[Peter Paul Rubens »Adam und Eva« (um 1600)]
N'écoutant que son courage, qui ne lui disait rien, il se garda d'intervenir.
[Jules
Renard »Journal«,
18 octobre 1908]
Il y a des gens qui donnent un conseil comme on donne un coup de poing. On en saigne un peu, et on riposte en ne le suivant pas.
[Jules
Renard »Journal«,
21 octobre 1889]
Dreissig Jahre danach
Im vergangenen Oktober war das Wetter grösstenteils schön. Wir fuhren an einem Samstag zu dritt nach Oerlikon, wo wir im Selbstbedienungsrestaurant des Neumarkts zu Mittag assen. Danach begleitete ich meine Frau und unsere Tochter noch über den Marktplatz auf die Tramstation. Auf einer der Bänke auf dem Platz sass ein älterer Mann, der mir auffiel, weil er keinen Blick von uns wandte. Er hatte langes graues Haar und einen Schnauz; vor dreissig Jahren musste er genauso ausgesehen haben wie Mariannes AA-Freund Hans Moser, der uns damals, als sie zum letzten Mal betrunken gewesen war, besucht hatte.
Mag sein, dass er selbst inzwischen wieder trinkt. Vielleicht ist er, einer nostalgischen Anwandlung folgend, zurückgekehrt an den Schauplatz der AA-Meetings, in denen er meine Frau seinerzeit kennengelernt hat. Alkoholiker sind oftmals sentimental und lassen gerne die Vergangenheit wieder aufleben. Es machte jedenfalls den Anschein, als hätte der Mann, der inzwischen etwas eingefallen war, uns erkannt; womöglich wartete er nur darauf, Marianne zu begegnen. Hätte er sie nicht in Begleitung ihrer Familie erblickt, wäre er wohl nicht sicher gewesen, ob sie es wirklich war, aber so…
Vor dreissig Jahren, als wir das erste Mal in Seebach wohnten, gehörte Marianne zur AA-Gruppe von Oerlikon. Da die Leute, die sie dort kennenlernte, nach kurzer Zeit zu unserem Freundeskreis zählten, trafen wir uns mitunter auch privat mit ihnen. Dies konnte einem als Ehemann allerdings lästig werden, besonders wenn sie unangemeldet vor der Türe auftauchten. Dabei waren sie, zumindest solange sie noch an den Meetings teilnahmen, kaum je betrunken. In ihren trockenen Perioden sind Alkoholiker, denen man sonst nicht über den Weg trauen darf, die Vertrauenswürdigkeit in Person.
Als Hans Moser zum ersten Mal bei uns geklingelt hatte, musste es Hochsommer gewesen sein. Er trug ausser einem Paar Jeans, dessen Hosenbeine er vollständig abgeschnitten hatte, nichts am Leib. Gross und schlank, wie er war, konnte er sich schon so sehen lassen. Trotzdem liess ich ihn, da ich gerade essen wollte, nicht herein. Marianne, die ihn nicht erwartet hatte, wollte mit unserer Tochter gerade jemand anderen treffen.
Es mochte im Herbst desselben Jahres gewesen sein, als Marianne nach einigen Jahren vollständiger Abstinenz wieder einmal zur Flasche griff. Wir hatten für meinen Vater, dessen Besuch wir am Wochenende erwarteten, eigens eine Flasche Bier gekauft, die nicht einmal für ein kleines Besäufnis reichte. Daher schickte sie, anstatt in die Kneipe zu gehen, Anja in den Laden, um ihr eine Flasche Gin zu besorgen. Den Anlass dazu hatte weiter nichts als eine alltägliche Streitigkeit zwischen uns gegeben.
Nachdem sie einmal zu trinken begonnen hatte, wollte sie es auch ein bisschen lustig haben. Ich war dafür nicht zu haben; deshalb rief sie ihren AA-Freunden an, die im Notfall bereit waren, einander beizuspringen. So dauerte es nicht lange, bis Hans Moser wieder vor der Tür stand - diesmal bekleidet. Ich zog mich in mein Zimmer zurück, wo ich, wenn auch nicht gänzlich ungestört, lesen und schreiben konnte, während meine Frau sich mit ihrem Gast, dem sie einen Aschenbecher hingestellt hatte, in die Küche setzte: Anja, die auch noch Platz auf der Eckbank fand, leistete ihnen Gesellschaft. Durch die geschlossene Tür war zwar nicht zu hören, was sie redeten, wohl aber, was für Musik sie laufen liessen: Willy de Villes CD „Backstreet of Desire“.
Also las und schrieb ich, als wäre nichts geschehen. Ich konnte mich darauf verlassen, dass unsere Tochter das Paar nicht aus den Augen lassen würde; mit dreizehn Jahren möchte man nichts verpassen. Manchmal lachte Anja, die sich über das Verhalten ihrer Mutter wunderte; manchmal rief sie sogar: „Aber, Mama!“ Was immer Marianne tat, was war dies schon neben dem, was die Frau in dem Roman tat, den ich gerade las („Lady Chatterley“). Früher oder später würde sie Hans Moser noch zum Tanz auffordern, was vermutlich auch nicht sein Ding war. Ich liess mich so oder so nicht stören. Ich hatte mich von ihr oft genug in eine Rolle drängen lassen, in der ich mir nicht gefiel. Ich wollte mir morgen von niemandem etwas vorwerfen lassen, weder von Marianne noch von ihren AA-Kollegen. Würde sie so weitertrinken, dem Gin immer weniger Tonic beimengend, so würde sie keine Ausdauer haben, nicht einmal bis zum Abendessen. Dann wäre es noch früh genug für mich, ihren Besucher zu verabschieden.
Und genauso kam es denn auch. Gegen Abend, als ich allmählich Hunger verspürte, stand ich auf und ging in die Küche, in der es schon beinahe dunkel war. Durch die Rauchschwaden, die über dem Tisch hingen, sah ich, dass Marianne bereits den Kopf hängen liess. „So“, sagte ich, „s’isch langsam Zyt!“ Hans erhob sich und streifte seine Jacke von der Stuhllehne, an die er sie gehängt hatte. Die Schnapsflasche war erst zu zwei Dritteln leer. Ich ergriff sie, indem ich, mehr zu mir selber, sagte: „Den könnte ich noch für meine nächste Dienstnacht gebrauchen.“ Wenn Hans schon seine Finger nicht von meiner Frau hatte lassen können, so hatte er sich wenigstens von der Flasche zurückgehalten. Das musste ich ihm insofern, als er ein Trinker war, hoch anrechnen. Im nächsten Augenblick war er draussen.
Anja, die den CD-Player ausgeschaltet hatte, half mir noch, ihre Mutter zu Bett zu bringen. Sie schien ziemlich aufgeregt zu sein, wusste sie doch auch nicht, wie es nun mit uns weitergehen sollte. Immerhin hatte sie mit ihren eigenen Augen gesehen, wie es zwischen Marianne und diesem Mann zu einem Zungenkuss gekommen war. Was hätte ich ihr sagen sollen? Solche Dinge geschehen eben, wenn eine Frau zu viel getrunken hat? Es blieb jedoch bei diesem einen Vorfall, der - nicht zuletzt deshalb, weil ich nicht auf ihn reagierte - keinerlei Folgen nach sich zog. Marianne bat mich, als sie am Morgen früh erwachte, um ein Seresta; ich verweigerte es ihr nicht. Und von da an hat sie - seither sind nun dreissig Jahre vergangen - keinen Tropfen Alkohol mehr angerührt.
Der einzige, der diesem Vorfall eine besondere Bedeutung beimass, war Hans Moser, der die Küsse, die ihm gegeben worden waren, missverstanden haben mochte. Jedenfalls kam er etliche Jahre später, als er nach einer neuerlichen Entziehungskur wieder in der Reha war, unerwartet darauf zu sprechen. Es war kurz nach dem Besuch, den er von seinen ehemaligen AA-Freunden, zu denen auch Marianne gehörte, im Rehabilitationszentrum bekommen hatte, wo er auf seinem Beruf in der Schreinerei arbeiten konnte. Nach diesem Besuch, der ihm Auftrieb gegeben haben musste, schrieb er Marianne einen Brief, in dem er auf jenen Vorfall, der sich zwischen ihnen ereignet hatte, anspielte. Daraus war zu entnehmen, dass sie in seinem Leben eine weit grössere Rolle spielte als er in ihrem, obwohl er sich in der Reha mit einer Schreinerin zusammengetan hatte. Ausserdem gab es da noch eine Psychotherapeutin, die ihm einen Floh in den Kopf gesetzt hatte: Sie meinte, dass er nach all dem, was er erlebt hätte, unbedingt ein Buch über sein Leben schreiben müsse, und anerbot sich, ihm dabei zu helfen. In diesem Buch werde alles zur Sprache kommen, was zwischen Marianne und ihm gewesen sei… Es klang so, als wäre sie die Frau seines Lebens gewesen. Umso bedauerlicher erschien es ihm, dass sie an einen Mann wie mich gebunden war - an eine solche „Witzfigur“. Ob sie nicht etwas Besseres verdient hätte?
Marianne, die inzwischen wusste, was sie an mir hatte, wies Hans, nachdem er sie auch mit Telefonanrufen belästigt hatte, in seine Schranken, indem sie ihm schriftlich darlegte, wie es in Wirklichkeit aussah. Sie sagte in ihrem Brief nichts davon, dass ihr „halbschlauer Mann“ schon ein paarmal ein Buch geschrieben hatte, und zwar ohne jegliche Hilfe. Das hätte ihm sonst noch den Rest gegeben.
Was hat das ausgemergelte Männchen, in dem ich ihn nach dreissig Jahren wiedererkannte, wohl gedacht, als wir uns in Oerlikon der Bank, auf der er sass, näherten? Er wunderte sich wahrscheinlich, dass wir noch beisammen waren, wo unsere Ehe doch so schlecht gewesen war. Oder war sie am Ende gar nicht so schlecht gewesen?
Marianne und Anja haben ihn in der Annahme, dass es sich um einen Penner handelte, nicht einmal angeschaut.
3. Dezember 2022
Interessanter Text. Mal ganz anders als sonst erzählt, eher aus der sachlich distanzierten Perspektive als emotional aufgeladen..
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