Wie ein heulender Nordwind, fährt die Gegenwart über die Blüthen unsers Geistes und versengt sie im Entstehen.
[Friedrich Hölderlin »Hyperion oder der Eremit in Griechenland«, I. Band, Erstes Buch, Hyperion an Bellarmin IV (1797)]
Karyatiden
Tragende Säulen wachsen aus deiner Wirbelsäule
die ganze Gebäudedecke auf deiner Schädeldecke
Tonnenschwere Tonnengewölbe auf zartem Schulterblatt
Keine Pupillen, um den milchigen Himmel zu spiegeln
blutleer gehen die kammerlosen Herzschläge ins Leere
Schwesternchor aus Stein, singender Torso und Rumpf
Verunsterblichte Sterbliche in Skulpturenglätte,
seelenlos beseelte Tempelheiligkeit,
schürt weiter das Feuer, Vestalinnen aus Stein.
Heiß vergossenes Herzblut, geronnen zu Alabaster,
weichfaltenes Tuchgewand, erstarrt zu Marmor,
Infusionen aus Träumen und Tränen, immer alt und neu.
nicht ersichtlich
Unversehens fiel dein Blick auf mich
nur langsam kam ich da wieder raus
ruhte so lange auf mir
dass ich einbrach
mir das Schweigen brach
spöttische Gesichtszüge mich überrollten
Fallengelassene Bemerkungen
wie Laubblätter, die auf dem Strom treiben
Richtung Vergessen
in stromschneller Verdrängung
elektrifiziert in wilden Gewässern
unlöschbar brennend im Ozean
flöße raustimmig verquere Silben
gesprächsflussabwärts
Falle sehenden Auges in die
Fußangeln deiner Wimpern
die nicht weinen wollen
zwinkerst mich aus deinem Blickfeld
ein ausgeriebener Fremdkörper:
Liebesmacht, blind.
[»Αρχαίος II«, Lorena Kirk-Giannoulis]
City
Sonne rutscht über Glasschrägen,
blendet sich blind im Stahl;
horizontale Grasgräber,
an die nur vereinzelte Halme
als Unkraut verfemt
ritzenweise ankämpft.
Die asphaltene Schorfkruste
strapaziert von tonnenschwerem Verkehr
Infarkt in der Rush-Hour
eilig rast alles in den Stillstand;
und drückend, bedrückend
legt sich auf Lunge
zu Smog verbackene Peripheriefrischluft
glockenglasig über die Stadt.
Lebendig begrabene Hochhäuser
wolkenkratzen verzweifelt und stumm
am aufwallenden Dunstglockenwall.
Zufluchtssuchende Paare im Park
zwischen Frozen Yoghurt, Joggen und Yoga
verschmelzen mit dem Holzgerippe
einer initialengegerbten Bank.
Alte Bäume mitten im Großstadtdschungel,
braungeborkte Grünhoffnung
im kunstrasengrellen Plastinat,
umarmen wipfelwiegend
warmzartsuchendes Menschengetier.
Herbststraße
Kalt.
Schwarze Vogelsilhouetten
vor weißergrauten Wolkenleibern
leergelebtes Geäst
buntblättriger Abschied
sanft rauschen Autos
ein Hämmern nebenan
Fenstergerahmter Bleihimmel
und doch wärmt mich
in dieser zeitlosen Zeit
dein Bild.
[Aus: Boris Greff »Augenblicke und Wimpernschläge«, Treibgut Verlag, 2021; Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags]
Nachtflug
Unverzichtbar und doch entbehrlich;
federleicht und doch beschwerlich;
ein segensreicher Fluch;
ein seitenloses Buch:
wie mich der Alltag langsam wiederkäut,
ausspeit, auf tausend Wegen verstreut;
wär’ gern ein kühler Kiesel im Bett,
der rochierende König auf dem Schachbrett:
Ich müsst’ das hohe Gras mal wieder gründlich striegeln,
die kleine Wonne im Gefühl mal wieder entriegeln;
wie im Hula-Hoop kreisen die Planeten
kaum habe ich ihren Orbit betreten.
Du trägst an Deinem Finger Saturns hellsten Ring;
ich hielt ihn an die Sonne, bis er Feuer fing.
Beinahe ebenerdig öffnet sich nun der Sterne Pracht;
wir greifen den Kometenschweif und fliegen durch die Nacht.
[Aus: Boris Greff »Aus meinen Gedanken gerissen«, Athena Verlag, 2023; Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags]
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