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"A
well'a bless my soul
What'sa wrong with me?
I'm itchin' like a
man in a fuzzy tree
My friends say I'm actin' wild as a bug
I'm
in love
I'm all shook up"
(Otis Blackwell/Elvis Presley)
Das Gel in den Haaren geht mir auf die Nerven, mehr noch aber das Fernsehprogramm. Am meisten wohl die Musik darin.
Die Affekte der Kinder trifft es am nachhaltigsten. Praktisch kommen sie nie aus dieser Art Sklaverei heraus. Und dann Wiedergeburt - das letzte Mal wie neu geboren fühlte ich mich, als man mich an einem Tag aus dem halb geöffneten Fenster eines fahrenden Zuges geworfen hatte.
Vermutlich waren Wegweiserzinken das letzte, was ich noch im Moment des Aufschlags vor Augen sah. Wohin aber? Viel zu matt war mein Verstand in diesem Moment, als dass ich einen Vorschlag hätte machen können. Oh, so ein dünnes Fädlein, das da auf einmal abzweigt aus dem Gewirr, wo zu viele Fäden parallel laufen, die Kurve schlägt, almost fading away, und gerade noch wieder andockt, saftig werdend, Halm eines Grases, das doch nicht abgeschlagen vertrocknen will und vielleicht sogar einen circle bildet mit einem weiteren Faden, um wieder zum festeren Faden zu werden. Nach einem letzten Blick auf die Zinken rasen die Bilder durch das, was von meinem Schädel übrig geblieben sein muss. "Entfliehe nicht, schwebende Nymphe!", rief Robert der Kellnerin hinterher, ja, er lief ihr sogar nach. Ihr Antlitz war das Biankas. Ich hatte ihr die Treue geschworen bis in den Tod, nachdem sie uns aus der Bodenkammer befreit hatte. Sie gab uns andere Kleider, wir maskierten uns und führten eine Komödie auf. Bilder aus dem Karzer, dem TV im Gemeinschaftsraum, Klo- und Gefängnisgraffiti, von der Flucht nach Kanada und dem Wiedersehen mit MM. "Ich habe mich in einigen Bädern herumgetrieben. Morgenspaziergänge, Brunnentrinken, Spielbänke gaben reichliche Ernte." Bianka rief uns zu: "Oben ist es eher kühl, für die Heizung legt man hier nur einen Schalter um und es pustet aus diversen Ritzen mal mehr, mal weniger. Am wärmsten ist es im Bad und sozusagen in der Waschküche, in der Küche um die Ecke, wo Waschmaschine und Trockner stehen und die leeren Bierdosen gesammelt werden. Den Trockner benutzen wir nun wirklich nicht, Spülmaschine inzwischen schon und heute habe ich sogar vier Teller à 3 Dollar ergattert, die sonst wohl 11 kosten." Nur immer praktisch!
Kaffeepulver habe man in meinen Taschen gefunden, in den Hemd- und Hosentaschen sowie im Futter meines Jacketts. Weiß der Teufel, wie das Zeug da hineingekommen sein mag. Nicht die geringste Erinnerung an einen derartigen Unfug. Gestohlen habe ich allerdings zeit meines Lebens, irgendwann aus Prinzip. Meist unnützes Zeug, Kleinkram, Ührchen, Pretiosen, Busennadeln, Essbares natürlich, niemals Geld, es sei denn jemand hat's verdient. Gesessen haben Robert und ich allerdings immer wieder – muss so etwas wie ein Fluch sein. "Alter Junge, du hier? Sag mir doch flink, wie kommst du hierher?" Man findet sich erstaunlicherweise auf Anhieb, lernt schnell all das hinzu, was sich in der Zwischenzeit verändert hat, und schlägt sich durch. So einfach ist das! Zugegeben, mit den Namen ist das von Mal zu Mal ein kleines bisschen pikant, zumal man zunächst nicht wissen kann, ob's sich um die Richtige handelt. "Entfliehe nicht, schwebende Nymphe!", muss man ihnen hinterherrufen, damit sie einen erkennen. Letztlich ist's gleich, ob man sie Rösel, Lenchen, Loisa, Nataly, Maria Magdalena, Marilyn, María José oder – schlicht und ergreifend – einfach MM ruft. Erkennen müssen sie einen, bevor man auf Wanderschaft geht. Nur immer praktisch!
Bisher konnte man das Reisen gemächlich angehen: Kartoffeln schälen an Bord irgendeines Dampfers mitten auf dem Ozean, Gelegenheitsjobs, Kirmes, Straßenmusik, kein Mangel an Einfällen, immer wieder Zufälle, Durchfälle von den Abfällen und – auch hieran sollte sich wohl oder übel nichts ändern – unglückselige Unfälle. Von den jämmerlichen Beerdigungen, dem Herrgott sei Dank, bekam man dann nicht mehr sehr viel mit.
Am vergnüglichsten sind die Seelenwanderungen, die einem jedes Mal wie eine Ewigkeit vorkommen. Die Geschichte mit der Zeit ist aber natürlich – wen mag das noch wundern? - nichts weiter als ein fauler Zauber. Daher vielleicht die allgemeine Heiterkeit hier oben. Ein wenig Routine kann einem das Ganze freilich schon erleichtern. Am meisten freue ich mich hingegen auf die Planeten, auch wenn man die Murmeln derweil aus der Röhre kennt. Immer wieder verweile ich vor den Ringen des Saturn und laufe Gefahr, die Rückkehr zu vergessen. Schwarze Löcher verstand ich indes bisher zu meiden wie die Pest, wofür dem Herrgott an dieser Stelle nochmals gedankt sei. Erfreulich ist immerhin auch, dass sich die Seele von all den Temperaturschwankungen nicht weiter beeindrucken lässt.
Schon im Waisenhaus hielten mich die meisten einfach nur für einen Spinner, wenn ich von meinen früheren Missetaten oder den Ringen des Saturn berichtete. Das Kindsein ist dann doch eher lästig, da man in dieser Zeit beinahe alles vergisst, was man in vorangegangenen Leben gelernt hat. Im Moment des Aufschlags, wie in meinem Fall, zumindest aber in dem Moment, in dem der Herzschlag aufhört oder endet, lernt man im Grunde genommen all das, was für die weitere Wanderschaft unerlässlich ist. Nur der King wusste um die einzuschlagenden Wege, was man ihn singen hören kann, oh Lord, yes I'm gonna walk on that milky white way, oh Lord, some of these days. Nur immer praktisch!
Beeindruckt waren die Kameraden immerhin, als sie erfuhren, dass ich über meine kleinen Diebstähle Buch führte. Bäumler bezeichnete das Buch irgendwann einmal als das Buch der Lieder. Meine Blue Suede Shoes, wie ich sie nannte, die ich als Dauerleihgabe vom größten Schuster im Ort betrachtete, hegte und pflegte ich jedenfalls mit der gleichen Strenge wie in dem Song von Carl Perkins. Ellenlange Spitzen hatten die Dinger, waren aber schon ziemlich runter, als ich Marion Maler begegnete, die für mich Anlass genug war aus dem Waisenhaus auszukratzen. Sechzehn oder siebzehn muss ich da gewesen sein. MM, sie bestand darauf, dass ich sie so rief, brachte mich auf den Geschmack für so einigermaßen alle Triebseligkeiten, die das Leibliche für uns vorgesehen hat. Später, so sagte sie mir, erinnerte sie sich bloß an Spermaregen, wenn sie an uns zurückdachte. Schließlich war sie damals auch erst höchstens zwanzig. Irgendwie landeten wir dann auf dem Schiff nach Québec City, wo wir in Sichtweite des imposanten Château Frontenac anlegten. Der Anblick der farbenprächtigen Küste bringt mich noch immer um den Schlaf, zumal wir das Kartoffelschälen satthatten.
Unterwegs las ich ihr manches Mal aus dem Winnetou vor, wobei sie meinte, es komme ihr dabei bloß auf meine Stimme an. Diese nicht enden wollenden Dialoge! Irgendwann gegen Ende des vierten Kapitels warf ich das Buch, ebenfalls eine jener Dauerleihgaben aus der örtlichen Bibliothek, sanft über Bord. MM war zuvor auf meinem Schoß eingeschlafen. Während dies geschah, wurde mir mein Bärentöter gebracht. Ich untersuchte ihn; er befand sich in gutem Zustande. Beide Läufe waren geladen. Natürlich wollte ich sie unter keinen Umständen aufwecken.
Die Aufgeschlossenheit gegenüber neuen Einwanderern war weitaus geringer als unterwegs erhofft. Sicher brachte ich einige Fertigkeiten aus dem Kinderheim mit, für die man sich hier interessierte; vor allem ein dressiertes Maß an Männlichkeit und Anstand. Nach anfänglichen Verhören wegen unserer Unpässlichkeit, unsere Pässe gaben wir vor verloren zu haben, duldete man uns schließlich als travailleurs temporaires. Schon bald bewährte ich mich als Fallensteller, während MM sich weiterhin als Küchengehilfin verdingte.
Natürlich wurde MM noch vor Anbruch des vierten Winters in den Wäldern von einem Bären zerfleischt, als sie mir ein Dîner zur Arbeit bringen wollte. Meinen Bärentöter trug ich unglücklicherweise nicht bei mir. Das war wohl der Lauf der Dinge.
Bevor ich im Frühjahr des darauffolgenden Jahres beschloss, nach Europa zurückzukehren, auch weil ich Malina, Marion Malers acht Jahre ältere Schwester, davon unterrichten musste, was MM zugestoßen war, suchte ich mir zunächst eine Zeitarbeit als Gärtner bei einem Nachbarn des stadtbekannten Rechtsanwalts Villette, bei dem ich bis Anfang Mai jeden Mittwoch arbeitete. Wenigstens einmal in meinem Leben war ich ohne zu stehlen, ohne zu betrügen und ohne zu contrebandiren über die Runden gekommen. Andererseits hielt ich es doch für rechtmäßig, ihm ein wenig Bares zu entwenden. Ermordet hat ihn übrigens nur ein paar Jahre später ein armes Schwein namens Keller, den man seinerseits unweit vom Château Frontenac über den Haufen geschossen haben soll. Am achtzehnten schälte ich dann wieder Kartoffeln an Bord der Sapphire Princess.
Malina gabelte ich erst im März des nächsten Jahres am Mainufer in Frankfurt auf. Obwohl ich ein Foto von ihr mit mir herumtrug und ihr Gesicht studiert hatte, erkannte ich Marions Schwester anfangs nicht. Es waren ihre Augen, in denen sich das Gedicht widerzuspiegeln schien, das jemand in winzig kleinen Buchstaben auf die Rückseite des Fotos geschrieben hatte.
Der Abschied, ja - | Der Abschied war dann leicht: | Dein klarer Satz; | dann Menschen, | Denen man die Hände reicht.
Doch bin ich traurig, ohne Sinn | Ich leide an der Richtigkeit.
Malina trug schwarze, abgetragene Hi-Heel Sneakers, einen viel zu kurzen Rock aus rotem Kunstleder, trank Rotwein aus einer Tüte, Tetrapak, und mochte Männer nicht, besonders nicht, wenn sie unvermittelt von ihnen angesprochen wurde. Ich fasste mich folglich kurz. Sie schien allerdings ungerührt von meiner Nachricht. Das Foto nahm sie dankend entgegen. "Sehen Sie, die meisten Männer sind im Grunde genommen wie Elvis, wollen die Mädels Baby rufen, suchen aber eigentlich nach ihrer Mama, einer Möse, einer Mieze oder einer Muse. What difference does it make? Marions und meine Initialen sind buchstäblich ein gefundenes Fressen für Fallensteller wie Sie. Love me tender. Steckt natürlich unser Vater dahinter. Martha, unsere Mutter, ist dann mit einem Michel durchgebrannt. War auch nicht besser. Wundert mich nicht, dass Marion früher oder später einem Bären zum Opfer fallen musste. Mit mir nicht, Mann!"
Zum Abschied gab mir MMs Schwester noch die Adresse eines, wie sie sagte, halbjüdischen Schriftstellers namens Ipelmeyer in der Nähe von Wiesbaden, bei dem ich unbesorgt für eine Weile untertauchen könne. Es sei zwar nicht ganz leicht zu ihm durchzudringen, doch seine Tochter Isidora sei dafür äußerst hilfsbereit. Außerdem sei sie durch und durch verschwenderisch, was sie aus ihrer Sicht zu einem begehrenswerten Frauenzimmer mache.
Aus irgendeinem, mir unbekannten Grund kam ich nicht umhin, Malina noch zu fragen, woran sie wirklich leide und ob es der Unglauben an Gott sein könnte. Malina gab mir zu verstehen, dass sie an so etwas nicht einmal im Traum dachte und dass es das künftige Leben sei, das ihr zu schaffen mache. "Das ist ein solches Rätsel", sagte sie. "Sehen Sie doch nur die Richtungslosigkeit allerorts. Die meisten hier unten am Mainufer kenne ich inzwischen gut, ja, ich kenne die Leute hier unten. Wenn sie dann aber von uns gegangen sind, meinte Marion, Marie nannte ich sie immer, damals, dann sind sie so endgültig, verstehen Sie?"
Ich nahm die Adresse der Ipelmayers und den nächsten Bus in Richtung Taunus, nicht ohne mich bei der Sorge zu ertappen, dass ich eines großen Geistes wie dem Ipelmeyers vielleicht vollkommen unwürdig sein musste. Hatte er nicht alles erreicht, was ein Autor in belanglosen und unverbindlichen Zeiten erreichen konnte? Zugegebenermaßen strebte Ipelmayer nicht nach Ruhm oder dem, was man einmal unter Größe verstanden haben mochte. Als halbjüdischer Schriftsteller, dachte ich, hatte er zumindest die Geschichte auf seiner Seite und die Gewissheit, dass er sich allein durch den Bezug auf einen Teil seiner Vorfahren, in seinem Fall den mütterlicherseits, legitimierte. Ipelmayer hatte ein Thema, dachte ich und rang den Gedanken in mir nieder, dass man meine Überlegungen in irgendeiner Weise als antisemitisch auffassen könnte. Ipelmayer, etwa in seinem Jüdischen Begräbnis, hatte ein Thema, über das man nicht einfach hinweggehen konnte. Seine christlichen Zeitgenossen hingegen hatten meist keines, nicht einmal mehr Christus, der sie insgeheim mit seinen Barmherzigkeitsappellen zu Tode langweilte.
Meine Sorgen bezüglich meines Gastgebers erwiesen sich allerdings als vollkommen unbegründet. Was für ein außergewöhnlich aufgeschlossener Hausherr Ipelmeyer war, erfuhr ich im Verlauf von vier wunderbar innigen Tagen im Taunus, die ich tief in meine nächsten Leben mitnehmen wollte.
"Mit der derzeitigen Feindseligkeit", meinte Ipelmayer auf der Veranda, nachdem er die zweite Flasche Rheingauer geöffnet hatte, "gegen begeisterte Verehrer eines literarischen Werks muss man sich wohl oder übel abfinden. Andererseits ist das natürlich alles nichts Neues. Schließlich hat man nie und an keinem Ort, etwa im Bus, sagen wir den Ulysses gelesen. Lesen, Welck, das tun seit jeher nur die einsamen Damen am Fenster, meist im Herbst. Herrlich hingegen, wenn sich hie und da ein Kerl wie Ihr Bäumler aufschwingt und meint, neues Leben in den unaufhaltsamen Strom des geschriebenen Worts hauchen zu müssen. Da ist die alte Wucht des Ideals am Werk, Welck. Das gefällt mir. Derzeit treibt er, so habe ich mir sagen lassen, sein Unwesen mit einem Kerl namens Rohlfs, der früher einmal in Erbenheim für das Amt für Verteidigungslasten gearbeitet haben soll und seinen Lebensunterhalt inzwischen als Kassierer für eine Tankstelle verdient. Gemeinsam glauben sie an die Wirkungskraft des Romans, man weiß nicht warum, dem sie als Sinnbild die Tankstelle als Tempel unserer Zeit zusprechen. Konsequenterweise geht es um Energie. Ein Roman, Welck, die Gegenwelt vergangener Jahrhunderte! Was für eine Anmaßung! Da lachen ja die Hühner! Hören Sie? Als zwar nur, das hängt natürlich vom Blickwinkel ab, man könnte auch sagen, als immerhin Halbjude kann ich mir noch immer, allen Anfeindungen zum Trotz, ein wenig mehr herausnehmen als so manch ein deutscher Helmut etwa. Das ist nun einmal so, bei allem gebührenden Respekt, Welck, das ist nun einmal so. Man denke nur an den Biller – aber lassen wir das! Meine Mutter schon lehrte mich das Argument. Wenig erhellend ist indes, was man so zu hören bekommt zur Zeit. Schnöde Schweizer erheben hohe Bußgelder, pöbelnde Polizisten entblößen tugendhafte Damen am französischen Strand. Oh ja, die vox populi tobt gleichermaßen! Nein, dem, was man gemeinhin die Stimme des Volkes nennt, kann man selbstverständlich nichts entgegensetzen. Da bleibt dann allenfalls klägliche Satire und Klamauk, was uns der Sorge um das tägliche bisschen Fressen natürlich nicht enthebt, sowie die vielen tausend verschmitzten Busenblitzer in den sogenannten Medien, Welck. Ein Zeitalter der Spionage und des Voyeurismus, Welck! Die Demokratie, Welck, terrorisiert das ihr Fremde seit jeher mit ihren Mitteln, mit Rechtsmitteln, Welck, mit Rechtsmitteln. Wir leben, Welck, inmitten eines Wettbewerbs des Schreckens – und das olympische Glück und Heldentum des Sports ändert daran rein gar nichts; vielmehr verleiht es dem ganzen Spektakel allenfalls noch die Aura einer Tragikomödie. Im Gegenteil, möchte ich sagen, ganz im Gegenteil. Und mein Urteil hierüber ist kein Geheimnis: Das ist die Art von Imperialismus, Welck, nach der die vox populi seit jeher lechzt. Das ist die Art von Gewalt, die wir sehen wollen. Im Vergleich zum Ruhm des Athleten unserer Zeit erscheint die Macht der Aristokraten etwa im vorrevolutionären Frankreich als geradezu schäbig. Hamstereien, Welck, alles Hamstereien. Gold und Silber für das Vaterland. Das Imperium zollt seinen Tribut, versetzt mit dem Flair des Exotischen. Feigen und Granatäpfel, Mangos und Papayas, Welck! Verzehren Sie wurmstichiges Obst! Das wird Ihnen die Augen öffnen! Da kommt der Roman als letztes Bollwerk gegen eine Kultur aus Botox und Silikon gerade recht. Oder etwa nicht, Welck?"
"Innovation, Welck", dozierte Ipelmayer, nachdem er die dritte Flasche Rheingauer geöffnet hatte, "Innovation kann nur durch Verbindlichkeit entstehen. Längst überholt ist doch jene Vorstellung vom autonomen Individuum, Welck – oder jene vom einsamen Autor, dem es mit eisernem Willen und Urheberkraft immer wieder gelingt, aus den Tiefen seines Selbst, Wertvolles, ja Großartiges hervorzuholen. Seit unzähligen Jahrhunderten lässt er nunmehr seine zahllosen Benennungen aus sich herausbrodeln, Namen für eine Vielzahl von Göttern, Projektionen auf den Einen hin, den Einzigartigen, ob weißbärtig, dunkelhäutig, allmächtig oder mehrarmig, bevölkerte Welten in unerreichbarer Ferne, Mathematik und Logik als Heilsbringer, Scharlatanerien, Glücksbotschaften, Visionen, Welck, Reinkarnationsvisionen, die die tröstliche Handgeste Kalis heraufbeschwören. Köpfe müssen rollen, Arme abgeschlagen, Zungen herausgerissen werden. Das Wesen der Umgestaltung liegt in der Verbindlichkeit. Der eingeschlagene Weg der Unverbindlichkeit ist der einer vollständigen Vermuschelung. Längst schon sind hier schier unverwüstliche Lebensformen aufgetreten, die sich schwerlich leugnen lassen: Die geschäftstüchtige Karrieristin beispielsweise, deren Gehäuse mit wenigen Ausnahmen meist gleichklappig ist. Das Schloss ist für gewöhnlich gut ausgebildet und die Schließmuskeln sind meist isomyar. Selbstverständlich gibt sie all das, wovon sie felsenfest überzeugt ist, ja, Überzeugungen sind ihre Antriebskraft, wortwörtlich wieder, ohne es auch nur im Allergeringsten in Erwägung zu ziehen, ihre Zitate kenntlich zu machen. Wozu auch? Ihre Schale ist schließlich, wie die der meisten Muscheln, aragonitisch mit überwiegend kreuzlamellaren und prismatischen Mikrostrukturen. Das Schloss des Programmierers hingegen besteht aus je zwei Kardinalzähnen in beiden Klappen. Sein vorderer Schließmuskel ist stark verlängert und schmal. Analphabetismus begünstigt seinen Erfolg. Der Vermögensberater ist eine sehr konkurrenzstarke Art und heftet sich mit unnachahmlicher Beharrlichkeit an Wasserpflanzen und Großmuscheln. Die Schließmuskeln sind nur leicht unförmig. Der Fuß ist groß und kräftig. Der Vermögensberater liebt die Dunkelheit Finnlands, die freie Improvisation und veröffentlicht seine Urlaubsbilder im sozialen Netzwerk. Venus aber, die Göttin der Bäume und Früchte, wenn sie dem Schaum des Meeres entsteigt, lässt uns, Welck, Groll und Sorge vergessen."
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"There
must be some way out of here", said the joker to the
thief,
"There's
too much confusion, I can't get no relief.
Businessmen,
they drink my wine, plowmen dig my earth,
None
of them along the line know what any of it is worth."
(Bob Dylan)
"Klar, irgendwie muss man immer wieder aus all dem raus", sagte Bäumler zu Welck im Bus, "und letztlich ist man, wie du inzwischen ja weißt, nichtmals im Himmel mehr sicher. Gut, dass du mich zumindest ohne große Umschweife gleich gefunden hast. Meine Bemühungen, Welck, waren, weiß Gott, nicht umsonst."
"Wir müssen nur die Himmelsrichtung ändern", sagte Welck in dem Bus in Richtung Osten.