Freitag, 19. Juli 2024

Bzw. ۲ ۶ ۹ [»slim line«: sieben Gedichte von Martin Westenberger]

 


[»The Myth of Creation«, Goedart Palm (2024)]



We know that the war against intelligence is always waged in the name of common sense.

[Roland Barthes »Mythologies« (1957)]



fieber


erscheint als gulaschsuppe in randlage,

selbstverständlich, die tanzschuhe im eck,

erinnerungsgeruch von schulbänken,

radiergummi, fleck-weg, tipp-ex.


aber erhaben im roten rollkragen

mit toni sailer rand, besuch des

alten hno arztes mit beigen geräten,

schmalzpartikeln, chromglanz.


was ist das fieber, ein pferdestall,

ohne kenntnis von irgendwas,

was zu tun, warum überhaupt,

island-pulli strick.


aber die begeisterung

der immer interessierten,

rosa wangen, tautropfen,

die ungeschriebene zukunft.


fieber,

eine gummilippe,

orangefarbener, offenporiger schwamm,

jeder weiß, wovon die rede ist.



slim line


sei in der regel ästhetisch gelungen,

vorteilhaft lang gestreckt

vor einem großen naturzusammenhang,

sportlich, schön, fast philosophisch,

ernst, mit schlanken wangen,

etwas eingefallen, mit knochen.


die große, dunkelblaue jacke von früher

habe ganz in diesem sinn gearbeitet,

elegant, ernst, dezent,

problemzonen, wölbungen also, überdeckt

ohne ein wort darüber zu verlieren.


im traum nun sei diese jacke erschienen,

verwaschen, abgetragen, viel zu klein,

keinerlei slim line, stattdessen

jahrmarktskapriolen, unwürdiges geschwabbel,

fleischwurst, rotnase, konturflucht,


keinerlei günstige faceposition, aber

humba humba täterä,

permanente vergötzung der

vorhanden geglaubten kleinen welt,


unphilosophisch, immer nur nahraum,

den die hölzerne kabine einzig erlaube.


die jacke, die im traum erschienen war,

sofort von der liste gestrichen,

noch eine weile in der kabine verblieben,

heimlich rausgeschaut,

philosophisch getan.


slim line, fat line,

im richtigen moment angesprochen,

seien imstande abzuführen,


wie manch erträumtes

raumschiff in der nacht.



im zug


tippen junge frauen auf ihren notebooks,

zielgerichtet, ernst, mit strengem

seitenblick auf ihr mobiles endgerät,


andere sind auch ernst, statt notebook

ziehen sie es vor, ihr haar zu richten,

zebrahose, rucksack.


ein mann mit riesigen kopfhörern,

sportlich, dunkelblau u. adidas, mit

letztem blick auf seine tasche.


immer reist die bahn durch deutschland,

sachliche gleisarbeit, elektroklang,

mehr oder weniger erhaben,


immer unpünktlich,

für eine revolution, die als erstes

alle uhren zerschlägt,


ganz genau, sagt der kontrolleur,

kennt man einmal zeit,

hat man alle zeit.





[»We Want The World And We Want It Now«, Goedart Palm (2015)]




der cardigan


ist hochwertig gearbeitet, mit

feiner struktur u. darunter spitzen,

das sieht wunderschön aus

bei marlene,

das ganze stuttgarter umland,

meine damen,

im unteren bereich

mit spitzen u.

feinem strass belegt,

auch die vororte sind hier

gut sichtbar

vom turm beschienen, ein

herrliches lauflicht,

das den strass

so richtig schön

funkeln lässt,

da kommt die dame,

man ist zuhause u.

da ist der mann u.

die kinder, wie

soll man rausgehen,

was soll man mitnehmen,

den cardigan

kann man praktisch

das ganze jahr u.

24/7 dabei haben,

da ist das fahle licht,

die windige ecke,

irgendwelche gestalten,

die da rumliegen,

meine damen,

da ist die arbeit u.

montag geht die

woche wieder los,

der ganze stuttgarter raum,

aber nicht nur,

ist im cardigan,

meine damen,

setzen sie

eine eins vor den preis,

auch vor die anhebung

der dunkleren zonen,

das wäre noch immer

ein günstiges angebot.



das kostbare leben


erschien an der uferstraße,

inmitten eines baumes mit blüten u. duft,

alles ließ sich leicht übersetzen u. nicht,

frühe liebe, vorgeschnittene brötchen,


wumba mit handschuhen bis zum oberarm,

käsespätzle, schnapps, montierte räder,

eine mobile leichtigkeit, flüstern am feuer,

lange küsse usw.


der duft des baumes niedergesenkt

zu einem klebrigen flecken auf

der abwaschbaren obstdecke,

mit der nase daran kleben geblieben.


fraglos hatte sich das schöne gezeigt,

der fleck verballhornte alles gerede

von der flüchtigkeit, dem verweile doch,

er verweilte doch.


außen herum der übliche verkehr,

das rauschen des flusses mit

vorgetäuschter nicht-wiederkehr.


so war das, ihr jungen leute,

erzählte opa heute.



die neue ü50 app


bietet die funktionen

kartographierung,

bei abweichung der

vorgezeichneten route rote

warnlinie, signalton, kein

schubfach mehr für persönliche

eintragungen, dafür anteilhafte


lesbarkeit im servicecenter leben,

gesundheitsfeatures, schlangenlinien

nach volllaufen lassen werden

begradigt, bei dünnhäutigem frieren

wärmeausstoß,


kalenderfeature mit fotos von früher,

erinnerungen an den gipskrieg,

dosierfeature, um alle in- und outputs

in grenzen zu halten,


health-feature,

kontrolle von blutwert u. lungenvolumen,

tracking der feingliedrigen gesten

voller gegenwart.


wasserfestigkeit bei plötzlichem

harndrang, inklusive wetterwarnung,

digitales auffangnetz lebensschädlicher

id-strahlen,


handschmeichelnde

geräumigkeit,


direct-sales center für

angora-unterwäsche u. lammfell-

einlagen.


die neu gestaltete zonengrenze

rundet die app ab, mit u. ohne zähne.


bei verlust neues

eselbrücken-feature mit

konfetti-ausstoß u.

närrischer fanfare,


u. schließlich noch das

neu gestaltete

natürlich, sie haben recht,

ganz ihrer meinung feature.


ein ministrant

wird demnächst

zur kollekte bitten.



die stimme des siebten sinns


blieb immer sachlich u. distanziert,

war voller vorurteil u. kuriosität,


zu jener zeit war alles beige, schilf-

grün, eckig u. stieß zusammen,


die vielen tödlichen unfälle waren

kollateralschäden der freien fahrt, doch


nicht so schlimm; das schlechte gewissen

der lenorfrau musste nicht erscheinen.


heute ist viel von viel,

man hört mal dies, mal das,


eine art hornhaut hat sich

über den siebten sinn gezogen,


manchmal gibt es noch angebote für

handwaschpaste u. wurzelbürste.


häufig gibt es diese angebote,

reden sie doch nicht so, sie großmund,


sagt die stimme vom siebten sinn

eine nuance lauter, bevor sie darlegt,


dass frauen in der regel schwierigkeiten

beim einparken haben.



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