["Autumn Serenade", R. A. ol-Omoum, (1994)]
Le
comique n’est bon que s'il est gros; j'espère qu'il l'est. Et le
comique n'est comique que s’il est un peu effrayant. Le mien
l'est-il? [Eugène Ionesco]
["Naja naja", Michelle Schneider (2019)]
Je
ne fais pas de la littérature. Je fais une chose tout à fait
différente; je fais du théâtre. [Eugène Ionesco]
5.
17.2 Star
Die
Bühne ausstaffiert mit einem Minimum an Requisiten:
Benzinfässer, ein Dutzend, unterschielich gefüllt, teils hochkant,
teils liegend, eine Zapfsäule, ein Tankwart, zunächst bewegungslos,
dunkle Hautfarbe, vielleicht Saeed, vielleicht der Eritreer,
bestenfalls beide, maskierte Gestalten unterschiedlichen Geschlechts,
ebenfalls ein Dutzend, in Montagekleidung, alle in Bewegung, nicht zu
schnell, je ein Paar Trommelstöcke in den Seitentaschen, Wilhelmy
mit freiem Oberkörper, ohne Maske, schlägt in unregelmäßigen
Abständen mit harten Marschtrommelschlägeln schnelle Wirbel auf das
Fass mit dem meisten Inhalt.
"Schnellere
Septolen, Helmuth, schneller, Fünfvierteltakt,
Siebenvierteltakt, Fünfvierteltakt,
Pause, zähle bis sieben, Wiederholung, langsamer, Helmuth,
langsamer, jetzt, etwas lauter, crescendo,
Pause, zähle bis drei, schnelle Quintolen, jetzt, nacheinander die
Maskierten, nicht zu hastig, nacheinander, langsam, jetzt unisono,
decrescendo, Pause, Wiederholung."
Einsatz
Eritreer, rezitierend: Die
Maschinen brausen. Alle hören es gern, wenn die schweren
Treibriemen, Schlag auf Schlag, an der Saaldecke entlang sausen. Ein
funkelnder Glanz ruht auf den tausend Rädern. Manchmal sieht es aus,
als stünden sie still, so schnell drehen sie sich. Dreistimmiger
Chor der Maskierten, flüsternd, den Trommelrhythmus beibehaltend:
Well we had a lot of luck on Venus, we always had a ball on Mars.
Pause.
Wiederholung. Vierstimmiger Chor der Maskierten, flüsternd, den
Trommelrhythmus allmählich auflösend: We
always had a ball on Mars, space truckin', space truckin'. Pause.
Space truckin', space truckin'. Pause.
Space truckin', space truckin', space truckin'. Pause.
The fireball that we rode was movin' but now we've got a new machine.
Wiederholung
in unterschiedlicher Lautstärke, noch immer flüsternd indes.
Der
Eritreer im Sprechgesang: Wie
im Traum geht sie heimwärts; es ist niemand zu Hause, die Stube ist
leer. Plötzlich merkt sie, dass alles aus ist. Ein dumpfer Schmerz
bemächtigt sich ihrer. Sie legt die Hände vors Gesicht und weint
bitterlich.
Auftritt
Lucia, Mezzosopran, beginnend beim C, chromatisch ansteigend, sehr
langsam über dreieinhalb Oktaven (C bis f''): Es
ist ja doch ein Nichts, er kennt mich ja gar nicht, und wer weiß, ob
ich ihm gefalle, wenn er mich sieht.
Auf
das A, mit dem Wort Nichts
aus
dem Off. Zuspielband mit Übertragung eines Mitschnitts der
Produktion
mit dem Deep-Purple-Sänger Ian Gillan als Jesus. Palle, ebenfalls
aus dem Off, spielt sehr langsam, pianissimo, die Melodie von All
the Things You Are
auf einem Schifferklavier. Aus weiter Ferne hört man die Stimme
Emilians, beginnend mit Es, ebenfalls chromatisch ansteigend, die
Stimme Lucias überlagernd, sich langsam nähernd, während der Chor
der Maskierten weiterhin Versatzstücke aus Space
truckin' wiederholt
und die Trommelwirbel stetig lauter werden: Es
ist Zeit aufzubrechen. Hören Sie mich? Es ist fünf vor zwölf.
Hören Sie mich? Die
Realität des Krieges, seine Monstrosität, seine Schrecken!
Baum! Unsinn! Pegasus! Unsinn! Andromeda! Unsinn! Alamak! Unsinn!
Mirach! Unsinn! Sirrah! Unsinn! Andromeda! Gigantomanie! Hören Sie
mich?
Lucia
wirft sich ihrem Vater um den Hals und ruft: Kein
Mensch hat ja so Angst wie ich!
Auf
eine an der Decke des Saales installierte Leinwand werden Bilder von
Alois projiziert.
Eine
Stimme aus dem Off (zweites Zuspielband) rezitiert aus einem Brief
von Henri Barbusse an seine Frau: Ankunft
bei prasselndem Regen. Beine und Füße nass, das Wasser dringt an
den Knien ein. Die Grabenwände stürzen zusammen. Überschwemmung,
Sintflut. Die Stellung vom Wasser aufgeschluckt. Ein Mann brüllt, er
ist vom Kopf bis zu den Füßen völlig von dickem gelbem Schlamm
bedeckt, die Hände sind behandschuht, dreckgepanzert. Er erzählt
uns die furchtbaren Erlebnisse der Männer in den Gräben der
vordersten Linie. Wasser bis zu den Knien oder bis an die Hüften.
Alle Unterstände stürzen ein. Man darf in den Gräben nicht
stehenbleiben, denn es wird unmöglich, sich dann noch von der Stelle
zu rühren. Man kann sich nicht zurechtfinden; gäbe es nicht den
Schein der Raketen, müsste man ersaufen. Den Soldaten sinkt der Mut.
Plötzliche
Stille, etwa fünfzehn Sekunden lang völlige Bewegungslosigkeit
aller Mitwirkenden auf der Bühne.
Nur
Emilian, in Lumpen gekleidet, bewegt sich schleppend, wie ein
Kriegsversehrter, auf den Souffleurkasten zu und reicht Rohlfs, über
den Stacheldraht hinweg, die Hand: Es
ist Krieg, Rohlfs. Überall. Es ist spät. Hören Sie mich? Der Motor
des TV-14
C
läuft bereits auf Hochtouren. Aus
dem Off erklingt das Geräusch eines Dieselmotors, langsames Fade-In.
Rohlfs ergreift die Hand Emilians, lässt sich aus dem
Souffleurkasten helfen, steigt unversehrt über den Stacheldraht und
begleitet Emilian nach draußen zum TV-14 C.
Unterwegs
singt Emilian, beginnend auf As, chromatisch absteigend im
Sprechgesang: Die Dinge
sitzen fest im Sattel und reiten die Menschheit. Bekenne
dich zu dir selbst! Wir dürfen unser angeborenes Sein und Wesen
nicht verleugnen. Unsere besonderen Kräfte müssen einen Sinn und
Zweck gehabt haben. Wir müssen sie entwickeln, auch wenn sie den
Rahmen der Menschenwelt zu sprengen drohen. Wilhelmy
gibt den Auftakt zum erneuten Unisono der Trommler, während Lucia
den beiden wiederholt hinterher ruft: Ein
Wunder, man hat uns nicht umgebracht!
Emilian
zu Rohlfs: Ich
war nur noch ein Stück Erde. Einsatz
der Stimmen der Maskierten: We
always had a ball on Mars, space truckin', space truckin'. Pause.
Space truckin', space truckin'. Pause.
Space truckin', space truckin', space truckin'. Pause.
The fireball that we rode was movin' but now we've got a new machine.
Wiederholung
in unterschiedlicher Lautstärke, noch immer flüsternd indes.
Der
Eritreer im Sprechgesang: Alle
Menschen sind vor dem Gesetz gleich und haben ohne
Unterschied Anspruch auf gleichen Schutz durch das Gesetz. Denn
einem jeden steht dasselbe bevor, ob klug oder dumm, reich oder arm.
Und da nutzt es gar nichts, mit Gott zu hadern, wie ich es fast
täglich tue, weil er zwar als Allmächtiger und Barmherziger
gepriesen wird, seine Macht aber ausübt an den kleinen und schwachen
Menschen oder den unschuldigsten Tieren und allen diesen auch noch
ihr bisschen Leben verleidet; der Rest ist Weihrauch.
Palle
platziert sich zur gleichen Zeit auf einem Hocker im Hintergrund der
Bühne und spielt belebt, nicht zu rasch, die Melodie von All
the Things You Are
auf einem Tenorsaxophon, bis man schließlich nur noch ihn hört.
Schlussrezitation:
Time
and again I've longed for adventure, something to make my heart beat
much faster. What did I long for, I never really knew.
Nacheinander
verlassen alle die Bühne; Palle steht auf und improvisiert
schließlich etwa fünf Minuten lang, unmittelbar hinter dem
Stacheldraht, über Motive aus John Coltranes Mars.
Nicht enden wollender Applaus vom Zuspielband.
In
den Applaus hinein spielen Magnus Alberti und Constance das Adagio
aus Johann Sebastian Bachs fünfter Sonate für Violine und Klavier
in F-moll (BWV 1018). Vorhang. Stille. Fade-out. Applaus.
"Nein,
nein, nein, mein lieber Rohlfs", hörte man Emilian ein wenig
verärgert hinter der Bühne. "Dieser Rundumschlag bis hinein
ins Bachwerkeverzeichnis kommt nach meinem Dafürhalten überhaupt
nicht in Frage. Das ist allzu ausgeklügelt, Rohlfs! Es ist Zeit
aufzubrechen! Hören Sie mich? Es ist fünf vor zwölf. Die
Realität des Krieges, seine Monstrosität, seine Schrecken! Und
der Coltrane am Ende hat viel zu viel Gewicht. Geradezu gravitätisch!
Glauben Sie mir, Rohlfs, glauben Sie mir!" - "Ich glaube
Ihnen!"
"Stattdessen
sollte Petrică
in einem Drachengewand auf einem Einrad die Bühne verzaubern.
Glauben Sie mir, Rohlfs, glauben Sie mir! In seinem Gefolge sehe ich
Gruppen von Angehörigen eines Altersheims, einer Nervenheilanstalt
sowie etwa ein Dutzend Schülerinnen und Schüler, die sich ganz nach
Lust und Laune zu einer Aufzeichnung von Lady Gagas Venus
rhythmisch bewegen.
Lucia,
das gebe ich gern zu, war zeit ihres Lebens, wie soll ich mich
ausdrücken, überwältigt von der Zurschaustellung der Perfektion
ihres Könnens und wie sich ein Großteil der Erdbevölkerung ihr wie
einer Heiligen zu Füßen wirft. Industrien arbeiten emsig an der
monarchischen Aura der Ikone um ihrem Fleischprodukt ein wunderbares
und luxuriöses Aussehn zu verleihen und es im kollektiven
Bewusstsein zu verankern.
Dieses
Bewusstsein sehnt sich naturgemäß nach der Prostitution
vorgegaukelter Harmonie, das nur durch die Gleichzeitigkeit der
Ereignisse entlarvt werden kann, etwa als würde man – und diese
Idee ist längst nicht mehr allzu verstiegen – alle Symphonien
Beethovens simultan zum Klingen bringen.
Man
stelle sich dementsprechend die Gleichzeitigkeit eines harmonischen
Fertigprodukts wie Venus
und eines Stoßgebets wie Coltranes Mars
vor. Zumindest wird hierdurch eine Frage evident: The
unanswered question.
So
möge man sich also voller Demut in den Schatten der Götzin in
Venuspose stellen und sich in ihrem Gefolge an die Bußen und
Opfergaben erinnern, die sie in ihren Gesängen verschweigt. Noch
immer wird der Lüge der Harmonie gehuldigt, noch immer werden die
Affekte unterjocht: Lust, Unlust, Begierde und Furcht.
Einstmals
gelang dies dem Tonmeister Bach mit seinen Konzessionen an die
Kirchenväter, so wie es den großen Luden der Musikindustrie noch
immer gelingt die Illusion der Harmonie aufrechtzuerhalten.
Es
ist ebenso unser unabdingbarer Auftrag, lieber Rohlfs, dem
Vermächtnis der Katzenmusik mit Peitschen,
Blecheimern und Topfdeckeln zu
dienen wie das Vermächtnis von Alois als Dichtung in den Olympus
Mons einzugraben.
Die
Gleichsetzung von Harmonie mit Schönheit nährt sich von der
Auslöschung ihres Gegenteils. Unser Auftrag, Rohlfs, bleibt die
Erinnerung an das Gegenteil, die Erinnerung an die Kehrseite des
wohlklingenden Tons, die Not, wenn Sie so wollen, Rohlfs, die Not.
Selbstverständlich
sollte Petrică
einige Mitglieder der Gruppe zum Tanz auffordern, nachdem er von
seinem Einrad gestiegen ist. Und er wird rufen: Das
Grab kann ein Garten des Paradieses oder ein Abgrund der Hölle sein.
Das ist unerlässlich, Rohlfs! Auch ein Rundtanz wäre vorstellbar.
Das Publikum muss bereits zu Beginn, etwa durch Flugblätter, darauf
hingewiesen werden, dass die Räumlichkeiten ordnungsgemäß zu
verlassen sind.
Die
anfallenden Aufräumarbeiten sind unbedingt durch Aufsichtskräfte in
größter Strenge einzuteilen, wobei darauf zu achten ist, dass das
Personal nach entsprechenden Auswahlkriterien bezüglich der
notwendigen physischen und mentalen Voraussetzungen vom Veranstalter
bestimmt wird, der für die Einhaltung der althergebrachten
Gesetzmäßigkeit haftet. Die Aufsichtskräfte tragen volle
Motorradmontur. Gewiss finden sich sogar, wenn ich Sie richtig
verstanden habe, in Petricăs
Gefolgschaft die richtigen Leute für eine solche Aufgabe. Eine volle
Motorradmontur kann
Leben retten, wissen Sie? Übrigens habe ich mir erlaubt ihre
Kleidung vom Maisgrieß zu reinigen. Legen Sie den Gurt an, Rohlfs!
Legen Sie den Gurt an und ruhen Sie sich aus. Wenn Sie möchten,
berichten Sie doch noch ein wenig von Alois, bevor Sie in Tiefschlaf
versinken. Vermutlich haben Sie die ganze Nacht kein Auge zugedrückt,
oder? Seien Sie unbesorgt! Sie sind in guten Händen! Der
TV-14
C
läuft bereits auf Hochtouren. Hören Sie? Wie eine Eins! Es gibt
kein besseres Fahrzeug auf dieser Welt! In der nächsten Welt werde
ich ihn vermissen, Rohlfs! Ihn und Lucia, Rohlfs! You
are the angel glow that lights the star, the dearest things I know
are what you are. Someday my happy arms will hold you, and someday
I'll know that moment divine when all the things you are, are mine.
Es
muss etwa fünf oder sechs Jahre zurückliegen, dass ich Lucia grobe
Vorhaltungen machte, wie sie sich einer derart ideen- und lieblosen
Musik, einer derart, wie man sagt, an die niedersten Instinkte
appellierenden Kultur habe hingeben können, als folge man dem
Aufruf: Wollt
ihr den totalen Puff? Und
all dies mit dem Gestus der totalen Überlegenheit.
Auch
wenn ich es mir nie verziehen habe, Lucia ins Gewissen geredet zu
haben, gestand sie später ein, dass man sie in ihrer Heimat, Rohlfs,
oft mit Fragen überrumpelte und kompromittierte, die man
hierzulande noch immer äußerst vertraulich behandelt; doch, gewiss,
die Unterschiede werden fraglos verschwinden, domnule Rohlfs.
Noch
immer schmerzt es mich die Dinge einfach sein zu lassen. Lasst sie
ihren Instinkten folgen, ihren Trieben, bis sie satt sind. Wen wollte
man schon aufzuhalten versuchen, wen eines Besseren belehren wollen.
Ach,
ein wenig mehr Weisheit täte gut, Rohlfs, eine wenig mehr
Gelassenheit – serenitáte, Rohlfs, serenitáte! Gewiss, der
Dichter dichtet, der Prediger predigt, der Wanderer wandert, der
Verbraucher verbraucht.
Gott,
wie verwegen es wäre die Monstrosität des Verlangens zu leugnen,
auch wenn ich es immer wieder in Erwägung zog. Lucia wuchs mit der
Gunst und der Liebe unserer Musik auf, wir haben die Hora getanzt,
Konzerte mit Maria Ciobanu in Eforie Sud besucht, wir hörten
Schallplatten von Maria Tănase, Mioara Velicu, Sofia Vicoveanca und
Maria Cârneci. Gelegentlich besuchten wir auch klassische Konzerte,
Kammermusik von George Enescu, seine Orchesterwerke, die Rapsodia
română,
auch deutsche Komponisten, Rohlfs. Nach der Revolution wollte man
dann nur noch Manele hören, dicke Schlitten fahren und zur Schau
stellen, schnelles Geld in Germania verdienen, "cum
se fac bani in Germania"
war mit einem Mal in aller Munde. Lucia war kaum noch zu bremsen, von
irgendwelchen Hosenscheißern war die Rede, băieţi
şmecheri,
Vasile hielt sie für Menschenhändler, proxeneţi din
judeţul
Buzău; einmal hieß es sie sei abgehauen, schlüge sich durch mit kleinen
Jobs an Tankstellen. Vasile kennt ein paar Jungs, die viel herum
kommen in Germania, Geld im Baugewerbe, miliona de lei, Sie wissen
schon. Man redete von der Queen
of the Gas Station.
Was soll man von alldem halten, Rohlfs? Was tun? Vier Jahre, nein,
mehr als vier Jahre habe ich kein Wort von ihr gehört. Sie glaubt,
dass ich ihre Wahl verabscheue, vielleicht tue ich das, Rohlfs, doch,
glauben Sie mir bitte, glauben Sie mir, der Friede sei mit mir.
Selbst Fräulein Germanotta möcht' ich in die Arme schließen, nur
für einen Moment, und mit ihr gemeinsam gegen ihren Gesang
rebellieren. Dumnezeu
le-a schimbat vieţile.
Vielleicht vermag es John Coltranes Mars,
vielleicht ist dies der heilende Ton.
Verstehen
Sie mich bitte nicht falsch, mein Herr, und verzeihen Sie mir meine
Anmaßungen. Letztlich sind wir es selbst, die uns verurteilen. Wir
verurteilen uns dazu uns zur Verfügung zu stellen, vielleicht auch
aus Bequemlichkeit, vielleicht aus Feigheit. Wir verurteilen uns zum
Dienst am Gemeinwohl.
Sie
sollen wissen, dass es mir ein Vergnügen ist mich Ihnen zur
Verfügung zu stellen, mein Herr. Indes sind wir nicht veranlasst,
einem einzigen Weg stur zu folgen. Wir können, wenn Sie es wünschen,
jederzeit die Fahrtrichtung ändern. Ohnehin wird sehr viel Zeit
vergehen, bevor eine Entscheidung unwiderruflich als endgültig
hinzunehmen sein würde. Die Begegnung mit Kolja, dem Maler, selbst
die kasachischen Weltraumschrottsammler öffnen uns neue Wege.
Verzeihen Sie mir meine Anmaßungen, ja, ich wiederhole mich,
verzeihen Sie vielmals!
Naturgemäß
haben wir sehr viel Zeit! Lang
ist die Zeit, es ereignet sich aber das Wahre.
Rund 3700 Kilometer, Rohlfs! Angesichts der verbleibenden 56
Millionen Kilometer, Rohlfs, wenn beide Planeten auf der gleichen
Seite der Sonne stehen und Mars der Sonne von der Erde aus gesehen
genau gegenübersteht, sind 3700 Kilometer allenfalls eine
Kaffeefahrt! Legen Sie also den Gurt an und lassen Sie den Riegel im
Gurtschloss einrasten. Im Handschuhfach finden Sie feinste
Schreibutensilien, ein Diktiergerät sowie Ersatzbatterien für den
Radioempfänger unter Ihrem Sitz. Fast alles, was man für eine Reise
braucht! Hören Sie mich?"
"Ich
kann Sie hören!"
"Gewiss
werden Sie sich fragen, wer sich in unserer Abwesenheit um die
freilaufenden Enten, Gänse und Hühner kümmern mag. Das Anwesen
dient seit jeher all denjenigen als Unterschlupf, die es leerstehend
vorfinden, wissen Sie? Oft haust hier der
alte Vasile, der mir seit vielen Jahren Brennholz, Milch, Brot, Salz,
Öl, Mehl, Schnaps und kanisterweise Diesel für meinen alten TV-14 C
bringt. Läuft
auf Hochtouren! Hören Sie? Wie eine Eins!
Machen
wir uns indes bloß nichts vor, lieber Herr Rohlfs, denn es spielt im
Grunde überhaupt keine Rolle, ob ein Fräulein Germanotta ihre
Gesangskünste künftig mit kreischenden Saxophonen untermalt, die
Nachgeborenen Free Jazz
zum Frühstück konsumieren, die Kirchgänger zu freidenkenden
Menschen erzogen werden, ein Spitzenfußballer sich mit dem Gehalt
eines Bundesrichters begnügen muss, Indien eine Sonde zum Mars
schickt oder es Florence André und Florence Porcel zu eng auf der
Erde wird und sie daher zu den ersten Siedlern auf dem roten Planeten
gehören wollen. Die Dinge
sitzen im Sattel und reiten die Menschheit.
Es
macht im Grunde keinen Unterschied, ob das Kapital in den gierigen
Händen einiger filziger Finanzmänner der Wall Street heranwächst
oder die Reichtümer gerecht verteilt werden, so wie es keinen
Unterschied machte, ob die Heilige Schrift dem Klerus vorenthalten
blieb oder einer breiten Masse zugänglich gemacht wurde.
Wir
sind bereits in gleichem Maße von Menschen Hand eingegangen und
verkümmert wie der größte Teil des Aralsees sich seit dem
Mittelalter von Menschen Hand in eine Wüste verwandelt hat. Wir sind
Wüstlinge, domnule Rohlfs, und wir werden weitermachen. Ein wenig
Anstiftung zum Unfrieden, nein, das kann unmöglich großen Schaden
anrichten! Der Friede sei mit uns!
Was
bleibt,
mein lieber Herr Rohlfs, ist
sozusagen die unbedingte Notwendigkeit der
Aufgabenerfüllung, der objektiven Betrachtung im Rahmen unserer aufs
Äußerste begrenzten Möglichkeiten sowie die
Notwendigkeit eines
Gleichgewichts des Schreckens.
Doch
berichten
Sie noch ein wenig von Alois, bevor Sie mich vollends aus den Augen
verlieren. Heißt es nicht im Marsevangelium Alois sei
derselbe geblieben, nur die Umwelt habe sich verändert? Es steht
geschrieben: Es wäre wohl
besser gewesen, man hätte ihn in seiner schlichten Welt belassen.
Jedes Tier braucht die ihm zukommende, eigene Welt; man kann es nicht
in eine ihm fremde versetzen, ohne dass es verkümmert und eingeht.
Habe
ich die Stelle richtig wiedergegeben?
Man
mag dies Feigheit nennen oder Vernunft, nun, bevor ich meinen Dienst
als Matrose quittierte, wollte ich von solchen Dingen nichts hören,
mein Herr. Tatsächlich fand ich meinen Frieden in der Weite des
Meeres, doch ich schweife allzu sehr ab. Ein anderes Mal komme ich,
wenn Sie wünschen, darauf zurück. Andererseits bleibe ich
selbstverständlich stets beim Thema.
Die
grenzenlose Weite, das Weitermachen, mein Herr, das Weitermachen
aller Begrenztheit und Unzulänglichkeit zum Trotz! Aller
Begrenztheit und Gebrochenheit zum Trotz! Aller Begrenztheit und
Vergänglichkeit zum Trotz! Bitte entschuldigen Sie meinen Pathos!
Es
wäre wohl besser gewesen, man hätte auch mich in meiner vertrauten
Welt belassen. Dennoch: Der gute, alte Rocar TV-14
C läuft
auf Hochtouren! Hören Sie das? Wie eine Eins! Wie eine Eins!
An
anderer Stelle heißt es bei Alois: Nicht
aus dem Bild der christlichen Geschichte, sondern aus bloßer
Lebenserfahrung wissen auch wir, dass wir nichts erzwingen können,
dass alles seine Zeit, seine Reife, seine Gelegenheit braucht, dass
das bloß Gemachte, Konstruierte keinen Bestand hat, dass wir die
Natur nur beherrschen können, indem wir uns ihr einordnen, und das
gilt, recht verstanden, nicht nur im physikalischen, sondern auch im
seelischen, moralischen Bereich.
Was
halten Sie von dieser Stelle? Nun, das Reden scheint Ihnen schwer zu
fallen, mein Herr, doch sind Sie ein aufmerksamer Zuhörer. Das ist
eine große Gabe! Fast möchte man sagen Sie seien ein Aufhörer,
mein Herr. Verzeihen Sie mir! Bestimmt habe ich Sie bereits
eingelullt mit meiner Redseligkeit. Gleichzeitig
bitte ich Sie mir dies nicht
zu verübeln oder
darüber ungehalten zu sein."
"Keineswegs,
Emilian, keineswegs! Das darf ich Ihnen versichern." Ein neues
Jahr liege vor ihm, ein Jahr, das ihn aus seiner Niedrigkeit erheben
solle. Zwei Jahre Tagebuch, die er auf dem Tisch vor sich
betrachtete, ein ungefüges,
sich ergebendes Leben und Tun sei es gewesen. Das neue Jahr nun solle
eines der Freude und der Arbeit werden. "Ich hoffe, dass mich
der Winter auf der Rodelbahn und dem Eise trifft, der Sommer in Wald
und Feld", wäre er älter, wollte er sich einen Kugelregen
erhoffen; aber Ordnung sollte von morgen an walten, der alte
Schlendrian Vergangenheit sein.
Am 29. Februar nun also sei er nach Frankfurt gefahren um Hauptmann
sprechen zu hören. Vorher habe er noch den Reichspräsidenten im
Goethehaus gesehen, woraus er ein kleines Feuilleton machte, das im
Vorwärts gedruckt wurde.
Wie viel
doch dazu gehörte, etwas Gewisses zu schaffen, als Grundlage vor
allem der sichere Glaube ans Gelingen! Hauptmann habe stark gewirkt
durch seine Persönlichkeit, schwächer durch seine Rede. Die
Frankfurter Egmont-Aufführung sei wie aus einem Guss gewesen, wohl
abgewogen vor allem die Gestalten Egmonts und Klärchens, die allein
im Gedächtnis der Zuschauer zurückbleiben würden, während alles
andere darum sich wohltätig als Gesamteindruck anordnete. Die
Aufführung habe stark in ihm die Lust bewirkt, wieder Goethe zu
lesen und von ihm zu lernen. Das sei ja sein Leitmotiv: lernen,
lernen, lernen!
Das
Schöne dabei: das Leben als ein Experiment betrachten zu dürfen!
Wobei nicht die falsche Folgerung hinzukommen dürfe, als sei es
nicht erlaubt jemals vollkommen zu werden. In Goethe trete so schön
das Willenselement hervor, ohne durch viel Aufhebens zu stören. Wie
vieles ihm erst als interessant und wertvoll aufgehe im Unterricht
der Volksschule, worüber er sonst Langeweile empfunden habe.
Im pädagogischen Kurs resümierte er sein Erlebnis zu einem Vortrag:
Die Frankfurter Goethewoche war ein Ereignis, dem in ganz Deutschland
lebhaftes Interesse begegnete. Die Spende, welche es galt
aufzubringen um das Goethehaus wieder aufzurichten, war nur der
äußere Anlass zum Feste.
Aber
schließlich kam der Zerfall des Goethehauses vielen gelegen um etwas
Größeres, tiefer Gefühltes dabei zu bekunden. Es lag in weiten
Kreisen des deutschen Volkes ein wahres Bedürfnis vor, nicht nur ans
Goethehaus, sondern an Goethe selbst zu denken. Manchen fiel es
plötzlich wie eine Todsünde ein: jahrelang hatten sie keine Zeile
von Goethe mehr gelesen. Sie wähnten sich im sichern Besitze dieses
Mannes, weil er hinter Glas und Rahmen stak usw. Bei Ausbruch des
Krieges war das Unsägliche geschehn, dass uns ein Oberlehrer sprach:
„Wir sind froh, dass uns das Ausland jetzt auch einmal von der
anderen Seite kennen lernt, bisher waren wir immer nur das Volk der
Dichter und Denker. Über unserm Lustwandeln im Wolkenkuckucksheim
versäumten wir die gebührende Machtstellung zu erringen.“
Ein
geradezu Ertrinkender musste buchstäblich in letzter Sekunde das
Seil ergriffen haben mit dem Schrei: „Zurück zu Goethe!“ Er war
der ruhende Pol. Er war unser größter nationaler Dichter, nicht nur
Kosmopolit! Das fand auch seinen Ausdruck darin, dass der
Reichspräsident und andere Angehörige der Regierung in Frankfurt
erschienen. Viele schraken einen Augenblick zurück. Der Anblick der
schwarzbefrackten Herren da oben auf dem Balkon kam ihnen spaßig
vor. Und doch: Wie bedeutungsvoll ist es, dass die Republik nach
Frankfurt geht um vor dem kleinen braunen Haus am Hirschgraben Segen
zu erflehen! Es klingt wie ein veni creator spiritui! Hilf du uns
usw.
Dieser
Anblick, dass ein ganzes Volk (hier verkörpert im Präsidenten) zu
seinem Dichter wallfahrt um in tiefster Not dort zu beten, das ist in
Deutschland noch nicht dagewesen. In den westlichen Demokratien wohl.
Jedem einigermaßen gebildeten Franzosen schlägt das Herz höher,
wenn der Name Molières, Balzacs oder Victor Hugos fällt. In der
Académie haben sie ihren Platz. Ihre Gebeine ruhen im Pantheon. Der
Präsident huldigt ihnen an ihren Gedenktagen. Wir mochten lachen
über solches Komödienspiel, da uns selbst ein tieferes
Nationalgefühl abging.
Aus
den Erörterungen, welche wir im Laufe der Woche gehört haben,
scheint mir als fester Punkt wieder und wieder gekehrt zu sein die
grundsätzliche Trennung, die wir zwischen Religion und Sittlichkeit
zu machen haben. Jene Auffassung, dass erst aus der Religion und
zugleich mit ihr vollendete Sittlichkeit erwachse, erschien mir einer
Korrektur bedürftig. Wohl ist es von Alters her so, dass in den
religiösen Gebilden der Geschichte, der Konfessionen und deren
Schriften, Dogmen, zugleich die Sittlichkeit verankert ist. Das ist
aber wohl deshalb so, weil das Sittliche, dessen Verehrungswürdiges,
ebenfalls in einem Überindividuellen, in dem Volksganzen oder
Menschheitsganzen besteht, immer am Wort der Religion als
nächststehend erschien.
Die
Sittlichkeit ist der Religion entweder eingeordnet und damit
untergeordnet, oder sie ist als vollständiges Phänomen ihr
unterlegen. Die Herkunft der Sittlichkeit als soziales Produkt hat
mich zu dieser Ansicht geführt.
Die
Sittlichkeit ist ein System sozialer Übereinkünfte, welche
insgesamt bezwecken, das Wohlergehen der Einzelnen zu sichern und zu
fördern. Wenn man von der so genannten geistigen Hebung der
Menschheit spricht, so kann ich darin schlechterdings kein Ziel
erkennen, welches höher sei als das der körperlichen Hebung. All
dies ist Kultur im Gegensatz zur Religion.
Das
so genannte Ideal der Tüchtigkeit (Wilhelm Meister) reicht nicht
mehr aus. Der Beamte bei uns ist in seiner inneren Hohlheit offenbar
geworden. Der bekannte Typus einer jüngst vergangenen Gegenwart
hatte zu Gunsten der Pflicht den schaffenden Geist in uns getötet.
Da der Antrieb jener Pflicht in Gestalt des alten Staates gefallen
ist, bleibt nichts mehr übrig. Man bekennt sich offen zur
gegenseitig geduldeten Bequemlichkeit und Annehmlichkeit. Glaubt man,
dass unsere großen Erfinder, Künstler usw., welche das Wohl der
Menschheit am meisten förderten, für die Menschheit gearbeitet
haben? Das ist eine Phrase, aus zwei Gründen: einmal aus
Erkenntnisdrang, zum anderen aus Schaffensdrang.
Eher
flüchtig nahm Rohlfs über die Lesebrille hinweg eine Gruppe von
Kindern wahr, die am Straßenrand Waldbeeren und Pilze verkauften,
Karrenwagen, an denen Emilian stets vorausschauend vorbeifuhr,
entgegenkommende Fahrzeuge, die durch kurze Lichtsignale vor einer
Polizeikontrolle warnen wollten, einen Grenzposten, der uns lächelnd
passieren ließ, nachdem Emilian ihm einen Geldschein zugesteckt
hatte, ungeduldige Geschäftsleute in teuren Fahrzeugen, die den TV
14-C mit aufbrausenden Motoren und riskanten Spurwechseln an
gefährlichen Engstellen in letzter Sekunde überholten,
naturbelassene Felder und Wiesen, schattige Wälder, einen einsamen,
abenteuerlustigen Fahrradtouristen in leuchtend kostspieliger Montur
des Westens, welche den erfolgreichen Markennamen zur Schau stellte,
der sich, so dachte Rohlfs, bedrohlich von der Umgebung abhob, sanfte
Weinhänge, blühende Bäume, Emilians Lippen, die sich, aus welchem
Grund auch immer, meist vergnügt zu kräuseln schienen oder
bestimmte Stellen aus den Aufzeichnungen, die ihm Rohlfs vorlas,
stumm nachsprachen, vermutlich um sie sich besser einzuprägen, Orts-
und Straßenschilder, deren Namen Rohlfs hastig in seinem Skizzenbuch
festhielt: Strîmbeni,
Lăpuşna,
Rusca, Miciurin, Stradă
Mihai Eminescu, Bardar.
Über die Lesebrille hinweg nahm Rohlfs die Architektur,
Sehenswürdigkeiten und historische Orte Kischinaus wahr, auf die
Emilian manchmal wie ein Reiseleiter hinwies, nicht ohne sich
wiederholt dafür zu entschuldigen, dass er sich verfahren hatte: Die
Kathedrale
der Geburt des Herrn
mit ihrem prachtvollen Glockenturm, den Saal
mit Orgel,
den Triumphbogen am Bulevardul
Ştefan
cel Mare şi
Sfînt,
die zehn Bronzebüsten vor dem Verteidigungsministerium auf der Allee
der Herrscher Moldawiens,
die Kathedrale des Märtyrers Teodor Tiron, den zoologischen Garten
zur Rechten und, etwas später, den botanischen Garten zur Linken.
Als
Emilian mit einem Handzeichen auf den internationalen Flughafen
deutete, spürte Rohlfs erstmals seit ihrem Aufbruch, wie eine
schwere Müdigkeit von ihm Besitz ergriff, die er abzuschütteln
versuchte, indem er rasch das Fenster herunterkurbelte und den Kopf
für eine Weile in den Fahrtwind hielt. Emilian stimmte unterdessen
lauthals ein Lied an: "Am cravata mea,
sunt pionier,
şi
mă mândresc cu ea, sunt pionier!"
- "Dass über
uns beispielsweise geschrieben werden könnte", sprach Rohlfs
mit dem Blick über
die Lesebrille hinweg und gewissermaßen so dahin. "Über uns
schreiben, aber ich bitte Sie, wer sollte denn über
uns schreiben?" - "Na sagen wir, warum nicht zwei, die auf
die Schnapsidee gekommen sind, es lasse sich, so gut wie man sich
über
dieses und jenes unterhält, ein Buch schreiben." - "Ein
Buch. Über uns?" - "Warum nicht?" - "Rohlfs,
seien Sie ehrlich! Sie sind das, der ein Buch schreiben will!" -
"Unsinn, wozu ein Buch schreiben, ich meine extra schreiben. Es
würde
doch ohnehin nur drinstehen, was ich schon weiß." - "Das
glaube ich nicht, denn über
dem Schreiben würden
Sie auf dieses und jenes kommen, was Ihnen sonst niemals eingefallen
wäre. So ist es jedenfalls bei mir. Ich schreibe überhaupt
nur aus diesem Grund." - "Sie schreiben?" - "Ich
schreibe nicht mehr als andere Leute, dies und das. Selbst wenn ich
bloß einen Einkaufszettel schreibe, stehen hinterher Sachen drauf,
an die ich so eigentlich gar nicht gedacht hatte. Jetzt sagen Sie
nicht, das sei Ihnen zu platt. Es ist genau das, was ich sagen
wollte. Durch das Schreiben fallen einem Sachen ein." - "Sachen.
Sind das dann Sachen, die erfunden sind, oder sind sie, ich meine
besitzen sie eine Art höhere Wahrheit? Sie wissen schon: Die
Schreiberei wäre also vielleicht eine Art freudscher Couch." -
"Ich würde
mir auf meinem Einkaufszettel etwas erlauben, was ich mir ohne nicht
gestattet hätte. Ja, ich glaube schon. Es kann sein, dass ich dann
später doch nicht alles kaufe, was darauf steht. Trotzdem haben Sie
mich jetzt irgendwie durcheinander gebracht." - "Wenn
sich", Rohlfs versuchte zu überspielen,
dass er sich in Stimmung gebracht fühlte, "sagen wir, jemand
das alles hier bloß ausgedacht hätte, wie wahr wäre es dann
dennoch?" - "Aber Rohlfs, das alles hier ist doch
ausgedacht. Wenn Sie möchten, sagen Sie, wir hätten es uns ausgedacht."
- "Ich weiß nicht, ob wir dasselbe im Sinn haben. Nehmen wir
noch einmal das Beispiel von den beiden Komödianten, die sich uns
ausdenken und eine Geschichte über
uns erzählen. Wir sind Buchstaben, Wörter und so weiter. Wie kommen
die auf uns?" - "Ja, aber das ist doch ganz klar. Sie
beobachten uns, machen sich so ihre Gedanken, lassen uns
gedankenweise dieses und jenes tun, sprechen und so weiter." -
"Aber mal im Ernst, das sind ja dann nicht wir, sondern, es ist
das, was die sich denken." - "Schon, nur dass das natürlich
nirgendwo einen Anfang und auch kein Ende hat." - "Keinen
Anfang und kein Ende?" - "Ja, weil wir es genauso machen.
Wir erfinden uns. So und so viele Sachen sagen die Leute über
uns, wir finden das eine gut, das andere ist uns nicht so recht, aber
wir machen uns unseren Reim darauf. Wir sind Erfindungen, unsere
eigenen ebenso gut wie die der Leute. Sagen Sie den beiden Typen, die
sich die Arbeit mit uns machen, sie sollen ein paar Groschen
rüberrücken, wenn sie damit fertig sind!"
"Der
Reichtum, den Sie hier sehen, Rohlfs, ist nicht mit den Maßstäben
des Westens zu messen. Er trumpft nicht auf und stellt sich nicht zur
Schau. Gewiss, die Hinterlassenschaft des kommunistischen Regimes
wiegt mitunter schwer; die Bauwerke des Sozialismus wirken meist
ideen- und lieblos, doch, so dachte ich oft, als ich zu Gast in Ihrem
Land war, dürfen wir uns nicht vom Glanz der Farben blenden lassen.
Sind es nicht bloß die grell leuchtenden Farben, fragte ich mich,
die den Unterschied ausmachen? Die Plattenbauten des Westens leuchten
inzwischen in strahlendem Rot und Orange, in kräftigem
Preußischblau; wir sind im Ton der Pastellfarbe aufgewachsen. Die
Freiheit verbirgt sich vermutlich im Kampf der Raben mit den Käfern
und Würmern, in den Fäulnisprozessen auf den Feldern, im
Kirschgarten der Nachbarin, in der bewussten Bejahung der
Vergänglichkeit. Die Desillusionierung macht es vielleicht ein wenig
leichter sich aus der Sklaverei zu befreien. Aus welcher Sklaverei,
fragen Sie sich? Es ist in der Tat nicht leicht diese Frage zu
beantworten.
Schreiben
Sie, domnu' Rohlfs, in Ihr Notizbuch, schreiben Sie: Sklaverei
der Genehmigungen
für einen Aufenthalt, Arbeit, die Existenzgründung, Abriss, die
Errichtung,
Änderung, Nutzungsänderung von baulichen Anlagen, den
gewerblichen nationalen oder internationalen Güterkraftverkehr, für
den Gelegenheitsverkehr mit Mietwagen, für Wohnmobilplatz, den
Gelegenheitsverkehr mit Kraftomnibussen, für das Veranstalten
von Spielen mit Gewinnmöglichkeit, Straßenmusik, für die
Verwendung von konventionellen Zutaten im ökologischen Landbau, für
eine fortlaufende Heilmitteltherapie, den Bau einer Hähnchenfabrik,
den Betrieb eines Wildgeheges, den Aufstieg von Himmelslaternen, für
das Fällen von Bäumen mit einem Stammdurchmesser von mehr als 10
cm, für das Gartenhaus, die Sonntagsarbeit, Schweinemast,
den Grabstein,
Höhlenzutritt,
Geschäfte über Grundstücke, Schiffe oder Schiffsbauwerke, die
Einlagerung bzw. Aufstellung von Flüssiggas-Behältern. Worauf
warten Sie noch? Stellen Sie sich doch einmal vor man hätte Stalin
die Genehmigung für die künstliche Bewässerung der Baumwollfelder
in Kasachstan und Usbekistan verweigert! Der
Führer braucht keine Gewaltmittel, um seine Stellung zu
sichern. Seine Autorität stützt sich nicht auf die Angst vor
Strafe. Die
Genehmigung für die Herstellung von Fertigprodukten wird ab sofort
weltweit zurückgezogen! Köstlich, nicht wahr? Schreiben Sie,
Rohlfs! Oder die Genehmigung für die Besiedlung von fremden
Kontinenten durch Europäer wäre nicht erfolgt! Die Genehmigung für
die Förderung von Terraforming als gemeinschaftsstaatliches Projekt
wird nicht erteilt! Wir
lebten in einem der ersten Blöcke, die uns Genosse Ceauşescu bauen
ließ. Selbst im ABC-Buch der Grundschule war das Antlitz des Führers
gegenwärtig. Lucia war eine hervorragende Schülerin und begabte
Handwerkerin. Sie liebte und pflegte ihre blassblaue Schuluniform.
Sie war verrückt nach Cola Cao, Nesquik kannten wir nicht.
Nach
der Schule traf sie sich oft mit gleichaltrigen Mädchen am
Treppenaufgang zum Hüpfseilspiel. Die Jungs, stets etwas abseits,
ahmten mit den Händen die Flugbahnen der Militärflugzeuge nach; die
Reviere waren stillschweigend abgesteckt. Manche spielten auch am
Boden mit ihren im Tauschgeschäft erworbenen Plastiksoldaten.
Später
dann, gewiss, versuchten einige Jungs, băieţi
şmecheri,
den Mädchen einen flüchtigen Kuss abzutrotzen. Man trug blugi,
aus der Türkei importierte Blue
Jeans,
für die man sich nicht schämen musste, denn Levis
oder Wrangler
kannte man nicht. Man suchte die Freundschaft, Rohlfs, das Wort Sex
benutzten allenfalls ein paar Unterweltler oder Zuhälter. Man
errötete bei dem Klang des Wortes. Lucia liebte die Poesie und
schrieb Gedichte. Es gab kaum eine Zeile Eminescus, die sie nicht in-
und auswendig kannte.
Gewiss,
auch Lucia fing noch vor der Revolution an von Bobby Ewing zu
schwärmen. Tatsächlich sollte man, wie Groucho Marx einmal gesagt
haben soll, jedesmal, wenn jemand den Fernsehapparat einschaltet, in
ein anderes Zimmer gehen und ein Buch lesen. Fernsehen sei sehr
bildend, meinte Marx ironisch. Ich bin ein Marxist à la Groucho."
Herzhaft
lachend parkte Emilian den TV 14-C vor einem bunten
Gemischtwarenhandel am Straßenrand von Ţânţăreni. Die grellen,
rot-weißen Farben eines Plakats des Coca-Cola Konzerns, das man
recht provisorisch unter dem Dachgiebel befestigt hatte, schienen
bereits an Leuchtkraft eingebüßt zu haben. Vor dem Laden türmten
sich blaue Wasserbottiche und Kanister in unterschiedlichen Größen
sowie Baumaterialien, Schlauchrollen, Sauerstoffflaschen, eine
Gartenpumpe, ein Schubkarren, Wasserhähne, mehrere Waschbecken aus
Aluminium und zwei dunkelgrün lackierte Fahrräder, die recht
mitgenommen aussahen. Emilian bestellte mit einem Handzeichen zwei
Flaschen Bier und es schien, als sei er nicht zum ersten Mal hier.
Zumindest duzte er den kleinen dicken Ladenbesitzer und erkundigte
sich nach Daciana, Doina und Raluca. Unterdessen überprüfte er den
Benzinstand des Tanks, da er, wie er sagte, der Tankanzeige nicht
traute. Rohlfs gab indes zu verstehen, dass er es vorzöge im Wagen
zu bleiben um sich nochmals mit den jüngsten Aufzeichnungen zu
befassen. Er verschwieg allerdings, dass ihm die Müdigkeit sehr
schwer in den Gliedern saß und die Einsamkeit der Fahrerkabine
bevorzugte; für jede Art von Geselligkeit hielt er sich für
ungeeignet.
Modisches
musste sich immerzu auch in einem gewissen Sinne über das
hinwegsetzen, was man gemeinhin als schön bezeichnet hätte, denn
das erste Anliegen der Mode war sich von dem zu unterscheiden, was,
wie man so sagt, gestern modern war. Die Gestrigen hatten es so weit
gebracht mit ihren Vorstellungen davon, was richtig und gut war, dass
es fast den Anschein hatte, es handele sich um das eigentlich
Richtige und Gute, woran nun immerhin durchaus Zweifel angebracht
waren. Erstens war das Gestrige einst ein Heutiges, wenn auch derart
vor Zeiten, dass man die Erinnerung daran geradezu vergessen hatte.
Inzwischen war man in dem einst Heutigen zu Jahren und Würde
gekommen. Wie viele lächerliche Versuche sich Kenntnisse und
Leichtigkeit zu erwerben im Umgang damit, was Geltung besaß, hatte
man nicht erlebt, um doch festzustellen, dass die nachwachsende
Generation den nun einmal bestehenden Vorsprung an Erfahrung und
Einsicht eigentlich niemals würde wettmachen können, von einigen
wenigen Gleichaltrigen, schönen Ausnahmen gewissermaßen, einmal
abgesehen, die allerdings von deren Altersgenossen nicht in der
rechten Weise gewürdigt wurden!
Stattdessen
machte man sich stets von Neuem daran, das, was erwiesenermaßen das
Gute und Bewährte war, in Misskredit zu bringen. Natürlich gab es –
und würde es zu allen Zeiten solche geben – nämlich, die durch
Dilettantismus und, was noch ärgerlicher war, durch Nachlässigkeit
in Verruf brachten, was eigentlich gültig und gut war. Aber das war
ja in einer Weise offensichtlich, dass sich die Kritik derer, die
Neuerung suchten, und zwar um jeden Preis, nicht zu Recht auf gerade
die kaprizierten, die nun allerdings als schwache Vertreter gelten
konnten.
Es
war aber der Gang der Dinge, fast hätte man sich lieber die
Pappnasen in den eigenen Reihen gehörig zur Brust genommen. Sahen
sie denn nicht, wem sie die Bahn bereiteten in ihrer Trägheit und
Oberflächlichkeit? Wohl gab es auch solche unter ihnen, die im
vollen Bewusstsein dessen, was sie taten, die Spur der Dumpfen breit
traten, genau genommen aus Lust am Untergang, woran man sich offenbar
an sich schon vergnügen konnte, oder aber, weil sie der Schrecken
derer amüsierte, die treu und besorgt waren.
Es
kam also die neue Mode, und sie war hässlich, jeder konnte es sehen,
aber das, was an ihr hässlich war, trat in durchaus übertriebenen
Gegensatz zu dem, was gerade noch als schön, jedenfalls manierlich
gegolten hatte. Darüber herrschte nun bald unausgesprochen
Einigkeit, dass man sich zusammenschließen würde, zum Beispiel im
Geiste einer neuen Zeit, auf diese Weise der alten entgegenzutreten,
ihr die Stirn bieten zu wollen. Die, die es unter den Bedingungen,
die nun einmal galten, rein zu nichts gebracht hätten, waren
naturgemäß die eifrigsten in dem neuen Spiel. Kunststück, wie
leicht es auch zu spielen war, dieses neue Spiel. War die Kombination
von Orange und Grün sozusagen das Schreckgespenst des vorigen
Geschmacks, so gab es bald nichts mehr, was man sich nicht in den
neuen Modefarben vorstellen konnte. Ein Schrotthaufen von einem alten
Auto wurde versuchsweise durch die neuen Farben, billig aufgetragen,
so weit ging der Wagemut dann doch nicht, zu neuen Ehren gebracht.
Und richtig, es konnte nicht lange dauern, bis nagelneue, auch
luxuriöse Gegenstände, leuchtend orange waren, und grün
selbstredend.
Emilian
versicherte, dass die Fahrt bisher wie geschmiert gelaufen sei. Auch
die Grenzposten in Kuchurhan hätten sich über den Obolus gefreut
und sie ohne Weiteres durchgewinkt. Rohlfs erinnerte sich lediglich
an ein Brunnenhäuschen mit Wegekreuz und eine Tankstelle mit dem
Namen Stone.
Lange rieb er sich die Augen, bis er bemerkte, dass er einen starken
Druck auf seiner Blase verspürte. Die Luft war mild und roch nach
Meer, als er sich in einem Gebüsch am Straßenrand erleichterte. Es
roch nach Meer und Fisch. In der einbrechenden Dämmerung hörte er
Möwen kreischen. Schiffssirenen heulten.
Rohlfs
fror und fing leicht an zu zittern. Es sei nicht mehr allzu weit bis
Maksimov, hörte er Emilian aus der Fahrerkabine rufen. In höchstens
zwei Stunden werde man die russische Grenze überquert haben.
"Es
ist möglich",
dachte Rohlfs, zurück in der Fahrerkabine, bei sich selbst, während
Emilian alte Seemannslieder wie Don't
you call us common sailors und
Auf
einem Seemannsgrab, da blühen keine Rosen
vor sich hin summte oder hin und wieder auch anstimmte, "es ist
möglich, dass sich wirklich und tatsächlich einfach kein Interpret
für Motive aus John Coltranes Mars
finden wird, auch wenn es Palle, denke ich, wahrlich nicht an der
notwendigen Frechheit fehlen würde mit Überzeugung in das Stoßgebet
einzustimmen, vielleicht sogar auf es einzuhämmern, es einzudämmen,
es gar einzukerkern, den letzten Funken Hoffnung gleichsam
einzuäschern. Er dürfte naturgemäß nur lallen, vielleicht
gelegentlich schreien, nein, eher lallen, lallen wie ein
Ertrinkender, immerzu, gelegentlich schreien dennoch."
Wie,
fragte sich Rohlfs, sollte es möglich sein mit der Niedertracht
eines Palle und dem, wofür er in seinen Augen stand, Frieden zu
schließen? Es war nicht auszuschließen, dass Palle ihn sogar
bereits in Baikonur erwartete. Letztlich war jedoch nichtmals Palle
seiner List gewachsen, dachte Rohlfs. Hatte er nicht auch Dr. Reich
überlistet, an den er kaum noch einen Gedanken verschwenden wollte?
Was
mochte Petrică
von Rohlfs' Plänen gewusst haben? Das Bewusstsein sich nicht nur
davongestohlen zu haben, sondern auch im Besitz von Gegenständen zu
sein, die er wissentlich entwendet hatte, beunruhigte ihn derart,
dass er einmal mehr dem Bedürfnis nachgab den Kopf aus der Kabine in
die Meeresbrise zu halten.
"Die
mit Schiffen auf dem Meer fuhren und trieben ihren Handel in großen
Wassern; sie haben die Werke des Herrn erfahren und seine Wunder im
Meer",
wollte er sich notieren, als Emilian ihn jäh aus seinen Gedanken
riss, indem er ihn am Arm packte, in seinen Sitz zurückzog und die
Scheibe, über ihn hinweg greifend, rasch hochkurbelte. "Sie
schwitzen, Rohlfs, und holen sich den Tod. Sie sind noch längst
nicht an dem Punkt sich vollends aus dem Staub zu machen! Halten Sie
sich an meine Worte, Mann! Halten Sie durch bis Rostow, Rohlfs! Die
Begegnung mit dem Maler ist weitaus weniger abwegig als Sie denken,
lieber Rohlfs! Vielleicht werden wir sogar eine Weile in Rostow
untertauchen müssen, zumal die Entfernung zum Mars erst im Sommer
2018 wieder günstig ist. Schreiben Sie:
Und so kam ich hierher mit Schiffen und eigener Mannschaft, fuhr auf
schimmerndem Meer zu anders redenden Menschen."
Erneut
zog Rohlfs die Möglichkeit eines Kollateralschadens in Erwägung, da
man sich vermutlich bereits in der Nähe von Mariupol befand, und
stellte sich die abgerundeten Flächen von Raketenköpfen vor, die
sich auf die Fahrerkabine des TV
14-C zubewegten. Er würde rechtzeitig aus der Kabine zu springen
versuchen, die Umhängetasche fest umklammert. Falls nötig, würde
er auch zu Fuß nach Baikonur finden.
Sollte
er tatsächlich noch weitere drei Jahre unterwegs sein? Sommer
2018,
hatte Emilian gesagt. Was mochte Emilian im Schilde führen? War es
möglich, dass sich Emilian und Alberti von der Seefahrt her kannten?
Rohlfs wollte sich nicht davon abbringen lassen, dass Emilian im
Innersten ein gutes Herz hatte, was vielleicht von der Seefahrt
herrührte. Dennoch befürchtete Rohlfs, dass das Vorhaben nunmehr an
einem seidenen Faden hing, den sein Fahrer mit seinen Einwänden zu
durchschneiden drohte.
Das
ehrgeizigste Projekt im Rahmen des Terraforming war indessen die
Errichtung einer Radioantenne auf dem Olympus Mons, vermittels derer
man die Datenplatten jederzeit in Schallwellen übertragen konnte.
Der Bau weiterer Stationen zu einem noch zu bestimmenden Zeitpunkt im
Auge des Mars, dem Solis
Lacis,
und am südlichen Rand des Elysium-Plateaus
befand sich noch in der Planungsphase. "Bei
der Übertragung expandierter Signale kann eine Einwirkung auf
Funksignale der Antenne erfolgen, die von fremden
Übertragungssystemen benutzt werden",
schrieb Rohlfs in sein Skizzenbuch. "Tell
my wife I love her very much she knows … And there's nothing I can
do",
fügte er hinzu.
Gleichzeitig
versuchte er sich die Form orographischer Wolken auf der Erde
einzuprägen, die denen ähnelte, die man von der Radiostation auf
dem Olympus Mons gelegentlich sah. "Habt Acht, ihr umliegenden
Steine und Staubteufel! Nach dem Wetterbericht dringen erstmals
unirdische Klänge in die Elementarzellen des Hämatiten,
gewissermaßen ins Herz des Blutsteins. Das Wetter ändert sich
vorerst noch nicht, ihr umliegenden Steine und Staubteufel, denn noch
immer treten zahlreiche Eiswolken nördlich von 70 Grad nördlicher
Breite in allen Luftschichten bis zu 40 Kilometern Höhe auf.
Unterhalb von 20 Kilometern fallen auch in diesem Jahr wieder die
Kristalle als Schnee. Als
wäre das Land jemals trocken gewesen.
Ein ungetrübter Blick durch die Atmosphäre bleibt nach wie vor
stark eingeschränkt. Sehr
kalte nordwärts strömende Luft sinkt von der südlichen Polkappe
mit rapider Geschwindigkeit in das tiefe Hellas-Becken
ein. Habt
Acht, ihr umliegenden Steine und Staubteufel! Das Blut wird euch in
den Adern gefrieren. Heute werdet ihr zittern! Hier oben in meiner
Station auf dem Olymp haben
wir angenehme Temperaturen
und können alles über die Bediengeräte einstellen. Ich kann damit
jeden Raum zeitlich und temperaturmäßig regulieren. Die
Temperaturen
können auf diese Weise schnell den unterschiedlichen Bedürfnissen
und Tageszeiten angepasst werden."
Emilian
bremste den Transporter unvermittelt und ließ ihn am Straßenrand
auslaufen. Die dämmernde Umgebung vermittelte eine trügerisch
idyllische Landschaft. Kein Fahrzeug weit und breit. Am Himmel
brauten sich langsam dunkle Wolken zusammen und ein sich weit
erstreckendes Feld schien durch Reihen wild in die Höhe ragender
Bäume, beinahe am Horizont, begrenzt. Es war schwer zu erkennen, ob
es sich nicht sogar um eine Allee handelte, in die sich Rohlfs nun
eine Weile vertiefte. Die Bäume wirkten durch ihren
unterschiedlichen Wuchs wie wellenförmig angeordnet, wie eine in den
Boden gepflanzte Partitur, dachte Rohlfs, die sich ohne Weiteres in
Musik übersetzen ließ.
Die
Straße entlang sah man indes bereits die Lichter einer Stadt in
nicht allzu großer Entfernung. Rohlfs glaubte Schüsse zu hören,
war sich jedoch keineswegs sicher. Emilian hingegen nickte seltsam
mit dem Kopf hin und her. Aller Frohsinn war aus ihm gewichen, jede
Freude vergangen, sodass Rohlfs nun seinerseits ein altes
Seemannslied kaum hörbar zu summen begann oder sehr leise anstimmte.
"They
thought the stars were set alight, oh yes, oh, by some good angel
every night. A hundred years ago."
Mit dem Mund ahmte er zwischen den Strophen geschickt das
Wellenrauschen nach. "They
hung a man for making steam, oh yes, oh, they cast his body in the
stream. A hundred years ago. A hundred years is a very long time, oh
yes, oh, a hundred years is a very long time."
Ein
dumpfes Grollen, vielleicht aus der Stadt, klang wie Kanonendonner.
Maschinengewehrknattern war zu hören. Die Umgebung schien dennoch
wie ausgestorben. Noch immer kein Fahrzeug weit und breit. "Rauchen
Sie bitte, mein Herr", ergriff Emilian das Wort und bot ihm eine
moldawische Zigarette an. "Eine gute Zigarette, Rohlfs! Atis -
eine würzige Filterzigarette! Finden Sie nicht? Es muss geraucht
werden! Was meinen Sie?"
Rohlfs
wollte zunächst ablehnen, da er sich für einen Nichtraucher hielt,
hielt dies aber für unangemessen und nicht vertretbar.
"So
ziemlich das Nützlichste, was man als Kriegsreisender besitzen
kann. Atis! Ah, das kratzt ganz ordentlich im Hals, Rohlfs! Hab' dem
alten Mihai, oh yes, oh, den halben Laden leer gekauft. Könnte mir
gut vorstellen, dass sich da draußen in Kasachstan jemand über ein
wunderbares Waschbecken, ein paar Wasserhähne, ein Fahrrad oder eine
Gartenpumpe freut. Was meinen Sie? Zumindest haben wir dem alten
Mihai und seinem Harem eine Freude gemacht! Der hat erst einmal
ausgesorgt für diese Saison, oh
yes, oh!
Warme
Decken, Zelte, ein sehr feines Toilettenpapier, Rohlfs, dreilagig,
hochweiß und optimal für anspruchsvolle Verbraucher, Bier, Speck
und rumänischen Käse habe ich auch auf dem Laster. Slănină
şi
caşcaval
de casă!
Wir haben verdammt viel Asche, Rohlfs, verdammt viel! Ein Hoch auf
Petrică,
uns und das, was vor uns liegt! Es ist freilich ratsam, Rohlfs, eine
Weile abzuwarten bis sich das Geballer da draußen beruhigt hat. Alle
werden sie irgendwann müde, auch die Soldaten, Rohlfs, auch die
Soldaten! Da brauchen Sie sich gar keine Sorgen zu machen. Und wen
kümmert schon ein gottverdammter, alter TV-14 C! Außerdem ist es
gegen die Vorschrift. Schlage vor, dass wir den Feldweg da oben
nehmen und ein wenig mit den Bäumen singen! Was meinen Sie? Alles
hängt miteinander zusammen,
Rohlfs, verbunden durch Linien, wie die Verästelungen von einem
dieser kargen Bäume da oben. Alle sind sie stimmig miteinander
verwoben. Wie
die Verästelungen an
einem Baum entspringen unsere Nerven aus dem Gehirn und Rückenmark.
Das verspreche ich Ihnen bei allen Heiligen, die ich kenne. Es wäre
schließlich verrückt jetzt alles einfach über Bord werfen zu
wollen. Machen wir einfach einen großen Bogen um Mariupol herum oder
aber, Rohlfs, wir brettern mit hundert Sachen die E 58 runter und
kaufen uns den nächsten Grenzposten! Augen zu und durch, wie man
sagt, Augen zu und durch! A
hundred years is a very long time, oh yes, oh, a hundred years is a
very long time. Da
brauchen Sie sich gar keine Sorgen zu machen. It's
time for us to go!"
- "Aye, aye, Captain Miles. It's
time for us to go, oh yes, oh yes!",
erwiderte Rohlfs zuversichtlich. Die Wolken hatten sich bereits
verzogen, als Emilian den einzigen Wagen weit und breit gemächlich
in den Feldweg steuerte.
"Sie
wissen ja, domnul' Rohlfs, das Fasten beginnt mit der Morgendämmerung
und endet mit Einbruch der Nacht.
Alles
Fleisch ist Gras, und alle seine Güte ist wie eine Blume auf dem
Felde im Einverständnis mit der Natur.
Schalten
Sie das Radio ein, auf dass wir nicht zu spät von hier verschwinden.
Irgendein Nachrichtensprecher wird uns schon den Marsch blasen,
Rohlfs! So gegen drei Uhr in der Früh sollten wir den Motor
starten!" Emilian schien, so stellte Rohlfs nicht zum ersten Mal
fest, eine sehr eigenartige, fast schon magische Macht auf seinen
Radioempfänger auszuüben, die dem Gerät stets das entlockte, was
er gerade hören wollte. So ließ er das Radio mit einigen schnellen
Bewegungen seines rechten Daumens und Zeigefingers den langsamen Satz
der zweiten Symphonie von Boris Lyatoshynsky, lento e tranquillo
(alla ballata), spielen, als erzeuge er vermittels seiner
Willenskraft die Radiowellen, die ausschließlich für Rohlfs und ihn
selbst bestimmt waren; seinen Launen folgend ließ er etwa George
Harrison Roll
over Beethoven
oder Piggies,
John Lennon Dig
a Pony, Bob
Dylan Jokerman
und Donald Fagen Any
World (That I'm Welcome To)
singen. Emilian begleitete Tony Bennett und Count Basies Orchester in
ihrer Interpretation von Lost
in the Stars
und sang mit Frank Sinatra im Duett Johnny Mercers Fools
Rush In.
Er
präsentierte Rohlfs ukrainische Folklore von Oleg Skrypka, Timofei
Belogradskis Lautenlieder auf Gedichte von Alexander Sumarokow,
Kammermusik von Nikolai Roslawez, Mykola Kolessa und Svitlana Azarova
sowie Operngesang von Anatoli Borissowitsch Solowjanenko und Ivan
Semyonovich Kozlovsky. Einfühlsam wechselte er die Sender von Zeit
zu Zeit, fand rasch Informationen zur Lage im Krisengebiet, in dem
man sich gerade befand, machte sich Notizen und kontrollierte die
Uhrzeit auf vorsorgliche Weise, da man, wie er wiederholt betonte,
pünktlich aufbrechen müsse.
Er
schnitt den geräucherten Speck mit einem Schweizer Taschenmesser in
feine Scheiben, brach das Brot, öffnete zwei Dosen Ursus und
verköstigte Rohlfs.
Man
aß, sprach über vernünftige Vorgehensweisen, Vergangenes,
Künftiges, erleichterte sich an einem geeigneten Ort in einem
entlegenen Gebüsch, rauchte, lockerte die Muskulatur mit einigen
Dehnübungen und zur allgemeinen Erbauung und Erheiterung lauschte
man Beiträgen der American
Forces Network Stations.
Manchmal fiel Emilian auch in einen tiefen Sekundenschlaf, den Rohlfs
mithilfe einer Taschenlampe dazu nutzte seine Aufzeichnungen zu
sichten, zu lesen und mit größtmöglicher stilistischer Sorgfalt
zu korrigieren.
Je
inniger man im Einverständnis mit der Natur lebte, desto größer
war das Glück. Es war ein friedliches Begreifen und Sprechen; was
für andere tot war, wurde einem selbst lebendig. Dieses Glück war
das wirkliche, das echte Glück. Er ging mit Bekannten durch eine
reifende Sommerlandschaft. Eine Allee von Nussbäumen lag vor ihnen.
In der Ferne floss der Rhein; sie konnten das Ufer mit den Büschen
und Pappeln sehen. Darüber war ein feiner, blassblauer Himmel
gespannt. Wie schön das sei, sagte einer und sprach von den Linien
und Perspektiven. Ein anderer kam auf die Landschaften bekannter
Maler zu sprechen. Aber das alles war ja die Hauptsache nicht! Ob sie
denn nicht den eigentümlichen Reiz dieser Landschaft bemerkten? Das
Feine, Stille, Schläfrige! In Wirklichkeit ließ sich die besondere
Wirkung aber schwer beschreiben. Etwas wie Glück überkam ihn, da er
es sah. Nicht landläufiges Glück, etwas anderes! Jetzt glaubte er
Goethe zu verstehen, der oft das Wort „heiter“ verwendete. Gerade
dieses Wort traf die Art Glück, die er fühlte. Goethe hatte gewiss
etwas von dem, was die anderen meinten, beachtet, die Linien und
Perspektiven. Er zeichnete ja so gern! Sein Reich war "von
dieser Welt",
von der, die man sieht, von keiner anderen. Aber es gab eine Stelle
bei ihm, in der Alois‘ persönliches Fühlen anklang. In Werthers
Leiden hieß es: "Ich
könnte jetzt nicht zeichnen, nicht einen Strich, und ich bin nie ein
größerer Maler gewesen als in diesen Augenblicken."
Zwar
musste man den Freunden zustimmen, die von Linien und Perspektiven
sprachen: Die Landschaft hatte Perspektiven, und Perspektiven waren
etwas Objektives, etwas, was draußen festlag. Doch es schien nur so,
unser Auge sah in die Landschaft hinein. Diese Pappeln gehörten in
eine bestimmte Familie, Klasse und Gattung hinein. Der feine Dunst,
den er aufsteigen sah, war Wasserdampf, den die Pflanzen erzeugten.
Was war dagegen jenes "Feine,
Stille, Schläfrige",
von dem er gesprochen hatte? Er erkannte, dass es einem anderen Reich
angehörte, nicht der objektiven Natur. Es stammte aus ihm, seiner
Seele, seiner Einbildungskraft, und er bildete es sich ein, weil er
der Natur gegenüberstand, weil er ein Mensch war und noch dazu
dieser eigenartige Mensch, dem alles anders erschien, als es in
Wirklichkeit war. In Wirklichkeit hing ganz gewöhnlicher Wasserdampf
über dem Rhein. Die Pappeln schwangen, weil der Wind sie bewegte,
hin und her, und der Wind ging, weil der Luftdruck anderswo stärker
drückte als hierzulande.
Woher
stammte aber das Schöne, Wunderbare, das ihn daran ergriff, das es
wert war, von einem Maler, einem Dichter gestaltet zu werden? Es
stammte aus ihm, und er erkannte, dass Kunst und Dichtung – und
weithin auch die Religion – damit arbeiteten, dass Künstler und
Propheten einen schönen Schleier über die gemeine Wirklichkeit
breiteten.
Im
Jahr zuvor hatte er ins Tagebuch geschrieben: "Wir wollen mit
den Mädels Schlitten fahren!" Und gestern fuhren sie mit ihnen
Schlitten. Wie waren sie im Dämmerdunkel von der Wallstraße den
Berg hinabgesaust! Kein Ziel, nur unbestimmt etwas Großes,
Grenzenloses vor Augen. Schnee und nur Schnee, sonst nichts. Manchmal
rote Funken, die von den Kufen anderer Schlitten sprühten, und
große, schwarze Menschen, die mit einer Laterne in der Hand bergauf
stapften. Es war wahrlich etwas Herrliches so nah zusammen
dahinzubrausen!
Er
hatte die Gretel S. aus der Werderstraße vor sich auf dem Schlitten.
Leben an Leben, aber sich ergänzendes, nicht gleichartiges Leben!
Seine Schwester, die mit einem Buben den Berg hinunterraste, hatte
ihn hart zu spüren bekommen, als er vor einem Schlitten auswich und
einen Salto mortale schlug. Das waren schöne Tage!
Er
habe sich nun also während des Vortrages verschiedene Fehler zu
Schulden kommen lassen, die seine Wirkung erheblich beeinträchtigten,
und die er für zukünftige Vorträge abstellen wolle. Der
Grundfehler sei der gewesen, dass der Vortrag eine falsche
Gründlichkeit aufgewiesen habe und dass er sich infolgedessen zu
wenig auf die Zuhörer eingestellt habe. Ein Vortrag müsse mehr
seine Zuhörer als seinen Stoff beachten.
Er
musste sich also in Zukunft Rechenschaft darüber ablegen, wie lange
ein Vortrag dauerte, nicht länger als dreiviertel Stunden. Und da
habe er eineinhalb Stunden geschwätzt! Dann: Ein Vortrag dürfe
nicht systematisch sein wollen, sich nicht vornehmen ein Ganzes geben
zu wollen, also Veranlassung der Problemstellung, Geschichte des
Problems, Wege, Gefahren, Einwände, Folgerungen usw. und so fort.
Ein Vortrag war keine Abhandlung. Schon gar nicht Vollständigkeit im
logischen Aufbau, also Deduktion! Er hätte dem Problem einige
interessante Seiten abgewinnen und mit solchen Schlagern blitzartig
die Frage beleuchten müssen, wie Freud in seinen "Vorlesungen"
bald von dieser Seite, bald von jener kommen müssen. Dabei vermied
man eben allerlei Kleinigkeiten, die zwar logisch waren, aber den
Zuhörer kalt ließen, wie etwa die Erwähnung des historischen
Materialismus, die logisch als extremer Standpunkt hierher gehörte,
für die Erkenntnis der Sache aber weggelassen werden konnte.
Er
hatte den Ehrgeiz gehabt, seine Arbeit interessant zu machen, indem
er fortwährend den Standpunkt der Gegenwart hereinbrachte. Ja, wenn
es gegangen wäre, hätte er noch Plato gebracht und überhaupt die
Entwicklung der gesamten Sozialphilosophie. Beschränkung hatte
gefehlt! Bescheidenheit! Und wenn schon, dann die Kritik am Schluss
als Sonderkapitel, nicht dauernd eine Spaltung des Interesses. Kaum
hatten die Zuhörer sich die Eigenart Pestalozzis vergegenwärtigt,
sollten sie sich schon wieder mit dem ihnen fremdartigen Müller
hineindenken! Also die Schlager, die man gibt, als Ganzes geben, als
warme, lebensfrische Lichter, nicht gleich wieder schattieren, das
gehörte an den Schluss!
Möglichst
war am Anfang eine Disposition zu geben, damit der Hörer den
zurückgelegten und den noch zu leistenden Weg überschauen konnte.
Nichts war schädlicher, als wenn der Hörer nicht wusste, wo es
hinausging. Keine Überraschungen, genau wie im Drama!
Man
musste sich, anstatt sich auf allgemeine, farblose Ausdrücke zu
verlassen, lebendige, neue Redewendungen einfallen lassen! Sogar den
Stoff selbst musste man nach Interesse und Wichtigkeit sorgfältig
auswählen, die Resultante einer Gesellschaft zu suchen und ihr
Manometer schwanken zu lassen war Konstruktion und dazu Unsinn!
Beim
Redigieren der Texte war Rohlfs nicht aufgefallen, dass Emilian
zwischenzeitlich in eine Tiefschlafphase geraten war, sodass er sich
augenblicklich gezwungen sah allein auf die Uhrzeit zu achten; nicht
einmal dem fanfarenhaften Trällern der American
Forces Network Stations hatte
er größere Beachtung geschenkt, auch wenn ihm nicht entgangen war,
dass selbst der einstmalige Charme nächtlicher Übertragungen trotz
aller Weichzeichnerei, etwa im Stil von Milt Jacksons Sunflower
oder Donald Byrds Stepping
into Tomorrow,
dem allgemeinen Trend systematischer Desensibilisierung gewichen war.
Selbst die Beiträge der engagierteren Songwriter
wirkten im Umfeld der Berichte eher wie Che-Guevara-Poster aus dem
Discounter. Die News
mit dem Anspruch der Information hatten durchgängig den Charakter
von Seifenopern, dachte Rohlfs. So diskutierte man beispielsweise,
inwiefern sich die moderne Frau in der amerikanischen Gesellschaft
unter der Führung des aktuellen Präsidenten sicher fühlen durfte,
analysierte die Bewegungen des Dow Jones Index, verfolgte die Spuren
schwer zu fassender Krimineller oder erörterte das Phänomen von
Konversionen zum Islam, hinter dem man offensive sozialistische
Propaganda zu wähnen glaubte. Der überwiegende Teil seiner
Aufmerksamkeit richtete sich aber auf die Tatsache, dass er nach
geraumer Zeit wieder zu vollem Bewusstsein seines Tuns zurückgefunden
hatte; auch sein Erinnerungsvermögen schien in ungetrübterem Maße
wiederhergestellt zu sein. Ein wenig verärgerte ihn allerdings seine
Neigung sich Tagträumen und Allmachtsphantasien hingegeben zu haben.
Freilich mochte es verzeihlich sein, sagte er sich, dass man die Zeit
vermittels dieser Ströme ein wenig reibungsloser und vergnüglicher
verstreichen lassen konnte, doch stellte sich ihm unweigerlich die
Frage, ob es weiterhin zulässig sei nach bloßen Antrieben zu
handeln. Zur Stunde galt es, nahm er sich vor, mit Besonnenheit und
dem Bewusstsein
der Pflicht
vorzugehen und niedere Beweggründe möglichst restlos
auszuschließen. Viele vor ihm waren zugegebenermaßen dem
trügerischen Instinkt gefolgt ihr Handeln sei selbstlos und
vernunftgemäß – man denke nur an Oppenheimers Mission. Mit Recht
sah er demungeachtet das Wesen des ihm auferlegten Auftrags in der
Korrektur und Aufbewahrung von Alois' Nachlass. Und wer wollte noch
leugnen, dass es in irdischen Regionen hierfür schlicht keinen Ort
gab? Jede Form von erzwungener Selbstlosigkeit war dennoch, so dachte
er, vollkommen wertlos. Die Schwierigkeit lag selbstverständlich
darin, dass es unüberschaubar viele gegenläufige Ziele gab, die
teilweise offen und teilweise verdeckt verfolgt wurden, zumal es
inzwischen schier unmöglich geworden war die Beweggründe aller
Beteiligten einzuschätzen. Hinzu kam die Tatsache, dass die Kraft
des Hasses, die ihn gerade an diesem Ort umgab und die man förmlich
einatmete, ihn buchstäblich erschütterte. Gerade hier bereitete es
ihm erstaunlicherweise ein besonderes Unbehagen sich schlagartig und
unerwartet mit Palles frecher Wollust konfrontiert zu sehen, mit der
jener bishin zur Musik beinahe alles, was auch nur im Entferntesten
mit dem Auftrag zu tun hatte, auf eine Art und Weise eingesaugt
hatte, die ihm noch immer den tiefsten Abscheu einflößte. Dr. Reich
war vermutlich allzu einfältig und plump das wirkliche und
tatsächliche Ausmaß des Vorhabens abzuwägen, während Constance
lediglich von Sorge angetrieben schien. Petrică
und Francesca waren fürwahr allenfalls Marionetten, doch sowohl
Saeed als auch Emilian musste man fraglos - trotz ihrer
vermeintlichen Rätselhaftigkeit - als Vertrauenspersonen betrachten.
Es blieb abzuwarten, ob es gar ein geheimes Band zwischen den beiden
gab oder nicht.
Der
Trace
Gas Orbiter
würde die Erde bereits im Januar 2016 verlassen und den Mars neun
Monate später erreichen. Selbst von Palle manipulierte Datenplatten
wären zweifellos noch wertvoller als ein weiterer Etappensieg seiner
Feinde. Es musste unbedingt bei dem Kriterium der Vermeidung eines
unnötigen Aufschubs sein Bewenden haben, beschloss Rohlfs. Trotz
aller Vorsätze entging Rohlfs die erste Zeitansage, auf die er sich
mit größtem Verantwortungsgefühl zu achten vorgenommen hatte. Der
Grund hierfür musste wohl die Detonation einer weiteren Bombe
gewesen sein, die ihn einmal mehr tief in seinen Sitz gedrückt
hatte. Emilians Schnarchen beruhigte seine Nerven jedoch rasch
wieder.
Die
Stimme Gottes, die den kleinen Albert Schweizer, wollte man ihm diese
Kindheitslegende glauben, beim Schießen mit der Steinschleuder auf
Vögel zur Ehrfurcht vor dem Leben berufen hatte, so dass er zu dem
berühmten Urwalddoktor werden konnte, dessen man in frommen
Sonntagsreden gedachte, diese Stimme Gottes war einst auch an Rohlfs
ergangen. Eine Berufung, wie die des kleinen und später großen
Albert, ließ sich aus dem peinlichen Ereignis freilich bis auf
Weiteres nicht ableiten.
Sie
hatten im Garten von Rohlfs' Freund Erich mit dem Luftgewehr auf
Konservenbüchsen geschossen. Die Eltern waren notorisch abwesend,
woraus sich manche Freiheiten ergaben, auch solche, wie sie daher
kamen, dass man zu zweit das Geld dazu verdiente, überflüssige
Dinge zu besitzen, wie beispielsweise ein solches Gewehr. In Rohlfs'
Elternhaus war nicht daran zu denken, schon eine
Schießblättchenpistole an Fastnacht war beinahe ein Ding der
Unmöglichkeit. Rohlfs besaß dann doch eine, mit der man sich aber
bloß lächerlich machte. Es wurden rötlich gefärbte Rollen darin
eingelegt, die ein piffpaffartiges Pengpeng von sich gaben, während
oben das verschossene Band sich aus der Pistole spulte wie der Schiss
einer Schnecke, man riss es so bald wie möglich weg mit seinen
schwefelig oder sonst irgendwie brandigen Einschlagstellen, die der
wackelige Hahn in sie gestanzt hatte. Ein schwerer
Platzpatronen-Trommelrevolver, das war ein Ding nicht zum
Cowboyspielen, sondern er machte klar, dass man es ernst meinte und
eigentlich nur, weil es wirklich verboten war, keine echte Waffe
trug. Natürlich bekam er ein solches Ding auch einmal in die Hände,
weil die anderen Jungen, was man der Mutter hundertmal erzählen
konnte, alle eines hatten. Sogar ein oder zwei Platzpatronen hatte er
tatsächlich einmal damit verschießen dürfen, es war klar, dass
sie, in Ringen oder einzeln, in sauberem grünem oder rotem
Kunststoff gefertigt, ein Vielfaches dessen kosteten, was man für
die Schießblättchen bezahlte. Wahrscheinlich
traf niemand mit einem Luftgewehr, der es zum ersten Mal
probierte, und so gelang Rohlfs auch nach etlichen Versuchen nicht
ein einziger Treffer, während Erich die Dosen abräumte, wie es ihm
gefiel. Trotz des Gepolters im Garten flatterten einige Spatzen von
Baum zu Baum. Rohfs, der von einem Urwalddoktor nichts wusste, und
der auch nicht weiter auf das Läuten einer Kirchenglocke geachtet
hätte, legte einer Eingebung folgend auf einen der Vögel an, der
jetzt ganz ruhig auf seinem Ast saß, nachdem er kurz zuvor noch
flatternd etwas in seinem Gefieder zu picken gehabt hatte. Weder sein
Freund, der ihm zuschaute, noch Gott selbst, wie er es bei dem
kleinen Albert tat, hielten ihn ab von einer Sache, an die er selbst
am wenigsten glaubte, dass er nämlich den verglichen mit den
Konservendosen winzigen Piepmatz treffen werde. Doch er traf, das
Vöglein kippte von seinem Zweig, ohne auch nur noch ein einziges
Flattern, geschweige denn einen Schrei oder etwa, dass ein Federchen
von ihm aufgewirbelt wäre. Es war einfach auf der Stelle tot. So tot
wie etwas nur sein konnte, lag es da, unmöglich, dass es vor ein
paar Augenblicken noch das zappelige Etwas gewesen war, das sich um
die beiden dort unten und ihr Tun am Ende des Gartenpfades nicht
bekümmerte. Nun trugen sie das Tier auf einer Kehrschaufel zur
Mülltonne, steckten ihn auch etwas unter Abfälle darinnen, feuchtes
Laub, das das irgendwo zusammengefegt worden war. Es wurde nicht
gesprochen, der Nachmittag ging schal zu Ende, erst die Büchsen
nicht zu treffen, dann aber den Vogel, es konnte passieren, aber das
tat man doch nicht! Etwas, was vielleicht schon immer zwischen den
Freunden gestanden hatte, war seltsam offenbar geworden. Man vergaß
es auch, schließlich war es nicht Nachbars Katze. Das Luftgewehr
wurde nie mehr herausgenommen, jedenfalls nicht, wenn Rohlfs da war.
"Für
die magischen Praktiken der Primitiven interessierst du dich, Rohlfs,
weil du das geistige Werden der Menschheit verfolgen willst. Und da
hoffst du auf Einblicke, indem du den Zauberern und allen möglichen
Quacksalbern zuschaust. In Wirklichkeit hegst du aber bloß eine
Abneigung gegen alles, was Technik und Fortschritt ist, nämlich die
Welt, wie sie nun einmal nur mit den Mitteln der höheren Mathematik
zu begreifen ist." – "Vielleicht hast du recht, ich habe
mich auch nie ernsthaft mit Mathematik beschäftigt, als Schüler
nicht, das gebe ich zu, aus Mangel an Erfolgen auf diesem Gebiet.
Heute würde ich vielleicht geduldiger lernen und würde es doch
wenigstens so weit damit bringen, wie andere durchschnittlich Begabte
auch, die sich nur die Zeit dazu nehmen." – "Ja, sicher",
entgegnete Constance, "aber ich sehe es dir an der Nasenspitze
an, dass du bei deinem Standpunkt bleibst, die Mathematik ist dir zu
modern." – "Als ob Mathematik modern wäre! Modern sind
vielleicht die Dinge, für die man sie gebraucht. Modern ist auch der
Glaube an die Mathematik, nämlich als könne sie Wahrheiten
ermitteln, zu denen man sich bekennen muss, weil sie sich auf
mathematischem Wege beweisen lassen." – "Am Ende hast du
also etwas gegen Beweise." – "Das allerdings",
entgegnete Rohlfs, den Constance an seinem empfindlichen Punkt
getroffen hatte, und der sich gegen jede Form des Zwanges auflehnte,
wie seit Jugendzeiten. Es sei denn, es handelte sich um ein
spielerisches Befolgen von Zwängen, so wie man ja auch die
Schachfiguren nicht willkürlich bewegte, sondern den Regeln dieses
Spieles gehorchend. Sicherlich konnte man den Turm auch ganz anders
rücken, oder die Dame, wobei er Constance mit Wärme anblickte, denn
er dachte sie sich immer als eine Dame, nur dass man dann
selbstverständlich nicht Schach spielte. Dass man Spiele spielte,
die nun gerade nicht Wirklichkeit waren, aber sich in irgendeiner
Weise zu ihr verhielten, sogar in vielfältiger, wenn auch nicht in
beliebiger, das war Rohlfs' Sicht der Welt. Das mochten auch die
Mathematiker nicht anders sehen, hatte er sich gelegentlich
bestätigen lassen. Allerdings wurde die Mathematik von den
allerwenigsten bis zu diesem Standpunkt betrieben. Den Technikern
blieb sie notwendig Mittel zu sehr handgreiflichen Zwecken,
praktischen, wie Constance meinte um Rohlfs nur auch gehörig an der
Stelle zu necken, an der sie ihn am meisten traf, berührte. Es war
klar, dass sie dennoch zu ihm hielt, wenn sie auch seinen Standpunkt
nicht einmal zur Hälfte teilte.
Rohlfs'
Vorliebe für vergangene Zeiten, für eine Welt, die es nicht mehr
gab, und in der er, wenn es sie noch gegeben hätte, auch nicht
glücklich gewesen wäre, war eine Maske, durch die er schaute, und
die er vor sich hielt, so wie man sich kleidete um nicht nackt zu
sein. Sie war auch einfach eine Art die Dinge zu betrachten, wie man
notwendiger Weise von irgendeinem Standpunkt aus die Welt und das
Leben anschauen musste um überhaupt etwas zu sehen.
Vielleicht
verhalf ein zugegebenermaßen vergleichsweise exotischerer
Blickwinkel leichter dazu, sich dessen bewusst zu sein, dass es sich
immerhin um einen solchen handelte, während man ansonsten vielleicht
glaubte die Dinge so zu sehen, wie sie seien.
Ebenso
wenig gab es einen Ort, an dem man glücklicher war, wenn man es dort
nicht sein konnte, wo man sich gerade befand. Man musste nicht reisen
oder gar darüber nachdenken, überhaupt an einer anderen Stelle auf
der Welt zu leben. Tatsächlich reisten ja die meisten wie verrückt,
Rohlfs wollte immer denken, sie täten es in erster Linie um am Ende
das eigene Nest doch am schönsten zu finden; und dann reiste man ja
noch wegen des Wetters! Dabei stöhnte doch bei dem kleinsten wenig
Hitze immer schon alle Welt. Jedenfalls reiste kaum jemand in eine
Gegend, wo es noch kühler war als hier. Man sah sich das eine oder
andere aus fernen Gegenden ab, wozu ja auch das Fernsehen schon einen
nicht unerheblichen Teil beitrug.
"4
a.m. Central European Time, Rohlfs! Ich hoffe doch sehr Ihnen ist
klar, dass es hier bereits fünf Uhr ist und wir schon längst
unterwegs sein sollten. Futu-ti
ministerul ma-tii!
Weshalb, um Himmels willen, lassen Sie sich auch bloß von diesem
vorlauten und geschwätzigen Sender einlullen!" Mürrisch und
verschlafen startete Emilian den TV-14 C nicht ohne dem
Radioempfänger mit einer schnellen Handbewegung einen kriegerischen
Marsch zu entlocken, der im Verlauf der Fahrt opernhafte Züge annahm
und die Reisenden bis an die Grenzen des Landes begleiten sollte.
Erst
als Emilian nach Umwegen auf der Höhe von Sakhanka erneut auf die E
58 zurückgefunden hatte, hörte Rohlfs wie von weitem die Stimmen
eines Chores, die sich mit solistischen Einschüben vermischten.
Trotz des schlechten Empfangs notierte er sich aus bloßer Erinnerung
vereinzelte Versatzstücke aus dem Gesang. "Doch
wählet ihr zum Schützer mich der Rechte, die dem Volk erkannt, so
blickt auf eure Ahnen und nennt mich euren Volkstribun!
Weh
dem, der ein verwandtes Blut zu rächen hat!"
Gierig
sog
Rohlfs
im Morgengrauen den Geruch des Meeres in sich auf, den britische
Forscher, so erinnerte er sich, bereits zu klonen begonnen hatten.
Das künstlich hergestellte Dimethylsulfid liefere die Erinnerung an
Strand und Wellen und sei eines der wichtigsten Gase im globalen
Klimahaushalt, hieß es. Am Ortseingang von Bezimenne steigerte sich
der Marsch zu einem orchestralen Sturm, der Emilian nach sanftem
Erröten in ein befreiendes Lachen ausbrechen ließ. "Lasst
eure neuen Fahnen wallen, und kämpfet froh für ihre Ehre; den
Schlachtruf lasset laut erschallen: Santo Spirito Cavaliere!"
Noch
vor Novoazovsk verlangsamte sich der Verkehr in beiden
Fahrtrichtungen durch entgegenkommende Kolonnen von Panzerfahrzeugen
erheblich. Tatsächlich kümmerte sich niemand, nichtmals die
russischen Grenzposten bei Maksimov, um den, wie Emilian sich
ausdrückte, gottverdammten, alten TV-14 C und ein paar falsche
Pässe. Der Mann mit dem rötlichen Spitzbart warf, so Emilian,
allenfalls ein paar flüchtige Blicke auf die Diplomatenpässe,
schien sich aber doch über den knisternden Empfang der heroischen
Oper, die zunehmend von Meldungen aus der russischen Medienlandschaft
überlagert wurde, ein wenig zu wundern, bevor er die Reisenden eilig
durchwinkte.
Rohlfs
meinte indes ein leichtes Schmunzeln im Gesicht des Grenzers entdeckt
zu haben. Emilian hatte die Musik oder das, was davon übrig
geblieben war, kurz vor der Grenze sogar noch etwas lauter gestellt.
Erst als er die Grenzposten im Rückspiegel nicht mehr sehen konnte,
schaltete er das Radiogerät aus. Nur gelegentlich hörte Rohlfs ihn
von einem Schiff
mit acht Segeln singen
oder Zeilen aus einem Gedicht Eminescus rezitieren. "Dintre
sute de catarge care lasă
malurile, Câte
oare le vor sparge vânturile,
valurile?"
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