["The Tyranny of Money", Julian T D Gärtner (2010)]
»Ach
Gott,« dachte er, »was für einen anstrengenden Beruf habe ich
gewählt! Tag aus, Tag ein auf der Reise. Die geschäftlichen
Aufregungen sind viel größer, als im eigentlichen Geschäft zu
Hause, und außerdem ist mir noch diese Plage des Reisens auferlegt,
die Sorgen um die Zuganschlüsse, das unregelmäßige, schlechte
Essen, ein immer wechselnder, nie andauernder, nie herzlich werdender
menschlicher Verkehr. Der Teufel soll das alles holen!« [Franz
Kafka, »Die
Verwandlung«
(1912)]
["Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache", Friedrich Kluge]
Wunderbare,
gänzlich widerspruchsvolle Vorstellung, daß einer, der zum Beispiel
um drei Uhr in der Nacht gestorben ist, gleich darauf, etwa in der
Morgendämmerung, in ein höheres Leben eingeht. Welche
Unvereinbarkeit liegt zwischen dem sichtbar Menschlichen und allem
andern! Wie folgt aus einem Geheimnis immer ein größeres! Im ersten
Augenblick geht dem menschlichen Rechner der Atem aus. Eigentlich
müßte man sich fürchten, aus dem Haus zu treten. [Franz Kafka,
»Tagebücher«
(1913)]
["Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache", Friedrich Kluge]
Die Eltern, die Dankbarkeit von ihren Kindern erwarten (es gibt sogar solche, die sie fordern), sind wie Wucherer, sie riskieren gern das Kapital, wenn sie nur die Zinsen bekommen. [Franz Kafka, »Tagebücher« (1914)]
2
Lieber
Gregor, ich möchte dich auf die erste kleine Geschichte des
Mönchs Brahm aufmerksam machen, die er in seinem Buch Die
Kuh, die weinte an den Anfang gestellt hat. Solltest du sie
bereits gelesen haben, so muss ich dich fragen, willst Du wirklich
diese schöne Mauer mit dem stabilen Fundament einreißen, nur weil
zwei Steine im Verbund aus der Reihe getanzt sind, weil sie beim
Vermauern sich schräg gelagert haben und das Gesamtbild stören,
aber 998 Steine einwandfrei vermauert sind? Diese Mauer wird sich
nie mehr so mauern lassen wie sie einmal war. Willst du, dass dein
Herz so belastet wird? Bitte höre nicht auf Stimmen, die dich
zum Abriss ermuntern.
Gestern
zeigte uns dein Vater die typischen blauen Flecken auf seinem Körper,
die vermutlich eine Leukämie andeuten! Er sieht sehr schlecht und
krank aus. Deine Mutter ist von Schmerzen gezeichnet. Was hat sie
denn in Deinen Augen verbrochen?
Gregor,
wer sonst als dein Onkel Georg schreibt dir das. Nosce te ipsum.
Im Verzeihen liegt die Kraft!
Lieber
Georg,
bitte glaube mir, dass es mir fern liegt irgendeine
symbolische Mauer zum Einstürzen zu bringen. Seit etwa sechzig Tagen
beschäftigt mich das Szenario, dessen Augen- und Ohrenzeuge ich
geworden bin, und ich hülle mich nur deswegen in Schweigen, weil ich
kein Öl ins Feuer gießen möchte. Deine Schwester hat mir zwei Mal
geschrieben, einmal an Ottlas Adresse, was ich für ausgesprochen
unangemessen halte. In dem ersten Schreiben ist von der Hoffnung die
Rede, dass ich mit all dem klar käme, von "Einigung",
"Vergessen" und von all dem, was meine Eltern für mich
getan hätten. Erstmals lese ich nunmehr das große Wort "Verzeihen",
das ich zugegebenermaßen bisher vermisst habe.
Tatsächlich habe
ich bereits einen langen Brief verfasst, doch kreisen meine Gedanken
immer wieder um die unausweichliche Erkenntnis, dass man mich mit den
Steinen aus dieser "schöne[n] Mauer" bewirft - und das
seit vielen, vielen Jahren. Die Worte des Mönchs sind aus anderen
Beobachtungen hervorgegangen. Psychologisch gelingt es der Mutter
"einwandfrei" die Vorzeichen zu verkehren: "Ihr",
also meine Schwester und ich, "habt eurem Vater das Neujahrsfest
ruiniert!" "Du", also ich, "kennst ja solche
Wutanfälle von dir selbst", schreibt meine Mutter. Also ist es
mit wenigen Wendungen klar, dass die Last nun meinerseits zu
schultern ist. Mir wird nun die besondere Bürde auferlegt, die
Harmonie wiederherzustellen, die es, ich erinnere mich nicht mehr
genau seit wann, längst nicht mehr gab. Waren es die Lügen meiner
Mutter, von denen ich schon in einem meiner letzten Briefe schrieb?
War es der Hass meines Vaters auf seine eigenen Eltern, auf seine
Schwiegermutter, der Dissonanzen in mir heranzüchtete? War es die
Enttäuschung des Vaters über die Tatsache, dass ich seinen
Erwartungen nicht entsprach? Waren es die Grobschlächtigkeiten
meiner Schwester, etwa ihre Gesten und ihr Verhalten zum Zeitpunkt
der Ankunft Minzes in Deutschland vor rund zwanzig Jahren? War es die
Art meiner Mutter uns, also ihren Kindern, meiner Frau, ihrer Mutter
sowie ihrem Mann, immer wieder feine Verletzungen zuzufügen, die sie
dann meist im Handumdrehen zu vertuschen und zu ihren Gunsten
auszulegen in der Lage war? Ist es das unerträgliche Auftreten
meiner Schwester mir gegenüber, das in seiner Impertinenz und
Respektlosigkeit seinesgleichen sucht? Ist es ein Verhältnis von
Gläubigern und Schuldnern, sind es diese Mechanismen der
Schuldzuweisung, die mein Herz seit Kindertagen belasten? Die
Dankbarkeit für einen Zehnmarkschein zu Ostern wird zur moralischen
Pflichtübung? "Weißt du eigentlich", fragten mich meine
Eltern bei einem meiner letzten Besuche im vergangenen Jahr, "dass
du uns sehr viel mehr gekostet hast als deine Schwester?" In mir
wächst nun, wie ein Karzinom, das Bewusstsein der Kostspieligkeit
heran. Die wunderbare Liebe der Erzeuger in Form eines
Kostenrechnungssystems? Der Frage, was unsere Eltern alles für uns
getan haben, würde dementsprechend durchaus auch der Aspekt
zugehören, was sie ihren Kindern angetan haben. Wann ist es dem
Vogel denn gestattet, das Nest, das für uns Menschen schön gemauert
ist, zu verlassen, um eine eigene Familie zu haben? Mir liegt es sehr
fern, das Gemäuer, dem inzwischen gewiss aber bereits viele hundert
Steine fehlen, einzureißen - ich will mich abwenden von dieser
zerrütteten Festung und zumindest versuchen meinen Kindern das Beste
zu geben. Hierfür brauche ich die vollste Aufmerksamkeit,
Verantwortungsbewusstsein und ein großes Herz. Ich möchte nicht,
dass sie in einer Umgebung aufwachsen, in der man mit einer
verhaltensgestörten Tante und ihren Kindern dergestalt konfrontiert
wird, mit ansehen zu müssen, wie diese Person ihren Vater auf
unverschämte Weise attackiert. Ich möchte nicht, dass meine Kinder
hören, wie ihr Opa seinem Sohn den Mund verbietet und ihn sogar
unverhohlen aus seinem Reich verbannt. Ich möchte nicht, dass sich
die Oma zum elften Geburtstag ihrer Enkelin Ottla mit einem
appellativen Schreiben an sie wendet, in dem die Bitte um "Vergessen"
zu einem kategorischen Imperativ wird. Ich möchte nicht, dass Minze
weiterhin in Panik gerät, wenn sie an all die vielen feinen
Verletzungen zurückdenkt, die ich nur in wenigen Andeutungen zu
skizzieren versucht habe. Meine Mutter trat uns allen stets als treue
Gattin und Anwältin ihres Mannes gegenüber, was ich anerkenne und
mitunter bewundere. Schlimmstenfalls kann ein solches Verhalten aber
gewissermaßen zu einem Verbrechen geraten, sobald die eigenen Kinder
involviert sind. Leider war dies allzu oft der Fall, was ich ihr gern
verzeihen möchte, solange man mich indessen nicht fortwährend
nötigt, mich zu einigen, zu vergessen oder grenzenlose Dankbarkeit
für ökonomische Transaktionen aufzubringen. (Selbst das ominöse
Erbe war wiederholt Gegenstand emotionaler Erpressungsversuche!) Wie
nur kann hier etwas aufkeimen, was man gemeinhin L-i-e-b-e nennt?
"Liebe Frau
Mutter", schon
bei der Anrede entsteht Widerwille, wie von Liebe reden?, wie das
sehr Verehrte zum Ausdruck bringen?, gewiss, an Respekt mangelt es
nicht, Rückschau, so genau, wie es unser Erinnerungsapparat eben
gestattet, Rückschau auf Kontrollverluste, Wut, Zorn, Verachtung,
Ekel, die großen Melodramen der Weltliteratur, die ganze uralte
Irrenanstalt eben, den Kampf um ein wenig Wahrhaftigkeit und Würde,
Shakespeares famous
last words,
das Bewusstsein, dass jedes Wort ein weiteres hervorruft, dass die
Zeit, der Redensart zum Trotz, keine Wunden heilt, so dass sie
vernarben, dass Verdrängung zur Wiederkehr des Verdrängten führt,
dass Harmonie nicht durch Beschwichtigungen und Heucheleien
herbeizuführen ist, dass Einigung, Nachgiebigkeit und Versöhnung
bloß weitere Verlogenheiten nach sich ziehen.
Die
Wutausbrüche und Kontrollverluste, ja, die sind mir sehr vertraut,
als Tatsache, dass die Umwelt sich unseren Geboten widersetzt, sie
ignoriert. Das väterliche Gebot gleicht seit Jahrtausenden dem des
Mannes Moses, der seine Gesetzestafeln der unzüchtigen Masse
entgegenhält: "Ehre
deinen Vater und deine Mutter, damit du lange lebst in dem Land, das
der Herr, dein Gott, dir gibt."
Die
Wutausbrüche, ja, auch der spontane Zorn wider die mangelhafte
Wirklichkeit, haben etwas Befreiendes, wie beispielsweise ein
Orgasmus. Indessen bedarf auch der Zorn einer gewissen Kontrolle,
denn der ungezügelte Zorn mag zu nicht wiedergutzumachenden
Verbrechen führen. Die Scham darüber ist hingegen ein rein
psychologisches Abfallprodukt.
Was
aber für eine Einigung? Es kommen entgegengesetzte Faktoren wie
Stolz und Konsequenz ins Spiel. Ist die Familie eine unveränderliche
Gegebenheit, die hinzunehmen ist, ohne hinterfragt werden zu dürfen?
Die Familie ist ganz offensichtlich gleichermaßen ein ökonomischer
Faktor, durch den Wachstum gefördert wird. In welchem Ausmaß wird
die Fähigkeit eines liebenden Umgangs mit der Umgebung unterstützt
und entfaltet? Wie definiert sich ein dergestaltetes
Liebesverhältnis? Welche Rolle spielt das Kalkül, das Aufrechnen
von Investitionen? Can't
buy me love
erkannten die Beatles bereits ein Jahr vor meiner Geburt. "Was
haben wir nicht alles für euch getan?",
ruft die fürsorgliche Stimme der Mutter in die gähnende
Leere der Kindheit
hinein und erwartet unverhohlen die Rendite der Investition, Liebe
auf der Basis eines Verhältnisses von Gläubigern und Schuldnern. In
der Steuererklärung unterscheidet der väterliche Staat zwischen
Kind Eins und Kind Zwei. Der vom Steuerzahler und der Steuerzahlerin
in Kind Eins investierte Kostenaufwand überwiegt den des
nachgeborenen Kindes, woraus sich eine höhere Leistungspflicht von
Kind Eins ableiten lässt. "Für
das Erlöschen eines Schuldverhältnisses genügt es nicht, dass der
Schuldner alles zur Erbringung der Leistung Erforderliche getan hat.
Der Schuldner schuldet nämlich nicht nur eine Leistungshandlung,
sondern darüber hinaus auch einen Leistungserfolg. Seine
Verbindlichkeit erlischt erst, wenn ein Leistungserfolg eingetreten
ist. Dazu muss die richtige Leistung am richtigen Ort zur
vereinbarten Zeit vollständig erbracht worden sein."
Ist dies also der Boden, auf dem Dankbarkeit und Liebe gedeihen
sollen? Meine Verweigerung von Versöhnung beruht auf Respekt
gegenüber dem gesprochenen und geschriebenen Wort.
Gregor
Intermezzo
Die
Kinder waren inzwischen längst aus dem Haus, Minze hingegen hatte
die Verbrechen der Mutter nicht länger ausgehalten; sie tauchte
unter. So war das nun einmal.
Es
mochte sein, dass hier, jenseits von Schall und Rauch, meine
Überwindung von allem, was mit Benennungen und Namen zusammenhing,
begonnen beziehungsweise ihren Zenit bereits überschritten hatte. Es
mochte andererseits auch sein, dass die Dinge ihren Anfang schon im
Eisprung hatten, ohne dass ich hiervon ein genaueres Bild entwerfen
könnte. Entwerfe dir selbst ein Bild! Siehst du, was da alles in
Bewegung gerät? Siehst du das Abbild des Ganzen? Da brechen
Millionen von Urteilen wie Lava aus der mütterlichen Erde: Lava,
Magma, geknetete Masse, Intrusionen, Erosionen gekneteter Urteile,
Fragmente, Bruchstellen, glitzernd und funkelnd. There's no insection
without pain. Eisprung und Einigung, Vereinigung der Verurteilten mit
ein paar verdrehten Buchstaben und verspielten Silben.
Lieber Gregor, deinen Brief haben wir mehrmals gelesen und sind ratlos. Was Du schreibst, ist sicher begründet, nur: es gibt nicht nur die dunklen, schwarzen Seiten im Leben. Jeder hat sie. Du blickst nur in diese eine Richtung und siehst nur Negatives. Es ist nicht richtig, wenn du die Liebe deiner Eltern anzweifelst. Schade, dass Du Dich ihrer vielen Zeichen der Liebe nicht erinnern kannst oder willst. Deshalb wünschen wir dir von Herzen, dass Du Dich auch einmal an die positiven, liebevollen Zuwendungen erinnern kannst.
Du
hattest zugesagt, mit Deiner Familie zur Geburtstagsfeier zu kommen.
Deine Zusage bleibt doch bestehen? Deine Eltern und Grete mit Familie
werden kommen.
Liebe
Grüße
Georg
und Klara
Ratlos seid ihr also, ihr lieben Leute. Es ist mir ein Rätsel, wie man so viel Gewicht auf die Worte eines Mönchs legen, Goethe, Heine, Thomas Mann und all die anderen alten Knaben gelesen und noch immer keinen tieferen Sinn für das geschriebene Wort zu haben scheint. Das Positive ist ohne sein Gegenteil eben bloß die halbe Wahrheit. Das Negative ist indessen nicht mit Hass, Verachtung und Abneigung zu verwechseln. Vielmehr gilt es das Bild zu vervollständigen. Es ist mir ein Rätsel, mit welcher Selbstverständlichkeit das große Wort L-i-e-b-e als Mittel für Vertuschung, Verharmlosung, Verweichlichung und Verunsicherung verwendet wird. L-i-e-b-e! Wir haben das Wort so lange verwendet, dass es nach Erläuterung förmlich schreit und winselt. In meinem Brief an die teure Frau Mama schrieb ich hinreichend und ausführlich über meine Liebe und Wertschätzung der Großmutter gegenüber, die mich gütig, streng und verantwortungsbewusst großzog. In meinem Herzen hat sie derart viel Liebe hinterlassen, dass ich sie meinen Nächsten, den Kindern, meiner Frau, den Schülerinnen und Schülern, ja den Huren gegenüber bedingungslos und respektvoll angedeihen lasse. Mein Herz ist voller von Erinnerungen an Spiele mit Gleichaltrigen, mit Cousins und Cousinen, an Samstagnachmittage in den frühen 70er Jahren mit der Mutter, als sie singend das Mittagessen zubereitete, an Worte Papas, worin die größte Aufgabe des Vaters bestehe, nämlich darin seinem Sohn ein Freund zu sein. Das sind tatsächlich, wie man sagt, schöne Erinnerungen und es gibt deren viele. Ein Idiot müsste ich sein, wenn ich darum die dunklen Seiten und Abgründe beschönigen wollte. Es ist schon recht flach zu behaupten, das Gegenteil von Liebe sei etwa Hass. Liebe verlangt nach Auseinandersetzung; ohne schärfste Kritik geraten wir auf das gefährliche Niveau der Eindimensionalität. Scheuklappenliebe, ja, die findet man überall, etwa im sogenannten Dreigroschenroman des Lebens geprügelter Ehefrauen, die sich in seelischer Verwahrlosung ihrem Prügler unterworfen haben. "Wir wollten doch immer nur sein Bestes!" - bekanntlich ein weit verbreiteter Satz aus dem Munde der Altvorderen. Mit einem solchen Standpunkt lassen sich auf raffinierteste Weise die niederträchtigsten Demütigungen rechtfertigen. Gewiss liebte der berühmte General Schreber voller Stolz seinen Sohn, als er ihm ein Korsett anfertigen ließ, damit er rasch lernte, was Haltung und Männlichkeit sei. Die Hippies beschworen die Liebe, wie schon vor ihnen andere Romantiker, um den Scheußlichkeiten der Welt den Rücken zuzukehren. Dafür wunderbare Märchen, Tristan und die Isolde, die Holde, Hymnen an die Nacht, Blaue Blume, Opium, Cannabis und Kammermusik. Manch einer nahm sich sogar, vor lauter Liebe, das Leben oder verschwand in einer Irrenanstalt. Eure Ratlosigkeit, ihr lieben Leute, beruht vermutlich auf der Huldigung solcher schönen Künste, auf eurer verinnerlichten Romantik, die zwar vor einem hübschen Capriccio von Bach auf die Abreise des geliebten Bruders, Beethovens "Wut über den verlorenen Groschen" oder Schumanns Liederkreis, opus 24, dahinschmelzen, keinen S-i-n-n aber sehen in Anton von Weberns Ausdruckskunst, den Dissonanzen, der Rebellion, dem Aufbegehren, dem Rock 'n' Roll, dem Beat, "Helter Skelter", "Free Jazz", Arnold Schönbergs oder Brechts Kampf mit "Furcht und Elend des Dritten Reiches" und so weiter und so fort. Rasch wollte man sich all dessen entledigen, der negativen Kunst, Kafka, des Judentums, all dessen, was fremd ist oder gar nach Knoblauch riecht. Und da wollen wir eine "offene Gesellschaft" sein und der Welt nun endlich unser wahres Gesicht zeigen?
Die Verlegenheit, in
die wir stürzen, wenn wir an das erinnert werden, was wir gern
vergessen würden, brächte die Liebe, als Liebe zur Wahrheit
gedacht, erst, um es pathetisch auszudrücken, zu wahrem Glanze. Die
Wahrheit ist das Ganze, ihr lieben Leute. Dass wir uns alle lieb
haben, ist selbstverständlich die grundlegende Voraussetzung für
die Tatsache, dass wir einander überhaupt Aufmerksamkeit schenken
und den einen oder anderen Brief mehrmals lesen und immer wieder
nachfragen nach diesem oder jenem. Wir wollen einander doch
verstehen, nicht wahr?, einander als ebenbürtige Wesen begegnen. Das
Alter schützt vor Torheiten nicht, heißt es. Ruhen wir uns als
Eltern unseren Kindern gegenüber auf dem Standpunkt aus, wir seien
als Erstgeborene grundsätzlich in der Poleposition, haben wir die
Liebe der Kinder an und für sich schon aufs Spiel gesetzt,
schlimmstenfalls verloren und gewiss nicht verdient. Respekt, ihr
Lieben, verdient man sich. Das Verbrechen liegt nach meinem
Dafürhalten in der kategorischen Aufforderung zum Vergessen. So wie
es gewissermaßen im Großen lange Zeit noch eine zutiefst ethische
Verpflichtung sein wird, das deutsche Volk mit den Schandtaten zu
konfrontieren, die es noch in eurer Kindheit begangen hat, ist es
gewissermaßen im Kleinen notwendig, die Stirnlampe auf die
Grausamkeiten zu richten, die in den unzähligen kleinen bürgerlichen
Familien tagtäglich begangen worden sind und begangen werden.
Verlogenheit lässt sich vorübergehend im Alkoholismus, im
Drogenkonsum, im Beischlaf verdrängen, aber die Verzweiflung bahnt
sich ihren Weg. Liebevolle Zuwendungen sind mitunter eine
zweischneidige Angelegenheit, ihr Lieben.
Woher nur nehmt ihr
eure positive moralische Selbsteinschätzung? Gibt es da keinerlei
Skrupel? Keinerlei Skepsis? Habt ihr eure Töchter stets mit Respekt
behandelt? Habe ich nicht schon in meinem ersten Brief in diesem
Rahmen darauf hingewiesen, dass ich die positiven Dinge, etwa in
Bezug auf meinen Vater, trotz seiner Kontrollverluste bewahren
möchte? Meine Schwester fragte mich vor geraumer Zeit einmal,
weswegen ich auf der Beerdigung Esthers nicht geweint hätte? Ob ich
sie denn gar nicht geliebt hätte! Wie kann eine damals schon
erwachsene Frau nur eine derart taktlose und törichte Frage
stellen?, dachte ich. Würde nur manch einer aus diesem Ensemble, das
sich Familie nennt, gelegentlich einmal innehalten und seine
Urteilskraft ein wenig in Frage stellen! Es scheint mir ratsam, um
auf das Thema der Ratlosigkeit zurückzukommen, den Nachgeborenen mit
etwas mehr Achtung zu begegnen. Unter gar keinen Umständen scheint
es mir allerdings derzeit ratsam, deiner Geburtstagsfeier, lieber
Georg, in dieser Besetzung beizuwohnen. Es ist mir zur Zeit im
tiefsten Sinne des Wortes peinlich, meiner Schwester zu begegnen, ja,
ihr aus dem Weg gehen zu müssen. Es lässt sich aus meiner Sicht
nicht ausschließen, dass es zu weiteren Szenen kommt, die schon in
der Vergangenheit keine Seltenheit waren. Auch Schwager Hermann, der
Haudegen, war stets gut für heikle Situationen. Meinen Vater halte
ich für unberechenbar. Solchen Szenarien fühle ich mich beim besten
Willen nicht gewachsen und räume in guter Absicht gern das Feld.
Gregor
Intermezzo
Korrespondenzen
und nie abgeschickte Briefe nadelte ich mir vor geraumer Zeit an die
verwinkelten Wände des alten Hauses, in dem ich von Zeit zu Zeit,
meist tagsüber, begeisterte Damen beherbergte, die mich am Morgen
danach meist wohlwollend beäugten. Woher sollten sie auch wissen,
ja, zumindest ahnen, dass sowohl die Milch als auch die harschen Töne
aus der Geige lediglich der Wut über den verlorenen Gregor galten?
Die fremden Frauen schienen mein insektenartiges Wesen zu begehren.
Wie sonst sollte ich mir ihre bloße Anwesenheit erklären? Veronika
wenigstens verlor sich geradezu in den Facetten meiner Augen, rieb
sich an meiner Rücken- und Bauchplatte, verausgabte sich an meinen
Mundwerkzeugen und verinnerlichte die Unzahl von Spermatophoren nach
einem aufwendigen Vorspiel. Wann immer ich die Fühler einer fremden
Frau in den Griff bekam, ritt ich oft stundenlang, meist tagsüber,
wie ein gerippter Totenfreund, auf. So war das nun einmal.
Lieber Gregor, ich habe soeben mit Klara telefoniert. Bin also informiert über euren Briefverkehr. Es tut mir leid, dass ich die ganze Zeit nicht an dich geschrieben habe. Papa hatte mich gebeten, eine Entschuldigung von ihm an dich zu schreiben. Er bedauert es sehr, dass er bei eurem Besuch am Neujahrsfest so ausgeflippt ist. Er hatte sich so auf unser Zusammensein an diesem Fest gefreut, aber ihr, Grete und du, habt das alles übersehen. Das müsste man doch entschuldigen können! Mich hat natürlich auch die Aussage Minzes, sie wolle "mit dieser Familie nie mehr etwas zu tun haben" sehr erschreckt und beleidigt.
Du sollst Dich geärgert haben,
dass ich auf Ottlas Geburtstagskarte auf den Streit hingewiesen habe.
Warum? Das Kind war so verschreckt, dass ich unbedingt darauf
eingehen musste. Mit 11 Jahren sollte man doch verstehen, was da
passiert ist. Ich war bereits mit 10 Jahren auf mich gestellt und
lebte in Alsfeld bei völlig fremden, nationalsozialistisch
eingestellten Leuten. Das wünsche ich niemandem! Wir sind beide
ziemlich am Boden. Ich kann vor Schmerzen kaum laufen und muss
dauernd zum Orthopäden. Ab Morgen gehe ich zu einer Spritzenkur in
den rechten Oberschenkel, da die Schmiere dort völlig weg ist und
sich eventuell wieder bilden soll.
Papa ist bis auf die Knochen
abgemagert, verträgt nichts, was ich koche, und geht natürlich zu
keinem Arzt. Er hat überall am Körper dunkelblaue Flecken! Viele
Grüße an alle und nochmals "Entschuldigung" an dich.
Mama
Mama
Teure Frau Mama, haltet doch bitte Minze aus diesem Schlamassel heraus, die doch, Gott sei Dank, überhaupt nicht bei dem Szenario zugegen war. Wenn jemand vor Jahrzehnten, gleich wer, deine Kinder vor die Türe gesetzt hätte, wärst du doch hoffentlich wütend geworden, oder? Schluss damit. Das Gezerre macht einen doch irre, Georgs buddhistische Weisheiten, die Botschafterrolle seiner Gattin ihrer inzwischen besten Freundin gegenüber - das ist doch grotesk! Der Herr und Meister hat uns vor die Türe gesetzt, damit komme ich schon klar; dass ich ein Fest zerstört hätte, sehe ich nicht. Im Gegenteil bewahrte ich doch die ganze Zeit über die Fassung. Ist es so verdammt schwer, einzusehen, dass mir die kleine Schwester schlicht und einfach unsympathisch ist? Das muss man doch kapieren! In der Tat verstehen meine Töchter, Millie und Ottla, glücklicherweise alles und brauchen keine weiteren Erklärungen - und schon gar keine Aufforderungen zum Vergessen! Habe ich hier als Vater vielleicht ein Wörtchen mitzureden? Wenn du selbst deinen Vater nicht an der Seite gehabt hättest, gleich, ob allein in Alsfeld oder sonstwo, der Nationalsozialismus hätte dich gewiss noch fester in seinen Fängen gehabt. Zufälle, eben! Teils glückliche, teils weniger glückliche!
Was
mir nicht gefällt - und da ist so einiges! - ist die Tatsache, dass
mein Vater, Herr und Gebieter, meint, er müsse mir den Mund
verbieten, wenn ich den gebeutelten kleinen, verhaltensgestörten Sam
anspreche. Ja, hoppla, bin ich nicht selbst seit rund zwanzig Jahren
als Erzieher tätig? Das arme Kind! Aber, bitteschön! Sehr bewusst
tollte ich hie und da mit dem Bengel herum. Hier manifestierte sich
meine familiäre Zuneigung als Erzieher! Bereits mehrere Male schon
fuhr mir die gewichtige Schwester über den Mund mit irgendwelchen
Besserwissereien. Darf man dem also nichts entgegensetzen, dem
geschundenen Vater zuliebe? "Komm, gib der Grete einen Kuss!",
hörte man da schon in vergangenen Zeiten. Ja, warum denn eigentlich?
Das ist entwürdigend.
Man
m-u-s-s doch einsehen, dass Liebe keine Leistung ist, der man sich in
der Rolle eines Schuldners zu beugen hätte, oder? Im Übrigen neigt
deine Tochter zu Impertinenz, spielt sich vorwurfsvoll wie eine
Vorgesetzte auf, ist enorm grobschlächtig und selbstbezogen. Jedes
Mal latente und extrem infantile Vorhaltungen, wie sehr ich sie als
Kind schon kränkte. Ja, so ist das eben, Kinder können grausam
sein. Das sollte die Kindergärtnerin doch gerafft haben. Nun aber
alles schnell wieder vergessen, tabula rasa, und Harmonie
inszenieren. In Tante Gretes Abwesenheit, redet ihr eigener Vater an
und für sich immer sehr herablassend über sein Herzchen. Oh, ja!
Ihre Buben sind (noch) Unschuldslämmer; sehe ich allerdings, was dem
älteren Kerlchen bereits alles a-n-g-e-t-a-n wurde, wundert's sicher
keinen, wenn er spätestens mit etwa fünfzehn oder sechzehn Jahren
drogensüchtig ist und seine Aggressionen mit Übergeschwindigkeit im
Straßenverkehr abreagiert oder Sexualverbrechen begeht. Armes
Ferkelchen! Aber Grete wird's ja wissen; noch kann sie ihm
bescheuerte Lernspiele vor die Nase halten, ihm beibringen, wie man
gerade am Tisch sitzt, ihm Kinderschokolade vorenthalten, wenn um ihn
herum alle anderen naschen. Und dann mit dem Mann in die Ehetherapie!
Verhaltens- und insbesondere vollkommen kommunikationsgestört. Nee,
meine teure Frau Mama, damit komme ich nicht klar! Und dann erklärt
Grete mir, Produkt millionenfacher Klugscheißereien, was ein Zitat
ist, ich zitiere wie Espenlaub, oder streichelt mir gütig über den
Kopf, weil ich die Liebe doch noch lernen müsse. What the fuck is
going on here? In Liebesdingen bin ich längst hinreichend
b-e-z-i-e-h-u-n-g-s-w-e-i-s-e und entscheide zum Glück selbst, wen
und wie ich meine Liebe verströmen lasse. Ist das verständlich
genug? Wenn ich der verletzten und wuhunden Seele des
zurückgebliebenen Mädchens freundlich mitteile, dass ich ihrem
Geburtstag kein Ständchen widmete, weil wir einfach keinen Draht
zueinander haben und mir Heucheleien zuwider sind, sollte sie mir
doch dankbar sein und mich nicht weiterhin mit ihren Dehnübungen,
ihrem Geigenspiel und ihrem larmoyanten Gefasel langweilen.
Es
tut mir aufrichtig leid, dass ihr in einer solchen Scheißverfassung
seid, doch bin ich nun einmal kein Arzt, kein Psychologe und auch
kein Hampelmann. Mit verdammten einundfünfzig Jahren darf man auch
von den Altvorderen ein wenig mehr Respekt erwarten, finde ich. Und
wenn's in der Familie halt mal nicht so läuft, wie man sich das
wünscht, muss man halt einfach mal das Maul halten und nicht gleich
alles ungeschehen machen wollen, Vergessen und Wiedervereinigung
predigen als sei man selbst der Moral höchstes Lichtlein. Im
Vergleich zu all den erbärmlichen Familiendramoletten meines Herrn
und Erzeugers mit seinem eigenen ehrwürdigen Vater, seinem kleinen
drogensüchtigen Bruder, ist mein Zwist mit Grete doch ein Witz, eine
Farce. Nichts habe ich vergessen, keine der unzähligen
Peinlichkeiten und Heucheleien; weder, dass mein Erzeuger seine
Schwiegermutter, die mich letztlich großgezogen hat, umbringen
wollte, dass man sich ihrer entledigen musste, dass ich sie innig
liebte, ja die Esther, ein Brett von einer Frau, die Kinder hat sie
behütet, ausschließlich sie, verantwortungsbewusst, stolz, gütig
und streng. Und selbst, wenn man Esther einmal einen
Zwanzigmarkschein aus dem Büstenhalter zog, riss sie einem niemals
im Nachhinein ein Auge heraus oder verklickerte einem, welches ihrer
Kinder wie viel gekostet haben könnte. Damit komme ich übrigens
auch nicht klar! Wie kann es nur sein, dass man dem erwachsenen Sohn
vorrechnet, was er gekostet hätte? Und welches Kind preiswerter
gewesen sei? "Stimmt's denn nicht?", lautet da allenfalls
die Entgegnung. Na ja, all das mag verzeihlich sein, denn ganz
offensichtlich, so der Barmherzige, wissen sie nicht, was sie tun.
Sollten sie es aber eventuell doch ahnen, dann vergebe ihnen Gott,
Allah, Elohim oder von mir aus der heilige Bimbam. Ich jedenfalls
nicht.
Gregor
Lieber Gregor, dein Schreiben habe ich noch nicht beantwortet, weil ich mich kaum bewegen kann und auch Papa krank ist, d. h. rasend an Gewicht verliert. Da er nicht zum Arzt geht, weiß man nicht warum. Wohl Nervensache! Die Geschichte mit euch hat ihn sehr mitgenommen. Auch ich muss sehr aufpassen, was ich sage, damit er nicht ausflippt. Ich selbst muss zweimal in der Woche zum Orthopäden und bekomme Spritzen in den rechten Oberschenkel, was sehr weh tut und letztlich nichts hilft. Die Krankenkasse zahlt das nicht. Aber fertig mit dem Gejammere!
Können
wir nicht die ganze Geschichte vergessen und da fortfahren, wo wir
vorher waren. Wir beide hatten m. E. doch nie Schwierigkeiten uns zu
verstehen. Georg hat sich wohl in Dinge gemischt, die er nicht
verstanden hat. Und Grete hat wohl auch nicht die richtigen Antworten
gehabt. Was hat das mit uns zu tun?
Liebe
Grüße, auch an die Familie
Mama
Nun, ich beschwere mich keineswegs, teure Frau Mama, ich sortiere lediglich, was geschieht und versuche, mir so gut wie möglich treu zu bleiben. Wie gesagt, verziehen ist von meiner Seite, was dem Herrn Papa entglitt. Dir gegenüber habe ich mich unbefangen geäußert, mal kritisch, mal verständnisvoll. Es bleibt dabei, Vergessen ist das falsche Wort; vielmehr erinnere ich mich sehr intensiv zur Zeit an Erfreuliches und Unerfreuliches. Das mag durch mancherlei ausgelöst worden sein; letztlich auch durch die intensive Arbeit des Schreibens, die sich derzeit stark mit dem Phänomen der Schwester im Allgemeinen und im Besonderen befasst. Mühevoll gelingt einiges, anderes misslingt. Der schulische Endspurt hält die Kinder und mich auf Trab, teils in Schach. Im Namen Ottlas Dank für den Obolus mit ein wenig Verspätung: Gewiss wird sie selbst bald Worte finden. Erst seit vergangenem Freitag bin ich fertig mit meinen Korrekturen. Es geht eben drunter und drüber, wie man sagt, auf und ab. Bei Gelegenheit (vielleicht) mehr. Die Korrespondenz mit Georg war recht deutlich. Es fällt mir indessen mitunter schwer zu begreifen, dass einigermaßen belesene Leute so begriffsstutzig sein können. Selten habe ich klarere Worte verwendet, schonungslose zum Teil. In dem möglicherweise letzten Drittel meines mir verbleibenden Lebens finde ich keine Alternative, mich Erfahrenem zu stellen. Das Schreiben, die fortwährende Verfeinerung, wendet hie und da die Not, die den Ton des Schreibenden ausmacht. Offenbar, so fällt mir auf, sträuben sich die Familienmitglieder, Worte der Kritik auszuhalten oder anzunehmen. Trotzdem freue ich mich über jede Erwiderung, weil mich jede von ihnen zu weiteren Verfeinerungen nötigt. Dein Sätzchen, Grete habe wohl auch nicht die richtigen Antworten gefunden, lässt mich schon ein wenig schmunzeln. Was ich hierzu zu sagen hatte, steht in meinem Schreiben vom 29. Mai. Selbstverständlich finden sich auch dort nur Fragmente eines sehr komplexen Gesamtbildes.
Hinreichend interessant ist, wie
gerade in diesem Verhältnis Vergangenes das Verhalten steuert;
Vergessen
führt zu weiterem Versagen, zu weiterem Vertuschen, zu weiterer
Verschleierung und Verschlimmerung. Vermeintliches Vergessen ist
das Ereignis, für das der Erfinder der Psychologie das Wort
Verdrängung verwendete; vermutlich ein
verzweifelter Versuch die Verhältnisse zu verbessern!
Vergeblich, vermutlich.
post
scriptum.
Dein Schreiben ist sehr wohlwollend: Insgesamt vier Mal verwendest du
das Wörtchen "wohl", worauf man sich einen Reim machen
könnte; ...oder?
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen