Freitag, 20. September 2019

The Gas Station (Variationen) [= S / W 5.17.2] - »O operă de artă este, înainte de toate, o aventură a minţii.« [Eugen Ionescu]



["Autumn Serenade", R. A. ol-Omoum, (1994)]



Le comique n’est bon que s'il est gros; j'espère qu'il l'est. Et le comique n'est comique que s’il est un peu effrayant. Le mien l'est-il? [Eugène Ionesco]




["Naja naja", Michelle Schneider (2019)]


Je ne fais pas de la littérature. Je fais une chose tout à fait différente; je fais du théâtre. [Eugène Ionesco]




5. 17.2 Star


Die Bühne ausstaffiert mit einem Minimum an Requisiten: Benzinfässer, ein Dutzend, unterschielich gefüllt, teils hochkant, teils liegend, eine Zapfsäule, ein Tankwart, zunächst bewegungslos, dunkle Hautfarbe, vielleicht Saeed, vielleicht der Eritreer, bestenfalls beide, maskierte Gestalten unterschiedlichen Geschlechts, ebenfalls ein Dutzend, in Montagekleidung, alle in Bewegung, nicht zu schnell, je ein Paar Trommelstöcke in den Seitentaschen, Wilhelmy mit freiem Oberkörper, ohne Maske, schlägt in unregelmäßigen Abständen mit harten Marschtrommelschlägeln schnelle Wirbel auf das Fass mit dem meisten Inhalt.
"Schnellere Septolen, Helmuth, schneller, Fünfvierteltakt, Siebenvierteltakt, Fünfvierteltakt, Pause, zähle bis sieben, Wiederholung, langsamer, Helmuth, langsamer, jetzt, etwas lauter, crescendo, Pause, zähle bis drei, schnelle Quintolen, jetzt, nacheinander die Maskierten, nicht zu hastig, nacheinander, langsam, jetzt unisono, decrescendo, Pause, Wiederholung."
Einsatz Eritreer, rezitierend: Die Maschinen brausen. Alle hören es gern, wenn die schweren Treibriemen, Schlag auf Schlag, an der Saaldecke entlang sausen. Ein funkelnder Glanz ruht auf den tausend Rädern. Manchmal sieht es aus, als stünden sie still, so schnell drehen sie sich. Dreistimmiger Chor der Maskierten, flüsternd, den Trommelrhythmus beibehaltend: Well we had a lot of luck on Venus, we always had a ball on Mars. Pause. Wiederholung. Vierstimmiger Chor der Maskierten, flüsternd, den Trommelrhythmus allmählich auflösend: We always had a ball on Mars, space truckin', space truckin'. Pause. Space truckin', space truckin'. Pause. Space truckin', space truckin', space truckin'. Pause. The fireball that we rode was movin' but now we've got a new machine.
Wiederholung in unterschiedlicher Lautstärke, noch immer flüsternd indes.
Der Eritreer im Sprechgesang: Wie im Traum geht sie heimwärts; es ist niemand zu Hause, die Stube ist leer. Plötzlich merkt sie, dass alles aus ist. Ein dumpfer Schmerz bemächtigt sich ihrer. Sie legt die Hände vors Gesicht und weint bitterlich.
Auftritt Lucia, Mezzosopran, beginnend beim C, chromatisch ansteigend, sehr langsam über dreieinhalb Oktaven (C bis f''): Es ist ja doch ein Nichts, er kennt mich ja gar nicht, und wer weiß, ob ich ihm gefalle, wenn er mich sieht.
Auf das A, mit dem Wort Nichts aus dem Off. Zuspielband mit Übertragung eines Mitschnitts der Produktion mit dem Deep-Purple-Sänger Ian Gillan als Jesus. Palle, ebenfalls aus dem Off, spielt sehr langsam, pianissimo, die Melodie von All the Things You Are auf einem Schifferklavier. Aus weiter Ferne hört man die Stimme Emilians, beginnend mit Es, ebenfalls chromatisch ansteigend, die Stimme Lucias überlagernd, sich langsam nähernd, während der Chor der Maskierten weiterhin Versatzstücke aus Space truckin' wiederholt und die Trommelwirbel stetig lauter werden: Es ist Zeit aufzubrechen. Hören Sie mich? Es ist fünf vor zwölf. Hören Sie mich? Die Realität des Krieges, seine Monstrosität, seine Schrecken! Baum! Unsinn! Pegasus! Unsinn! Andromeda! Unsinn! Alamak! Unsinn! Mirach! Unsinn! Sirrah! Unsinn! Andromeda! Gigantomanie! Hören Sie mich?
Lucia wirft sich ihrem Vater um den Hals und ruft: Kein Mensch hat ja so Angst wie ich!
Auf eine an der Decke des Saales installierte Leinwand werden Bilder von Alois projiziert.
Eine Stimme aus dem Off (zweites Zuspielband) rezitiert aus einem Brief von Henri Barbusse an seine Frau: Ankunft bei prasselndem Regen. Beine und Füße nass, das Wasser dringt an den Knien ein. Die Grabenwände stürzen zusammen. Überschwemmung, Sintflut. Die Stellung vom Wasser aufgeschluckt. Ein Mann brüllt, er ist vom Kopf bis zu den Füßen völlig von dickem gelbem Schlamm bedeckt, die Hände sind behandschuht, dreckgepanzert. Er erzählt uns die furchtbaren Erlebnisse der Männer in den Gräben der vordersten Linie. Wasser bis zu den Knien oder bis an die Hüften. Alle Unterstände stürzen ein. Man darf in den Gräben nicht stehenbleiben, denn es wird unmöglich, sich dann noch von der Stelle zu rühren. Man kann sich nicht zurechtfinden; gäbe es nicht den Schein der Raketen, müsste man ersaufen. Den Soldaten sinkt der Mut.
Plötzliche Stille, etwa fünfzehn Sekunden lang völlige Bewegungslosigkeit aller Mitwirkenden auf der Bühne.
Nur Emilian, in Lumpen gekleidet, bewegt sich schleppend, wie ein Kriegsversehrter, auf den Souffleurkasten zu und reicht Rohlfs, über den Stacheldraht hinweg, die Hand: Es ist Krieg, Rohlfs. Überall. Es ist spät. Hören Sie mich? Der Motor des TV-14 C läuft bereits auf Hochtouren. Aus dem Off erklingt das Geräusch eines Dieselmotors, langsames Fade-In. Rohlfs ergreift die Hand Emilians, lässt sich aus dem Souffleurkasten helfen, steigt unversehrt über den Stacheldraht und begleitet Emilian nach draußen zum TV-14 C.
Unterwegs singt Emilian, beginnend auf As, chromatisch absteigend im Sprechgesang: Die Dinge sitzen fest im Sattel und reiten die Menschheit. Bekenne dich zu dir selbst! Wir dürfen unser angeborenes Sein und Wesen nicht verleugnen. Unsere besonderen Kräfte müssen einen Sinn und Zweck gehabt haben. Wir müssen sie entwickeln, auch wenn sie den Rahmen der Menschenwelt zu sprengen drohen. Wilhelmy gibt den Auftakt zum erneuten Unisono der Trommler, während Lucia den beiden wiederholt hinterher ruft: Ein Wunder, man hat uns nicht umgebracht!
Emilian zu Rohlfs: Ich war nur noch ein Stück Erde. Einsatz der Stimmen der Maskierten: We always had a ball on Mars, space truckin', space truckin'. Pause. Space truckin', space truckin'. Pause. Space truckin', space truckin', space truckin'. Pause. The fireball that we rode was movin' but now we've got a new machine. Wiederholung in unterschiedlicher Lautstärke, noch immer flüsternd indes.
Der Eritreer im Sprechgesang: Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich und haben ohne Unterschied Anspruch auf gleichen Schutz durch das Gesetz. Denn einem jeden steht dasselbe bevor, ob klug oder dumm, reich oder arm. Und da nutzt es gar nichts, mit Gott zu hadern, wie ich es fast täglich tue, weil er zwar als Allmächtiger und Barmherziger gepriesen wird, seine Macht aber ausübt an den kleinen und schwachen Menschen oder den unschuldigsten Tieren und allen diesen auch noch ihr bisschen Leben verleidet; der Rest ist Weihrauch.
Palle platziert sich zur gleichen Zeit auf einem Hocker im Hintergrund der Bühne und spielt belebt, nicht zu rasch, die Melodie von All the Things You Are auf einem Tenorsaxophon, bis man schließlich nur noch ihn hört.
Schlussrezitation: Time and again I've longed for adventure, something to make my heart beat much faster. What did I long for, I never really knew.
Nacheinander verlassen alle die Bühne; Palle steht auf und improvisiert schließlich etwa fünf Minuten lang, unmittelbar hinter dem Stacheldraht, über Motive aus John Coltranes Mars. Nicht enden wollender Applaus vom Zuspielband.
In den Applaus hinein spielen Magnus Alberti und Constance das Adagio aus Johann Sebastian Bachs fünfter Sonate für Violine und Klavier in F-moll (BWV 1018). Vorhang. Stille. Fade-out. Applaus.
"Nein, nein, nein, mein lieber Rohlfs", hörte man Emilian ein wenig verärgert hinter der Bühne. "Dieser Rundumschlag bis hinein ins Bachwerkeverzeichnis kommt nach meinem Dafürhalten überhaupt nicht in Frage. Das ist allzu ausgeklügelt, Rohlfs! Es ist Zeit aufzubrechen! Hören Sie mich? Es ist fünf vor zwölf. Die Realität des Krieges, seine Monstrosität, seine Schrecken! Und der Coltrane am Ende hat viel zu viel Gewicht. Geradezu gravitätisch! Glauben Sie mir, Rohlfs, glauben Sie mir!" - "Ich glaube Ihnen!"
"Stattdessen sollte Petrică in einem Drachengewand auf einem Einrad die Bühne verzaubern. Glauben Sie mir, Rohlfs, glauben Sie mir! In seinem Gefolge sehe ich Gruppen von Angehörigen eines Altersheims, einer Nervenheilanstalt sowie etwa ein Dutzend Schülerinnen und Schüler, die sich ganz nach Lust und Laune zu einer Aufzeichnung von Lady Gagas Venus rhythmisch bewegen.
Lucia, das gebe ich gern zu, war zeit ihres Lebens, wie soll ich mich ausdrücken, überwältigt von der Zurschaustellung der Perfektion ihres Könnens und wie sich ein Großteil der Erdbevölkerung ihr wie einer Heiligen zu Füßen wirft. Industrien arbeiten emsig an der monarchischen Aura der Ikone um ihrem Fleischprodukt ein wunderbares und luxuriöses Aussehn zu verleihen und es im kollektiven Bewusstsein zu verankern.
Dieses Bewusstsein sehnt sich naturgemäß nach der Prostitution vorgegaukelter Harmonie, das nur durch die Gleichzeitigkeit der Ereignisse entlarvt werden kann, etwa als würde man – und diese Idee ist längst nicht mehr allzu verstiegen – alle Symphonien Beethovens simultan zum Klingen bringen.
Man stelle sich dementsprechend die Gleichzeitigkeit eines harmonischen Fertigprodukts wie Venus und eines Stoßgebets wie Coltranes Mars vor. Zumindest wird hierdurch eine Frage evident: The unanswered question.
So möge man sich also voller Demut in den Schatten der Götzin in Venuspose stellen und sich in ihrem Gefolge an die Bußen und Opfergaben erinnern, die sie in ihren Gesängen verschweigt. Noch immer wird der Lüge der Harmonie gehuldigt, noch immer werden die Affekte unterjocht: Lust, Unlust, Begierde und Furcht.
Einstmals gelang dies dem Tonmeister Bach mit seinen Konzessionen an die Kirchenväter, so wie es den großen Luden der Musikindustrie noch immer gelingt die Illusion der Harmonie aufrechtzuerhalten.
Es ist ebenso unser unabdingbarer Auftrag, lieber Rohlfs, dem Vermächtnis der Katzenmusik mit Peitschen, Blecheimern und Topfdeckeln zu dienen wie das Vermächtnis von Alois als Dichtung in den Olympus Mons einzugraben.
Die Gleichsetzung von Harmonie mit Schönheit nährt sich von der Auslöschung ihres Gegenteils. Unser Auftrag, Rohlfs, bleibt die Erinnerung an das Gegenteil, die Erinnerung an die Kehrseite des wohlklingenden Tons, die Not, wenn Sie so wollen, Rohlfs, die Not.
Selbstverständlich sollte Petrică einige Mitglieder der Gruppe zum Tanz auffordern, nachdem er von seinem Einrad gestiegen ist. Und er wird rufen: Das Grab kann ein Garten des Paradieses oder ein Abgrund der Hölle sein. Das ist unerlässlich, Rohlfs! Auch ein Rundtanz wäre vorstellbar. Das Publikum muss bereits zu Beginn, etwa durch Flugblätter, darauf hingewiesen werden, dass die Räumlichkeiten ordnungsgemäß zu verlassen sind.
Die anfallenden Aufräumarbeiten sind unbedingt durch Aufsichtskräfte in größter Strenge einzuteilen, wobei darauf zu achten ist, dass das Personal nach entsprechenden Auswahlkriterien bezüglich der notwendigen physischen und mentalen Voraussetzungen vom Veranstalter bestimmt wird, der für die Einhaltung der althergebrachten Gesetzmäßigkeit haftet. Die Aufsichtskräfte tragen volle Motorradmontur. Gewiss finden sich sogar, wenn ich Sie richtig verstanden habe, in Petricăs Gefolgschaft die richtigen Leute für eine solche Aufgabe. Eine volle Motorradmontur kann Leben retten, wissen Sie? Übrigens habe ich mir erlaubt ihre Kleidung vom Maisgrieß zu reinigen. Legen Sie den Gurt an, Rohlfs! Legen Sie den Gurt an und ruhen Sie sich aus. Wenn Sie möchten, berichten Sie doch noch ein wenig von Alois, bevor Sie in Tiefschlaf versinken. Vermutlich haben Sie die ganze Nacht kein Auge zugedrückt, oder? Seien Sie unbesorgt! Sie sind in guten Händen! Der TV-14 C läuft bereits auf Hochtouren. Hören Sie? Wie eine Eins! Es gibt kein besseres Fahrzeug auf dieser Welt! In der nächsten Welt werde ich ihn vermissen, Rohlfs! Ihn und Lucia, Rohlfs! You are the angel glow that lights the star, the dearest things I know are what you are. Someday my happy arms will hold you, and someday I'll know that moment divine when all the things you are, are mine.
Es muss etwa fünf oder sechs Jahre zurückliegen, dass ich Lucia grobe Vorhaltungen machte, wie sie sich einer derart ideen- und lieblosen Musik, einer derart, wie man sagt, an die niedersten Instinkte appellierenden Kultur habe hingeben können, als folge man dem Aufruf: Wollt ihr den totalen Puff? Und all dies mit dem Gestus der totalen Überlegenheit.
Auch wenn ich es mir nie verziehen habe, Lucia ins Gewissen geredet zu haben, gestand sie später ein, dass man sie in ihrer Heimat, Rohlfs, oft mit Fragen überrumpelte und kompromittierte, die man hierzulande noch immer äußerst vertraulich behandelt; doch, gewiss, die Unterschiede werden fraglos verschwinden, domnule Rohlfs.
Noch immer schmerzt es mich die Dinge einfach sein zu lassen. Lasst sie ihren Instinkten folgen, ihren Trieben, bis sie satt sind. Wen wollte man schon aufzuhalten versuchen, wen eines Besseren belehren wollen.
Ach, ein wenig mehr Weisheit täte gut, Rohlfs, eine wenig mehr Gelassenheit – serenitáte, Rohlfs, serenitáte! Gewiss, der Dichter dichtet, der Prediger predigt, der Wanderer wandert, der Verbraucher verbraucht.
Gott, wie verwegen es wäre die Monstrosität des Verlangens zu leugnen, auch wenn ich es immer wieder in Erwägung zog. Lucia wuchs mit der Gunst und der Liebe unserer Musik auf, wir haben die Hora getanzt, Konzerte mit Maria Ciobanu in Eforie Sud besucht, wir hörten Schallplatten von Maria Tănase, Mioara Velicu, Sofia Vicoveanca und Maria Cârneci. Gelegentlich besuchten wir auch klassische Konzerte, Kammermusik von George Enescu, seine Orchesterwerke, die Rapsodia română, auch deutsche Komponisten, Rohlfs. Nach der Revolution wollte man dann nur noch Manele hören, dicke Schlitten fahren und zur Schau stellen, schnelles Geld in Germania verdienen, "cum se fac bani in Germania" war mit einem Mal in aller Munde. Lucia war kaum noch zu bremsen, von irgendwelchen Hosenscheißern war die Rede, băieţi şmecheri, Vasile hielt sie für Menschenhändler, proxeneţi din judeţul Buzău; einmal hieß es sie sei abgehauen, schlüge sich durch mit kleinen Jobs an Tankstellen. Vasile kennt ein paar Jungs, die viel herum kommen in Germania, Geld im Baugewerbe, miliona de lei, Sie wissen schon. Man redete von der Queen of the Gas Station. Was soll man von alldem halten, Rohlfs? Was tun? Vier Jahre, nein, mehr als vier Jahre habe ich kein Wort von ihr gehört. Sie glaubt, dass ich ihre Wahl verabscheue, vielleicht tue ich das, Rohlfs, doch, glauben Sie mir bitte, glauben Sie mir, der Friede sei mit mir. Selbst Fräulein Germanotta möcht' ich in die Arme schließen, nur für einen Moment, und mit ihr gemeinsam gegen ihren Gesang rebellieren. Dumnezeu le-a schimbat vieţile. Vielleicht vermag es John Coltranes Mars, vielleicht ist dies der heilende Ton.
Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, mein Herr, und verzeihen Sie mir meine Anmaßungen. Letztlich sind wir es selbst, die uns verurteilen. Wir verurteilen uns dazu uns zur Verfügung zu stellen, vielleicht auch aus Bequemlichkeit, vielleicht aus Feigheit. Wir verurteilen uns zum Dienst am Gemeinwohl.
Sie sollen wissen, dass es mir ein Vergnügen ist mich Ihnen zur Verfügung zu stellen, mein Herr. Indes sind wir nicht veranlasst, einem einzigen Weg stur zu folgen. Wir können, wenn Sie es wünschen, jederzeit die Fahrtrichtung ändern. Ohnehin wird sehr viel Zeit vergehen, bevor eine Entscheidung unwiderruflich als endgültig hinzunehmen sein würde. Die Begegnung mit Kolja, dem Maler, selbst die kasachischen Weltraumschrottsammler öffnen uns neue Wege. Verzeihen Sie mir meine Anmaßungen, ja, ich wiederhole mich, verzeihen Sie vielmals!
Naturgemäß haben wir sehr viel Zeit! Lang ist die Zeit, es ereignet sich aber das Wahre. Rund 3700 Kilometer, Rohlfs! Angesichts der verbleibenden 56 Millionen Kilometer, Rohlfs, wenn beide Planeten auf der gleichen Seite der Sonne stehen und Mars der Sonne von der Erde aus gesehen genau gegenübersteht, sind 3700 Kilometer allenfalls eine Kaffeefahrt! Legen Sie also den Gurt an und lassen Sie den Riegel im Gurtschloss einrasten. Im Handschuhfach finden Sie feinste Schreibutensilien, ein Diktiergerät sowie Ersatzbatterien für den Radioempfänger unter Ihrem Sitz. Fast alles, was man für eine Reise braucht! Hören Sie mich?"
"Ich kann Sie hören!"
"Gewiss werden Sie sich fragen, wer sich in unserer Abwesenheit um die freilaufenden Enten, Gänse und Hühner kümmern mag. Das Anwesen dient seit jeher all denjenigen als Unterschlupf, die es leerstehend vorfinden, wissen Sie? Oft haust hier der alte Vasile, der mir seit vielen Jahren Brennholz, Milch, Brot, Salz, Öl, Mehl, Schnaps und kanisterweise Diesel für meinen alten TV-14 C bringt. Läuft auf Hochtouren! Hören Sie? Wie eine Eins!
Machen wir uns indes bloß nichts vor, lieber Herr Rohlfs, denn es spielt im Grunde überhaupt keine Rolle, ob ein Fräulein Germanotta ihre Gesangskünste künftig mit kreischenden Saxophonen untermalt, die Nachgeborenen Free Jazz zum Frühstück konsumieren, die Kirchgänger zu freidenkenden Menschen erzogen werden, ein Spitzenfußballer sich mit dem Gehalt eines Bundesrichters begnügen muss, Indien eine Sonde zum Mars schickt oder es Florence André und Florence Porcel zu eng auf der Erde wird und sie daher zu den ersten Siedlern auf dem roten Planeten gehören wollen. Die Dinge sitzen im Sattel und reiten die Menschheit.
Es macht im Grunde keinen Unterschied, ob das Kapital in den gierigen Händen einiger filziger Finanzmänner der Wall Street heranwächst oder die Reichtümer gerecht verteilt werden, so wie es keinen Unterschied machte, ob die Heilige Schrift dem Klerus vorenthalten blieb oder einer breiten Masse zugänglich gemacht wurde.
Wir sind bereits in gleichem Maße von Menschen Hand eingegangen und verkümmert wie der größte Teil des Aralsees sich seit dem Mittelalter von Menschen Hand in eine Wüste verwandelt hat. Wir sind Wüstlinge, domnule Rohlfs, und wir werden weitermachen. Ein wenig Anstiftung zum Unfrieden, nein, das kann unmöglich großen Schaden anrichten! Der Friede sei mit uns!
Was bleibt, mein lieber Herr Rohlfs, ist sozusagen die unbedingte Notwendigkeit der Aufgabenerfüllung, der objektiven Betrachtung im Rahmen unserer aufs Äußerste begrenzten Möglichkeiten sowie die Notwendigkeit eines Gleichgewichts des Schreckens.
Doch berichten Sie noch ein wenig von Alois, bevor Sie mich vollends aus den Augen verlieren. Heißt es nicht im Marsevangelium Alois sei derselbe geblieben, nur die Umwelt habe sich verändert? Es steht geschrieben: Es wäre wohl besser gewesen, man hätte ihn in seiner schlichten Welt belassen. Jedes Tier braucht die ihm zukommende, eigene Welt; man kann es nicht in eine ihm fremde versetzen, ohne dass es verkümmert und eingeht. Habe ich die Stelle richtig wiedergegeben?
Man mag dies Feigheit nennen oder Vernunft, nun, bevor ich meinen Dienst als Matrose quittierte, wollte ich von solchen Dingen nichts hören, mein Herr. Tatsächlich fand ich meinen Frieden in der Weite des Meeres, doch ich schweife allzu sehr ab. Ein anderes Mal komme ich, wenn Sie wünschen, darauf zurück. Andererseits bleibe ich selbstverständlich stets beim Thema.
Die grenzenlose Weite, das Weitermachen, mein Herr, das Weitermachen aller Begrenztheit und Unzulänglichkeit zum Trotz! Aller Begrenztheit und Gebrochenheit zum Trotz! Aller Begrenztheit und Vergänglichkeit zum Trotz! Bitte entschuldigen Sie meinen Pathos!
Es wäre wohl besser gewesen, man hätte auch mich in meiner vertrauten Welt belassen. Dennoch: Der gute, alte Rocar TV-14 C läuft auf Hochtouren! Hören Sie das? Wie eine Eins! Wie eine Eins!
An anderer Stelle heißt es bei Alois: Nicht aus dem Bild der christlichen Geschichte, sondern aus bloßer Lebenserfahrung wissen auch wir, dass wir nichts erzwingen können, dass alles seine Zeit, seine Reife, seine Gelegenheit braucht, dass das bloß Gemachte, Konstruierte keinen Bestand hat, dass wir die Natur nur beherrschen können, indem wir uns ihr einordnen, und das gilt, recht verstanden, nicht nur im physikalischen, sondern auch im seelischen, moralischen Bereich.
Was halten Sie von dieser Stelle? Nun, das Reden scheint Ihnen schwer zu fallen, mein Herr, doch sind Sie ein aufmerksamer Zuhörer. Das ist eine große Gabe! Fast möchte man sagen Sie seien ein Aufhörer, mein Herr. Verzeihen Sie mir! Bestimmt habe ich Sie bereits eingelullt mit meiner Redseligkeit. Gleichzeitig bitte ich Sie mir dies nicht zu verübeln oder darüber ungehalten zu sein."
"Keineswegs, Emilian, keineswegs! Das darf ich Ihnen versichern." Ein neues Jahr liege vor ihm, ein Jahr, das ihn aus seiner Niedrigkeit erheben solle. Zwei Jahre Tagebuch, die er auf dem Tisch vor sich betrachtete, ein ungefüges, sich ergebendes Leben und Tun sei es gewesen. Das neue Jahr nun solle eines der Freude und der Arbeit werden. "Ich hoffe, dass mich der Winter auf der Rodelbahn und dem Eise trifft, der Sommer in Wald und Feld", wäre er älter, wollte er sich einen Kugelregen erhoffen; aber Ordnung sollte von morgen an walten, der alte Schlendrian Vergangenheit sein.
Am 29. Februar nun also sei er nach Frankfurt gefahren um Hauptmann sprechen zu hören. Vorher habe er noch den Reichspräsidenten im Goethehaus gesehen, woraus er ein kleines Feuilleton machte, das im Vorwärts gedruckt wurde.
Wie viel doch dazu gehörte, etwas Gewisses zu schaffen, als Grundlage vor allem der sichere Glaube ans Gelingen! Hauptmann habe stark gewirkt durch seine Persönlichkeit, schwächer durch seine Rede. Die Frankfurter Egmont-Aufführung sei wie aus einem Guss gewesen, wohl abgewogen vor allem die Gestalten Egmonts und Klärchens, die allein im Gedächtnis der Zuschauer zurückbleiben würden, während alles andere darum sich wohltätig als Gesamteindruck anordnete. Die Aufführung habe stark in ihm die Lust bewirkt, wieder Goethe zu lesen und von ihm zu lernen. Das sei ja sein Leitmotiv: lernen, lernen, lernen!
Das Schöne dabei: das Leben als ein Experiment betrachten zu dürfen! Wobei nicht die falsche Folgerung hinzukommen dürfe, als sei es nicht erlaubt jemals vollkommen zu werden. In Goethe trete so schön das Willenselement hervor, ohne durch viel Aufhebens zu stören. Wie vieles ihm erst als interessant und wertvoll aufgehe im Unterricht der Volksschule, worüber er sonst Langeweile empfunden habe.
Im pädagogischen Kurs resümierte er sein Erlebnis zu einem Vortrag: Die Frankfurter Goethewoche war ein Ereignis, dem in ganz Deutschland lebhaftes Interesse begegnete. Die Spende, welche es galt aufzubringen um das Goethehaus wieder aufzurichten, war nur der äußere Anlass zum Feste.
Aber schließlich kam der Zerfall des Goethehauses vielen gelegen um etwas Größeres, tiefer Gefühltes dabei zu bekunden. Es lag in weiten Kreisen des deutschen Volkes ein wahres Bedürfnis vor, nicht nur ans Goethehaus, sondern an Goethe selbst zu denken. Manchen fiel es plötzlich wie eine Todsünde ein: jahrelang hatten sie keine Zeile von Goethe mehr gelesen. Sie wähnten sich im sichern Besitze dieses Mannes, weil er hinter Glas und Rahmen stak usw. Bei Ausbruch des Krieges war das Unsägliche geschehn, dass uns ein Oberlehrer sprach: „Wir sind froh, dass uns das Ausland jetzt auch einmal von der anderen Seite kennen lernt, bisher waren wir immer nur das Volk der Dichter und Denker. Über unserm Lustwandeln im Wolkenkuckucksheim versäumten wir die gebührende Machtstellung zu erringen.“
Ein geradezu Ertrinkender musste buchstäblich in letzter Sekunde das Seil ergriffen haben mit dem Schrei: „Zurück zu Goethe!“ Er war der ruhende Pol. Er war unser größter nationaler Dichter, nicht nur Kosmopolit! Das fand auch seinen Ausdruck darin, dass der Reichspräsident und andere Angehörige der Regierung in Frankfurt erschienen. Viele schraken einen Augenblick zurück. Der Anblick der schwarzbefrackten Herren da oben auf dem Balkon kam ihnen spaßig vor. Und doch: Wie bedeutungsvoll ist es, dass die Republik nach Frankfurt geht um vor dem kleinen braunen Haus am Hirschgraben Segen zu erflehen! Es klingt wie ein veni creator spiritui! Hilf du uns usw.
Dieser Anblick, dass ein ganzes Volk (hier verkörpert im Präsidenten) zu seinem Dichter wallfahrt um in tiefster Not dort zu beten, das ist in Deutschland noch nicht dagewesen. In den westlichen Demokratien wohl. Jedem einigermaßen gebildeten Franzosen schlägt das Herz höher, wenn der Name Molières, Balzacs oder Victor Hugos fällt. In der Académie haben sie ihren Platz. Ihre Gebeine ruhen im Pantheon. Der Präsident huldigt ihnen an ihren Gedenktagen. Wir mochten lachen über solches Komödienspiel, da uns selbst ein tieferes Nationalgefühl abging.
Aus den Erörterungen, welche wir im Laufe der Woche gehört haben, scheint mir als fester Punkt wieder und wieder gekehrt zu sein die grundsätzliche Trennung, die wir zwischen Religion und Sittlichkeit zu machen haben. Jene Auffassung, dass erst aus der Religion und zugleich mit ihr vollendete Sittlichkeit erwachse, erschien mir einer Korrektur bedürftig. Wohl ist es von Alters her so, dass in den religiösen Gebilden der Geschichte, der Konfessionen und deren Schriften, Dogmen, zugleich die Sittlichkeit verankert ist. Das ist aber wohl deshalb so, weil das Sittliche, dessen Verehrungswürdiges, ebenfalls in einem Überindividuellen, in dem Volksganzen oder Menschheitsganzen besteht, immer am Wort der Religion als nächststehend erschien.
Die Sittlichkeit ist der Religion entweder eingeordnet und damit untergeordnet, oder sie ist als vollständiges Phänomen ihr unterlegen. Die Herkunft der Sittlichkeit als soziales Produkt hat mich zu dieser Ansicht geführt.
Die Sittlichkeit ist ein System sozialer Übereinkünfte, welche insgesamt bezwecken, das Wohlergehen der Einzelnen zu sichern und zu fördern. Wenn man von der so genannten geistigen Hebung der Menschheit spricht, so kann ich darin schlechterdings kein Ziel erkennen, welches höher sei als das der körperlichen Hebung. All dies ist Kultur im Gegensatz zur Religion.
Das so genannte Ideal der Tüchtigkeit (Wilhelm Meister) reicht nicht mehr aus. Der Beamte bei uns ist in seiner inneren Hohlheit offenbar geworden. Der bekannte Typus einer jüngst vergangenen Gegenwart hatte zu Gunsten der Pflicht den schaffenden Geist in uns getötet. Da der Antrieb jener Pflicht in Gestalt des alten Staates gefallen ist, bleibt nichts mehr übrig. Man bekennt sich offen zur gegenseitig geduldeten Bequemlichkeit und Annehmlichkeit. Glaubt man, dass unsere großen Erfinder, Künstler usw., welche das Wohl der Menschheit am meisten förderten, für die Menschheit gearbeitet haben? Das ist eine Phrase, aus zwei Gründen: einmal aus Erkenntnisdrang, zum anderen aus Schaffensdrang.
Eher flüchtig nahm Rohlfs über die Lesebrille hinweg eine Gruppe von Kindern wahr, die am Straßenrand Waldbeeren und Pilze verkauften, Karrenwagen, an denen Emilian stets vorausschauend vorbeifuhr, entgegenkommende Fahrzeuge, die durch kurze Lichtsignale vor einer Polizeikontrolle warnen wollten, einen Grenzposten, der uns lächelnd passieren ließ, nachdem Emilian ihm einen Geldschein zugesteckt hatte, ungeduldige Geschäftsleute in teuren Fahrzeugen, die den TV 14-C mit aufbrausenden Motoren und riskanten Spurwechseln an gefährlichen Engstellen in letzter Sekunde überholten, naturbelassene Felder und Wiesen, schattige Wälder, einen einsamen, abenteuerlustigen Fahrradtouristen in leuchtend kostspieliger Montur des Westens, welche den erfolgreichen Markennamen zur Schau stellte, der sich, so dachte Rohlfs, bedrohlich von der Umgebung abhob, sanfte Weinhänge, blühende Bäume, Emilians Lippen, die sich, aus welchem Grund auch immer, meist vergnügt zu kräuseln schienen oder bestimmte Stellen aus den Aufzeichnungen, die ihm Rohlfs vorlas, stumm nachsprachen, vermutlich um sie sich besser einzuprägen, Orts- und Straßenschilder, deren Namen Rohlfs hastig in seinem Skizzenbuch festhielt: Strîmbeni, Lăpuşna, Rusca, Miciurin, Stradă Mihai Eminescu, Bardar. Über die Lesebrille hinweg nahm Rohlfs die Architektur, Sehenswürdigkeiten und historische Orte Kischinaus wahr, auf die Emilian manchmal wie ein Reiseleiter hinwies, nicht ohne sich wiederholt dafür zu entschuldigen, dass er sich verfahren hatte: Die Kathedrale der Geburt des Herrn mit ihrem prachtvollen Glockenturm, den Saal mit Orgel, den Triumphbogen am Bulevardul Ştefan cel Mare şi Sfînt, die zehn Bronzebüsten vor dem Verteidigungsministerium auf der Allee der Herrscher Moldawiens, die Kathedrale des Märtyrers Teodor Tiron, den zoologischen Garten zur Rechten und, etwas später, den botanischen Garten zur Linken.
Als Emilian mit einem Handzeichen auf den internationalen Flughafen deutete, spürte Rohlfs erstmals seit ihrem Aufbruch, wie eine schwere Müdigkeit von ihm Besitz ergriff, die er abzuschütteln versuchte, indem er rasch das Fenster herunterkurbelte und den Kopf für eine Weile in den Fahrtwind hielt. Emilian stimmte unterdessen lauthals ein Lied an: "Am cravata mea, sunt pionier, şi mă mândresc cu ea, sunt pionier!" - "Dass über uns beispielsweise geschrieben werden könnte", sprach Rohlfs mit dem Blick über die Lesebrille hinweg und gewissermaßen so dahin. "Über uns schreiben, aber ich bitte Sie, wer sollte denn über uns schreiben?" - "Na sagen wir, warum nicht zwei, die auf die Schnapsidee gekommen sind, es lasse sich, so gut wie man sich über dieses und jenes unterhält, ein Buch schreiben." - "Ein Buch. Über uns?" - "Warum nicht?" - "Rohlfs, seien Sie ehrlich! Sie sind das, der ein Buch schreiben will!" - "Unsinn, wozu ein Buch schreiben, ich meine extra schreiben. Es würde doch ohnehin nur drinstehen, was ich schon weiß." - "Das glaube ich nicht, denn über dem Schreiben würden Sie auf dieses und jenes kommen, was Ihnen sonst niemals eingefallen wäre. So ist es jedenfalls bei mir. Ich schreibe überhaupt nur aus diesem Grund." - "Sie schreiben?" - "Ich schreibe nicht mehr als andere Leute, dies und das. Selbst wenn ich bloß einen Einkaufszettel schreibe, stehen hinterher Sachen drauf, an die ich so eigentlich gar nicht gedacht hatte. Jetzt sagen Sie nicht, das sei Ihnen zu platt. Es ist genau das, was ich sagen wollte. Durch das Schreiben fallen einem Sachen ein." - "Sachen. Sind das dann Sachen, die erfunden sind, oder sind sie, ich meine besitzen sie eine Art höhere Wahrheit? Sie wissen schon: Die Schreiberei wäre also vielleicht eine Art freudscher Couch." - "Ich würde mir auf meinem Einkaufszettel etwas erlauben, was ich mir ohne nicht gestattet hätte. Ja, ich glaube schon. Es kann sein, dass ich dann später doch nicht alles kaufe, was darauf steht. Trotzdem haben Sie mich jetzt irgendwie durcheinander gebracht." - "Wenn sich", Rohlfs versuchte zu überspielen, dass er sich in Stimmung gebracht fühlte, "sagen wir, jemand das alles hier bloß ausgedacht hätte, wie wahr wäre es dann dennoch?" - "Aber Rohlfs, das alles hier ist doch ausgedacht. Wenn Sie möchten, sagen Sie, wir hätten es uns ausgedacht." - "Ich weiß nicht, ob wir dasselbe im Sinn haben. Nehmen wir noch einmal das Beispiel von den beiden Komödianten, die sich uns ausdenken und eine Geschichte über uns erzählen. Wir sind Buchstaben, Wörter und so weiter. Wie kommen die auf uns?" - "Ja, aber das ist doch ganz klar. Sie beobachten uns, machen sich so ihre Gedanken, lassen uns gedankenweise dieses und jenes tun, sprechen und so weiter." - "Aber mal im Ernst, das sind ja dann nicht wir, sondern, es ist das, was die sich denken." - "Schon, nur dass das natürlich nirgendwo einen Anfang und auch kein Ende hat." - "Keinen Anfang und kein Ende?" - "Ja, weil wir es genauso machen. Wir erfinden uns. So und so viele Sachen sagen die Leute über uns, wir finden das eine gut, das andere ist uns nicht so recht, aber wir machen uns unseren Reim darauf. Wir sind Erfindungen, unsere eigenen ebenso gut wie die der Leute. Sagen Sie den beiden Typen, die sich die Arbeit mit uns machen, sie sollen ein paar Groschen rüberrücken, wenn sie damit fertig sind!"
"Der Reichtum, den Sie hier sehen, Rohlfs, ist nicht mit den Maßstäben des Westens zu messen. Er trumpft nicht auf und stellt sich nicht zur Schau. Gewiss, die Hinterlassenschaft des kommunistischen Regimes wiegt mitunter schwer; die Bauwerke des Sozialismus wirken meist ideen- und lieblos, doch, so dachte ich oft, als ich zu Gast in Ihrem Land war, dürfen wir uns nicht vom Glanz der Farben blenden lassen. Sind es nicht bloß die grell leuchtenden Farben, fragte ich mich, die den Unterschied ausmachen? Die Plattenbauten des Westens leuchten inzwischen in strahlendem Rot und Orange, in kräftigem Preußischblau; wir sind im Ton der Pastellfarbe aufgewachsen. Die Freiheit verbirgt sich vermutlich im Kampf der Raben mit den Käfern und Würmern, in den Fäulnisprozessen auf den Feldern, im Kirschgarten der Nachbarin, in der bewussten Bejahung der Vergänglichkeit. Die Desillusionierung macht es vielleicht ein wenig leichter sich aus der Sklaverei zu befreien. Aus welcher Sklaverei, fragen Sie sich? Es ist in der Tat nicht leicht diese Frage zu beantworten.
Schreiben Sie, domnu' Rohlfs, in Ihr Notizbuch, schreiben Sie: Sklaverei der Genehmigungen für einen Aufenthalt, Arbeit, die Existenzgründung, Abriss, die Errichtung, Änderung, Nutzungsänderung von baulichen Anlagen, den gewerblichen nationalen oder internationalen Güterkraftverkehr, für den Gelegenheitsverkehr mit Mietwagen, für Wohnmobilplatz, den Gelegenheitsverkehr mit Kraftomnibussen, für das Veranstalten von Spielen mit Gewinnmöglichkeit, Straßenmusik, für die Verwendung von konventionellen Zutaten im ökologischen Landbau, für eine fortlaufende Heilmitteltherapie, den Bau einer Hähnchenfabrik, den Betrieb eines Wildgeheges, den Aufstieg von Himmelslaternen, für das Fällen von Bäumen mit einem Stammdurchmesser von mehr als 10 cm,  für das Gartenhaus, die Sonntagsarbeit, Schweinemast, den Grabstein, Höhlenzutritt, Geschäfte über Grundstücke, Schiffe oder Schiffsbauwerke, die Einlagerung bzw. Aufstellung von Flüssiggas-Behältern. Worauf warten Sie noch? Stellen Sie sich doch einmal vor man hätte Stalin die Genehmigung für die künstliche Bewässerung der Baumwollfelder in Kasachstan und Usbekistan verweigert! Der Führer braucht keine Gewaltmittel, um seine Stellung zu sichern. Seine Autorität stützt sich nicht auf die Angst vor Strafe. Die Genehmigung für die Herstellung von Fertigprodukten wird ab sofort weltweit zurückgezogen! Köstlich, nicht wahr? Schreiben Sie, Rohlfs! Oder die Genehmigung für die Besiedlung von fremden Kontinenten durch Europäer wäre nicht erfolgt! Die Genehmigung für die Förderung von Terraforming als gemeinschaftsstaatliches Projekt wird nicht erteilt! Wir lebten in einem der ersten Blöcke, die uns Genosse Ceauşescu bauen ließ. Selbst im ABC-Buch der Grundschule war das Antlitz des Führers gegenwärtig. Lucia war eine hervorragende Schülerin und begabte Handwerkerin. Sie liebte und pflegte ihre blassblaue Schuluniform. Sie war verrückt nach Cola Cao, Nesquik kannten wir nicht.
Nach der Schule traf sie sich oft mit gleichaltrigen Mädchen am Treppenaufgang zum Hüpfseilspiel. Die Jungs, stets etwas abseits, ahmten mit den Händen die Flugbahnen der Militärflugzeuge nach; die Reviere waren stillschweigend abgesteckt. Manche spielten auch am Boden mit ihren im Tauschgeschäft erworbenen Plastiksoldaten.
Später dann, gewiss, versuchten einige Jungs, băieţi şmecheri, den Mädchen einen flüchtigen Kuss abzutrotzen. Man trug blugi, aus der Türkei importierte Blue Jeans, für die man sich nicht schämen musste, denn Levis oder Wrangler kannte man nicht. Man suchte die Freundschaft, Rohlfs, das Wort Sex benutzten allenfalls ein paar Unterweltler oder Zuhälter. Man errötete bei dem Klang des Wortes. Lucia liebte die Poesie und schrieb Gedichte. Es gab kaum eine Zeile Eminescus, die sie nicht in- und auswendig kannte.
Gewiss, auch Lucia fing noch vor der Revolution an von Bobby Ewing zu schwärmen. Tatsächlich sollte man, wie Groucho Marx einmal gesagt haben soll, jedesmal, wenn jemand den Fernsehapparat einschaltet, in ein anderes Zimmer gehen und ein Buch lesen. Fernsehen sei sehr bildend, meinte Marx ironisch. Ich bin ein Marxist à la Groucho."
Herzhaft lachend parkte Emilian den TV 14-C vor einem bunten Gemischtwarenhandel am Straßenrand von Ţânţăreni. Die grellen, rot-weißen Farben eines Plakats des Coca-Cola Konzerns, das man recht provisorisch unter dem Dachgiebel befestigt hatte, schienen bereits an Leuchtkraft eingebüßt zu haben. Vor dem Laden türmten sich blaue Wasserbottiche und Kanister in unterschiedlichen Größen sowie Baumaterialien, Schlauchrollen, Sauerstoffflaschen, eine Gartenpumpe, ein Schubkarren, Wasserhähne, mehrere Waschbecken aus Aluminium und zwei dunkelgrün lackierte Fahrräder, die recht mitgenommen aussahen. Emilian bestellte mit einem Handzeichen zwei Flaschen Bier und es schien, als sei er nicht zum ersten Mal hier. Zumindest duzte er den kleinen dicken Ladenbesitzer und erkundigte sich nach Daciana, Doina und Raluca. Unterdessen überprüfte er den Benzinstand des Tanks, da er, wie er sagte, der Tankanzeige nicht traute. Rohlfs gab indes zu verstehen, dass er es vorzöge im Wagen zu bleiben um sich nochmals mit den jüngsten Aufzeichnungen zu befassen. Er verschwieg allerdings, dass ihm die Müdigkeit sehr schwer in den Gliedern saß und die Einsamkeit der Fahrerkabine bevorzugte; für jede Art von Geselligkeit hielt er sich für ungeeignet.
Modisches musste sich immerzu auch in einem gewissen Sinne über das hinwegsetzen, was man gemeinhin als schön bezeichnet hätte, denn das erste Anliegen der Mode war sich von dem zu unterscheiden, was, wie man so sagt, gestern modern war. Die Gestrigen hatten es so weit gebracht mit ihren Vorstellungen davon, was richtig und gut war, dass es fast den Anschein hatte, es handele sich um das eigentlich Richtige und Gute, woran nun immerhin durchaus Zweifel angebracht waren. Erstens war das Gestrige einst ein Heutiges, wenn auch derart vor Zeiten, dass man die Erinnerung daran geradezu vergessen hatte. Inzwischen war man in dem einst Heutigen zu Jahren und Würde gekommen. Wie viele lächerliche Versuche sich Kenntnisse und Leichtigkeit zu erwerben im Umgang damit, was Geltung besaß, hatte man nicht erlebt, um doch festzustellen, dass die nachwachsende Generation den nun einmal bestehenden Vorsprung an Erfahrung und Einsicht eigentlich niemals würde wettmachen können, von einigen wenigen Gleichaltrigen, schönen Ausnahmen gewissermaßen, einmal abgesehen, die allerdings von deren Altersgenossen nicht in der rechten Weise gewürdigt wurden!
Stattdessen machte man sich stets von Neuem daran, das, was erwiesenermaßen das Gute und Bewährte war, in Misskredit zu bringen. Natürlich gab es – und würde es zu allen Zeiten solche geben – nämlich, die durch Dilettantismus und, was noch ärgerlicher war, durch Nachlässigkeit in Verruf brachten, was eigentlich gültig und gut war. Aber das war ja in einer Weise offensichtlich, dass sich die Kritik derer, die Neuerung suchten, und zwar um jeden Preis, nicht zu Recht auf gerade die kaprizierten, die nun allerdings als schwache Vertreter gelten konnten.
Es war aber der Gang der Dinge, fast hätte man sich lieber die Pappnasen in den eigenen Reihen gehörig zur Brust genommen. Sahen sie denn nicht, wem sie die Bahn bereiteten in ihrer Trägheit und Oberflächlichkeit? Wohl gab es auch solche unter ihnen, die im vollen Bewusstsein dessen, was sie taten, die Spur der Dumpfen breit traten, genau genommen aus Lust am Untergang, woran man sich offenbar an sich schon vergnügen konnte, oder aber, weil sie der Schrecken derer amüsierte, die treu und besorgt waren.
Es kam also die neue Mode, und sie war hässlich, jeder konnte es sehen, aber das, was an ihr hässlich war, trat in durchaus übertriebenen Gegensatz zu dem, was gerade noch als schön, jedenfalls manierlich gegolten hatte. Darüber herrschte nun bald unausgesprochen Einigkeit, dass man sich zusammenschließen würde, zum Beispiel im Geiste einer neuen Zeit, auf diese Weise der alten entgegenzutreten, ihr die Stirn bieten zu wollen. Die, die es unter den Bedingungen, die nun einmal galten, rein zu nichts gebracht hätten, waren naturgemäß die eifrigsten in dem neuen Spiel. Kunststück, wie leicht es auch zu spielen war, dieses neue Spiel. War die Kombination von Orange und Grün sozusagen das Schreckgespenst des vorigen Geschmacks, so gab es bald nichts mehr, was man sich nicht in den neuen Modefarben vorstellen konnte. Ein Schrotthaufen von einem alten Auto wurde versuchsweise durch die neuen Farben, billig aufgetragen, so weit ging der Wagemut dann doch nicht, zu neuen Ehren gebracht. Und richtig, es konnte nicht lange dauern, bis nagelneue, auch luxuriöse Gegenstände, leuchtend orange waren, und grün selbstredend.
Emilian versicherte, dass die Fahrt bisher wie geschmiert gelaufen sei. Auch die Grenzposten in Kuchurhan hätten sich über den Obolus gefreut und sie ohne Weiteres durchgewinkt. Rohlfs erinnerte sich lediglich an ein Brunnenhäuschen mit Wegekreuz und eine Tankstelle mit dem Namen Stone. Lange rieb er sich die Augen, bis er bemerkte, dass er einen starken Druck auf seiner Blase verspürte. Die Luft war mild und roch nach Meer, als er sich in einem Gebüsch am Straßenrand erleichterte. Es roch nach Meer und Fisch. In der einbrechenden Dämmerung hörte er Möwen kreischen. Schiffssirenen heulten.
Rohlfs fror und fing leicht an zu zittern. Es sei nicht mehr allzu weit bis Maksimov, hörte er Emilian aus der Fahrerkabine rufen. In höchstens zwei Stunden werde man die russische Grenze überquert haben.
"Es ist möglich", dachte Rohlfs, zurück in der Fahrerkabine, bei sich selbst, während Emilian alte Seemannslieder wie Don't you call us common sailors und Auf einem Seemannsgrab, da blühen keine Rosen vor sich hin summte oder hin und wieder auch anstimmte, "es ist möglich, dass sich wirklich und tatsächlich einfach kein Interpret für Motive aus John Coltranes Mars finden wird, auch wenn es Palle, denke ich, wahrlich nicht an der notwendigen Frechheit fehlen würde mit Überzeugung in das Stoßgebet einzustimmen, vielleicht sogar auf es einzuhämmern, es einzudämmen, es gar einzukerkern, den letzten Funken Hoffnung gleichsam einzuäschern. Er dürfte naturgemäß nur lallen, vielleicht gelegentlich schreien, nein, eher lallen, lallen wie ein Ertrinkender, immerzu, gelegentlich schreien dennoch."
Wie, fragte sich Rohlfs, sollte es möglich sein mit der Niedertracht eines Palle und dem, wofür er in seinen Augen stand, Frieden zu schließen? Es war nicht auszuschließen, dass Palle ihn sogar bereits in Baikonur erwartete. Letztlich war jedoch nichtmals Palle seiner List gewachsen, dachte Rohlfs. Hatte er nicht auch Dr. Reich überlistet, an den er kaum noch einen Gedanken verschwenden wollte?
Was mochte Petrică von Rohlfs' Plänen gewusst haben? Das Bewusstsein sich nicht nur davongestohlen zu haben, sondern auch im Besitz von Gegenständen zu sein, die er wissentlich entwendet hatte, beunruhigte ihn derart, dass er einmal mehr dem Bedürfnis nachgab den Kopf aus der Kabine in die Meeresbrise zu halten.
"Die mit Schiffen auf dem Meer fuhren und trieben ihren Handel in großen Wassern; sie haben die Werke des Herrn erfahren und seine Wunder im Meer", wollte er sich notieren, als Emilian ihn jäh aus seinen Gedanken riss, indem er ihn am Arm packte, in seinen Sitz zurückzog und die Scheibe, über ihn hinweg greifend, rasch hochkurbelte. "Sie schwitzen, Rohlfs, und holen sich den Tod. Sie sind noch längst nicht an dem Punkt sich vollends aus dem Staub zu machen! Halten Sie sich an meine Worte, Mann! Halten Sie durch bis Rostow, Rohlfs! Die Begegnung mit dem Maler ist weitaus weniger abwegig als Sie denken, lieber Rohlfs! Vielleicht werden wir sogar eine Weile in Rostow untertauchen müssen, zumal die Entfernung zum Mars erst im Sommer 2018 wieder günstig ist. Schreiben Sie: Und so kam ich hierher mit Schiffen und eigener Mannschaft, fuhr auf schimmerndem Meer zu anders redenden Menschen."
Erneut zog Rohlfs die Möglichkeit eines Kollateralschadens in Erwägung, da man sich vermutlich bereits in der Nähe von Mariupol befand, und stellte sich die abgerundeten Flächen von Raketenköpfen vor, die sich auf die Fahrerkabine des TV 14-C zubewegten. Er würde rechtzeitig aus der Kabine zu springen versuchen, die Umhängetasche fest umklammert. Falls nötig, würde er auch zu Fuß nach Baikonur finden.
Sollte er tatsächlich noch weitere drei Jahre unterwegs sein? Sommer 2018, hatte Emilian gesagt. Was mochte Emilian im Schilde führen? War es möglich, dass sich Emilian und Alberti von der Seefahrt her kannten? Rohlfs wollte sich nicht davon abbringen lassen, dass Emilian im Innersten ein gutes Herz hatte, was vielleicht von der Seefahrt herrührte. Dennoch befürchtete Rohlfs, dass das Vorhaben nunmehr an einem seidenen Faden hing, den sein Fahrer mit seinen Einwänden zu durchschneiden drohte.
Das ehrgeizigste Projekt im Rahmen des Terraforming war indessen die Errichtung einer Radioantenne auf dem Olympus Mons, vermittels derer man die Datenplatten jederzeit in Schallwellen übertragen konnte. Der Bau weiterer Stationen zu einem noch zu bestimmenden Zeitpunkt im Auge des Mars, dem Solis Lacis, und am südlichen Rand des Elysium-Plateaus befand sich noch in der Planungsphase. "Bei der Übertragung expandierter Signale kann eine Einwirkung auf Funksignale der Antenne erfolgen, die von fremden Übertragungssystemen benutzt werden", schrieb Rohlfs in sein Skizzenbuch. "Tell my wife I love her very much she knows … And there's nothing I can do", fügte er hinzu.
Gleichzeitig versuchte er sich die Form orographischer Wolken auf der Erde einzuprägen, die denen ähnelte, die man von der Radiostation auf dem Olympus Mons gelegentlich sah. "Habt Acht, ihr umliegenden Steine und Staubteufel! Nach dem Wetterbericht dringen erstmals unirdische Klänge in die Elementarzellen des Hämatiten, gewissermaßen ins Herz des Blutsteins. Das Wetter ändert sich vorerst noch nicht, ihr umliegenden Steine und Staubteufel, denn noch immer treten zahlreiche Eiswolken nördlich von 70 Grad nördlicher Breite in allen Luftschichten bis zu 40 Kilometern Höhe auf. Unterhalb von 20 Kilometern fallen auch in diesem Jahr wieder die Kristalle als Schnee. Als wäre das Land jemals trocken gewesen. Ein ungetrübter Blick durch die Atmosphäre bleibt nach wie vor stark eingeschränkt. Sehr kalte nordwärts strömende Luft sinkt von der südlichen Polkappe mit rapider Geschwindigkeit in das tiefe Hellas-Becken ein. Habt Acht, ihr umliegenden Steine und Staubteufel! Das Blut wird euch in den Adern gefrieren. Heute werdet ihr zittern! Hier oben in meiner Station auf dem Olymp haben wir angenehme Temperaturen und können alles über die Bediengeräte einstellen. Ich kann damit jeden Raum zeitlich und temperaturmäßig regulieren. Die Temperaturen können auf diese Weise schnell den unterschiedlichen Bedürfnissen und Tageszeiten angepasst werden."
Emilian bremste den Transporter unvermittelt und ließ ihn am Straßenrand auslaufen. Die dämmernde Umgebung vermittelte eine trügerisch idyllische Landschaft. Kein Fahrzeug weit und breit. Am Himmel brauten sich langsam dunkle Wolken zusammen und ein sich weit erstreckendes Feld schien durch Reihen wild in die Höhe ragender Bäume, beinahe am Horizont, begrenzt. Es war schwer zu erkennen, ob es sich nicht sogar um eine Allee handelte, in die sich Rohlfs nun eine Weile vertiefte. Die Bäume wirkten durch ihren unterschiedlichen Wuchs wie wellenförmig angeordnet, wie eine in den Boden gepflanzte Partitur, dachte Rohlfs, die sich ohne Weiteres in Musik übersetzen ließ.
Die Straße entlang sah man indes bereits die Lichter einer Stadt in nicht allzu großer Entfernung. Rohlfs glaubte Schüsse zu hören, war sich jedoch keineswegs sicher. Emilian hingegen nickte seltsam mit dem Kopf hin und her. Aller Frohsinn war aus ihm gewichen, jede Freude vergangen, sodass Rohlfs nun seinerseits ein altes Seemannslied kaum hörbar zu summen begann oder sehr leise anstimmte.
"They thought the stars were set alight, oh yes, oh, by some good angel every night. A hundred years ago." Mit dem Mund ahmte er zwischen den Strophen geschickt das Wellenrauschen nach. "They hung a man for making steam, oh yes, oh, they cast his body in the stream. A hundred years ago. A hundred years is a very long time, oh yes, oh, a hundred years is a very long time."
Ein dumpfes Grollen, vielleicht aus der Stadt, klang wie Kanonendonner. Maschinengewehrknattern war zu hören. Die Umgebung schien dennoch wie ausgestorben. Noch immer kein Fahrzeug weit und breit. "Rauchen Sie bitte, mein Herr", ergriff Emilian das Wort und bot ihm eine moldawische Zigarette an. "Eine gute Zigarette, Rohlfs! Atis - eine würzige Filterzigarette! Finden Sie nicht? Es muss geraucht werden! Was meinen Sie?"
Rohlfs wollte zunächst ablehnen, da er sich für einen Nichtraucher hielt, hielt dies aber für unangemessen und nicht vertretbar.
"So ziemlich das Nützlichste, was man als Kriegsreisender besitzen kann. Atis! Ah, das kratzt ganz ordentlich im Hals, Rohlfs! Hab' dem alten Mihai, oh yes, oh, den halben Laden leer gekauft. Könnte mir gut vorstellen, dass sich da draußen in Kasachstan jemand über ein wunderbares Waschbecken, ein paar Wasserhähne, ein Fahrrad oder eine Gartenpumpe freut. Was meinen Sie? Zumindest haben wir dem alten Mihai und seinem Harem eine Freude gemacht! Der hat erst einmal ausgesorgt für diese Saison, oh yes, oh!
Warme Decken, Zelte, ein sehr feines Toilettenpapier, Rohlfs, dreilagig, hochweiß und optimal für anspruchsvolle Verbraucher, Bier, Speck und rumänischen Käse habe ich auch auf dem Laster. Slănină şi caşcaval de casă! Wir haben verdammt viel Asche, Rohlfs, verdammt viel! Ein Hoch auf Petrică, uns und das, was vor uns liegt! Es ist freilich ratsam, Rohlfs, eine Weile abzuwarten bis sich das Geballer da draußen beruhigt hat. Alle werden sie irgendwann müde, auch die Soldaten, Rohlfs, auch die Soldaten! Da brauchen Sie sich gar keine Sorgen zu machen. Und wen kümmert schon ein gottverdammter, alter TV-14 C! Außerdem ist es gegen die Vorschrift. Schlage vor, dass wir den Feldweg da oben nehmen und ein wenig mit den Bäumen singen! Was meinen Sie? Alles hängt miteinander zusammen, Rohlfs, verbunden durch Linien, wie die Verästelungen von einem dieser kargen Bäume da oben. Alle sind sie stimmig miteinander verwoben. Wie die Verästelungen an einem Baum entspringen unsere Nerven aus dem Gehirn und Rückenmark. Das verspreche ich Ihnen bei allen Heiligen, die ich kenne. Es wäre schließlich verrückt jetzt alles einfach über Bord werfen zu wollen. Machen wir einfach einen großen Bogen um Mariupol herum oder aber, Rohlfs, wir brettern mit hundert Sachen die E 58 runter und kaufen uns den nächsten Grenzposten! Augen zu und durch, wie man sagt, Augen zu und durch! A hundred years is a very long time, oh yes, oh, a hundred years is a very long time. Da brauchen Sie sich gar keine Sorgen zu machen. It's time for us to go!" - "Aye, aye, Captain Miles. It's time for us to go, oh yes, oh yes!", erwiderte Rohlfs zuversichtlich. Die Wolken hatten sich bereits verzogen, als Emilian den einzigen Wagen weit und breit gemächlich in den Feldweg steuerte.
"Sie wissen ja, domnul' Rohlfs, das Fasten beginnt mit der Morgendämmerung und endet mit Einbruch der Nacht. Alles Fleisch ist Gras, und alle seine Güte ist wie eine Blume auf dem Felde im Einverständnis mit der Natur.
Schalten Sie das Radio ein, auf dass wir nicht zu spät von hier verschwinden. Irgendein Nachrichtensprecher wird uns schon den Marsch blasen, Rohlfs! So gegen drei Uhr in der Früh sollten wir den Motor starten!" Emilian schien, so stellte Rohlfs nicht zum ersten Mal fest, eine sehr eigenartige, fast schon magische Macht auf seinen Radioempfänger auszuüben, die dem Gerät stets das entlockte, was er gerade hören wollte. So ließ er das Radio mit einigen schnellen Bewegungen seines rechten Daumens und Zeigefingers den langsamen Satz der zweiten Symphonie von Boris Lyatoshynsky, lento e tranquillo (alla ballata), spielen, als erzeuge er vermittels seiner Willenskraft die Radiowellen, die ausschließlich für Rohlfs und ihn selbst bestimmt waren; seinen Launen folgend ließ er etwa George Harrison Roll over Beethoven oder Piggies, John Lennon Dig a Pony, Bob Dylan Jokerman und Donald Fagen Any World (That I'm Welcome To) singen. Emilian begleitete Tony Bennett und Count Basies Orchester in ihrer Interpretation von Lost in the Stars und sang mit Frank Sinatra im Duett Johnny Mercers Fools Rush In.
Er präsentierte Rohlfs ukrainische Folklore von Oleg Skrypka, Timofei Belogradskis Lautenlieder auf Gedichte von Alexander Sumarokow, Kammermusik von Nikolai Roslawez, Mykola Kolessa und Svitlana Azarova sowie Operngesang von Anatoli Borissowitsch Solowjanenko und Ivan Semyonovich Kozlovsky. Einfühlsam wechselte er die Sender von Zeit zu Zeit, fand rasch Informationen zur Lage im Krisengebiet, in dem man sich gerade befand, machte sich Notizen und kontrollierte die Uhrzeit auf vorsorgliche Weise, da man, wie er wiederholt betonte, pünktlich aufbrechen müsse.
Er schnitt den geräucherten Speck mit einem Schweizer Taschenmesser in feine Scheiben, brach das Brot, öffnete zwei Dosen Ursus und verköstigte Rohlfs.
Man aß, sprach über vernünftige Vorgehensweisen, Vergangenes, Künftiges, erleichterte sich an einem geeigneten Ort in einem entlegenen Gebüsch, rauchte, lockerte die Muskulatur mit einigen Dehnübungen und zur allgemeinen Erbauung und Erheiterung lauschte man Beiträgen der American Forces Network Stations. Manchmal fiel Emilian auch in einen tiefen Sekundenschlaf, den Rohlfs mithilfe einer Taschenlampe dazu nutzte seine Aufzeichnungen zu sichten, zu lesen und mit größtmöglicher stilistischer Sorgfalt zu korrigieren.
Je inniger man im Einverständnis mit der Natur lebte, desto größer war das Glück. Es war ein friedliches Begreifen und Sprechen; was für andere tot war, wurde einem selbst lebendig. Dieses Glück war das wirkliche, das echte Glück. Er ging mit Bekannten durch eine reifende Sommerlandschaft. Eine Allee von Nussbäumen lag vor ihnen. In der Ferne floss der Rhein; sie konnten das Ufer mit den Büschen und Pappeln sehen. Darüber war ein feiner, blassblauer Himmel gespannt. Wie schön das sei, sagte einer und sprach von den Linien und Perspektiven. Ein anderer kam auf die Landschaften bekannter Maler zu sprechen. Aber das alles war ja die Hauptsache nicht! Ob sie denn nicht den eigentümlichen Reiz dieser Landschaft bemerkten? Das Feine, Stille, Schläfrige! In Wirklichkeit ließ sich die besondere Wirkung aber schwer beschreiben. Etwas wie Glück überkam ihn, da er es sah. Nicht landläufiges Glück, etwas anderes! Jetzt glaubte er Goethe zu verstehen, der oft das Wort „heiter“ verwendete. Gerade dieses Wort traf die Art Glück, die er fühlte. Goethe hatte gewiss etwas von dem, was die anderen meinten, beachtet, die Linien und Perspektiven. Er zeichnete ja so gern! Sein Reich war "von dieser Welt", von der, die man sieht, von keiner anderen. Aber es gab eine Stelle bei ihm, in der Alois‘ persönliches Fühlen anklang. In Werthers Leiden hieß es: "Ich könnte jetzt nicht zeichnen, nicht einen Strich, und ich bin nie ein größerer Maler gewesen als in diesen Augenblicken."
Zwar musste man den Freunden zustimmen, die von Linien und Perspektiven sprachen: Die Landschaft hatte Perspektiven, und Perspektiven waren etwas Objektives, etwas, was draußen festlag. Doch es schien nur so, unser Auge sah in die Landschaft hinein. Diese Pappeln gehörten in eine bestimmte Familie, Klasse und Gattung hinein. Der feine Dunst, den er aufsteigen sah, war Wasserdampf, den die Pflanzen erzeugten. Was war dagegen jenes "Feine, Stille, Schläfrige", von dem er gesprochen hatte? Er erkannte, dass es einem anderen Reich angehörte, nicht der objektiven Natur. Es stammte aus ihm, seiner Seele, seiner Einbildungskraft, und er bildete es sich ein, weil er der Natur gegenüberstand, weil er ein Mensch war und noch dazu dieser eigenartige Mensch, dem alles anders erschien, als es in Wirklichkeit war. In Wirklichkeit hing ganz gewöhnlicher Wasserdampf über dem Rhein. Die Pappeln schwangen, weil der Wind sie bewegte, hin und her, und der Wind ging, weil der Luftdruck anderswo stärker drückte als hierzulande.
Woher stammte aber das Schöne, Wunderbare, das ihn daran ergriff, das es wert war, von einem Maler, einem Dichter gestaltet zu werden? Es stammte aus ihm, und er erkannte, dass Kunst und Dichtung – und weithin auch die Religion – damit arbeiteten, dass Künstler und Propheten einen schönen Schleier über die gemeine Wirklichkeit breiteten.
Im Jahr zuvor hatte er ins Tagebuch geschrieben: "Wir wollen mit den Mädels Schlitten fahren!" Und gestern fuhren sie mit ihnen Schlitten. Wie waren sie im Dämmerdunkel von der Wallstraße den Berg hinabgesaust! Kein Ziel, nur unbestimmt etwas Großes, Grenzenloses vor Augen. Schnee und nur Schnee, sonst nichts. Manchmal rote Funken, die von den Kufen anderer Schlitten sprühten, und große, schwarze Menschen, die mit einer Laterne in der Hand bergauf stapften. Es war wahrlich etwas Herrliches so nah zusammen dahinzubrausen!
Er hatte die Gretel S. aus der Werderstraße vor sich auf dem Schlitten. Leben an Leben, aber sich ergänzendes, nicht gleichartiges Leben! Seine Schwester, die mit einem Buben den Berg hinunterraste, hatte ihn hart zu spüren bekommen, als er vor einem Schlitten auswich und einen Salto mortale schlug. Das waren schöne Tage!
Er habe sich nun also während des Vortrages verschiedene Fehler zu Schulden kommen lassen, die seine Wirkung erheblich beeinträchtigten, und die er für zukünftige Vorträge abstellen wolle. Der Grundfehler sei der gewesen, dass der Vortrag eine falsche Gründlichkeit aufgewiesen habe und dass er sich infolgedessen zu wenig auf die Zuhörer eingestellt habe. Ein Vortrag müsse mehr seine Zuhörer als seinen Stoff beachten.
Er musste sich also in Zukunft Rechenschaft darüber ablegen, wie lange ein Vortrag dauerte, nicht länger als dreiviertel Stunden. Und da habe er eineinhalb Stunden geschwätzt! Dann: Ein Vortrag dürfe nicht systematisch sein wollen, sich nicht vornehmen ein Ganzes geben zu wollen, also Veranlassung der Problemstellung, Geschichte des Problems, Wege, Gefahren, Einwände, Folgerungen usw. und so fort. Ein Vortrag war keine Abhandlung. Schon gar nicht Vollständigkeit im logischen Aufbau, also Deduktion! Er hätte dem Problem einige interessante Seiten abgewinnen und mit solchen Schlagern blitzartig die Frage beleuchten müssen, wie Freud in seinen "Vorlesungen" bald von dieser Seite, bald von jener kommen müssen. Dabei vermied man eben allerlei Kleinigkeiten, die zwar logisch waren, aber den Zuhörer kalt ließen, wie etwa die Erwähnung des historischen Materialismus, die logisch als extremer Standpunkt hierher gehörte, für die Erkenntnis der Sache aber weggelassen werden konnte.
Er hatte den Ehrgeiz gehabt, seine Arbeit interessant zu machen, indem er fortwährend den Standpunkt der Gegenwart hereinbrachte. Ja, wenn es gegangen wäre, hätte er noch Plato gebracht und überhaupt die Entwicklung der gesamten Sozialphilosophie. Beschränkung hatte gefehlt! Bescheidenheit! Und wenn schon, dann die Kritik am Schluss als Sonderkapitel, nicht dauernd eine Spaltung des Interesses. Kaum hatten die Zuhörer sich die Eigenart Pestalozzis vergegenwärtigt, sollten sie sich schon wieder mit dem ihnen fremdartigen Müller hineindenken! Also die Schlager, die man gibt, als Ganzes geben, als warme, lebensfrische Lichter, nicht gleich wieder schattieren, das gehörte an den Schluss!
Möglichst war am Anfang eine Disposition zu geben, damit der Hörer den zurückgelegten und den noch zu leistenden Weg überschauen konnte. Nichts war schädlicher, als wenn der Hörer nicht wusste, wo es hinausging. Keine Überraschungen, genau wie im Drama!
Man musste sich, anstatt sich auf allgemeine, farblose Ausdrücke zu verlassen, lebendige, neue Redewendungen einfallen lassen! Sogar den Stoff selbst musste man nach Interesse und Wichtigkeit sorgfältig auswählen, die Resultante einer Gesellschaft zu suchen und ihr Manometer schwanken zu lassen war Konstruktion und dazu Unsinn!
Beim Redigieren der Texte war Rohlfs nicht aufgefallen, dass Emilian zwischenzeitlich in eine Tiefschlafphase geraten war, sodass er sich augenblicklich gezwungen sah allein auf die Uhrzeit zu achten; nicht einmal dem fanfarenhaften Trällern der American Forces Network Stations hatte er größere Beachtung geschenkt, auch wenn ihm nicht entgangen war, dass selbst der einstmalige Charme nächtlicher Übertragungen trotz aller Weichzeichnerei, etwa im Stil von Milt Jacksons Sunflower oder Donald Byrds Stepping into Tomorrow, dem allgemeinen Trend systematischer Desensibilisierung gewichen war. Selbst die Beiträge der engagierteren Songwriter wirkten im Umfeld der Berichte eher wie Che-Guevara-Poster aus dem Discounter. Die News mit dem Anspruch der Information hatten durchgängig den Charakter von Seifenopern, dachte Rohlfs. So diskutierte man beispielsweise, inwiefern sich die moderne Frau in der amerikanischen Gesellschaft unter der Führung des aktuellen Präsidenten sicher fühlen durfte, analysierte die Bewegungen des Dow Jones Index, verfolgte die Spuren schwer zu fassender Krimineller oder erörterte das Phänomen von Konversionen zum Islam, hinter dem man offensive sozialistische Propaganda zu wähnen glaubte. Der überwiegende Teil seiner Aufmerksamkeit richtete sich aber auf die Tatsache, dass er nach geraumer Zeit wieder zu vollem Bewusstsein seines Tuns zurückgefunden hatte; auch sein Erinnerungsvermögen schien in ungetrübterem Maße wiederhergestellt zu sein. Ein wenig verärgerte ihn allerdings seine Neigung sich Tagträumen und Allmachtsphantasien hingegeben zu haben. Freilich mochte es verzeihlich sein, sagte er sich, dass man die Zeit vermittels dieser Ströme ein wenig reibungsloser und vergnüglicher verstreichen lassen konnte, doch stellte sich ihm unweigerlich die Frage, ob es weiterhin zulässig sei nach bloßen Antrieben zu handeln. Zur Stunde galt es, nahm er sich vor, mit Besonnenheit und dem Bewusstsein der Pflicht vorzugehen und niedere Beweggründe möglichst restlos auszuschließen. Viele vor ihm waren zugegebenermaßen dem trügerischen Instinkt gefolgt ihr Handeln sei selbstlos und vernunftgemäß – man denke nur an Oppenheimers Mission. Mit Recht sah er demungeachtet das Wesen des ihm auferlegten Auftrags in der Korrektur und Aufbewahrung von Alois' Nachlass. Und wer wollte noch leugnen, dass es in irdischen Regionen hierfür schlicht keinen Ort gab? Jede Form von erzwungener Selbstlosigkeit war dennoch, so dachte er, vollkommen wertlos. Die Schwierigkeit lag selbstverständlich darin, dass es unüberschaubar viele gegenläufige Ziele gab, die teilweise offen und teilweise verdeckt verfolgt wurden, zumal es inzwischen schier unmöglich geworden war die Beweggründe aller Beteiligten einzuschätzen. Hinzu kam die Tatsache, dass die Kraft des Hasses, die ihn gerade an diesem Ort umgab und die man förmlich einatmete, ihn buchstäblich erschütterte. Gerade hier bereitete es ihm erstaunlicherweise ein besonderes Unbehagen sich schlagartig und unerwartet mit Palles frecher Wollust konfrontiert zu sehen, mit der jener bishin zur Musik beinahe alles, was auch nur im Entferntesten mit dem Auftrag zu tun hatte, auf eine Art und Weise eingesaugt hatte, die ihm noch immer den tiefsten Abscheu einflößte. Dr. Reich war vermutlich allzu einfältig und plump das wirkliche und tatsächliche Ausmaß des Vorhabens abzuwägen, während Constance lediglich von Sorge angetrieben schien. Petrică und Francesca waren fürwahr allenfalls Marionetten, doch sowohl Saeed als auch Emilian musste man fraglos - trotz ihrer vermeintlichen Rätselhaftigkeit - als Vertrauenspersonen betrachten. Es blieb abzuwarten, ob es gar ein geheimes Band zwischen den beiden gab oder nicht.
Der Trace Gas Orbiter würde die Erde bereits im Januar 2016 verlassen und den Mars neun Monate später erreichen. Selbst von Palle manipulierte Datenplatten wären zweifellos noch wertvoller als ein weiterer Etappensieg seiner Feinde. Es musste unbedingt bei dem Kriterium der Vermeidung eines unnötigen Aufschubs sein Bewenden haben, beschloss Rohlfs. Trotz aller Vorsätze entging Rohlfs die erste Zeitansage, auf die er sich mit größtem Verantwortungsgefühl zu achten vorgenommen hatte. Der Grund hierfür musste wohl die Detonation einer weiteren Bombe gewesen sein, die ihn einmal mehr tief in seinen Sitz gedrückt hatte. Emilians Schnarchen beruhigte seine Nerven jedoch rasch wieder.
Die Stimme Gottes, die den kleinen Albert Schweizer, wollte man ihm diese Kindheitslegende glauben, beim Schießen mit der Steinschleuder auf Vögel zur Ehrfurcht vor dem Leben berufen hatte, so dass er zu dem berühmten Urwalddoktor werden konnte, dessen man in frommen Sonntagsreden gedachte, diese Stimme Gottes war einst auch an Rohlfs ergangen. Eine Berufung, wie die des kleinen und später großen Albert, ließ sich aus dem peinlichen Ereignis freilich bis auf Weiteres nicht ableiten.
Sie hatten im Garten von Rohlfs' Freund Erich mit dem Luftgewehr auf Konservenbüchsen geschossen. Die Eltern waren notorisch abwesend, woraus sich manche Freiheiten ergaben, auch solche, wie sie daher kamen, dass man zu zweit das Geld dazu verdiente, überflüssige Dinge zu besitzen, wie beispielsweise ein solches Gewehr. In Rohlfs' Elternhaus war nicht daran zu denken, schon eine Schießblättchenpistole an Fastnacht war beinahe ein Ding der Unmöglichkeit. Rohlfs besaß dann doch eine, mit der man sich aber bloß lächerlich machte. Es wurden rötlich gefärbte Rollen darin eingelegt, die ein piffpaffartiges Pengpeng von sich gaben, während oben das verschossene Band sich aus der Pistole spulte wie der Schiss einer Schnecke, man riss es so bald wie möglich weg mit seinen schwefelig oder sonst irgendwie brandigen Einschlagstellen, die der wackelige Hahn in sie gestanzt hatte. Ein schwerer Platzpatronen-Trommelrevolver, das war ein Ding nicht zum Cowboyspielen, sondern er machte klar, dass man es ernst meinte und eigentlich nur, weil es wirklich verboten war, keine echte Waffe trug. Natürlich bekam er ein solches Ding auch einmal in die Hände, weil die anderen Jungen, was man der Mutter hundertmal erzählen konnte, alle eines hatten. Sogar ein oder zwei Platzpatronen hatte er tatsächlich einmal damit verschießen dürfen, es war klar, dass sie, in Ringen oder einzeln, in sauberem grünem oder rotem Kunststoff gefertigt, ein Vielfaches dessen kosteten, was man für die Schießblättchen bezahlte. Wahrscheinlich traf niemand mit einem  Luftgewehr, der es zum ersten Mal probierte, und so gelang Rohlfs auch nach etlichen Versuchen nicht ein einziger Treffer, während Erich die Dosen abräumte, wie es ihm gefiel. Trotz des Gepolters im Garten flatterten einige Spatzen von Baum zu Baum. Rohfs, der von einem Urwalddoktor nichts wusste, und der auch nicht weiter auf das Läuten einer Kirchenglocke geachtet hätte, legte einer Eingebung folgend auf einen der Vögel an, der jetzt ganz ruhig auf seinem Ast saß, nachdem er kurz zuvor noch flatternd etwas in seinem Gefieder zu picken gehabt hatte. Weder sein Freund, der ihm zuschaute, noch Gott selbst, wie er es bei dem  kleinen Albert tat, hielten ihn ab von einer Sache, an die er selbst am wenigsten glaubte, dass er nämlich den verglichen mit den Konservendosen winzigen Piepmatz treffen werde. Doch er traf, das Vöglein kippte von seinem Zweig, ohne auch nur noch ein einziges Flattern, geschweige denn einen Schrei oder etwa, dass ein Federchen von ihm aufgewirbelt wäre. Es war einfach auf der Stelle tot. So tot wie etwas nur sein konnte, lag es da, unmöglich, dass es vor ein paar Augenblicken noch das zappelige Etwas gewesen war, das sich um die beiden dort unten und ihr Tun am Ende des Gartenpfades nicht bekümmerte. Nun trugen sie das Tier auf einer Kehrschaufel zur Mülltonne, steckten ihn auch etwas unter Abfälle darinnen, feuchtes Laub, das das irgendwo zusammengefegt worden war. Es wurde nicht gesprochen, der Nachmittag ging schal zu Ende, erst die Büchsen nicht zu treffen, dann aber den Vogel, es konnte passieren, aber das tat man doch nicht! Etwas, was vielleicht schon immer zwischen den Freunden gestanden hatte, war seltsam offenbar geworden. Man vergaß es auch, schließlich war es nicht Nachbars Katze. Das Luftgewehr wurde nie mehr herausgenommen, jedenfalls nicht, wenn Rohlfs da war.
"Für die magischen Praktiken der Primitiven interessierst du dich, Rohlfs, weil du das geistige Werden der Menschheit verfolgen willst. Und da hoffst du auf Einblicke, indem du den Zauberern und allen möglichen Quacksalbern zuschaust. In Wirklichkeit hegst du aber bloß eine Abneigung gegen alles, was Technik und Fortschritt ist, nämlich die Welt, wie sie nun einmal nur mit den Mitteln der höheren Mathematik zu begreifen ist." – "Vielleicht hast du recht, ich habe mich auch nie ernsthaft mit Mathematik beschäftigt, als Schüler nicht, das gebe ich zu, aus Mangel an Erfolgen auf diesem Gebiet. Heute würde ich vielleicht geduldiger lernen und würde es doch wenigstens so weit damit bringen, wie andere durchschnittlich Begabte auch, die sich nur die Zeit dazu nehmen." – "Ja, sicher", entgegnete Constance, "aber ich sehe es dir an der Nasenspitze an, dass du bei deinem Standpunkt bleibst, die Mathematik ist dir zu modern." – "Als ob Mathematik modern wäre! Modern sind vielleicht die Dinge, für die man sie gebraucht. Modern ist auch der Glaube an die Mathematik, nämlich als könne sie Wahrheiten ermitteln, zu denen man sich bekennen muss, weil sie sich auf mathematischem Wege beweisen lassen." – "Am Ende hast du also etwas gegen Beweise." – "Das allerdings", entgegnete Rohlfs, den Constance an seinem empfindlichen Punkt getroffen hatte, und der sich gegen jede Form des Zwanges auflehnte, wie seit Jugendzeiten. Es sei denn, es handelte sich um ein spielerisches Befolgen von Zwängen, so wie man ja auch die Schachfiguren nicht willkürlich bewegte, sondern den Regeln dieses Spieles gehorchend. Sicherlich konnte man den Turm auch ganz anders rücken, oder die Dame, wobei er Constance mit Wärme anblickte, denn er dachte sie sich immer als eine Dame, nur dass man dann selbstverständlich nicht Schach spielte. Dass man Spiele spielte, die nun gerade nicht Wirklichkeit waren, aber sich in irgendeiner Weise zu ihr verhielten, sogar in vielfältiger, wenn auch nicht in beliebiger, das war Rohlfs' Sicht der Welt. Das mochten auch die Mathematiker nicht anders sehen, hatte er sich gelegentlich bestätigen lassen. Allerdings wurde die Mathematik von den allerwenigsten bis zu diesem Standpunkt betrieben. Den Technikern blieb sie notwendig Mittel zu sehr handgreiflichen Zwecken, praktischen, wie Constance meinte um Rohlfs nur auch gehörig an der Stelle zu necken, an der sie ihn am meisten traf, berührte. Es war klar, dass sie dennoch zu ihm hielt, wenn sie auch seinen Standpunkt nicht einmal zur Hälfte teilte.
Rohlfs' Vorliebe für vergangene Zeiten, für eine Welt, die es nicht mehr gab, und in der er, wenn es sie noch gegeben hätte, auch nicht glücklich gewesen wäre, war eine Maske, durch die er schaute, und die er vor sich hielt, so wie man sich kleidete um nicht nackt zu sein. Sie war auch einfach eine Art die Dinge zu betrachten, wie man notwendiger Weise von irgendeinem Standpunkt aus die Welt und das Leben anschauen musste um überhaupt etwas zu sehen.
Vielleicht verhalf ein zugegebenermaßen vergleichsweise exotischerer Blickwinkel leichter dazu, sich dessen bewusst zu sein, dass es sich immerhin um einen solchen handelte, während man ansonsten vielleicht glaubte die Dinge so zu sehen, wie sie seien.
Ebenso wenig gab es einen Ort, an dem man glücklicher war, wenn man es dort nicht sein konnte, wo man sich gerade befand. Man musste nicht reisen oder gar darüber nachdenken, überhaupt an einer anderen Stelle auf der Welt zu leben. Tatsächlich reisten ja die meisten wie verrückt, Rohlfs wollte immer denken, sie täten es in erster Linie um am Ende das eigene Nest doch am schönsten zu finden; und dann reiste man ja noch wegen des Wetters! Dabei stöhnte doch bei dem kleinsten wenig Hitze immer schon alle Welt. Jedenfalls reiste kaum jemand in eine Gegend, wo es noch kühler war als hier. Man sah sich das eine oder andere aus fernen Gegenden ab, wozu ja auch das Fernsehen schon einen nicht unerheblichen Teil beitrug.
"4 a.m. Central European Time, Rohlfs! Ich hoffe doch sehr Ihnen ist klar, dass es hier bereits fünf Uhr ist und wir schon längst unterwegs sein sollten. Futu-ti ministerul ma-tii! Weshalb, um Himmels willen, lassen Sie sich auch bloß von diesem vorlauten und geschwätzigen Sender einlullen!" Mürrisch und verschlafen startete Emilian den TV-14 C nicht ohne dem Radioempfänger mit einer schnellen Handbewegung einen kriegerischen Marsch zu entlocken, der im Verlauf der Fahrt opernhafte Züge annahm und die Reisenden bis an die Grenzen des Landes begleiten sollte.
Erst als Emilian nach Umwegen auf der Höhe von Sakhanka erneut auf die E 58 zurückgefunden hatte, hörte Rohlfs wie von weitem die Stimmen eines Chores, die sich mit solistischen Einschüben vermischten. Trotz des schlechten Empfangs notierte er sich aus bloßer Erinnerung vereinzelte Versatzstücke aus dem Gesang. "Doch wählet ihr zum Schützer mich der Rechte, die dem Volk erkannt, so blickt auf eure Ahnen und nennt mich euren Volkstribun! Weh dem, der ein verwandtes Blut zu rächen hat!"
Gierig sog Rohlfs im Morgengrauen den Geruch des Meeres in sich auf, den britische Forscher, so erinnerte er sich, bereits zu klonen begonnen hatten. Das künstlich hergestellte Dimethylsulfid liefere die Erinnerung an Strand und Wellen und sei eines der wichtigsten Gase im globalen Klimahaushalt, hieß es. Am Ortseingang von Bezimenne steigerte sich der Marsch zu einem orchestralen Sturm, der Emilian nach sanftem Erröten in ein befreiendes Lachen ausbrechen ließ. "Lasst eure neuen Fahnen wallen, und kämpfet froh für ihre Ehre; den Schlachtruf lasset laut erschallen: Santo Spirito Cavaliere!"
Noch vor Novoazovsk verlangsamte sich der Verkehr in beiden Fahrtrichtungen durch entgegenkommende Kolonnen von Panzerfahrzeugen erheblich. Tatsächlich kümmerte sich niemand, nichtmals die russischen Grenzposten bei Maksimov, um den, wie Emilian sich ausdrückte, gottverdammten, alten TV-14 C und ein paar falsche Pässe. Der Mann mit dem rötlichen Spitzbart warf, so Emilian, allenfalls ein paar flüchtige Blicke auf die Diplomatenpässe, schien sich aber doch über den knisternden Empfang der heroischen Oper, die zunehmend von Meldungen aus der russischen Medienlandschaft überlagert wurde, ein wenig zu wundern, bevor er die Reisenden eilig durchwinkte.
Rohlfs meinte indes ein leichtes Schmunzeln im Gesicht des Grenzers entdeckt zu haben. Emilian hatte die Musik oder das, was davon übrig geblieben war, kurz vor der Grenze sogar noch etwas lauter gestellt. Erst als er die Grenzposten im Rückspiegel nicht mehr sehen konnte, schaltete er das Radiogerät aus. Nur gelegentlich hörte Rohlfs ihn von einem Schiff mit acht Segeln singen oder Zeilen aus einem Gedicht Eminescus rezitieren. "Dintre sute de catarge care lasă malurile, Câte oare le vor sparge vânturile, valurile?"




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