Montag, 19. August 2024

Z. Z. LI [»Oberiberg« von Walter Graf (2024)]

 


[»Le lit défait«, Eugène Delacroix (1828)]



Ehe wir uns nicht verloren haben, besteht keine Hoffnung, uns zu finden.

[Henry Miller »Wendekreis des Steinbocks« (1939)]


Die Ausschweifung kann uns in das uns bestimmte Dasein zurückführen.

[Hans Henny Jahn »Fluss ohne Ufer« (1950)]





[»The Lauerzersee with Schwyz and the Mythen, Switzerland«, J.M.W. Turner (1848)]





Aufs Neue die Erfahrung, dass man den Schmerz wünscht, um sich Gott zu nähern.

[Cesare Pavese »Das Handwerk des Lebens: Tagebuch 1935 - 1950« (1952)]






Oberiberg




In einem fremden Bett aufwachend, traute ich mich kaum, mich zu rühren. Noch war es zu dunkel, um meine Umgebung zu erkennen. Offenbar war ich nicht allein. Wir hielten uns so eng umschlungen, dass wir buchstäblich zusammenklebten. Da ich keine Luft mehr bekam, versuchte ich vorsichtig, mich von ihr zu lösen. Am schlimmsten war der Geschmack in meinem Mund, der mich wieder an das scheussliche Gebräu erinnerte, das mir in der Alphütte vorgesetzt worden war; mein Magen krampfte sich vor Widerwillen zusammen. Beim Versuch, aufzustehen, um das Fenster aufzureissen, geriet mir eine Strähne von Mariannes Haar zwischen die Finger; auch ihre Haare rochen nach dieser Mischung von schwarzem Kaffee und Kräuterschnaps. Jemand von uns musste sich im Bett erbrochen haben – fragte sich nur, ob sie mich oder ich sie angespien hatte. Hatte ich zunächst sie im Verdacht, sich übergeben zu haben, so wurde mir, aufgrund meiner verstopften Nase und des üblen Nachgeschmacks in meinem Mund, allmählich klar, dass ich selbst es gewesen war.

Wir befanden uns in der Innerschweiz. Mariannes ehemalige Mitschülerin Christine hatte uns übers Wochenende in die Ferienwohnung ihrer Mutter eingeladen. Wir waren einander erst vor einer Woche im Biergarten begegnet, wo Marianne sie mir als «alte Freundin» vorstellte; die beiden hatten sich seit Jahren nicht mehr gesehen. Christine, die vollschlank und umgänglich war, schien sich im Vergnügungsviertel an der Langstrasse auszukennen. Sie führte uns, als es dunkel geworden war, in die Piratenbar, die nachts bis zwei Uhr geöffnet hatte. Auf einer Reise nach Deutschland hatte sie sich angewöhnt, zum Bier jeweils noch einen Klaren zu bestellen – ein Brauch, den ich nicht nur aus deutschen Filmen kannte. Da ich mit einem Ohr auf die Musik aus der Jukebox hörte, bekam ich die Unterhaltung der beiden Frauen nur zur Hälfte mit. Irgendetwas von einer Ferienwohnung in Oberiberg - unweit von Unteriberg, wo ich als Kind einmal im Urlaub gewesen war - und von einem Typ, der sich Mike nannte.

Knapp eine Woche später sassen wir bereits mit Christine im Zug auf dem Weg in den Kanton Schwyz. Die Fahrt am Zürichsee und am Sihlsee entlang war kurzweilig. «Ich hätte nicht gedacht, dass man von einer Stadt wie Zürich aus so rasch in den Bergen ist», sagte ich. Christine und Marianne, die gerne lachten, tauschten Erinnerungen an ihre Schulzeit miteinander aus. In Oberiberg angekommen, zeigte uns Christine die Ferienwohnung ihrer Mutter, wo wir unsere Tasche abluden. Wie schon der Name des Dorfes sagte, lag es höher als Unteriberg. Nach dem Abendessen in einem Restaurant warteten wir auf «Mike», der uns mit seinem Auto abholen sollte. Ein stämmiger Bursche, der uns nachts zu den Alphütten führen wollte, in denen ein Bergfest gefeiert wurde. «Wisst ihr, warum man mich Mike nennt?», erklärte uns Michael seinen Übernamen. «Weil ich der Mick Jagger von Oberiberg bin.» Im Vergleich zu seinem Idol mutete er uns aber reichlich schwerfällig, ja, grobschlächtig an. Er machte unterwegs noch einen Zwischenhalt bei einer Bar, in der es Musik und Tanz gab. Ausnahmsweise nahm ich auch an der Tanzerei teil. Einer der einheimischen Männer, die an der Theke hockten, sah mir, das Maul aufsperrend, zu, bis er ein Wort fand für das, was er sagen wollte: «Schlangentanz!»

Den Rest unseres Wegs wand sich die Strasse in Terpentinen den Berg hinauf. Auf der Alm standen ein paar Hütten zusammengepfercht; im Lichtschein, der aus ihren Fenstern fiel, sah man weisse Nebelschwaden hängen. In den Holzhütten führten enge Treppen zwischen dem Unter- und dem Obergeschoss auf und ab; in ihren grösseren Räumen spielten jeweils bärtige Sennen mit ihren Musikinstrumenten zum Tanz auf. Hier hielt ich mich heraus; es handelte sich ohnehin eher um ein rhythmisches Stampfen als um ein Tanzen. Ein Bergbauer, der noch auf Brautschau zu sein schien, zählte Marianne bereits das Vieh auf, das er in seinen Ställen hielt: Kühe, Schweine, Schafe, Hühner. Lief dies etwa auf einen Heiratsantrag hinaus? Von einer Hütte in die andere gehend, liess ich mich schliesslich in einem Hinterraum nieder, in dem nur ein langer Tisch mit zwei Bänken stand. Ich sass - als einziger Fremder aus der Stadt - mit jungen Dorfbewohnern zusammen, die sich einen Spass daraus machten, mich abzufüllen, indem sie mich mit ihrem Nationalgetränk traktierten. Dieses Gesöff, das aus einer Mischung aus schwarzem Kaffee und Kräuterschnaps bestand, wurde aus einer Suppenschale gelöffelt, solange es noch dampfend heiss war. Das tat ich, den anderen zuliebe, denn auch, wobei ich es nicht bei einer Schale bewenden liess.

Zum Glück war derjenige, der uns schlussendlich den Berg hinunterlotste, nicht ebenso betrunken wie wir; sonst hätte leicht ein Unglück geschehen können. Mike war es jedenfalls nicht, der auf dem Rückweg am Steuer sass und uns in Oberiberg vor dem Haus absetzte, in dem wir an diesem Wochenende stationiert waren. Nun war es Samstagmorgen. Christine, die im Wohnzimmer schlief, und Marianne blieben bis zum Mittag liegen. Ich war lautlos ins Badezimmer geschlichen, um sie nicht zu wecken, hatte mich gewaschen, mir Mund und Rachen ausgespült; ich nahm das Badetuch von der Stange und legte mich damit im Schlafzimmer wieder hin, aber nicht in das besudelte Bett zurück, sondern auf den Fussboden. Auf dem Rücken liegend, spürte ich einen frischen Luftzug durchs geöffnete Fenster strömen. Da der Himmel von Regenwolken bedeckt war, liess das Tageslicht noch auf sich warten. Ich fühlte mich allgemein geschwächt – ein Zustand, der etwas Besänftigendes hatte. Manchmal, wenn ein Windstoss durch die Bäume draussen fuhr, rieselten Regentropfen von den Blättern. Das Piepsen der erwachenden Vögel unter dem Dachvorsprung. Das Glucksen des Wassers, das sich in der Dachrinne angestaut hatte. Auf die leisen Geräusche des anbrechenden Tages horchend, dachte ich an einen jung verstorbenen Rockmusiker, der an seinem Erbrochenen erstickt war. Hätte mir dies letzte Nacht nicht auch passieren können?

Allmählich versetzten mich meine Wahrnehmungen in die frühe Kindheit zurück, aus der mir ländliche Eindrücke vertraut waren. So glaubte ich unverhofft, die Kuhglocken durch den Dunst, der damals aus den taufeuchten Wiesen aufstieg, bimmeln zu hören, und wusste aufs Mal wieder, wo ich eigentlich zuhause war. Beinahe hätte ich es vergessen! Inzwischen war das Morgengrauen in eine verschwommene Morgenröte übergegangen. Von diesem Augenblick an war mir klar, dass man dem Paradies, aus dem man in seiner Pubertät vertrieben wurde, nie näherkommt als dann, wenn man sich im Schlamm gewälzt, im Dreck gesuhlt hat – also gerade dann, wenn man sich am weitesten von ihm entfernt hat. Dann wird das Heimweh nach dem Reich der verlorenen Unschuld, der Reinheit, wieder zum Leben erweckt.

Über diesen Samstag, an dem es von morgens bis abends regnete, gäbe es weiter nichts zu erzählen. Ich las, da sich in der ganzen Wohnung kein einziges Buch fand, einen Groschenroman. Erst am Sonntag, als wir wieder nach Hause fuhren, schien die Sonne der Jahreszeit gemäss.



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