["Bandsäge", Siegfried Feid (2019)]
Die
Erfindung des Teufels. Wenn wir vom Teufel besessen sind, dann kann
es nicht einer sein, denn sonst lebten wir, wenigstens auf der Erde,
ruhig, wie mit Gott, einheitlich, ohne Widerspruch, ohne Überlegung,
unseres Hintermannes immer gewiß. Sein Gesicht würde uns nicht
erschrecken, denn als Teuflische wären wir bei einiger
Empfindlichkeit für diesen Anblick klug genug, lieber eine Hand zu
opfern, mit der wir sein Gesicht bedeckt hielten. Wenn uns nur ein
einziger Teufel hätte, mit ruhigem ungestörtem Überblick über
unser ganzes Wesen und mit augenblicklicher Verfügungsfreiheit, dann
hätte er auch genügend Kraft, uns ein ganzes menschliches Leben
lang so hoch über dem Geist Gottes in uns zu halten und noch zu
schwingen, daß wir auch keinen Schimmer von ihm zu sehen bekämen,
also auch von dort nicht beruhigt zu würden. Nur die Menge der
Teufel kann unser irdisches Unglück ausmachen. Warum rotten sie
einander nicht aus bis auf einen oder warum unterordnen sie sich
nicht einem großen Teufel? Beides wäre im Sinne des teuflischen
Prinzips, uns möglichst vollkommen zu betrügen. Was nützt denn,
solange die Einheitlichkeit fehlt, die peinliche Sorgfalt, die
sämtliche Teufel für uns haben? Es ist nur selbstverständlich, daß
den Teufeln an dem Ausfallen eines Menschenhaares mehr gelegen sein
muß als Gott, denn dem Teufel geht das Haar wirklich verloren, Gott
nicht. Nur kommen wir dadurch, solange die vielen Teufel in uns sind,
noch immer zu keinem Wohlbefinden. [Franz Kafka, »Tagebücher«
(1912)]
["Neue Schuhe", Siegfried Feid (2019)]
Es
ist gut denkbar, daß die Herrlichkeit des Lebens um jeden und immer
in ihrer ganzen Fülle bereitliegt, aber verhängt, in der Tiefe,
unsichtbar, sehr weit. Aber sie liegt dort, nicht feindselig, nicht
widerwillig, nicht taub. Ruft man sie mit dem richtigen Wort, beim
richtigen Namen, dann kommt sie. Das ist das Wesen der Zauberei, die
nicht schafft, sondern ruft. [Franz Kafka, »Tagebücher«
(1921)]
3
Veronika
wankte aus dem Badezimmer zurück zum Bett. Kein
Geruch, obwohl sie sofort nach dem Duschen wieder schwitzte. Oder war
der Geruch so komplementär, dass sie ihn nicht bemerkte?
Mit all ihrer Patina beugte sie sich den in mühsamer Sorgfalt
entstandenen Laubsägearbeiten entgegen, ließ sich sehr viel Zeit,
berührte die Verzierungen sanft und zart. Veronika verweilte,
unbekümmert ihrer Nacktheit vor Rahmen und Regalen, vor
Tuschezeichnungen und Siebdrucken von Freunden aus Jugendtagen.
In
Momenten des Innehaltens tauchte unvermittelt das gewitzte, kantige
Gesicht des Malermeisters Max auf. Die mit Kaffeepulver auf welliges
Papier getuschten Gefäße, das erdige Himmelsgestirn vor bläulichem
Hintergrund beschleunigten die Aufeinanderfolge solcher Momente.
Manchmal waren sie einfach nur zugegen; kaum nahm man sie wahr. Dann
aber rasten die Erinnerungsbilder in Lichtgeschwindigkeit über
zahllose Synapsen, Schaltstellen dessen, was irgendwann einmal
erlöschen und Raum für andere Gestirne, andere Formationen von
Erscheinungen lassen würde.
Veronikas
Innehalten bereitete mir eine Gänsehaut (cutis anserina), ja,
erschütterte mich für eine Weile. Derartige Erregungen, wie sie nur
sehr selten, etwa beim Erlebnis geistlicher Musik, auftraten,
erschreckten mich, machten mich fassungslos. Jemand, eine Fremde,
wandte sich den Relikten eines in den Ruhestand versetzten, mal
müden, mal erleichterten Jägers und Sammlers zu, dessen aufnehmende
Sinnesapparatur ansonsten ausschließlich auf die Mundhöhle und die
Spitzen seiner beiden Fühlerpaare verteilt waren. Die Erschütterung
wuchs schließlich, als sie mir meinen plötzlich ausgetretenen
Schweiß behutsam von der Stirne tupfte.
Ausschließlich
dem Malermeister Max verdankte ich die zahllosen Ermutigungen, meine
Laubsägearbeiten zu vervollkommnen, weiterhin nächtelang an den
Verzierungen etwa der Schallplattenregalsysteme zu arbeiten, an deren
obere Ränder ich in akribischer Feinarbeit teils Jahreszahlen, teils
kurze, kalligraphisch gestaltete Bezeichnungen hineingeschnitzt
hatte, die ich mit schwarzem Lack hervorhob, um flink die gewünschte
Tagesstimmung herzustellen, sie zu untermalen, wie Max sagte, oder
aber sie augenblicklich einzufangen. So zumindest war dies einmal
gewesen.
Unablässig
betastete Veronika das Relief des Wortes Reinheit
auf einem der schmaleren Regalelemente mit ihrem linken Daumen, als
wollte sie das Wort selbst zum Klingen bringen. Endlich hatte sie
sich offenbar für ein Exemplar entschieden, das ihre Aufmerksamkeit
für mehr als einen Moment gefangen nahm. "Musica Viva
Pragensis. Trio pro Housle, Violu a Violoncello", las sie mit
gedämpfter Stimme, fast fragend, vom Schallplattencover ab.
Erwartete sie eine Erklärung? Statt einer Erwiderung bat ich sie,
die Schallplatte in das Regal mit der Aufschrift 1967 einzuordnen.
Ohnehin war es mir nicht mehr möglich, Schallplatten abzuspielen, da
mich unerfindliche Gründe davon abhielten, den Riemen des einst
hochwertigen Abspielgerätes zu ersetzen.
Gedankenverloren
folgte Veronika meiner Aufforderung und setzte ihr Studium meiner für
Außenstehende vermutlich nur schwer nachzuvollziehenden
Klassifizierungen fort: Getreidespeicher,
Puppen und Tenöre, Frauenabteilung, Belustigungen,
Überzeugungstreue, Huld, Narrheiten, Ringkämpfe, Tagessorgen,
Kopfschütteln, Vielseitigkeit, Hemmung, Bewegungsfreiheit,
Ausdrucksweise, Versorgungen, Mond und Menschen.
Quer
verteilt über das aus rund drei Dutzend Elementen bestehende
Regalsystem befanden sich außerdem die Jahreszahlen von 1957 –
1975. Mehr als dreißig Jahre waren nunmehr vergangen, in denen ich
mich zunehmend Verwesungserscheinungen widmete, die Laubsägearbeiten
aber auf nahezu sträfliche Weise vernachlässigt hatte. Unter
beinahe physischen Qualen war es mir schließlich gelungen, mich von
der Geißel des Sammelns zu lösen, mit der wir die Leerstellen
unseres Daseins zu füllen vermeinen, manch einer mit
Modelleisenbahnen, andere mit Briefmarken oder etwa, wie
beispielsweise Lasemann, der ehemalige Nachbar meiner Eltern, mit
leeren Deodosen und anderen Aerosolprodukten aus bereits damals
immerhin schon fast fünf Jahrzehnten Industriegeschichte.
Immer
seltener überkam mich dieses unerklärliche Gefühl von Wehmut, wenn
ich die Schattenwesen auf dem Schallplattencover des Prestige
Jazz Quartet
betrachtete oder von dem Model auf You
get more bounce with Curtis Counce
träumte und mir leibhaftig vorstellte, wie es mit seinem Stethoskop
meinen Brustkorb abhörte oder mich zu kecken Doktorspielen
verführte, von denen ich mich hie und da gern belustigen ließ.
In
diesem Moment war es Veronika, die jene alte Leidenschaft in mir zum
Leben erweckte, was mich jäh an die unsäglich durchtriebene Masche
mit der Briefmarkensammlung erinnerte. Wer, fragte ich mich
andererseits sofort, würde wohl in hundert Jahren noch diese
eigentümliche Art von Erregung empfinden, wenn er den Geiger auf der
Pfote King Kongs vor Augen hätte oder einen forschenden Blick auf
den graziösen Grashüpfer von Katy
Lied
würfe beziehungsweise wer würde jemals wieder eine Telefonzelle
benutzen?
Was
könnte da für eine Geschichte erzählt werden? Vor mir liegt eine,
wie ich finde, wenig ansprechende tannengrüne Mappe mit circa
zwanzig Blatt beschriftetem Papier, bestehend aus Ergänzungen,
Einfügungen und Korrekturen, die mich momentan eher abschreckt. Wenn
man Eier
abschreckt,
sollten diese innerhalb von zwei Tagen verbraucht werden. Ich
fürchte, dass ich, im Falle einer weitergehenden Bearbeitung des
Manuskripts, zwangsläufig faule Eier produzieren werde, weswegen es,
so denke ich, einigen frischen Wind benötigen würde, um dem Gestank
von Ammoniak rechtzeitig entgegenzuwirken. Auch hierfür habe ich in
weiser Voraussicht bereits einige Essenzen vorbereitet, die den
Gestank überdecken, ihn einhüllen mögen mit dem Duft der Jugend,
wie ein Alchemist es täte, der angetrieben von der Illusion der
Ewigkeit, das Irdische und Vergängliche vergoldet.
Veronika
etwa kannte meinen Hang zur Übertreibung, fürchtete ihn anfangs
auch. Herumzualbern musste für sie etwas Fröhliches sein. Hinter
meiner Methode grundsätzlichen Übertreibens witterte sie
Auflehnung, Distanz und Kritik. Bin ich ein Feigling, weil ich die
Dinge nicht beim Namen nenne? Im Ernst, ihr hättet also jemals etwas
beim Namen genannt! Dann bitte schön, wie heißt das, wenn ein
Mädchen am Morgen aus dem Badezimmer kommt und du kennst sie nicht.
„Ich bin's, Veronika, jetzt komm, hör auf!“ Eben war es noch ein
Spiel, für Veronika eines unserer Spiele, an die sie sich gewöhnt
hatte.
Wovor
man sich beispielsweise in die Gestalt eines Käfers flüchten
mochte, das war die Frage, warum man denn die andere Frau nicht
verlasse, da man doch sie liebe, "oder sagtest du nicht heut' Nacht, du liebtest mich, los, heraus mit der Sprache!" Veronika
war auf das Bett gesprungen in ihrem weißen Bademantel, mit dem
Turban, ebenfalls blütenweiß, duftend nach Frische und strahlend
wie dieser herrliche Morgen im April. So kniete sie über mir, ein
anderes Handtuch wie einen Knebel um meinen Hals schlingend, jeder
wusste, was diese Art von Folter mit einem machte, Käfer hin oder
her, von dem faulen Apfel ganz zu schweigen. Ja, ich liebte sie,
warum stellten wir uns die Aufgabe, eine und nur eine Frau zu lieben,
was lag daran, selber nur einer und der eine zu sein. Ich würde
niemals etwas unternehmen um herauszufinden, ob Veronika mir treu
war, was sie schluckte, nur sollte ich mir nicht einbilden, dass sie
in dieser Hinsicht mit mir übereinstimmte. Sie heiße so und so, mit
mir so und so lange verheiratet, zwei Kinder, erwachsen, wenigstens
das, wohnhaft dort und dort, Telefonnummer, "los, wir rufen an!
Und hör auf mit dem Gealbere, das ist nicht lustig, woher hast du
überhaupt die Idee mit dem Apfel?" Und Fronilein durfte ich sie
in solchen Augenblicken auch nicht nennen. "Also das Paradies,
Fro..., Veronila, zwei Nackedeis wie wir, die's aber nicht merken..."
- "Und ob ich was merke, sei nicht albern, deck das zu, ich
merke, dass du mir ausweichst, das merke ich!"
Ich
sagte ihr, ich hätte mich doch für sie entschieden, schon oft! Und
übrigens würden sie die wahren Gründe, deretwegen ich mich von
meiner Frau trennen würde, nicht glücklicher machen, was mich
betrifft. Das war nun eine verzweifelte Sache, denn ich wollte ihr
diese Gründe eigentlich nicht nennen. Wie schnell lagen die in
buchstäblich jeder Beziehung vor! Und dann war die Sache im Grunde
entschieden. Es ging nicht darum, Gründe zu haben, das Kind lag im
Brunnen, wenn sie ausgesprochen wurden. Die Worte waren die Währung,
mit der solche Angelegenheiten beglichen wurden. Nichts schlimmer als
eine Frau, die auf die Frage "liebst du mich noch?" nicht
mit einer konventionellen Antwort zufrieden war: Aber natürlich, das
weißt du doch, Schatz!
Veronika
hatte so viel Humor, den Satz mit mir im Chor zu sprechen. Sie wusste
um das Heikle der L-Frage. Wenn sie gerade etwas besonders
Hässliches getan hatte, fragte sie in der Rolle des hässlich
gewordenen Eheweibes etwa Schwäbisch: "Liebscht mi no?", o
Wollsocken der Putzfrauen in aller Welt, in denen ein Paar
Männerbeine aus einer Kittelschürze herausstaken!
Männer,
liebt das Hässliche an euren Frauen! Es ist eure einzige Chance. Das
Schöne ist nicht schön, normalerweise nicht. Sollte eurer Frau
etwas Schönes in voller Absicht gelungen sein, beschwört es nicht,
lebt in diesem heiligen Moment!
Das
ist so ein Gedanke, für den ich mich ungefähr einhundert Millionen Mal
rechtfertigen musste. Also noch einmal: Eure Frau ist konventioneller
Weise schön, wenn sie sich ein wenig Mühe gibt. Es ist übrigens
fast sicher, dass sie dabei, sich schön zu machen, etwas völlig
anderes im Blick hatte, als das, was ihr schön fandet.
Also
durfte man Veronika bewundern, jedenfalls hin und wieder, sogar sagen
warum und wofür. Eis, sage ich euch, dünnes, sehr dünnes Eis,
politically, falls ihr wisst, was ich meine. Eine Frau zu bewundern
bleibt bis auf Weiteres inkorrekt. Die Fassade mit dem
Gomringer-Gedicht musste in dem einen Fall überpinselt werden, damit
sie aus Protest dagegen noch so circa 500 Mal neu entstand, dann
natürlich tatsächlich als eine schmierige Rehabilitation der
Brüderles und Busengrabscher der Nation. Straßen und Blumen ging
noch, Straßen und Frauen, das musste alarmieren. Glotz nicht, alter
Sack! Herrgott, ein Blumenkind, oder sagen wir Blumenkinderenkelkind,
eine Art Punk aus dem Kaufhaus. Also nochmal: Straßen und Blumen und
Frauen. Verdammt, es musste der Plural sein! Du hattest nicht der
Einen ewige Treue vertraglich zugesichert. Auch irgendwie schief, ich
fragte Veronika. Warum das also eigentlich nicht gehe. Sie kannte das
alte Gomringergedicht, so etwas lernte man heute in der Schule,
konkrete Poesie. "Ist nicht die Tochter von dem Gomringer heute
der eigentliche Star?" - "Du meinst wegen
Bachmann-Preisträgerin?" - "Das weniger, mehr so, weil sie
eine Poetry-Slammerin ist." Ich kannte diese Art Veronikas mich
darauf zu stoßen, dass ich sozusagen alt war. Nicht so alt wie der
alte Gomringer, dem es nur um die Begründung der konkreten Poesie
ging, aber eben so alt, in dem was Nora, die Tochter, konkret
poetisch machte, besonders den viel gelobten Vortrag, so ausgesprochen
töchterlich zu finden. Der Alte war gehakt, weil 1950 und so, da
durfte er als Latino irgendwas Zurückgebliebenes über Frauen
flöten, zum Beispiel die Sache mit dem Bewunderer in der letzten
Zeile. Die meisten Leute hatten das Wort im Urlaub schon mal gesehen,
es hieß Aussichtspunkt. Es ging wohl um irgendwelches machistisches
Gespanne in dem Gedicht. Von Südländern war in der Hinsicht sowieso
nichts anderes zu erwarten. "Ja, und wie findest du nun, dass
sie den Text überpinseln?" - "Tja, ehrlich gesagt, finde
ich Männer auch schön, auch dass Männer Männer schön finden
können, geht sowieso in Ordnung. Dass sie sie schön finden müssten,
bevor sie auch mal eine Frau schön finden dürfen, ist so eine Art
Quotenregelung. Du weißt, dass ich für Quote bin, so lange die Welt
so ungerecht ist, wie sie ist. Also gebt euch einen Ruck, Jungs, vor
allem sucht nach der Lyrik von heute. Das macht Nora ja auch,
übrigens weiß ich, was dir an ihrem Vortrag nicht gefällt, die
Gedichte sind aber gar nicht mal so schlecht."
Darum
also mein Spähen nach dem Apfel, den man nach sich hat schmeißen
lassen, und der einem im Rücken faulte, zynische Persiflage des
Paradiesdramas. Hatte einst Eva uns noch den Apfel gereicht, falsch
zwar, weil mit unserer Unterwerfung wenigstens unter Lüge und Betrug
rechnend, so war es doch ein süßes Obst, gegen den Willen des
Vaters genossen, der uns im Stand der Unschuld gefangen halten
wollte. Nackt waren wir, doch unsere Blöße war bedeutungslos.
Welche Nacktheit aber war das, die sich ihrer bewusst wurde! O süßer
Duft der Verheißung! Was drohte, wenn nicht die Rückverwandlung in
den Stand der Unschuld und des Gehorsams!
Warum
ich so bindungslos sei, wollte Veronika einmal wissen; weil die
Bindungskonformen die Bedingungen der Bindung ignorierten. "Könntest
du das noch einmal als Klartext formulieren?", etwas, was ich
hasste und wo es galt, sich aus der Affäre zu ziehen, um dem
Teufelskreis von Spannung und klärendem Gespräch zu entkommen.
Konventionelle
Bindungen konsumierte man wie alles, was zur Verfügung stand oder
nicht, aß man nicht auch Brot, ohne je eines gebacken zu haben?
Familie, Herrje, man war auch noch darin aufgewachsen, war das
jüngere oder ältere von Geschwistern, hatte den Eltern gehorcht.
Nun stand man da vor dem ganzen Haufen von Betrug und Hass, den man
nicht haben durfte. Oder alles war gut gegangen, was es immerhin auch
geben sollte, man konnte getrost das Brot essen ohne es backen zu
können. Die Milch der Schwester auch nur anzurühren, was sich in
meinem Fall grundsätzlich ausschloss, mochte man den ganz
Unschuldigen durchgehen lassen. Das Aroma eines faulenden Obstes war
aber ganz unverkennbar.
Intermezzo
Lieber
Max, notwendigerweise
übertreibe ich es je nach Antriebskraft mit allem, was mir Elohim
mitgegeben hat. Die Übertreibung ist seit jeher meine Lebensdevise,
wobei ich nicht mehr genau weiß, seit wann ich mir diese wertvolle
Tugend auf mein Banner tagtäglicher Belustigungen geschrieben habe.
Es gab sogar Zeiten, in denen die radikale Untertreibung nichts
anderes darstellte als eine Übertreibung, in denen beide Haltungen
sozusagen ineinanderfielen.
Dass Barney Kessel die "Pet Sounds" begleitet hat, wusste
ich nicht. Vermutlich hat man ihm ein ordentliches Taschengeld dafür
angeboten. God
Only Knows
war für eine Weile ein Interimsbrenner auf meinem Abspielgerät. Im
Anschluss an "Weiß wie Lilien" oder "Ziehn die
Schafe" (1926) klingen die "Pet Sounds" (1966)
besonders bizarr. Sonnengebräunte kalifornische Studenten planschen
sich das Bewusstsein über Agent Orange aus ihren schwitzenden Poren.
Was wohl geschehen wäre, wenn die Soldaten bei ihren Bombardements,
beziehungsweise grundsätzlich, keine Popmusik, sondern
ausschließlich Zwölftonmusik in den Ohren gehabt hätten? Pop kam
(und kommt) dem Haschisch gleich, das man den türkischen Soldaten
vor der Schlacht einverleibte, um den Blutrausch zu ästhetisieren.
Nothing
is real and nothing to get hung about.
In meiner Zeit als Kellner in der Uferschenke war ich, wie du weißt,
gelegentlich auch als Discjockey tätig. Wenn ich ein Stück von
Anton Webern in übertriebener Lautstärke, strategisch gezielt,
zwischen das beliebige "Easy Listening" pflanzte, gab es
stets Szenenapplaus. Es muss so etwas wie eine Begeisterung über den
Abgrund des Entsetzens geben, sofern die Dosis erträglich ist und
diese dich nicht wirklich juckt.
Gregor