fangen, das sich selbst erzählt! [Christopher Ecker, "Andere Häfen" (2017)]

Es geschah nun nichts Besonderes mehr. Die Sterne glänzten, funkelten und zitterten, nur manche schießende Schnuppe fuhr durch sie.
Endlich, nachdem die Sterne lange allein geschienen hatten und nie ein Stückchen Mond an dem Himmel zu erblicken gewesen war, geschah etwas anderes. [Adalbert Stifter, "Bergkristall" (1845/1853)]


I.

Am Boden

Die Unterlagen soweit vor mir ausgebreitet, wartete ich, dass der Direktor hereinkam. Meine Frau hatte gemeint, es könne nichts schaden, auch in seinem Falle nicht, aber bei einem solchen Anlass eine Flasche Wein, das sah doch wie ein Schuldeingeständnis aus! Auf jeden Fall würde sie als erste erfahren, und den Wein würden dann wir, nein, das wäre nichts gewesen mit dem Wein. Schon weil der kleinste Wink, beispielsweise, es sei, weil man trinke! Dabei kam jeder mit solchen Dingen ins Hintertreffen, eigentlich konnte man sagen, sie existierten bloß dazu, weil man damit jederzeit jemanden zu Fall bringen konnte. Dass man jetzt so lange warten gelassen wurde mit den Unterlagen, lag daran, dass man sie hatte, natürlich hatte, wenn man eigens damit einbestellt wurde. Nicht wenigstens sie zu haben wäre die Katastrophe, aus der man glauben mochte sich herausreden zu können. Aber das war klar, dass der, der nicht einmal den Schein zu wahren wusste, verloren war. Andererseits war das Mitbringen der Unterlagen nicht viel mehr, als dass man bei der Verkehrskontrolle die Papiere vorzuweisen hatte. Jawohl, man konnte sie vergessen haben, ein Blick in den Polizeicomputer und die Geltung dieser Rechtfertigung war festgestellt. Das waren also die Unterlagen, jeder wusste, dass sie in einer langen Nachtsitzung teils aus Notizen und zu einem bedenklicheren Teil mehr oder weniger klugen Eingebungen folgend entstanden waren. Aber wer nicht einmal das mehr zustande brachte, dem war nicht zu helfen. Warum schließlich wurde einem der Termin beim Direktor mit dem entsprechenden Vorlauf gegeben! Ja, er würde gleich kommen. Eine Stunde in seinem Zimmer zu warten, ja man konnte einmal kurz aufstehen, aber nicht herumgehen. Das kannte man schließlich, die Tür wurde aufgerissen, während man hinter dem Sessel des Chefs stand, ein Familienfoto, weiter hatte man nichts angeschaut. Ich hatte es auch bei anderen Gelegenheiten schon gesehen. Ein paar Mal war ich jetzt schon so aufgestanden, es hatte immer kürzer gedauert, bis sich der Krampf wieder meldete. Dann das Aufreißen der Tür, ich erschrak doch, obwohl sitzend an meinem Platz, der Direktor mit mehreren Kollegen. Einen Termin, ja gerne, könne ich jederzeit haben. Nein, nicht dass er wüsste, aber gerne, wie gesagt, können natürlich jederzeit. Ob es denn etwas Besonderes, wegen der Unterlagen, meinte er. Nein, eigentlich nicht. Im Augenblick natürlich, wenn ich entschuldigen wollte.
Und wie es denn gelaufen sei, wollte meine Frau nachher wissen. Von so einer Gelegenheit an wollte man immer etwas sorgfältiger sein mit den Unterlagen, und überhaupt. [B. Karl Decker]

II.

Rückkehr

Der Erste Offizier, der sich mit überwiegender Zustimmung seiner Mitbewohner in diesen Dienstgrad emporgearbeitet hat, zeichnet sich durch seine außerordentlichen Verdienste als Gestaltwandler in besonderem Maße aus. Seine Aufschiebeschlaufen lassen bei entsprechender Fachkenntnis ohne weiteres erkennen, welches Ansehen er im Kreise des Offizierskorps genießt. Hervorzuheben seien bloß seine Bemühungen im Bereich des internationalen Musikdienstes sowie um die allmähliche Abschaffung des Gleichschritts. In seiner Eigenschaft als Kappellmeister bemüht er sich um verschiedene dem Kälteschlaf angemessene Möglichkeiten, den Unregelmäßigkeiten jeder außerirdischen Mannschaft gerecht zu werden und somit den herkömmlichen Gleichtaktstörungen im Weltraum entgegenzuwirken. Seine Arrangements dienen der Belebung des Sanftmuts nach all den zurückgelegten Lichtjahren an Bord des Forschungsschiffes, dessen Expedition einzig und allein der Vision gewidmet ist, auf eine vitalisierte Erde zurückzukehren. Die Besatzung des Schiffs, allesamt hingebungsvoll an einem Instrument ihrer Wahl ausgebildet, fühlt sich den Anordnungen des Ersten Offiziers vertrauensvoll verpflichtet. Die ersten Anzeichen von Missgunst, jeder Mangel an Leichtigkeit im Umgang mit dem Tonmaterial, die Verwendung überkommener musikalischer Parameter oder die Rückbesinnung auf feierliche Traditionen, seien sie militärischer, ziviler oder religiöser Herkunft, führen auf allen Ebenen des Schiffs zum sofortigen Ausschluss des Mannschaftsmitglieds durch die Hauptschleuse. Jedes Fehlverhalten wird in einer jedem Mitglied zugänglichen Statistik vom Bordcomputer angezeigt, der darüber hinaus auch den Verlauf des Verhörs durch den Ersten Offizier festhält, sodass die Beweggründe für den Ausschluss stets transparent sind. Aller Sorgen der ehemals vertrauten Welt ist die Besatzung enthoben; lediglich durch das Geschichtenerzählen, in dramatischer, aber auch in musikalischer Form, sind die Mitbewohner des Schiffes in Trugbilder und Erinnerungen an die zurückgelassene Erde verstrickt. Erst allmählich wird sich der Erste Offizier dessen bewusst, dass die »Gejagte Form« seiner Aufführungspraxis zunehmend stiller wird und seine Stimme ihm abhanden zu kommen droht. Endlich bemerkt er, dass die irdische Redensart von der totgeschlagenen Zeit zwischen den Perlen geprügelter Worte eine hervorragende ist. Fast, so denkt er, berührt sie – ja, das ist es! - eine Art von stillschweigendem Konsens. Die geneigte Leserschaft ahnt, dass es auch in diesem Fall der Kapitän als Erster Offizier sein würde, der als Letzter das Schiff verließ, ganz gleich, in welchem Zustand es sich inzwischen befinden mag. [Liana Helas]

III.

Dosen

Was die wenigsten Cineasten wissen, ist, dass man im Prager Filmarchiv (NFA) höchstwahrscheinlich Fragmente einer Fortsetzung des Science-Fiction-Streifens gefunden habe, um den sich in Kreisen einiger weniger deutscher Freunde dieses Genres geradezu Legenden ranken, da der Film sozusagen versehentlich nur ein einziges Mal im deutschen Fernsehen ausgestrahlt wurde, woraufhin er auf Druck der tschechischen Regierung umgehend aus dem Verkehr gezogen wurde. Zunächst sei aufgefallen, so der NFA-Chef, dass sich nach wie vor auf mehreren Filmdosen das wenig aussagekräftige Etikett »plechovky«, tschechisch für »Dosen«, befinde und man nunmehr unermüdlich daran arbeite, die unzähligen Schnipsel, die sich inmitten von rund 150 Millionen Meter Filmband verbergen, als ein Gesamtkunstwerk zu identifizieren. Es wird vermutet, dass es den Produzenten des Films auf diesem Wege gelungen sei, den Streifen unmittelbar nach dem Prager Frühling vor der Zensur zu retten. Zum jetzigen Zeitpunkt habe das Team von 130 hochprofessionellen Mitarbeitern nicht weniger als dreizehn Minuten des kuriosen Werks rekonstruieren können. Im Zentrum der langjährigen Arbeit der Archivare stehe allerdings noch immer die äußerst aufwendige und umfassende Digitalisierung herausragender tschechischer Filme, von denen »Drei Haselnüsse für Aschenbrödel« gewiss der bekannteste sei. Da es in den öffentlichen wie auch privaten Haushalten an Geld fehle, könne die Suche nach dem mysteriösen Schatz zumindest so lange nur ein Nebenprodukt der Archivare, Kuratoren und Restauratoren sein, bis auch im Ausland das Interesse an der verschollenen Weltraumodyssee wachse.
Das bisher erschlossene Material steht laut Augenzeugenberichten eindeutig im Zusammenhang mit dem ebenfalls verschollenen Streifen über die Mannschaft Captain Donkins, die auf einem von Echsenwesen besiedelten Planeten Dosenwurfbuden errichtet. Des Weiteren geht man davon aus, dass sich der auf einem der ungefähr 30.000 Filmposter befindliche Titel »Příběhy jsou opiem lidem« (Geschichten sind Opium für das Volk) dem Fragment zuordnen lassen könnte, wobei das Plakat neben dem Titel in neonfarbener Schrift lediglich einen Kugelraumer zeigt, der auf ein Schwarzes Loch zuzuschweben scheint, und keinerlei Angaben über die Besetzung oder Produzenten enthält, was bereits hinreichend außergewöhnlich ist.
In der besagten Sequenz zoomt die Kamera in einer einzigen ungeschnittenen Einstellung ungewöhlich langsam in einem Zeitraum von fast drei Minuten in die linke Pupille des wie versteinert wirkenden Gesichts von Captain Donkin, das zu Beginn nur kurz in einer Großaufnahme gezeigt wird, bevor der Betrachter allmählich von einem psychedelischen Farbenspiel mitgerissen wird, aus dem heraus sich nach und nach die Züge eines britischen Offiziers in der napoleonischen Zeit erkennen lassen, die jenen des Captains aufs genaueste entsprechen. Man geht davon aus, dass wir vermittels dieser Einstellung einen Einblick in die Erinnerungen Captain Donkins vor seinem erneuten Eintritt in die traumlose Leere des Kälteschlafs erhalten sollen, die ihn in Gestalt einer früheren Existenz, namentlich als Lieutenant General Sir Rufane Shaw Donkin zeigen. Während die ersten Minuten der erhaltenen Sequenz mit einem zuerst kaum hörbaren, elektronischen Rauschen beginnen, das nach einer Weile vollständig verhallt, werden die Erinnerungen Captain Donkins vom zweiten Satz des ersten Klaviertrios in Es-Dur von Ludwig van Beethoven begleitet, was den überwiegend schemenhaften, teils blutrünstigen Bildern, die allem Anschein nach tatsächlich auf Martinique gedreht wurden, eine besonders unwirkliche Atmosphäre verleiht. Ein Großteil der Handlung spielt sich gegen Ende des Jahres 1794 ab, als die Sterblichkeit unter den britischen Truppen in Westindien wegen des sich ausbreitenden Gelbfiebers besonders hoch war. In einer der vorerst letzten Einstellungen des Fragments sieht man den vom Fieberwahn seiner Sinne beraubten Captain Donkin, wie er, umgeben von Bananenplantagen, vergeblich mit ballähnlichen Leinensäckchen die Dosen einer Büchsenpyramide zu treffen versucht, bevor die Kamera aus der Vogelperspektive auf ein sich nahendes Flaggschiff gerichtet wird und die Sequenz unvermittelt abbricht. [Liana Helas]

IV.

Schilt (Für Herbert Henck)

Er erinnerte sich an Erzählungen, die er unmöglich geschrieben haben konnte; ob er sie erlebt hatte, wusste er nicht. Von Zeit zu Zeit kam eine Frau in das Abteil, in dem er darauf wartete, dass der Zug den Bahnhof verließ. Sie sei seine gesetzliche Betreuerin, teilte man ihm mit. Wer, fragte er sich, mochte ihm wohl ein derart sonderbares Personal zugeteilt haben? Ein Freund, so stellte sich dieser vor, hatte ihm, als der Zug noch unterwegs war, mitgeteilt, dass es so besser wäre. Offenbar begriffen es die Mitreisenden als ihre Pflicht, ihn mit Komparativen zu ködern. Neben den beiden Eindringlingen kam gelegentlich eine weitere Person in sein Abteil, vermutlich eine Botin, die ihm Briefe überbrachte, aus denen ebenfalls hervorging, was in seiner Lage besser für ihn sei. Regelmäßig hinterließ sie den Geruch von Mottenkugeln an seinem Aufenthaltsort, wofür er sie insgeheim schalt.
Die Briefe verstaute er an ausgewählten Stellen eines Buchs, das ihm auf seiner Reise zur Messe die Zeit verkürzen sollte; das Buch verlängerte den Vorzug des Unterwegsseins indessen, stellte er belustigt fest. Es deckte, wie er es mit den Worten des Verfassers ausdrückte, dessen Name er vor den neugierigen Augen der Eindringlinge verbarg, seinen einzigen Bedarf an Kunsterzeugnissen auf den Gleisen.
Die Briefe beantwortete er nur selten, zumal er die Absender keineswegs kannte. Sollte der Zug wider Erwarten doch noch ins Rollen geraten, würde er sich nach und nach der Briefe ebenso entledigen wie er es bereits mit den Umschlägen getan hatte, die ihn bloß ablenkten. Vorher würde er freilich die unterschiedlichen Anreden bis zur Unkenntlichkeit entstellen. Warum sollte man ihm einen bestimmten Namen vorschreiben wollen?
Als er sich erneut in die Gedanken seines Buchs zu vertiefen begonnen hatte, rief ihm jemand zu, dass der Tag nun bald anbreche. Es gab nicht den geringsten Grund, der aufdringlich riechenden Stimme besondere Beachtung zu schenken, dachte er. Fast schien sie ihm vertraut. Meist genügten schon drei wohldurchdachte Sätze, um die Weichen in einen tiefen und traumlosen Schlaf zu stellen:
Es geschah nun nichts Besonderes mehr. Die Sterne glänzten, funkelten und zitterten, nur manche schießende Schnuppe fuhr durch sie.
Endlich, nachdem die Sterne lange allein geschienen hatten und nie ein Stückchen Mond an dem Himmel zu erblicken gewesen war, geschah etwas anderes. [Liana Helas]

V.

Töpfe (Für Germany)

Für Religionen, wie sie in Kirchen und dergleichen praktiziert wurden, mochte sich interessieren, wer wollte. Mein Vater sprach über das, woran die Leute wirklich glaubten und er, versteht sich, nicht. Nichts konnte ihn bremsen, wenn er einmal in Fahrt gekommen war. Schwere Prüfung etwa war, was leicht geschehen konnte in jenen amerikaseligen Jahrzehnten, die sich das Schicksal ausgesucht hatte, unsere Jugendzeit zu sein, ein Ausbruch über den vermeintlichen Individualismus derer, die Jeans trugen. Überhaupt hasste mein Vater alles Amerikanische, das uns beispielsweise jene Uniform zugedacht habe, die wir noch dazu freiwillig trugen, ja, Gipfel der Verfallenheit, bei der es uns nicht egal war, ob dieser oder jener Marke, und markenlos schon gar nicht. Hätten wir doch über evangelisch oder katholisch gestritten, das galt ihm alles gleich, nämlich sowieso nichts. Kirchen waren etwas für Leute, die mit Lehrern und Apothekern in der Kneipe an einem besonderen Tisch sitzen wollten. Und die glaubten in Wirklichkeit auch an dasselbe, wie alle, und schon gar nicht an Kirchliches, es sei denn, dadurch wurden ihr Stand und ihre Privilegien in der Gesellschaft irgendwie berührt. Womit sich der Kreis schloss. Sie glaubten ans Geld und alles, was man dafür kaufen konnte. Autos zum Beispiel. Wer kein Auto habe, sei gar kein Mensch. Als Kinder hätten sie von den ungepflasterten Straßen des Dorfes noch die Pferdeäpfel aufgesammelt, und nicht jede Woche sei einmal ein Auto vorbeigefahren. Heute laufe man mutterseelenallein nach Hause, vielleicht dass mal einer mitleidsvoll anhält, warum man denn nichts gesagt hätte in der Kneipe, ich hätte dich doch mitnehmen können. Jetzt für das letzte Stück lohnte es sich ja nicht mehr. Dem Mitgenommenwerden zu entgehen sei übrigens überhaupt nicht so leicht, denn jemanden in seinem Auto mitzunehmen gehörte zu den Bezeigungen von Kameradschaft, die man sakral eine heilige Handlung nennen könnte. Aber mein Vater, der so etwas natürlich wusste, lehnte jede hochtrabende Terminologie ab. Er besaß soviel Mitgefühl, den Chauffeursdienst zu ertragen und hatte schon in den sagenhaftesten Karossen gesessen, einmal sogar in diesem zweisitzigen Elektrofahrzeug der ersten Generation, das man durch das aufgeklappte Glasdach bestieg, und in dem man hintereinander saß. „Alles Humbug und Fratzenmacherei“, wie er gnadenlos alle zu Angebern erklärte, die für Alltag und selbstverständlich halten wollten, was doch zu besitzen vor gar noch nicht so langer Zeit unvorstellbar gewesen wäre. Liebe Mitmenschen, die einem armen Würstchen wie ihm einen Kavaliersdienst leisten wollten, ein Umstand, dem man sich füge der Komplikationen wegen. Man mime also Dank in der Gewissheit, die Heuchelei mochte auffallen oder nicht, es sei einerlei, so sehr seien alle in ihrem Wahn gefangen.
Die Amerikaner seien hier ebenso gelandet wie auf dem Mond, was ja bekanntlich gar nicht sicher sei, ebenso konnte das alles in Hollywood gedreht sein. Und eine Fahne müsse man gar nicht hissen, sowieso völliger Humbug, eine Fahne auf dem Mond, wo gar kein Wind wehte.
So empörte sich mein Vater dagegen, die Amerikaner hätten einem geschlagenen Volk eine an sich lächerliche Religion gebracht. So täten sie es immer. Lässig an ihren Jeeps und Trucks lehnend, aus deren Autoradios es negerisch dudelte, ließen sie den verführerisch süßlichen Virginiaduft verströmen, schmissen Millionärskippen in den Dreck, um sich als nächstes einen Streifen Kaugummi zwischen die Zähne zu schieben. Die kriecherischen Jammergestalten der Besiegten konnten sich ihrer Verachtung, oder schlimmer, ihrer Gleichgültigkeit sicher sein. Abgerissen, gerade erst der allererbärmlichsten Demütigung entkommen, die darin bestand, vom Volk der Dichter und Denker in eine Barbarei gestürzt zu sein, wie sie die Menschheit noch nicht gesehen hatte. Allein deshalb müsse man dem Auto abschwören. Es sei die deutscheste aller Erfindungen, und sie sei eben auf diese Weise nach Deutschland zurückgekommen, Auto zu fahren, so wie man eine Jacke anzieht oder sich einen Teller auf den Tisch stellt. In Pantoffeln und Jogginghose, man möge bitte niemals Turnhose dazu sagen, auch nicht mehr Trainingsanzug, sprängen die Leute aus der Haustür ins Auto, um beim Bäcker Brötchen zu holen. „Ein Auto ist ein Sessel in einem Mutterleib, der einen dorthin trägt, wo man alles bekommt, was man haben will“, so ungefähr einer der Sätze meines Vaters. Ja, Herrgottnochmal, ob denn alle an Märchen glaubten! Es flögen doch keine Teppiche durch die Luft wie in tausendundeiner Nacht. Aber das Erdöl flösse nun einmal unversiegbar, besonders aus solchen Ländern, die sonst nichts hätten, oder eben aus dem seligen Amerika, egal wie. Neuerdings wollten sich irgendwelche bärtigen Spinner Gedanken darüber machen, wo das Zeug hinqualmte, wenn es schon keine fliegenden Teppiche gab. Aber ob die schon einmal etwas davon gehört hätten, wie viele Arbeitsplätze an des Deutschen liebstem Kind hingen? Und das eben hätten die Amis damals im Sinn gehabt, als es darum ging, ob Deutschland nach dem Krieg Bahnland oder Autoland werden sollte. Die amerikanische Religion glaube nun einmal nicht als Gemeinde, sondern nur jeder für sich. Und das bisschen Gemeinsinn, was in Ländern wie beispielsweise Italien noch übrig sei, sei letztlich nichts weiter als Vetterleswirtschaft und Millionengrab, weil Staatsbetrieb. Die Deutschen hätten es nicht besser verdient, egal ob Fleischtöpfe Ägyptens oder die vier Töpfe von Otto oder Diesel. Nur ihm solle man damit nicht kommen, lieber gehe er allein im Wald spazieren, solange man dort die Wege noch einigermaßen instand halte, seinetwegen würde es wohl nicht geschehen, sowenig wie es die Bürgersteige noch gebe, obwohl weit und breit keiner laufe außer ihm. [B. Karl Decker]


3 Kommentare:

  1. Bespechung des Gedichtes 'Finnische Landschaft' (Brecht) von Liana Helas:
    https://systemcrash.wordpress.com/2019/02/09/marktgeformte-sinnlichkeit/

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  2. http://riedel-henck.herbert-henck.de/index.php/fundstuecke/22-schilt-fuer-herbert-henck

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  3. Töpfe.....herrlich und den Nagel auf dem Kopf getroffen 😂

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