[»Caught
in the Eternal Cycle of Life and Death«,
Lorena Kirk-Giannoulis (2022)]
Life
is pleasant. Death is peaceful. It's the transition that's
troublesome.
[Isaac
Asimov]
Krebsen
Man
unterstellt mir Boshaftigkeit, Hinterhältigkeit. Unwissende halten
mich für ungerecht. Greise für gnädig. Eltern für grausam und
Kinder für gemein. Nichts davon ist richtig – und doch alles wahr.
Seit der Zusammenführung aller Intensivstationen der Region ist
meine Arbeit stressiger geworden. So erlaube ich mir dann und wann
eine Auszeit auf dem „Hügel“ – wie man die Krebsklinik nennt.
Am Botanischen Garten. Tolle Aussicht, sogar im November. Beste
Gegend. Nicht nur vom Preis her. Auch das menschliche Material –
sozusagen. Hier erhole ich mich aber nur. Habe nichts zu verrichten –
Freizeit.
In
der Onkologie wird schon lange nicht mehr gestorben. Das letzte Mal
vor zwei Jahren, ein Chirurg. Herzinfarkt.
Der
gewöhnliche Krebstod wurde ausgegliedert. Die meisten Patienten
gehen austherapiert nach Hause. Oder in ein Hospiz. Sieht besser aus
und ist wirtschaftlicher.
Hier
denken alle positiv. Ich beobachte sie in aller Ruhe. Hier wissen
alle von meiner Anwesenheit. Manche können mich sehen. Einige können
mir in die Augen schauen und die einfache Wahrheit ertragen, die ich
ihnen eröffne: Es geht nur darum, welches Datum in der Todesanzeige
stehen wird. Es ist wie eine Terminvereinbarung: Nächste Woche? In
fünf Jahren? In dreißig Jahren? Hier versteht jeder die Bedeutung,
das Gewicht der Entscheidung. Keine Spielchen mehr. Dies ist kein Ort
für leichtfertige Zusagen, leere Versprechen. Wer hier liegt,
überlegt sich genau, was er will.
Wie
Nicks Frau, die nach ihrem zweiten Rezidiv gleich aus dem
Morphium-Schlummern aufwachen wird. Sie war auch vor fünf Jahren,
bevor der Tumor entdeckt wurde, ein zierliches aber starkes
Persönchen. Sie wird mich sehen und erkennen. Ich freue mich schon
auf das Gespräch.
Krebs
ist keine Krankheit. Im Gegenteil. Nicks Frau versucht verzweifelt,
wenigstens in Teilen erhalten zu bleiben: ein Überlebenskampf auf
Zellebene. Wenn das Ganze schon verloren geht. Wenn die Organe
ersticken. Um seine Haut zu retten, vereinfacht sich der Körper
energiesparend. Eine clevere Strategie. Ich muss es mir jedes Mal
ansehen und bin bereit, meinen Job zu tun.
Bei
Nicks Frau sind es die Zellen ihres linken Eierstocks. Halt! –, sie
öffnet langsam die Augen. Benommen und geschwächt, braucht sie
einige Minuten, bis sie begreift, was los ist. So viel Zeit muss sein
– sie soll bei Sinnen sein, wenn wir die ernsten Dinge besprechen,
die sie schon lange nicht mehr auf dem Schirm hat, obwohl sie von
ihnen erwürgt wird.
Menschen
verwechseln Verdrängen mit Vergessen. Wenn man vergisst, spart man
Energie – die Sache kommt unter Verschluss. Es kostet was, sie
wieder hervor zu holen; also lässt man es sein. Feng Shui für die
Seele. Gesund.
Verdrängen
ist wie Angst und Schmerz in Schubladen verstecken, die getarnt
gedrückt werden müssen, damit der ganze Dreck nicht herausströmt
und einen normalen Alltag unmöglich macht. Viel Einsatz, um die
Lügen, die nötigen Trugbilder aufrecht zu halten.
Es
kostet Kraft, die unsichtbare Hand zu lösen, die über Jahre und
Jahrzehnte die Schubladen des Unbewussten geschlossen hält. Krank.
Wehe,
die Hand ermüdet. Oder bricht.
Mit
Nicks Frau wird es nicht einfach werden. Zu viele Schubladen. Wir
werden weit zurückgehen und tief bohren müssen, denn bei ihr
beginnt das Krebsleben schon bevor sie entbunden wird.
Im
Alkohol- und Nikotinbauch ihrer Mutter. Beim dilettantischen Versuch,
den unerwünschten, gehassten Wurm in ihrem Bauch abzutreiben.
Ich
beuge mich über sie: „Plötzlich sind sie alle richtig lieb –
nicht wahr?“, flüstere ich ihr ins Ohr.
Panisch
reibt sie sich die Augen. So reagieren sie manchmal, wenn sie mich
sehen. Aber es ist ein gutes Zeichen: ein Lebenszeichen.
„Das
ist keine Liebe! Er hat nur Schiss! Es dämmert ihm langsam: wenn du
weg bist, dann muss er die Verantwortung für die Kinder tragen. Kann
sich nicht mehr einfach aufs Motorrad schwingen und mit den Kumpels
ins weiberfreie Lager verpissen. Saufen. Zocken. Ficken. An
Wochenenden. Manchmal auch sonst.“ Ich muss schnell auf den Punkt
kommen – Diplomatie liegt mir nicht.
Ihre
Empörung gefällt mir: Ihr vergilbter Teint – durch die
Lebermetastasen verursacht – erfährt eine winzige Rotverschiebung.
Sie spürt die Härte der Worte und kämpft gegen ihre Wahrheit.
Kämpft!
Nick,
die Kinder, die sie so liebevoll belagern, wollen ihre Wünsche jetzt
aus kleinsten Regungen lesen: möchtest du ein Eis, Mama, oder soll
ich dir ein Buch, eine Zeitung bringen? Entscheide! Jetzt!
Mutter
hat Kohlrouladen geschickt. Sie sind ihr besonders gut gelungen, mit
viel Liebe zubereitet. Extra für dich. Weil du sie so gerne hast.
Möchtest du jetzt essen? Oder lieber später? Sind sie warm genug?
Ich kann sie in der Küche aufwärmen lassen – soll ich? Oder
möchtest du doch lieber später essen? Jetzt vielleicht einen
Joghurt? Oder lieber nur Obst? Ich habe auch frische Datteln
mitgebracht. Vom Türken. Sollen sehr gesund sein. Möchtest du?
Oder
doch lieber was Richtiges? Entscheide! Jetzt!
Jetzt,
da ihre Energie kaum noch zum Atmen reicht, und sie befürchten muss,
dass es jetzt so weit sein könnte. Dass es vielleicht diesmal nicht
mehr gut ausgehen wird. Jetzt erstickt sie in Aufmerksamkeit und
Zuwendung.
Es
ist keine Zärtlichkeit, keine liebevolle Berührung. Panisches
Grapschen, aggressives Schnappen – Festhalten, damit sie bleibt.
Egoistisches Zerren und Zupfen. Klammern, damit sie bleibt, solange
sie gebraucht wird. Für Liebe und Sex schon lange nicht mehr. Für
das Management und Betrieb im Haus und Garten.
Eine
sehr nette, harmonische Familie, würde jeder sagen, der sie kennt.
„Halt'
dir die Kinder vom Leib – das ist keine Liebe!
Es
ist nur schlechtes Gewissen: hätten wir der Mama vielleicht doch im
Haushalt helfen, ihr vielleicht manchen Kummer ersparen sollen,
vielleicht Mal die U-Bahn genommen, statt Jahre lang, manchmal drei
Mal am Tag, die Taxi-Fahrerin Mama bemüht – auch um drei Uhr
nachts; mal Oma sagen sollen, dass sie Mama in Ruhe lassen und nicht
dauernd kontrollieren solle; dass Mama, keine Versagerin sei, die
nichts zustande bringt.
Dass
sie nicht von Omas Geld, in Omas Haus lebte, sondern eine liebe Mama
sei. Dass Mama sehr wohl kochen könnte, wenn sie nur dürfte.“
Sie
versucht mich anzuschreien, zu widersprechen – schafft es aber
nicht. Zu schwach. Aber es liegt nicht am Kraftmangel. Ich erkenne es
am Glanz ihrer Augen:
„Wie
heißt du?“, sie schaut mich dabei milde an und kratzt sich wund.
Wenn jeder Quadratzentimeter Haut juckt, ist das die Hölle. Es sind
die Gifte – innerlich und äußerlich.
Eine
bildhübsche Krankenschwester kommt herein, um die Infusion zu
prüfen. Adrett, seitdem das Klinikum eine GmbH ist, lächelt sie
freundlich:
„Nicht
weinen“, sagt sie warm und berührt sanft die Schulter der
Patientin „das wird schon!“ –, sie spürt, dass ich da bin,
verdrängt es aber.
Nicks
Frau nickt, wischt sich die Tränen, und schüttelt den Kopf, als die
Schwester beim Hinausgehen fragt, ob sie noch einen Wunsch hätte.
„In
L.A. nennt man mich Joe Black“, antworte ich, „Der Schwarze Sepp,
und du hast den Schwarzen Peter ...“, ich lache über mein
Wortspiel.
Ihre
Tränen zeigen: sie lässt die Wahrheit zu, vor der sie sich immer
verkrochen hatte. Geflüchtet in geschäftiges Machen-und-Tun und
Lächeln dazu und in Pilcher-Filme, in Volksmusik und in
Schönfärberei. Und leugnen, lügen und heucheln, bis es nicht mehr
nötig war, weil es von selbst geschah. Eine zweite Natur wurde –
und eine Krankheit.
Eine
Bedingung für ein Krebsleben. Nicht der Grund.
Das
Abheben in Traumwünsche, für deren unerreichbar gleichen Abstand,
sie, die Umstände und ihre Lieben gesorgt haben – unbewusst, aber
tatkräftig – bis sie irgendwann zum Traum-vom-Traum mutierten, um
später noch wie Floskeln geplappert zu werden, und heute nur noch
die verblasste Erinnerung von etwas zu sein, was einmal ein
Wunschtraum, vielleicht sogar Wirklichkeit hätte sein können. Es
war komfortabel – bösartig bequem. Was es aber genau war ...
„Ihr
seid alle krank, führt ein asymmetrisches Leben: Sie sind Räuber!
Nehmen ohne zurückzugeben! Natürlich aus freien Stücken. Aus
FREIEN! Dass ich nicht lache! Das ist die größte Verarschung. Böses
Kind! Du hast den schlimmsten Verrat begangen: dein Selbst verraten.
Ja – heule nur!“
Sie
wird durch die wuchtigen, krampfartigen Erschütterungen ihres
ausgemergelten Körpers im Bett hin- und hergeworfen. Nicks Frau
wiegt fast nichts mehr. Ich jedenfalls bin bei ihr und bereit.
„Du
bist der Tod! Hier bin ich! Halte dein Versprechen und hole mich!
Erlöse mich! Aber quäl' mich nicht!“, brüllt sie.
Ich
muss innerlich lachen.
Bei
Krebs muss auch der Tod paradox denken: der Patient meint oft das
Gegenteil von dem, was er sagt.
„Ich
quäle dich nicht. Die Erkenntnis deiner Wahrheit quält dich. Das
Fühlen der Wahrheit.
Wenn
es gut geht, dann wirst du sogar wütend sein. Glaub' es mir: Ich
kann dich nicht täuschen – der Tod lügt nie.“
Sie
hat schon lange nicht mehr aus vollem Herzen geweint: ihr Kinn
verkrampft sich. Die Kraft der stärksten Muskeln, die ein Mensch
besitzt, packt gnadenlos zu. Ihre Zunge blockiert. Sie würgt –
übergeben kann sie sich aber nicht. Es ist süß, wie ihre dünnen
Ärmchen in die Luft schlagen, wie ein Boxer ohne Gegner, bekämpft
sie ihr eigenes Schattendasein.
Ich
habe sie richtig eingeschätzt: sie kämpft. Aber sie wird Zeit
brauchen, bis sie sich davon erholt. Bis sie ihre Wahrheit ertragen
kann.
„Hallo!“,
begrüßt mich Nicks Frau, jetzt, sechs Monate später, bei ihrer
letzten Chemo: „Komm herein! Ich erkenne dich wieder!“ Sie
lächelt.
„Oh
ja, die Therapie greift ...“, ich beobachte einige kleine
Veränderungen an ihr.
„Bin
dir wieder einmal von der Schippe gesprungen!“, strahlt sie.
Es
ist nicht nur so dahingesagt. Ich merke es natürlich sofort. Wer,
wenn nicht ich.
„Warst
du oft beim Pferd?“, ich sauge ihre Antwort auf: Sie nickt.
„Du
hattest Recht. Mit allem, was du über Nick und den Kindern gesagt
hattest. Ich habe es verstanden. Ich denke wieder positiv. Ich werde
leben!!
„Werde
leben – wenn ich das schon höre! Du hast nichts begriffen! Du
lebst jetzt, und wirst sterben!“
„Doch!
Ich werde alles verändern.“
„Langweile
mich nicht mit diesem Positiv-Denken-Gequatsche! Die Friedhöfe sind
voll von Positiv-Denkern – ich habe sie alle dahin bringen müssen.
Und Nick …“
„Oh,
das ist jetzt alles anders. Wir haben viel miteinander gesprochen und
sind uns dabei sehr nahegekommen. So gut war unser Verhältnis noch
nie. Offen. Vertrauensvoll. Klar – es wird nicht mehr die große
Liebe sein. Aber wir werden echte Partner. Keine Lügen, kein
Heucheln mehr.“
„Und
die Kinder? Haben sie sich auch geändert?“
„Sie
brauchen noch ihre Mutter – das ist doch normal. Ich werde es ihnen
schonend beibringen, wenn sie so weit sind. Wichtig ist sowieso, dass
ich es kapiert habe. Dass ich mein Leben ändern muss! Ändern
werde!“
„Du
täuschst dich – es ist immer noch deine alte Masche. Du glaubst
verstanden zu haben, du denkst, du wirst es schon richten, du wirst
…! Du, du und wieder du! Eigentlich warst du immer schon ein
Kontrollfreak! Aber ein Blatt kann den kranken Baum nicht heilen.“
„Ich
lasse mich von dir nicht entmutigen – nicht jetzt! Du kriegst mich
nicht! Nicht bevor meine Zeit, meine mir von Gott gegebene Zeit
gekommen ist!“
„Ich
muss lachen!“, ich muss wirklich lachen, wenn meine Kandidaten mit
Gott kommen: „Lass bitte Gott aus dem Spiel! Das hier ist eine
Sache zwischen uns – zwischen dir und mir.“
Sie
weint.
Nicht
mehr so gequält.
Das
ist gut.
„Die
Blätter müssen im Herbst vom Baum fallen, damit sie in einem neuen
Frühling wieder knospen können. Der Stamm muss – von seiner Last
befreit – sich erholen können. Die Wurzeln müssen genesen. Nick,
die Kinder – sie sind nur Blätter einer Kriechpflanze auf deinem
darbenden Stamm. Parasiten. Und die Wurzeln ... Erkenne es: Du
gehörst immer noch mir!“
„Das
verstehe ich nicht. Seit wann bemüht der Tod Bilder, die kein Mensch
versteht?“
„Nick
und die Kinder – sind nicht der Grund!“
„Was
bitte schön ist der Grund? Raus mit der Sprache!“
Sie
gefällt mir. Ihre Kraft, ihre Energie fließt noch. Es liegt an
ihrem Pferd! Wenn es um Angst geht, sind Pferde Experten – ihre
Rettung?
Wenn
sie wieder reiten wird …
„Du
kennst den Grund – genauer gesagt: du spürst den Grund. Es ist wie
mit der Luft, die du atmest: unbewusst immer da. Erst wenn sie knapp
wird, wirst du ihr gewahr. Nur: deine Luft ist vergiftet. Sie heißt
MUTTER.
Deine
MUTTER, die seit drei Jahren kein Wort mehr spricht, weil du – ihre
böse Doktor-Tochter –, die sie von ihrer Depression nicht heilen
will, bestraft werden muss.
GroßMUTTERs
böser Blick, ihre Stimme: Da darfst du nicht anfassen! Böser
Finger!
Der
Teufel wird dich holen!
Deine
SchwiegerMUTTER, die im Laufe der Jahre deine allgegenwärtige
ÜberMUTTER geworden ist.
Wenn
dich jemand besucht, schaust du unwillkürlich durch die Decke des
Wohnzimmers, als müsstest du dich vergewissern, dass sie in ihrem
Reich nicht gestört wird. Redest leise und bittest den Besuch,
ebenfalls leise zu sein, Rücksicht auf die alte Frau zu nehmen. Sie
könnte schlafen. Etwas Wichtiges erledigen. Kochen. Vielleicht
schreiben.
Aber
die schlimmste, die gemeinste, die brutalste MUTTER, das bist du! Ein
Tyrann. Wenn dich jemand lobt, dann denkst du: Wenn ihr wüsstet, wie
schwach, gemein ich bin! Eine böse Mutter. Nicks Frau: Nichts.
Eigentlich
wolltest du keine Kinder haben. Du hattest doch so viel vor. So viele
Begabungen. So viele Möglichkeiten. Energie im Überfluss.
Und
dann scheitert deine erste Ehe. Es ist meine Schuld, sagtest du, denn
bei deiner Überlegenheit und deinem Potenzial konnte es nur einen
Schuldigen geben: dich.
Dein
Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein hatten aber Schaden genommen.
Ein Baustein deiner Katastrophe wurde die Krise allerdings erst durch
deine Mutter. Durch ihre Enttäuschung. Sie wollte immer Enkelkinder
– von ihrem lieben Schwiegersohn, den sie regelrecht angehimmelt
hatte.
In
den Jahren eurer Ehe hatte sie ihn hundertmal öfter in den Arm
genommen, als dich in deinem ganzen Leben. Sie hat dich nie gewollt –
das weißt du! Sie sah in dir den Grund für das Misslingen ihres
eigenen Lebens.
Das
hat sie dir zwar nie gesagt, dich aber jeden Tag, jede Minute spüren
lassen und dir nie verziehen.“
Das
saß.
Sie
zieht die Decke über den Kopf.
Ich
glaube, sie schämt sich. Das ist gut. In ein paar Stunden komme ich
wieder. So lange überlasse ich sie ihren Tränen. Damit sie ihr und
sich selbst verzeihen kann. Dass ich dabei mein Tagesgeschäft nicht
vernachlässigte, ist doch klar. Auf die Krebsstation komme ich ja
nur, um mich zu erholen. Und um mir über den Sinn meines Seins immer
aufs Neue bewusst zu werden.
Wenn
ich am Abend vor ihrer Entlassung das Zimmer betrete, sitzt Nicks
Frau nackt auf dem Boden neben ihrem Bett. Sie weint nicht –
lächelt, denn sie erkennt mich sofort. Winkt mich zu sich.
„Man
hatte damals festgestellt, dass ich keine Kinder haben kann, es sei
denn … Eine Hormontherapie, um meine zweite Ehe zu retten. Den
Gedanken, wieder zu scheitern und alleine zu sein, konnte ich nicht
ertragen. Ich konnte doch meine Mutter nicht wieder enttäuschen. Wie
sollte sie sonst eine Chance bekommen, mich endlich lieb zu haben?
Mein Mann wollte auch unbedingt Kinder. Er hätte das Recht gehabt,
mich zu verlassen. Ich war unfruchtbar, unfähig eine normale Ehefrau
zu sein. Ich hätte alles getan, um nicht alleine zu bleiben! Tod, du
kennst keine Angst! Du kannst nicht fühlen, was ich all die Jahre
durchgemacht habe. Du hast es leicht. Du bist leicht. Wieso habe ich
dich nie gesucht?
Als
ich die Zwillinge bekam – das war Glück pur. Mein Sieg: Ich kann,
wenn ich will! Es gibt immer einen Weg.“
Sie
redet leise, farblos – wie Novemberwolken, die, um nicht aufgelöst
zu werden, das Wasser für sich behalten.
Was
ich sehe, gefällt mir gar nicht. Es sieht nach Arbeit aus. „Ein
Pyrrhussieg, Liebste! Auf dem falschen Gleis bloß nicht
beschleunigen! Der Crash kommt schneller und der Knall ist lauter.“
„Das
stimmt! Dann wollte ich die beste aller Mütter werden. Und auch noch
alle Menschen retten. Mal eben eine Heilpraktikerausbildung
absolviert, obwohl ich schon Ärztin war. Durfte aber nie
praktizieren – mein Mann und meine Schwiegermutter hatten es mir
untersagt. Sie hätten es nicht ertragen, wenn ich gearbeitet hätte.
Das Gerede der Leute würde mich umbringen: Deine Schwiegertochter
ist eine Rabenmutter, sie lässt ihre Kinder im Stich! Habt ihr es
wirklich nötig? So weit ist es schon mit euch gekommen?
Wie
viel Geld wir haben, wie viel mein guter Mann in seiner
leitenden Position verdient – das interessierte niemanden, nicht
einmal mich. Ich hatte mein Haushaltsgeld, mein Taschengeld – und
wenn ich mehr brauchte, musste ich es nur sagen. Ich musste nur
darum bitten. In meinem ganzen Leben habe ich noch nie Geld gehabt –
mein wirklich eigenes Geld.“
Auf
dem Stuhl neben ihrem Bett liegt ein angebissener Apfel. Sie greift
danach, kratzt mit dem Fingernagel die braunen Flecken ab und beißt
kräftig in die Frucht. Ein gutes Zeichen: Lebenszeichen.
„Es
gibt noch mehr Gründe. Aber sie liegen viel tiefer. Um sie zu
erkunden, musst du von hier weg!“, betone ich langsam, „Es ist
deine einzige, deine letzte Chance – keine Garantie: Du musst das
Gleis wechseln. Frage jetzt nicht, welches das Richtige ist. Jedes
ist besser. Warte nicht auf eine Weiche. Warte nicht auf ein Zeichen.
Spring in ein ganz anderes Leben! Jetzt! Sollte es schief gehen, sei
gewiss: ich werde da sein.“
Sie
lächelt: „Ich schaffe das nicht. Mir fehlt die Kraft. Der Mut.“
„Das
war gut“, lache ich, denn bei Krebsmenschen muss man paradox
denken: sie sagen oft das Gegenteil von dem, was sie meinen. „Um
die Sache zu vereinfachen – darum bin ich hier. Um dir das zu
sagen: Es gibt nur dich und mich. Es sieht folgendermaßen aus: Gehe
ich vor dir, dann nehme ich dich mit, und wir verbringen deine
letzten Stunden zusammen mit deinen Lieben und deinem
Nierenversagen."
Mühsam,
sich an dem Stuhl festhaltend steht Nicks Frau auf. Ihr Kreislauf
lässt sie fast im Stich. Wankend schleppt sie sich zum Fenster und
öffnet es – atmet die kühle Luft, die aus dem benachbarten
Botanischen Garten mit Sauerstoff angereichert herüber weht.
„Kehrst
du mir den Rücken zu und verlässt dieses Zimmer vor mir, weg von
den Kindern und von Muttern, von Nick – wenn es sein muss, nackt
und auf allen Vieren –, dann folge ich dir geduldig auf dem langen
Weg in die freie Zeit. Immer mit gebührendem Abstand zum Leben.“