["Flaschenpost", Michelle Schneider (2019)]
Das
erste Leseerlebnis beeinflusste mich, als ich neun Jahre alt war. Ich
las damals die ungarische Prosaübersetzung der »Ilias«.
Sie machte mir einen gewaltigen Eindruck, weil ich für Hektor Partei
ergriff und nicht für Achilles. Zur selben Zeit las ich auch »Der
letzte Mohikaner«.
Beide Bücher hatten für mich große Bedeutung. Denn obwohl mein
Vater ein sehr anständiger und ordentlicher Mensch war, vertrat er
doch als Bankdirektor die Weltanschauung, dass das Kriterium
richtigen Handelns der Erfolg ist und dass ein Mensch dann richtig
handelt, wenn er keinen Erfolg hat. Das kam in »Der
letzte Mohikaner«
noch deutlicher zum Ausdruck als in der »Ilias«,
weil jene Indianer vollkommen recht hatten, die unterdrückt und
unterworfen worden waren, und nicht die Europäer. [Georg Lukács]
["Landschaft", R. A. ol-Omoum (1989)]
Die
Kunst ist also in allen ihren Werken – und am ausgeprägtesten in
ihren bedeutendsten – eine Erscheinung des Lebens, der
gesellschaftlich-geschichtlichen Entwicklung der Menschheit; man
würde ihr innerstes Wesen, ihre echteste Größe verfälschen, wenn
man sie, wie es der philosophische Idealismus immer tut, als einen
ausschließenden Gegensatz zum Leben darstellen würde. [Georg
Lukács]
5.
17.1 Star
In
jedem Fall galt es, sich endgültig vom Standort Erde zu
verabschieden. Nie wieder würde er das Schwarze Meer, Elista, die
Moscheen Astrachans, die Wolga, das Kaspische Meer, Atyrau, Dossor,
Makat, Bayganin, Shubarkuduk, Oktyabrsk, Emba, Shalkar oder den
schwindenden Aralsee erleben. Nie wieder würde er die Ufer des Syr
Darya sehen oder in
Emilians TV-14 C
auf der Straße Gagarins fahren. Auch dessen war sich Rohlfs sicher.
Gleichzeitig
erwog und verwarf Rohlfs Möglichkeiten eines Abschiedsbriefs. Doch
an wen sollte er diesen adressieren? An Stephane? Saeed? Seinen
Vater? An die Richterin? Oder Palle? Vielleicht an eine seiner
Töchter? Selbst Rudolfa kam in Frage. Weshalb eigentlich nicht?
Oder an Constance? Gar an Reich? Letztlich erschienen ihm all diese
Möglichkeiten als unvertretbar und er spürte, wie eine gewisse Wut
ihn erfasste, die er jedoch niederzuringen wusste. Er verbot sich
einfach jede Form von Sentimentalität.
Wie
aus dem Nichts, verkündete Alberti, werde sich von einem auf den
anderen Tag alles nur noch um das
Unternehmen drehen.
Mit wenigen schlagkräftigen Worten müsse man um die Gunst
wirklicher Investoren für die Besiedlung des Mars werben.
Winger
|
Alberti |
Lehmann – W |
A
|
L.
Wie zukunftsfähig ist Ihr
Geschäftsmodell? Kunde, gleich Projekt, gleich Erfolg. Vertrauen ist
essentiell für jede Form von Zusammenarbeit. For the Science, for
the Challenge, for the Future! Credi, veni, vici! Allzu
viel würde nicht nötig sein um in verhältnismäßig kurzer Zeit
schwindelerregende Summen zu budgetieren, gerade das anfängliche
Image von Nepp und Bauernfängerei und die Tatsache, dass auf den
ersten Blick verborgen blieb, wofür eigentlich man genau warb,
würden nur die Neugier der selbstgefälligen Kritiker anstacheln. In
Broschüren und auf Internetseiten sollten deshalb neben vereinzelten
idyllischen Naturaufnahmen und wilden Wiesenblumen vor allen Dingen, möglichst kunstvoll abgelichtet, Albertis Manschettenknöpfe und sein
Siegelring zu sehen sein. Den hatte er nun allerdings schon in den
unterschiedlichsten Zusammenhängen gezeigt und erläutert. Das A
darauf stehe jedenfalls für dasjenige von Mars, oder? Und noch für
einiges andere, man erinnerte sich natürlich nicht mehr an jede der
Geschichten Albertis.
Allen
gemeinsam war, dass sie einen mit dem Gefühl zurückließen, es sei
eigentlich etwas ganz anderes gemeint, was wohl die anderen auch
verstanden, denn wenn Alberti erzählte, herrschten Heiterkeit und
Gelächter. Besser stimmte man ein, wer nicht lachte oder gar
widersprach, machte sich zum beliebten Gegenstand giftiger Witze.
Da
seien also beispielsweise die knabenhaften Züge Wingers, sein
engelsgleiches Lächeln, und selbstredend das alles einnehmende Wesen
Palles, seine gekünstelte Ernsthaftigkeit und natürlich sein
ausladendes Lachen und exaltiertes Pathos, mit dem er sich in Pose
setzte, was seine Wirkung gar nicht verfehlen konnte!
Maßgeschneiderte
Anzüge, handgefertigte Schuhe, welche Alberti offenkundig bereits
trug, stilvoll eingerichtete Büroräume, mehr oder weniger wie auch
jetzt schon mit den Mädchen, würden die mit großem Abstand
höchste Stufe konzentrierter Wirtschaftsmacht repräsentieren. Das
konnte man getrost alles schön scheußlich finden, tat es aber in
Wahrheit nur aus Geiz, weshalb man lieber das Maul hielt.
Unmengen
ausländischen Kapitals flossen in die Kassen des Trios, der
Aktienmarkt zog erheblich an und die Investoren überschlugen sich
geradezu vor Begeisterung. Hinter Zahlen standen Menschen!
Angeblich
hatte Winger schon bald eine tiefe Abscheu gegenüber der
Schurkenhaftigkeit des Unternehmens; zumindest deutete Rohlfs die
gelegentlich eher verächtlichen Bemerkungen Palles ihm gegenüber
auf diese Weise. Diese jämmerlichen Anflüge von Moral und dieser
Drang hier unten irgendetwas zu verbessern! Neuerdings solle der
heilige Winger sich sogar afrikanischer Bootsflüchtlinge angenommen
haben, da er meint, irgendjemand müsse schließlich ihre Rechte
verteidigen. Die Weltgemeinschaft habe sich darum zu kümmern, dass
wir mit unserer kläglichen Sorge um wohlgeformtes Obst und Gemüse
und unseren kleinlich gepflegten, ritualisierten
Zugangsberechtigungen und Zugriffsrechten nicht vollends
verwahrlosten. Da sei es eben notwendig, dass wir alle ein wenig
enger zusammenrückten. Winger sollte sogar eine Familie aus Somalia
in seine Wohnung aufgenommen haben.
"Was
ist nur los mit den Leuten?",
funkelte Palle Rohlfs an. "Man
stelle einmal die Billigkeit der Welt auf die Probe und frage nach,
wer sich bereit erklärte das Ritual des sonntäglichen
Familienfrühstücks mit der fünfköpfigen Familie aus Somalia zu
teilen!" Selbstverständlich
besuchte man bei entsprechendem Wetter im Anschluss daran das
städtische Volksbad und diskutierte am Abend in trauter
Gemeinsamkeit die aktuellen Ergebnisse des Spieltages der Ersten
Bundesliga. Allmählich begännen wohl bereits die besten Leute am
Rad zu drehen. "Bei
dir", er
behielt Rohlfs fest im Blick, "bin
ich mir da auch nicht so recht sicher, Mann." Als
ob irgendetwas gegen einen gesunden Geschäftssinn einzuwenden sei.
Sie jedenfalls seien kompetent und entwickelten fortwährend die
besten Lösungen zum Wohle ihrer Kunden. Erfolgreiche Unternehmen
seien ohne einen gesunden Geschäftssinn nicht vorstellbar. Man müsse
heute über die Fähigkeit verfügen kommerziell zu denken. Ohne ein
wenig Verschlagenheit und eine natürliche Begabung für den
diplomatischen Umgang mit Freunden wie Feinden ging man
schlechterdings vor die Hunde. Man brauchte einen Blick für aktuelle
Trends und die Entschlossenheit sich auf dem Markt durchzusetzen. Als
ob man das gleich verteufeln musste! Und wenn schon, so what? Sie
hätten es mit Winger versucht, aber es hatte nicht geklappt. Das sei
alles. "Und
kommt da noch mit Anklagen aller Art aus dem heitersten Himmel! Vom
Himmel hoch da komm ich her!", jetzt
war Palle nicht mehr zu bremsen. "Und
breitet seine Schwingen aus, Winger! Allmächtiger!"
Alberti
dagegen sei die Verkörperung des Bösen, ein arroganter Grandomane
und Schwätzer, Sklavenhändler und so weiter und so fort. Aber
gerade darum sei es eine Frage der Zeit, bis sich gewaltige
Bautrupps unter der Leitung der besten Ingenieure vom Format eines
Judah über den roten Planeten schöben. Routen enormen Ausmaßes
würden Bergketten queren, sich seitlich an Hängen entlangziehen und
in die Höhe winden, den Olympus Mons und Elysum Mons
verbinden. "Es
wird Strecken vom Daedalia Planum bis zur Terra Meridiani geben, Wege
von der Arabia Terra nach Utopia und so weiter und so fort, Rohlfs.
Naturgemäß kann eine solche Arbeit nur von wagemutigen Sklaven
verrichtet werden, die schnell lernen, stoisch arbeiten und weder
ernsthaft streiken, noch trinken oder raufen. Helden, Rohlfs, Helden!
Es wird sich zeigen, was das für Leute sind, Rohlfs! Zweifellos
Leute, die hier unten ohnehin keine Luft mehr zum Atmen haben oder
einfach nur abhauen wollen – vielleicht Chinesen dieses Mal,
vielleicht Rumänen oder Kasachen! Was schert mich das!
Was schert mich Weib, was schert mich Kind, ich trage
weit besseres Verlangen. Magnus
Albertis
Name verbürgt sich für die Geräte zur Produktion von Atemluft für
künftige Übersiedler. Der Sauerstoff wird durch die Umwandlung des
Kohlendioxid aus der Marsatmosphäre erzeugt. Wir erwärmen die
Atmosphäre mit Treibhausgasen und haben flüssiges Wasser – und,
hierin ist sich Alberti sicher, wir brauchen hierfür keine hundert
Jahre. Lediglich eine Frage der Zeit! Selbstverständlich profitieren
auch dieses Mal wieder Spekulanten, Politiker, Bankiers sowie
Betrüger aller Art, wobei die Siedlerströme erstmals in der
Geschichte der Menschheit keine Völkermorde begehen müssen. Das ist
die Art von Fortschritt, die wir uns seit jeher mit menschlichem
Einsatz und Risiko erträumt haben.
Die Dinge sitzen im Sattel und reiten die Menschheit. Der
Rest ist Gefasel von Hohlköpfen für Hohlköpfe. Larmoyantes
Gesülze! Mir ist dieses ganze Geseier fremd und unerträglich. Was
soll man einem solchen Jammerlappen auch sonst entgegnen? Ausbeutung
ist ein verdammtes Naturgesetz, Rohlfs! Ein verdammtes Naturgesetz!
And the rest is rust and stardust, Rohlfs!"
Schließlich
habe sich Wilhelmy als Aushängeschild für das Unternehmen zur
Verfügung gestellt, sodass man nicht einmal den Firmennamen zu
ändern brauchte. Wilhelmys Funktion in der Firma blieb aus Rohlfs'
Sicht allerdings eher undefinierbar. Vermutlich spielte seine joviale
Präsenz eine gewisse Rolle bei seiner Wahl zum Vorstand des
Unternehmens, dachte Rohlfs. Wilhelmy | Alberti | Lehmann - kurz: W |
A | L. For
the science, for the challenge, for the future!
Rohlfs
stülpte den Inhalt der Umhängetasche auf den Küchentisch um sich
ein letztes Mal vom Nutzen und möglichem Nachteil der einzelnen
Gegenstände zu überzeugen. Es war wirklich nicht vollkommen
auszuschließen, dass er sich einiger nutzloser oder belastender
Dinge endgültig zu entledigen hatte. Er
drehte eine Weile an den Rädchen der
Uhr und
betrachtete den Schlüsselbund, das Portemonnaie, den Kamm und die
Münzen. Schließlich schaltete er gedankenverloren das Radiogerät
ein, steckte die Bündel mit den Geldscheinen, das Schneidemesser und
das Schnupftuch sowie die
angebrochene Packung Zigaretten
zurück in die Tasche, nicht
ohne sich dabei selbstkritisch
eine Reihe von Fehlern einzugestehen.
Was
für eine ungeheure Kraft es ihn gekostet hatte, dachte Rohlfs, sich
in winzigen, kaum wahrnehmbaren Schritten von all dem zu lösen, was
man ihn als unabdingbar, unausweichlich und unvermeidlich gelehrt
hatte. Es schien ihm nicht mehr recht nachvollziehbar, dass er seine
Kontoauszüge sortiert und abgeheftet hatte. Über viele Jahrzehnte
hinweg war er bemüht mit seinem Einkommen hauszuhalten, notierte
gewissenhaft Einnahmen und Ausgaben, sparte jährlich ein
beträchtliches Sümmchen für kleine Urlaubsreisen an um seiner
Familie die Schönheit Istriens oder des Ägäischen Meeres vor Augen
zu führen, beachtete die Verkehrsregeln so gut er konnte und
verzichtete zunehmend auf Genussmittel
aller Art,
sei es Süßes, Alkohol, Kaffee oder Zigaretten. Es fiel ihm indes
schwer nachzuvollziehen, wann seine Gewissenhaftigkeit angefangen
hatte überhandzunehmen. Zumindest verbrachte er sehr viel Zeit damit
seinen Kontostand auf gerundeten Beträgen zu halten bis zu dem
Punkt, an dem es körperliches Unbehagen in ihm auslöste, wenn das
zur Verfügung stehende Guthaben ungerade Centbeträge aufwies.
Bisweilen entschloss er sich dann sogar, sich umgehend zum Kauf von
meist belanglosen Dingen durchzuringen, die den Betrag erneut auf
eine exakte Summe abrundeten.
Eine
ähnliche Pedanterie beobachtete er bei der Beseitigung von
Tabakkrümeln, die er, insbesondere zu der Zeit, als er seine
Zigaretten noch selbst drehte, mit größter Akribie vom Tisch
pickte. Im Amt machte man sich seine Akkuratesse naturgemäß
zunutze. Als er sich jedoch eines Tages in der Kantine dabei
ertappte, dass er den Rest eines Stücks Butterkuchen verstohlen vom
Dessertteller eines Majors aufnaschte, wusste er, dass bald auch er
dem
Laster des Krümelfressens verfallen
würde. Es musste sich etwas ändern.
Bevor
er vor einigen Tagen das Haus verlassen hatte, vergewisserte er sich
im Beisein Constances, dass sie alleinigen Zugriff auf alle
relevanten Daten und Konten besäße, als ob er geahnt hätte, dass
er nicht zurückkehrte. Dennoch hatte er sich nichtmals vergewissert,
ob er genügend Bares mit sich führte oder sich gegebenenfalls
ausweisen konnte, auch wenn er aus Gewohnheit stets ein
Lederportemonnaie
mit elastischem
Verschlussband, Münz-, Noten- und Kartenfächern mit sich trug.
Fast, so schien es ihm, hatte er sich bei seinem Aufbruch von etwas
wie Gottvertrauen leiten lassen, wobei er sich allenfalls zum
Zeitvertreib mit derart religiösen Kategorien beschäftigte.
Religion schien ihm seit jeher unvereinbar mit seinem Lebensentwurf.
Gelegentlich prägte er sich allerdings Passagen aus einer
rumänischen Bibel ein, die ihm die Zeugen
Jehovas
mitbrachten, als er diesen gegenüber seine Schwäche für jene
Sprache eingestand. Der missionarische Eifer des älteren Paares,
dessen Belehrungen er meist duldsam über sich ergehen ließ,
verwunderte ihn noch immer. Tatsächlich hielt er die beiden für
Relikte aus einer düsteren, längst vergangenen Zeit vor dem
babylonischen Exil.
Einmal
hatte er sich dazu hinreißen lassen dem Paar seine Auffassung von
der, wie er sich ausdrückte, vollkommenen Irrelevanz unserer
kläglichen Versuche allem da draußen einen Namen geben zu wollen
nahezubringen. "Da
stehen wir also", hatte er ihnen zugerufen, "mit weit
aufgerissenen Mündern und bestaunen, ach, die Herrlichkeit der
Schöpfung, reden vom kleinen und vom großen Hund, vom Bären, vom
Walfisch, dem Steinbock, dem Luchs, der Leier, dem Pfau, dem
Schützen, Stier und der Pendeluhr und meinen mit all dem etwas zu
benennen, das unsere grenzenlose Trost- und Orientierungslosigkeit
ein wenig mindert. Und mitten in all diesen Sternenhaufen thront das
Wort des erdichteten Allmächtigen und seines Sohnes und mahnt zur
Demut und Bußfertigkeit, während benachbarte Galaxien sich
voneinander entfernen oder sich vereinen wie hungrige Kraken. Hören
sie?
Haben
sie sich jemals die Frage gestellt, ob der Name des Herrn, den sie
loben und preisen nicht einfach Ausdruck unseres Staunens
hinsichtlich unseres Nichtwissens sein könnte ebenso etwa wie der
Ausdruck Baum unser Staunen über etwas verlautbart, das uns über
den Kopf hinauswächst? Und hören sie bitte in Herrgotts Namen auf
so scheinheilig vor sich hin zu grinsen! Hören sie? Baum! Baum!
Baum! Hören sie? Gott
senkt die Majestät, sein unbegreiflich Wesen, in eines Menschen
Leib; nun muss die Welt genesen. Riesenmärchen!
Runensprüche! Hören sie? Baum! Baum! Hören sie? Baum! Was für ein
kolossaler Unsinn! Hören sie? Unsinn! Die Realität des
Krieges, seine
Monstrosität,
seine Schrecken! Baum! Unsinn! Pegasus! Unsinn! Andromeda! Unsinn!
Alamak! Unsinn! Mirach! Unsinn! Sirrah! Unsinn! Andromeda!
Gigantomanie! Hören sie?"
Es
mochte tatsächlich das selige Lächeln, die scheinbar ewige
Heiterkeit und unzerstörbare Freude im Gesicht des Paares gewesen
sein, die Rohlfs in Rage versetzt hatte; vielleicht spielte aber auch
die Tatsache eine Rolle, dass Constance sich im Keller ein Atelier
eingerichtet hatte, in dem sie unablässig meist großformatige
Leinwände unter dicken Schichten von Ölfarbe begrub um, wie sie
betonte, ihr
inneres Licht und Potenzial zum Leuchten zu bringen;
andererseits machten ihn Wingers Worte wütend, dass man in seiner
Gemeinde, wie er ihm anvertraut hatte, HIV-positive Männer aus
Eritrea in die nahe gelegenen Städte abschob um Kosten zu sparen;
vielleicht war es auch die Ohnmacht seinen eigenen Kindern gegenüber,
die sich mit jedem Lebensjahr mehr an den Schlagzeilen der Pop-Ikonen
ergötzten und ihnen nacheiferten, was ihn dazu veranlasste seine Wut
auf das Paar zu übertragen, die ihm an der Haustüre die Vorzüge
einer gottesfürchtigen Erziehung predigten und ohne
allen Anstand und Zweifel, mit gänzlicher Unterwerfung des
Verstandes, mit vollkommenstem Beifall des Willens, mit ganzem
Herzen, aus ganzer Seele und aus allen Kräften
aus der Heiligen Schrift zitierten.
Der
Vater, der in den Himmeln ist, kommt seinen Kindern liebevoll
entgegen und hält mit ihnen Zwiesprache.
Einander
überlagernde Radiosignale erinnerten Rohlfs daran, dass er noch
einen weiten Weg zurückzulegen hatte, bevor er an der Westflanke des
Olympus Mons sein Lager aufschlagen würde. Die Mächtigkeit dieser
Vorstellung verhinderte eine bewusste Wahrnehmung des Stimmengewirrs
aus dem Radioempfänger. Nur das Wort Weltmeister
drang gelegentlich an seine Ohren, ohne dass er daraus einen tieferen
Sinn, eine Absicht oder einen Nutzen hätte ableiten können.
"So
du ansiehst die Kräuter, die Bäume, die Sterne, die Sonne, so wirst
du bald über dich zum Weltmeister geführt mit großer Lust und
Ergötzung",
hatte er in irgendeinem Buch einmal gelesen.
Weswegen
hatte er Palle nichts entgegengesetzt? Vielleicht hätte er die
Chance nutzen sollen Winger bedingungslos zu folgen, doch
andererseits wäre er dann Emilian nie begegnet und hätte sich
weiterhin mit irdischen Dingen beschäftigen müssen. Auf
die Option in Russland einer Arbeit nachzugehen und dort ein
bescheidenes Leben zu führen hatte er trotz Anraten seines Anwalts
verzichtet. Es wurde ihm sogar nahegelegt eine Aufenthaltsgenehmigung
zu beantragen um ein zeitweiliges Asyl, das eine alljährliche
Verlängerung nötig gemacht hätte, zu umgehen. Stattdessen hatte
sich Rohlfs kurzerhand entschieden zu Hause zu bleiben um sich der
staatlichen Überwachung in vollem Umfang auszusetzen.
"El
a fost dat pentru greşelile noastre şi a fost sculat din morţi
pentru ca noi să fim declaraţi drepţi",
dachte er und spielte mit dem Gedanken die Packung Zigaretten ins
Feuer zu werfen. Stattdessen zündete sich Rohlfs mit einem Schein
aus einer der Geldrollen im offenen Ofen eine Zigarette an.
Es
mussten nahezu eine Viertelmillion Zigaretten gewesen sein, die er
über eine Zeitspanne von dreißig Jahren inhaliert hatte, bevor er
sich dem Gesundheitsdiktum seiner Epoche unterwarf und beim
morgendlichen Frühsport das Nervengift aus seinem Körper zu
verbannen versuchte. Eine Viertelmillion hatte Rohlfs für das Haus
bezahlt, in dem er gehofft hatte ein sorgloses und unbeschwertes
Leben mit seiner Familie führen zu können. Eine Viertelmillion
Menschen im nördlichen Gazastreifen waren von Israel vermittels
Flugblättern und Telefonanrufen aufgerufen worden ihre Häuser zu
verlassen.
Ahava,
V'rachamim, chesed V'shalom.
Bei
der Hungersnot in Somalia starben zwischen Oktober 2010 und April
2012 mehr als eine Viertelmillion Menschen. Ahava,
V'rachamim, chesed V'shalom.
Das
Mercedes S 65 AMG Coupé startet mit einem Preis von rund einer
Viertelmillion Euro. Im Innenraum warten gestepptes Nappaleder sowie
elektrisch verstellbare Sportsitze auf den zahlungsfähigen Kunden.
Einer
Hochrechnung zufolge sterben jährlich eine Viertelmillion
Fledermäuse in den Rotoren der Windenergieanlagen des
Wirtschaftsstandortes. Jedes
Jahr erleiden darüber hinaus etwa eine Viertelmillion Deutsche einen
Schlaganfall. Ahava,
V'rachamim, chesed V'shalom.
Ratlos starrte Rohlfs indes lange auf das Diktiergerät mit
der
Mikrokassette sowie die vier verschiedenen Pässe, die in jeweils
zweifacher Ausfertigung auf seinen und auf Emilians Namen ausgestellt
waren. Lazăr
lautete
der auf dem Ausweis angegebene Familienname Emilians, dessen lautes
Schnarchen, das er inzwischen vermisste, ihn auf sonderbare Weise
beruhigte. Gleichzeitig hörte Rohlfs das erste Gezwitscher der
erwachenden Vögel. Die goldenen Datenplatten und sein Notizbuch
verstaute er in allergrößter Sorgsamkeit nunmehr ebenfalls.
"And
the stars look very different today, for here am I sitting in a tin
can far above the world. Planet Earth is blue, and there's nothing I
can do",
sang Rohlfs leise vor sich hin, während er immer wieder verstohlen
in die Umhängetasche blickte, als ob er sich vergewissern wollte,
dass alles am rechten Platz sei.
Dinge,
die er in seinem Skizzenbuch, wie Rohlfs sein Notizbuch von nun an
nennen wollte, für überflüssig und verwerflich halten würde,
konnte er, so beschloss er, ohne Weiteres entfernen und in die Weite
der kasachischen Steppe hinausschleudern. Ohnehin hatten andere
längst über seinen Kopf hinweg entschieden, was davon auf den
Datenplatten gespeichert werden sollte und was man getrost auslassen
oder auslöschen dürfe.
Lediglich
an Alois wagte man sich nicht zu vergreifen. Hierin hatte er von
Beginn an absolutes Stehvermögen gezeigt und sich mit seiner
Vorstellung allen anderen gegenüber durchgesetzt. Sein
Triumph würde das
Ende all dessen bedeuten, woran man bisher geglaubt hatte.
Für
einen Augenblick errötete Rohlfs angesichts derart hochtrabender
Gedanken und beschloss sich weiterhin in Bescheidenheit zu üben.
Andererseits erkannte er aber im Hochtrabenden den Sinn und das Wesen
des Seins seit Bestehen des Menschengeschlechts und glaubte die Luft
vom anderen Planeten bereits zu spüren und zu fühlen.
Der
Geschmack der Zigarette vermischte sich mit dem der kalten Mămăligă.
Der Inhalt der Umhängetasche befand sich teils in dem Teller und um
den Teller herum verstreut. Rohlfs' Kleidungsstücke, insbesondere
die Hosen der Uniform, waren über und über beschmiert mit Resten
des Maisbreis. Ein kleineres Bruchstück des Breis hatte sich in die
aufgeschlagene Seite seines Skizzenbuchs gedrückt. Behutsam
entfernte er den klebrigen Batzen, unter dem er mit großer Mühe die
Worte "lachende
Larve"
entziffern
konnte.
"Eine
lachende Larve."
Das
Radio Vatikan übertrug eine Produktion mit dem Deep-Purple-Sänger
Ian Gillan als Jesus.
Rohlfs,
der sich einerseits ausgeschlossen fühlte und eigentlich gerne die
Achtung aber nun gerade derer genossen hätte, die dem Zeitgeist
huldigten, welchen Widerspruch er für sich selber darin aufgehoben
sah, dass er einen Nonkonformismus auf sich nahm, dessen Kosten man
gewöhnlich scheute: "Bist du dir sicher", fragte Constance
wohlwollend, aber durchaus ernst gemeint, "dass du schon auch
mitkämst, wenn du nur wolltest? Ich meine, jeder Lebensstil setzt
auch eine gewisse Übung voraus."
Am
Transportband warteten eine Hippiemama und Tochter, die Mutter
repräsentierte ein Modell noch größerer Jugendlichkeit als das
Mädchen, das seinerseits die Zwanzig wohl überschritten haben
mochte, weshalb Mama in ihren Vierzigern umso weniger auf die
Attribute ihrer Jugendidole verzichten zu wollen schien. Das von der
Sonne ausgeblichene Haar trug sie etwas mehr als mittellang und
leicht seitlich gescheitelt, so dass es etwa die Mitte hielt zwischen
dem, was man etwa eine Frisur genannt hätte und dem, was zu jeder
Zeit als Protest gegen die bürgerliche Wohlanständigkeit gelten
konnte. Man
sah im abendlichen Bad das Hin- und Widertreiben von Köpfen der
Brustschwimmer, in dem spiegelnden Wasser darunter schemenhaft
schlierend Bewegungen von Armen und Beinen. Zwei Blondinen, das
blondierte Haar am Kopf festgesteckt, so dass es möglichst nicht mit
dem Chlorwasser in Berührung kam, schwammen in einigem Abstand,
nicht etwa wie plaudernde ältere Damen nebeneinander-, sondern
hintereinander her. Es konnte kein Zweifel darüber bestehen, dass
sie dennoch zueinander gehörten, so sehr stellte eine die ungefähre
Nachahmung der anderen dar. Blonder erstere, auch das Haarbürzel
etwas höher aufgesteckt, hielt sie das Gesicht in der Weise der
Schwimmerinnen aufrecht über dem Wasser, die nicht wollten, dass es
etwa nass werde, ganz so wie man es tat, wenn man das Schwimmen zwar
erlernt hatte, aber wie man lernt, indem man fest stehende Regeln
befolgt ohne Genaueres über ihren Zusammenhang mit der Wirklichkeit
zu wissen und auch davon nichts wissen zu wollen.
So
geschah das Schwimmen in einer Art getreuer Pflichterfüllung, man
kam durchaus vorwärts, wenn auch wie von einem geheimnisvollen
elastischen Band immer gerade dann festgehalten, wenn der eigentliche
Vortrieb erfolgen sollte. Das mochte ja auch so sein, wenn man etwa
wirklich sportlich schwamm, was hier aber entschieden nicht geschah,
denn das Schwimmen war ein Akt höherer Hygiene, welcher der
Gesundheit in einem allgemeinen Sinne und aus einem speziellen
Blickwinkel förderlich sein wollte. Zwar sah man die Badeanzüge der
beiden Schönheiten nicht, mit Sicherheit waren sie aber durchaus
nicht sportlich, was seinerseits etwas Erlösendes haben konnte
angesichts all der Funktionalität, der man in mitteleuropäischen
Breiten in Hinsicht auf die Kleidung so entschlossen Vorrang
einräumte.
Dennoch
war aber auch bei diesen Damen nichts Weiteres zu erwarten, denn sie
waren zwar schön, allerdings im Sinne einer allgemeinen
Pflichterfüllung bezüglich ihres weiblichen Daseins, nämlich der,
besonders adrett zu sein. So wie sie schön waren und züchtig
einherschwammen, wischten sie Staub, reinigten den Herd
beziehungsweise ließen es gar nicht dazu kommen, dass er
verschmutzte oder gar roch. So saßen sie hinter dem Steuer, etwas
dicht und sehr aufgerichtet in einem fast neuen Wagen, in jedem Falle
darauf bedacht, die Vorschriften zu beachten. Eine kleine Beule würde
ja auch dem ungerechten Vorurteil Vorschub leisten, man sei als Frau
weniger dazu befähigt, Auto zu fahren, auch seien die Fahrten, die
man zu bestehen hatte, von geringerer Bedeutung als die der Männer.
Dass man nicht recht vorwärts kam, lag nicht etwa daran, dass der
Wagen von einem geheimnisvollen Band zurückgehalten wurde, sondern
dass man sorgfältig die Gänge einlegte und die
Geschwindigkeitsbeschränkungen beachtete. Jedenfalls war man noch in
keine Radarfalle geraten. Mochten andere Frauen ihrerseits in lauten
Unterhaltungen begriffen zwei Bahnen des Bades in Anspruch nehmen, es
waren die Dicken, vielleicht noch dazu beim Aquajogging, die immer
dick blieben, so wie man selber schlank, gerade weil man eben
schwamm, sinnvollerweise in einigem Abstand hintereinander her. Die
Reihenfolge hatte sich irgendwann so eingespielt, nicht etwa dass
eine schneller war als die andere, der Abstand blieb ja immer gleich,
oder es auch nur sein wollte. Wenn auch die erstere von beiden
insgesamt etwas zierlicher als die zweite war, deren Haar etwas
tiefer zusammengebunden und das in Strähnchen blondiert war, so
konnte man doch glauben, zweitere räume der ersten einen gewissen
Vorrang ein, mochte sie zierlicher und feiner sein, so war sie doch
auch empfindlicher und jedenfalls bestimmter Rücksichtnahmen
bedürftig.
"Letztlich",
dachte Rohlfs, "weiden sie sich an meinem jetzigen Anblick.
Schaut nur her, Palle, Helmuth, Constance, Jeremias und Magnus, ja,
das Abseitige, daran weidet ihr euch, seht mich an in meinem
Souffleurkasten hinter Stacheldraht, dass ihr den Faden nicht
verliert, den ich euch spinne! Le
texte, c'est moi.
Als
Soldat hat man nichts anderes zu tun als schlagfertig zu sein. Je
suis un homéopathe."
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