Freitag, 20. Juni 2025

Z. Z. LVIII [»Sir Albin and the Flames XII« (2025)]

 



[»Paradise Lost«, Goedart Palm (2013)]
 


Jeder Morgen unterrichtet uns über die Neuigkeiten des Erdkreises. Und doch sind wir an merkwürdigen Geschichten arm. Woher kommt das? Das kommt, weil keine Begebenheit uns mehr erreicht, die nicht schon mit Erklärungen durchsetzt ist. Mit anderen Worten: beinah nichts mehr, was geschieht, kommt der Erzählung, beinah alles der Information zugute. Es ist nämlich schon die halbe Kunst des Erzählens, eine Geschichte, indem man sie wiedergibt, von Erklärungen freizuhalten. [Walter Benjamin »Kleine Kunst-Stücke: Kunst zu erzählen« (1928 – 1935)]




[»Wie wir dieses Kino geliebt haben...«, Goedart Palm (2023)]




Sir Albin and the Flames


Wer wollte sich wundern darüber, wie materialistisch und somit habgierig eine Jugend sei, die nach dem Strohhalm des Guten griff, das ihre Eltern noch so üppig besaßen und in das sie sie hineinstaffiert hatten, Wunschkinder, die sie am besten waren! Ja, sie sollten es immer noch besser haben und mehr von allem, nach dem Vorbild derer, denen das Mehr von allem als das galt, wovon sie dachten, das sei der amerikanische Traum, als was dieser sich auch verkaufte.

Wie man denn eben wohnte in dieser Zeit, als immerzu noch vom Krieg geredet wurde, und mehr noch von jenen Jahren direkt danach, als Wohnen hieß, dass man heizen konnte, und kochen. Selber erinnerte man sich nicht daran, dass es kaum etwas zu kochen gab, wenn man da gerade erst geboren war. Sogar an den Vater nur wenig, der bald nach der Entlassung aus der Wehrmacht eine Arbeitsstelle in seinem alten Beruf gefunden hatte, dann aber schwer krank wurde und starb. Da war man gerade in die erste Klasse gekommen. Jetzt sollte aufgewachsen werden als Junge ohne Vater, dafür mit drei Müttern, denn es gab ja zwei Schwestern, ältere, sehr viel ältere. Man musste umziehen in eine Wohnung, die das Sozialamt besorgt hatte. Küche, daneben das Schlafzimmer mit dem Doppelbett, das man sich jetzt zu dritt teilte. Die ältere der Schwestern war im Streit fortgegangen um Hals über Kopf zu heiraten. Hier also die Küche, in die man die Wohnung direkt von der Straße aus betrat. Der Küchenschrank, schon einige Male angestrichen, mit dem Brotfach aus Blech, in dem die Krümel säuerlich rochen. Teller aus gelblichem Steingut für den Alltag, auch die große Schüssel, in der der Kuchenteig gerührt wurde: Butter, Eier, Zucker, rühren, bis es nicht mehr knirscht. Der Radiotisch mit einem gehäkelten Deckchen darauf, das Radio, in dem man die Stimme sogar von jemandem hören konnte, wie er sang, und der schon gar nicht mehr lebte: Richard Tauber. Ob sich die Mutter für den interessierte, eigentlich kaum, aber den Namen kannte sie und wusste eben, dass er schon tot war. Auch Hans Albers sang im Radio, aber der lebte noch. Was es genau mit der Reeperbahn auf sich hatte, da machten die Erwachsenen so Andeutungen und verständigten sich mit Blicken. Es gab Dinge, die waren nichts für Kinder. Man hatte das Gefühl, dass es dabei mehr oder weniger immer um dasselbe ging, und womit die Erwachsenen großtaten.

Es schlief sich etwas besser im Ehebett der Eltern, als die Schwester dauerhaft auf das Küchensofa ausgewichen war, was aber ein Streitpunkt blieb, weil es seinen Ausgangspunkt darin gefunden hatte, dass sie inzwischen auch später nach Hause kam, worüber es schon zwischen der ältesten Schwester und der Mutter zum Zerwürfnis gekommen war. Fernsehen gab es so bald noch nicht, das Radio lief so leise, dass sich dabei schlafen ließ, während die Mutter mit Handarbeiten beschäftigt war und so die Uhrzeit des Nachhausekommens der Tochter überwachte.

Die Wirklichkeit, eine einzige Version von etwas, was in unendlich vielen Varianten auch existieren könnte: Die Frage nach dem Warum des Seins ist diesem so wenig angemessen wie die nach der Farbe einer mathematischen Formel. Die Unzulässigkeit einer Fragestellung lässt sich auch anders leicht anschaulich machen. Sie entspricht nämlich der Verletzung einer Spielregel. Natürlich kann der Turm in jeder beliebigen Weise ziehen, aber man spielt dann nicht mehr Schach.

Nun also die fünfziger, sechziger Jahre, die das schreiend Neue auf das Alte und noch Ältere aufpfropften. Was dreißig, vierzig Jahre alt war, war dieses sehr, weil es die Jahrzehnte waren, die mit neuen Techniken neue Materialien in den Alltag brachten. Alles, was mit Elektrizität zu tun hatte, war in Kunststoffe gefügt, denen der Strom, sie leicht oder sehr erhitzend, Düfte entweichen ließ, bitter giftig wie das Bakelit, und deren Ersatz durch weniger Bedenkliches erst noch erfunden werden musste, was aber angesichts der schieren Menge bezüglich der Belastung durch Produktgifte nicht für Besserung sorgen konnte; im Gegenteil, die früheren wenigen sehr giftigen Stoffe schadeten vergleichsweise wenig.

Überhaupt war es eine Welt des Weniger, niemand sorgte sich hinsichtlich eines Zuviels, was sollte das auch sein? Würde es jemals zu viel von etwas geben, was man sich doch gerade deshalb so sehr wünschte, weil man es nicht besaß, jedenfalls niemand, den man kannte. Überfluss und Mangel, ganz offensichtlich die zwei Seiten ein und derselben Medaille, woraus sich erklärt, dass der Übergang vom einen zum anderen unbemerkt geschah.

Das wahrhaft Bedeutende ereignete sich, entgegen der allseits verbreiteten Meinung, nicht im Verborgenen, sondern im Licht des hellen Tages und vor aller Augen. So wird denn auch hier kein Geheimnis enthüllt, oder aus den Tiefen irgendeiner verklärten Vergangenheit hervorgeholt und im schönsten erzählenden Imperfekt in seinen Elementen wie Perlen auf einer Schnur fein aufgefädelt. Das Geheimnis, wenn es denn eines ist, besteht darin, wie man sich plötzlich, weil eine Geschichte erzählt wird, interessieren kann für Dinge, die man im Allgemeinen für uninteressant, weil alltäglich hält. Im Gegenteil, uninteressant wäre eine Geschichte voll des Unwahrscheinlichen und Übertriebenen, die Erstaunen erzeugen wollte, während das Publikum sich allenfalls fragt, ob der auf diese Weise zustande gekommene Kunstgenuss seinen Preis rechtfertigt.

Heldentum ist Gegenstand von Geschichten, die man sich darüber erzählt, weshalb man Helden in der Wirklichkeit natürlich vergeblich sucht. Auch Individualität ist eine solche Illusion wie das Heldentum und darum ein Gegenstand, dessen gerade die Massengesellschaft in besonderem Maße bedarf.

Forscht man nun nach einem Helden, sagen wir, wie Elvis einer war, so geht man nicht fehl, wenn man seine Geschichte jemandem erzählt, für den Elvis ein Held war, ja der Held seines Lebens. Es mochten noch andere Helden hinzukommen, aber jeder war etwas blasser als der vorige und sein Bild verschwamm im Dunst ferner Bläue. Die Leuchtkraft jenes ersten aber ließ keineswegs jemals nach, im Gegenteil, Licht aller wahren Helden, weiter und heller strahlte es in dem Maße, wie die Liebe in der Wärme des Herzens seines Bewunderers wuchs in seliger Erinnerung.



Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen