["L'Extase", Jean Benner (1896)]
Als es an der Zeit war über Liebe zu schreiben,
brach die Feder entzwei, und das Papier riss.
[Dschalal ad-Din al-Rumi]
["Iranische Miniatur"]
Jenseits von richtig und falsch liegt ein Ort. Dort treffen wir uns.
[Dschalal ad-Din al-Rumi]
12
"I
was always looking
Left
and right
Always
crashing in the same car"
(David
Bowie)
Das
fremde Eigentum verwende er auch in diesem Omnibus lediglich, um
seine Hinterlassenschaft in friedlicher Absicht den Insassen
mitzuteilen, sofern man ihm überhaupt Audienz erteilte. Ledig sei er
freilich in all den Jahren geblieben, wenngleich er einmal kurz
verheiratet gewesen sei, ein Vorwand vonseiten einer Begleiterin, die
es nach Almania gezogen habe; ledig sei er nun endlich auch all der
Verpflichtungen, die man ihm zugemutet habe. Bei vielen weiteren
Vogelweibchen habe ihn der Verdacht, sie könnten vielleicht irgendwo
einen Barcode verstecken, vielleicht hinter den Ohren oder am Gesäß,
meist in die Flucht geschlagen. Einmal seien sie auf einem Marktplatz
mit Fähnchen in der Hand über ihn hergefallen. "CDU!,
CDU!, CDU!",
hätten sie ihm im Chor zugerufen, ja, skandiert hätten sie es.
Einmal nur habe es ihm eine Musikantin, eine Saxophonistin, ergänzte
er schmunzelnd, nach Strich und Faden besorgt, so sage man doch;
geblasen habe sie, manchmal langsam, manchmal zielstrebig,
gezwitschert habe sie wie eine Misteldrossel, wie eine
Mönchsgrasmücke - ein kurzes Intermezzo indessen; wie eine Moorente
sei er alsbald davongewatschelt, nachdem sie ihn aus ihrem Haus
gejagt hätte. Gen Osten sei er geflüchtet, seiner inneren Tauchente
folgend, untergetaucht sei er in diesem Omnibus. Eine sanftmütige
Frau mittleren Alters habe lange in der Reihe vor ihm am Fensterplatz
gesessen und ihren Kopf oft auf die Schulter ihres Begleiters gelegt,
der die meiste Zeit mit gespitztem Bleistift etwas in ein Notizbuch
eintrug. "Nennen Sie mich nicht Saeed, nennen Sie mich Rosen,
Volkstribun, Rienzi, nennen Sie mich Mozafer", sagte der
Exilant. "Ich setzte mich zurück, lehnte meinen Kopf gegen die
Wand und machte die Augen zu, als hätte ich für immer nichts mehr
sehen wollen. Da hörte ich ein gewaltiges Geräusch, als hätte
jemand die Anwesenden zum Abmarsch aufstellen wollen. Ich wurde
neugierig, machte die Augen auf und sah, dass sich die Frau, die
rechts neben mir saß, in ein großes, weißes Tuch schnaubte.
Forty-five,
forty-five! Where have all these years gone?,
sprach sie in einem fort." In Samarkand seien die meisten
Insassen ausgestiegen; man wisse nicht, warum.
13
"By
this contrivance, the machinery
of
my work is of a species by itself;
two
contrary motions
are
introduced into it, and reconciled,
which
were thought to be at variance with each other.
In
a word,
my
work is digressive,
and
it is progressive too,—and at the same time."
(Laurence
Sterne)
"Die
Idee eine Reinkarnation beispielsweise meines Großvaters zu sein war
mir erst lange nicht auszureden. Zu verlockend ist eben die
Vorstellung auf diese Weise an alten Baustellen den einen oder
anderen Pfahl doch noch einzurammen, Größenwahn des Enkelknirpses,
der nicht den Vater tötet, es aber besser machen will, und gar noch
als der Großvater, ein regelrechter Superödipus."
– "Und
der heiratet dann konsequenterweise seine Großmutter",
das war inzwischen die Art Bäumlers einen Welck’schen Ball
aufzufangen. Dieser nahm es gelassen, immerhin war es nicht leicht
gewesen Bäumler überhaupt auf die Spur zu setzen. Und die Sache, um
die es ging, war ja längst erledigt. Tatsächlich hatte er auch bei
all seinen Versuchen mit dem G-Komplex, wie er jetzt überrascht sah,
auffällig wenig der Großmutter gedacht. Herr Freud würde so seine
Ansichten in Bezug auf ein derartiges Vergessen gehabt haben.
Bäumler, der aus einer Tüte eine Salzbrezel aß, wobei es seine Art
war akribisch mit dem feuchten Finger Krümel aufzulesen und in den
Mund zu stecken, blieb interessiert, wohl auch wegen seines
gelungenen Scherzes. Wie immer lachte er nicht, blickte Welck auch
nicht an, sondern beschäftigte sich mit seiner Tüte, Stücke der
Brezel abbrechend, wodurch es keine Pause wurde, die zwischen ihnen
entstanden war. "Überhaupt",
begann Welck darum, ohne sich mit der Tatsache zu beschäftigen, dass
Bäumler eine Spitze gegen ihn vom Stapel gelassen hatte, "ist
Reinkarnation Blödsinn, weil hochtrabend."
Reinkarnation
war also hochtrabend und damit von vornherein nicht zu gebrauchen.
Wiedergeborene kamen, Bäumler kannte Welcks Masche ja nun in- und
auswendig, aus einem Himmel, in dem es mehr oder weniger genauso
zuging wie hier auf Erden. Warum also es nicht in Gottes Namen dann
als wiedergeborener Großvater versuchen. Bäumler verkniff sich die
Frage, aber Welck war ohnehin nicht mehr zu bremsen. "Weil
jeder sowieso schon sein wiedergeborener Großvater und so weiter
ist."
"War
da nicht doch noch etwas mit der Großmutter?",
versuchte es Bäumler dann trotzdem, wenn auch etwas lahm, und Welck
überging auch dieses Mal den Einwurf kommentarlos. Überhaupt sehe
man den Großvater, Vater und so weiter mit den Augen des Enkels,
Kindes, was man sehe, im Grunde egal was, das sei in erster Linie man
selber. Sich selber allerdings sehe man auch mit eben diesen Augen,
nämlich eines selber. Herrgott, Bäumler hatte es vorausgesehen,
fußkitzelnder Kitzler eines Fußes, und so weiter. "Und
so weiter",
sagte Welck gerade wieder. Worauf es ankomme bei der Wiedergeburt,
das sei das Wissen darum an sich. Die Wiedergeborenen erkannten sich
gegenseitig an gewissen Zeichen. Dieses Erkennen setzte eine gewisse
Schulung der Aufmerksamkeit voraus, wobei es wie bei anderen
Disziplinen auch hin und wieder solche mit einer gewissen
Naturbegabung in diesem Fach gab. Normalerweise wurde das Wissen um
sein Wiedergeborensein in einem äußerst langwierigen und
schwierigen Prozess erworben. Man konnte sich regelrechte Kurse dazu
denken, was aber in schöner Regelmäßigkeit auf besagte
hochtrabende Formen wie Reinkarnation hinauslief. Dann schon lieber
die Alltagsmethode, wo man sich vom anderen absah, worauf es in
dieser Hinsicht ankam. Wiedergeborenen war auf keine Weise ihr Wissen
um diese Tatsache auszureden, schon deshalb, weil sie nur mit
Wissenden darüber sprachen. Das war nun auch nur wieder so
eine Redensart, denn das Sprechen geschah gar nicht in verbaler Art,
als ob man auch eine Tatsache wie diese überhaupt in Worte fassen
konnte! Das war ja sozusagen der absolute Ausnahmefall. Ob Bäumler
einmal Leute hätte sich darüber unterhalten hören, welche Farbe
für sie Zahlen hätten? Ja, über so etwas habe er schon sprechen
gehört und es noch immer für vollkommenen Blödsinn gehalten.
Erstaunlich nur, dass Leute, die so drauf wären, trotz krasser
Nichtübereinstimmungen im Einzelfall von der Sache insgesamt nicht
abzubringen seien. "Eben",
entgegnete deshalb Welck. Bestimmte Erzählungen vom Jenseits
offenbarten gerade durch ihre Ausschmückungen krasses Unwissen und
Wichtigtuerei. Wer Gott wirklich gesehen hatte, sprach mit der
Leichtigkeit dessen, dem ein alter Mann Leid tat, der mal gerade eben
zurecht kam. Höchstens dass nicht auszudenken wäre, welche Folgen
der eine oder andere Schnitzer alter Leute hätte, wären sie
zufällig Gott. Ob ein Beispiel gefällig sei? "Ich
denke mal",
entgegnete Bäumler, "Gott
fährt nicht bloß Auto wie viele Alte, die's vielleicht besser
lassen sollten."
Welck, dem das Beispiel auch schon einmal eingefallen war, nickte
beifällig. Und vom Sterben sprach er so, wie man sprechen muss
angesichts der Ängste uneingeweihter Zuhörer, wobei sich sein Blick
ins Weite dessen verlor, was er eben darüber wusste. Bestenfalls,
dass er sich seines ersten Todes erinnerte, der ihn nicht in jene
schwarze Leere geworfen hatte, als die man ihn sich vorstellt,
solange man noch ahnungslos ist.
Die
Wiedergeborenen sind so wenig wiedergeboren wie der Heiland von den
Toten auferstanden ist, das allerdings nur den Ungläubigen. Sie
selber setzen gegen alle Realität die höhere Realität einer
strikten Unmöglichkeit, die sie allen entgegenhalten, die sie auf
eine schnöde Diesseitigkeit zurückwerfen wollen. Ja, alles, wofür
es sich auf Erden zu leben lohnt, muss überirdisch sein. Das dann
allerdings auf sehr weltliche Art und Weise, denn Religion ansonsten
ist Kitsch. Darum der liebe Gott im Unterhemd und mit Hosenträgern,
wie er mal wieder nicht bemerkt, dass er auf der einen Seite die
Backe nicht richtig rasiert. Ein wenig im Stress ist er auch,
höflichkeitshalber lässt man ihn nicht merken, dass man es mit ihm
nicht mehr so genau nimmt. Er ist in dem Alter, wo andere schon lange
im Heim sind; ob so etwas für Gott prinzipiell ausgeschlossen ist,
wäre noch die Frage. Oder eben häusliche Pflege, ein kleines Auto
mit den unvermeidlichen Aufklebern, von wegen Caritas, Pflege mit
Respekt und dergleichen, sozusagen vor der Himmelstür. Der alte Herr
winkt ab, Rasieren, Schuhe anziehen, sie soll einfach einen Moment
bei ihm hier sitzen, bevor sie weiter müsse, in Ruhe den Eintrag in
ihre Kladde machen, das gehe schon in Ordnung, schließlich sei er ja
Gott. "Der liebe Gott?" - "Ja, ja, ganz richtig, der
Einfachheit halber", was das Mädchen dann aber doch gar nicht
zu Ende gehört hatte, sie musste weiter. Gott spielte ein wenig den
lieben
Gott, weil man von ihm nichts anderes erwartete, was sollte man
machen? Es waren wieder jede Menge Neue zu empfangen, die
einigermaßen bleich um die verblichene Nase ausschauen würden.
Manche waren auch beim dritten, vierten Mal noch komisch, gewöhnen
sollten sie sich wenigstens ans Sterben, wenn's auch,
zugegebenermaßen, aus menschlicher Sicht nicht zu verstehen
war!
Welck war Gott auf diese Weise einmal sehr nahe gekommen.
Natürlich nicht beim ersten Mal. Es war Gottes Vergesslichkeit, die
ihn gerührt hatte. Die anderen in der Versammlung wollten durchaus
nicht glauben, dass es Gott selber war, der die Ansprache hielt und
waren auch sonst einigermaßen durch den Wind.
In
der Absicht den TV-14 C zu verfolgen, nutzte Bäumler die Gelegenheit
das Steuer zu übernehmen, als der Busfahrer am Wegesrand Datteln
kaufen wollte.