["Schuhe", B. Karl Decker]
Am
Anfang der Geschichte des Romans, dieser aufwendigsten aller
Lektüren, stand nicht der Roman, sondern der Leser, für den er
geschrieben wurde, so wie das Ende dieser Geschichte nicht darin sich
etwa ankündigt, dass den Autoren nichts mehr zu erzählen einfällt,
sondern darin, dass der Leser das ästhetische Feld räumt und es zum
Beispiel dem Fernseher überlässt. [Gert Mattenklott (1982)]
["Père Lachaise", Marc Wie]
Wenn
wir bewegt sind oder gar ergriffen, empfinden wir das allzu
Künstliche als fehl am Platze. Wir möchten uns unverstellt zeigen
und uns zu erkennen geben: als Freund und Liebender, als einer, der
mitleidet oder trauert oder durch etwas Überwältigendes begeistert
ist. So wählen wir – im Gefolge jeder historischen und immer
erneuerten Jugend- und Verjüngungsbewegung – das einfache
schlichte Wort und müssen freilich gerade dann erfahren, dass dieses
nächstliegende, das Herz-Wort der Natur, auch das abgegriffenste
ist, ohne Mitteilungs- und Ausdruckswert. Auf Herz reimt allemal nur
Schmerz, und so bedeutet es uns nichts. [Gert Mattenklott (1982)]
5.
17.3 Star
The
future's uncertain
but
the end is always near.
[Jim
Morrison]
Die
ersten Kilometer hinter der Grenze verliefen wegen der vielen
Militärfahrzeuge schleppend. Erst in der Nähe von Taganrog
beruhigte sich die Verkehrslage wieder. Emilian
wählte allerdings den Weg durch die Stadt, deren Betriebsamkeit ihn
aufmunterte. Er
sei auf der Suche, so betonte er, nach einem ruhigen Platz für die
Nacht, da es gewiss einfacher sei den Maler erst am nächsten
Vormittag aufzuspüren. Die kurze Strecke musste mehrere Stunden in
Anspruch genommen haben, da es erneut dämmerte.
Vor
dem Haus Anton Pawlowitsch Tschechows parkte Emilian den TV-14 C,
öffnete eine Flasche Wein, aus der er beinahe ein Drittel in einem
Zug trank, bevor er sie an Rohlfs weiterreichte und für längere
Zeit andächtig die Augen schloss.
Irgendwo
am Nordufer des Asowschen Meeres werde man, beschloss Emilian heiter,
die Nacht verbringen und besprechen, was zu tun sei. Auf holprigen
Landstraßen fuhren sie durch Bessergenovka, Varenovka, Primorka,
Morskaya und Merzhanovo. Erneut sogen sie den Geruch des Meeres in
sich auf. In immer kürzeren Abständen stoppte Emilian den
Transporter um seinen Blick auf das Meer zu richten. Von den hupenden
Fahrzeugen um sie herum ließ er sich in keiner Weise beirren.
"Höchste
Zeit", dachte Rohlfs, einmal mehr von Zuversicht ermutigt, dass
alles um ihn herum unterwegs war, vollgesaugt mit kostbarem
Kraftstoff, den man sich allenthalben an den entsprechenden
Zapfsäulen des Wohlstands beschaffen konnte, wenn man es noch nicht
aufgegeben hatte sich im Rahmen seiner stets unanständigen
Möglichkeiten zur Verfügung zu stellen, "höchste Zeit von
neuem in das Diktiergerät zu sprechen."
Emilian
war ohnehin die meiste Zeit über derart in seinen Erinnerungen an
die Seefahrt versunken, die es ihm, wie er schon in der Gegend von
Vaslui mehrmals betont hatte, möglich machten unentwegt Kontrolle
über das Lenkrad auszuüben, sodass Rohlfs sich ungestört und in
aller Sicherheit, mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln,
seinen Aufzeichnungen widmen konnte. "Es kommt nur auf ihn an, den Gekreuzigten." Aufnahme,
Stopp, Wiedergabe, schneller Rücklauf. In seiner Vorstellung,
so Emilian in Bender, kletterte er stets vom Untermarssegel zum
Obermarssegel, wo er sich wie ein Affe an der Marsrah festklammerte.
"Dintre
pasări
călătoare
ce străbat
pământurile, Câte-o
să
le-nece oare valurile, vânturile?"
"Nur
der Gekreuzigte ist wichtig, denn ist nicht gerade er zum Inbegriff
des Heruntergekommenseins geworden, zu dem man nunmehr den
Diktierenden zu degradieren versucht?" Stopp,
Wiedergabe, schneller Rücklauf, Aufnahme. "Welches
Maß an Erkenntnisdrang muss unterdrückt werden um das Ausmaß des
Heruntergekommenseins nicht allerorts und in jedem Wunsch nach
Lebensgenuss zu erkennen? Wohlstand auf Kosten des Anstands
denjenigen gegenüber, denen die Teilhabe – naturgemäß auf ihre
eigenen Kosten - bis hin zum totalen Stillstand systematisch
verweigert wird. Der Wilde Westen. Vestul
sălbatic.
Vestul
sălbatic. Subtile Ironie des Erblichkeitskoeffizienten."
Stopp,
schneller Rücklauf. "Doch
ist es möglich, wirklich und tatsächlich, dass ausgerechnet du,
Saeed Salafi, dich aufgeschwungen hast zum Ritter vom Heiligen
Geiste? Steckst du hinter all diesen Irrfahrten, die du als selbst
ernannter Volkstribun in geistiger Rückbesinnung auf die Altvorderen
mir auferlegt hast, weil man dir den Zutritt zum Gesetz verwehrt hat?
Könnte es eine gerechtere Strafe geben, magst du fragen, als alle
Sünder auf den Planet des Kriegsgottes zu verbannen? Wer wohl bliebe
zurück, als das Rad des Schicksals und der Zeit, Salafi? Niemand
würde sich länger um die Flöhe in deinem Kragen scheren, die dir
in deinem durch einen unglücklichen Zufall entstandenen Königreich
aufgrund der Tatsache, dass nach und nach alle Erdbewohner
verschwinden müssten, die alleinige Herrschaft über den blauen
Planeten garantierten. Als Zeichen deiner einstmals ritterlichen Güte
gelangten nicht nur die Pässe aus Palles Händen in Petricăs.
Doch Güte wem gegenüber? Dies zumindest möchte man dieses Gerät
fragen, da es der einzige Gegner zu sein scheint, der dies in diesem
Moment hört, während Emilian sich hingebungsvoll an die Marsrah
klammert und nach Neuland Ausschau hält. Den Flöhen gegenüber
vielleicht, die dich in der alleinigen und ausschließlichen
Herrschaft und Kontrolle über die Märkte überall hin beglitten?
Die Märkte im Überblick der Diktatur des Maulwurfflohs im
Königreich Siphonaptera. Ausgerechnet du, Herrscher über die
Ungeflügelten, ziehst als Aktivposten die Fäden im zerfallenen
Hintergrund für eine Handvoll beklagenswerter Marionetten wie Palle,
Winger und Konsorten? Möge
Deine Güte sich über alles breiten, was du geschaffen hast,
Saeed Salafi!"
Stopp,
Wiedergabe, schneller Rücklauf, Aufnahme: "Dein
stets freundlicher Zuspruch hat mich ermutigt das Marsevangelium an
dieser Stelle fortzusetzen, nicht wahr? Niemand wird dir jemals mehr
den Zutritt verweigern, niemand dich hinterrücks ermorden, deine
Leiche schänden und zur Schau stellen. Hast du dir jemals mehr
gewünscht? Dein Reich komme, Saeed!" Stopp,
schneller Rücklauf, Wiedergabe: "Doch
ist es möglich, wirklich und tatsächlich, dass ausgerechnet du,
Saeed, dich aufgeschwungen hast zum Ritter vom Heiligen Geiste?"
Stopp,
schneller Rücklauf, Aufnahme: "Was
hast du vor? Dies zumindest möchte man dieses Gerät fragen, da es
der einzige Gegner zu sein scheint, der dies in diesem Moment hört."
Stopp,
schneller Rücklauf, Wiedergabe: "Was
hast du vor?" Stopp,
schneller Rücklauf, Aufnahme: "Hat
tatsächlich all dies mit den Gesängen des Volkstribuns angefangen?
Die gute Hoffnung aber, die ich auf dich setze, besiegte meine
Furcht. Auch denke ich, dass es für einen Mann ehrenvoller sei jede
Gefahr im Kampf für die Freiheit zu bestehen. Alle übrigen, die du
zu deinem Schutze wähltest, wendeten ihre ganze macht und ihr
Ansehen gegen dich selbst; Gunst, oder Hoffnung, oder Geschenke
blendeten sie und sie finden es behaglicher des Soldes wegen
Verbrecher zu sein als ohne Belohnung edel zu handeln. Alle beugten
sich daher schon unter das Joch der Oligarchen. Was tun nun, edler
Volkstribun?" Stopp,
schneller Rücklauf, Wiedergabe: "Alle
beugten sich daher schon unter das Joch der Oligarchen. Was tun nun,
edler Volkstribun?" Stopp.
Aufnahme: "Ich
warne euch daher: Verkehret nicht den Sinn der Worte aus Feigheit;
und nennet nicht Sklaverei friedliche Ruhe." Stopp.
"Dintre
sute de catarge care lasă
malurile, Câte oare le vor sparge vânturile, valurile?"
Er
wolle sich dem Rauschen des Meeres hingeben, sagte Emilian. Nichts
beruhige ihn mehr als der Rausch des Weines am Meer. Nicht allzu weit
entfernt von Merzhanovo beschloss man schließlich an einem
verlassenen Küstenabschnitt das Lager für die Nacht zu richten.
Emilian gähnte, als sei er eben erst aus tiefem Schlaf erwacht,
fasste sich dann aber wieder und bereitete in aller Ruhe und Sorgfalt
ein Mahl aus gedörrtem Fisch und Maiskugeln zu. Unter dem Fahrersitz
zog er, erneut munter singend, zwei weitere Flaschen Kagor Zarskoje
hervor, jenem süßen und fülligen, rubinroten moldawischen Rotwein
mit dem rosinenartigen Geschmack edelfauler Weintrauben aus Codru.
Rohlfs begnügte sich vorerst mit dem Rest aus der vorherigen
Flasche, ebenfalls einem Kagor mit einem sehr milden und nachhaltigen
Geschmack, der ihn schon bald zum Mitsummen der Melodie des
Seemannsliedes anregte. "They
thought the stars were set alight, oh yes, oh, by some good angel
every night. A hundred years ago."
Einmal mehr ahmte Emilian mit dem Mund das Wellenrauschen zwischen
den Strophen nach. "They
hung a man for making steam, oh yes, oh, they cast his body in the
stream. A hundred years ago. A hundred years is a very long time, oh
yes, oh, a hundred years is a very long time."
Rohlfs
müsse schon verstehen, dass die See vielleicht das letzte Bindeglied
zu jenem ewigen Strom darstelle, von dem sie sich allmählich zu
lösen suchten. Oft habe er auf See seine unsicheren Sohlen sich
heben und senken gespürt und so manch einen habe sie vor seinen
Augen verschlungen. Er werde niemals vergessen wie der gedrungene,
kleine Valeriu mit dem Doppelkinn als Schiffsjunge auf der Mircea
angeheuert habe. Schon lange vor Dienstantritt sei der gelernte
Schweißer regelmäßig ganz schön abgefüllt gewesen. Vermutlich
habe er einfach meistens die ganze Nacht durchgesoffen. Mehrmals sei
er sturzbetrunken wie ein Russe kopfüber in eine Ladeluke
hineingefallen und habe schon allein deswegen oft ausgesehen wie ein
Preisboxer nach der zwölften Runde. Auf dem Weg zu den
Feierlichkeiten zum zweihundertsten Jahrestag der Unabhängigkeit der
Vereinigten Staaten sei er rückwärts über die Reling in den
Atlantik gestürzt. Wahrscheinlich habe er einfach das Gleichgewicht
verloren. Wie versteinert habe er am Schanzkleid gestanden und dem
ertrinkenden Schiffsjungen nachgeschaut. Er sei der einzige gewesen,
der mit eigenen Augen gesehen habe, wie Valeriu über Bord gegangen
war. Niemand vermisste ihn. Rohlfs sei der erste, dem er all dies
anvertraute. Nicht einmal mit Lucia habe er hierüber jemals
gesprochen. Das Bild des hochgereckten Armes im Kielwasser verfolge
ihn noch immer. Von Valeriu sei nicht ein Hauch erhalten in der
weiten Welt, betonte Emilian.
"Uns
hebt und verschlingt die Welle, domnule Rohlfs. Und wir versinken.
Wenn uns das Meer mit seinem unaufhörlichen Rhythmus, seiner Brise
und seiner Kraft, seinem tiefen Blau und lichten Rauschen ein für
allemal hinunterzieht, ist dies vielleicht sogar das Ende der ewigen
Wiederkunft, auch wenn wir naturgemäß eingeflochten bleiben in das
große Gewebe der Zeit. Krumm
ist der Pfad der Ewigkeit.
Heißt es nicht so, domnule Rohlfs? Niemand vermag zu sagen, wie
viele Geheimnisse der schlammige Seegrund bereits birgt. Niemand."
Am
Ende des Küstenabschnitts stand ein einsames Haus, das nur durch die
im Wind trocknende Wäsche davor bewohnt aussah. Ansonsten hüllte
sich die Landschaft um sie herum in hohes Schilf, so weit das Auge
reichte. In weiter Ferne verschmolzen Kriegsschiffe der russischen
Schwarzmeerflotte am Horizont mit dem Himmel.
Emilian
glaubte Lenkwaffenkreuzer der Slawa-Klasse zu erkennen, deren Raketen
eine Reichweite von neunzig Kilometern hätten und auf denen
sechsläufige Gatlingkanonen des Typs AK-630 installiert seien. Diese
böten eine hohe Schussfrequenz, deren Nachlademechanismus durch die
Rotation des Laufbündels betrieben würde.
Rohlfs
schenkte Emilians anschließendem Vortrag über die Zusammensetzung
moderner Läufe und die Ideen des Freimaurers Richard Gatling
allerdings nur mäßige Aufmerksamkeit, merkte sich aber, dass der
Gedanke der Abschreckung im Vordergrund bei der Entwicklung seiner
Schnellfeuerwaffe gestanden habe. Gebannt starrte Rohlfs stattdessen
auf die Fransen eines vermutlich aus Tangu stammenden Teppichs, der
am Horizont die hinteren Geschütztürme des Kreuzers beinahe zu
streifen schien. Aufgeregt hielt Rohlfs Emilian an einen Fernstecher
aus dem Wagen zu holen, während er selbst sich bemühte das
unbekannte Flugobjekt im Visier zu behalten. Mit bloßem Auge
erkannte er zwei Männer auf dem Teppich, die ihren rechten Arm weit
nach oben streckten.
"Pentru
emigranţii
care sosesc cu vaporul", rief Emilian Rohlfs lallend entgegen,
während er den Fernstecher wie ein Lasso über dem Kopf kreisen
ließ. Im Bruchteil einer Sekunde verlor Emilian seine
Standfestigkeit und stürzte über Rohlfs hinweg ins Schilfgras. Den
Teppich verloren sie aus den Augen. Späterhin beteuerte Emilian,
dass es sich ohnehin bloß um Turmwächter gehandelt haben müsse,
ehrlose Türmer, die mit Trompeten, Flaggen und Lampen das Volk
herbeizitierten, nichts weiter.
Fortan
sang Emilian nur noch das Lied der Wolgaschlepper. Rohlfs hingegen
fühlte sich in einem Zustand der Erleuchtung, jetzt, da das Ruder
der Galeere abgelegt war, jedenfalls dasjenige, mit dem man von
Angesicht zu Angesicht derer am Riemen zerrte, die sich zur Verfügung
stellten. Die wiedergewonnene Freiheit hatte ihm das freundliche
Lächeln der Muße und somit der Muse aufs Gesicht gezaubert, und so
sah er erneut ein Bild, das ihm schon lange vorgeschwebt hatte: Es
war ein Foto, das aus Fotos bestand. Jedes Bild zeigte einen in sich
abgeschlossenen Gegenstand gleich welchen Stils. Aus einer mehr oder
weniger definierten Entfernung ergab die Gesamtheit der Fotos wie die
Pixel einer Bildschirmdarstellung ein eigenes Bild. Der Fantasie
waren sehr wohl Grenzen gesetzt und auch wieder keine, zumal der
Gegenstand, der sich auf diese Weise erschloss, beispielsweise
kubistisch sein konnte, ein Symbol, oder was auch immer, dachte er.
Trotz des beengten Raumes in der Fahrerkabine fühlten sich beide
sehr viel wohler als sie am Vorabend gedacht hätten. Bislang
jedenfalls plagten sie weder Kopfschmerz noch Schwindel, weder Ängste
noch Zweifel, weder Gicht noch Rheuma. Emilian vermutete, dass ihnen
die Anwohner des abgelegenen Hauses zurück in die Fahrerkabine
geholfen haben mussten.
"Atunci
mergem mai departe cu planurile de viitor, domnule Rohlfs", rief
er schließlich unbeirrt und manövrierte den TV-14 C im Schritttempo
in entgegengesetzte Richtung des Weges, den sie gekommen waren. Erst
in Morskaya entschied sich Emilian den Transporter wieder auf die M
23 in Richtung Rostow zurückzusteuern. Er habe sich an der
spätherbstlichen Landschaft und dem Ausblick auf das Meer nicht satt
sehen können. Emilian fuhr weiterhin so langsam, dass selbst die
wenigen Fahrradfahrer mühelos an ihnen vorbeizogen. Schon bald
lenkte Emilian den TV-14 C in die Einfahrt einer Tankstelle des
staatlichen Mineralölunternehmens Rosneft,
nicht etwa um zu tanken, denn der Kraftstoff, den sie mit sich
führten, sollte nach seiner Einschätzung mindestens bis Atyrau,
also weitere rund zwölfhundert Kilometer reichen; vielmehr, so
Emilian, müsse man die weitere Vorgehensweise noch einmal gründlich
überdenken und hinterfragen, wofür eine Tankstelle des größten
russischen Erdölkonzerns naturgemäß der ideale Standort sei. Man
müsse sich außerdem ausgiebig stärken, die Wetterprognose
abfragen, da schließlich der Winter vor der Tür stehe, und den
Vormittag musikalisch ausklingen lassen. Für den Fall, dass man den
Maler wider Erwarten nicht ausfindig machen könnte, sei es unbedingt
ratsam die derzeitigen Kraftreserven rigoros zu nutzen und am
Kaspischen Meer zu überwintern. Die Entscheidung hierfür liege
letzten Endes freilich bei Rohlfs. Während
Emilian sich mit Händen und Füßen auf ein Gespräch mit dem
Tankwart bezüglich des Stellplatzes einließ, vertiefte sich Rohlfs
in den Zustand seiner Uniform, die ihm, wie er fand, prächtig stand
und bisher gute Dienste geleistet hatte. Ein wenig klamm fühlte sich
die in der durchzechten Nacht feucht gewordene Hose schon an, aber
die überschüssige Nässe würde aller Voraussicht nach bald
abtrocknen.
Ein
Jeep, Modell Defender
mit
deutschem Kennzeichen, parkte unmittelbar neben dem alten TV-14 C.
Ein genaueres Nummernschild konnte Rohlfs nicht erkennen, hielt es
jedoch aus unerfindlichen Gründen für ein Tarnkennzeichen. Sein
Augenmerk galt vielmehr den Insassen, die er, ohne dass sich ihre
Blicke begegnet wären, rasch musterte: Auf der Rückbank saßen eine
recht kräftig wirkende Frau im Armeelook mit kantigen Gesichtszügen,
üppigen Rundungen, nachlässig rot geschminkten Lippen, blond
gesträhntem, auftoupiertem Haar und ein Bursche, ziemlich mürrisch,
mit einer zerrissenen Jeans, einer weit aufgeknöpften, khakifarbenen
Jacke mit Kapuze und Fellkragen, kahlrasiertem Schädel und Bart,
beide vermutlich um die dreißig Jahre alt; vorne ein untersetzter,
älterer Mann, ebenfalls mit Glatze, einfach, aber gut gekleidet mit
einem blauen Tuchmantel, der das Lenkrad mit beiden Händen fest
umklammerte, als ob ihn etwas in Rage versetzt hätte, auf dem
Beifahrersitz ein hochkant gestellter Koffer.
Irgendein
vertrauter Instinkt bewog ihn dazu seine Mütze aus der Jacke
hervorzukramen und sie sich tief ins Gesicht zu ziehen. Er musste nun
wie ein rumänischer Bauarbeiter auf Montage aussehen, dachte er.
Zweifellos hatte die Frau auf der Rückbank eine gewisse Ähnlichkeit
mit der letzten Sekretärin von First Lieutenant Striker. Mandy
Righteous. Oder Macy? "You can show me all the necessary
documents, I presume?", verhöhnte ihn Miss Righteous vor seiner
Entlassung. Es sei die ausdrückliche Anordnung des Lieutenants die
Unterlagen einzig und allein durch sie überbringen zu lassen, zumal
es nicht nachvollziehbar sei, weswegen er den Bericht persönlich
überbringen wolle. Sofern er ihr misstraue, solle er es nur gerade
heraus sagen. Seine Tage im Amt seien ohnehin gezählt. "Anything
you say or do can and will be held against you in a court of law."
Saeed hatte die Lunte rechtzeitig gerochen und sich der Demütigung,
als Saboteur entlarvt zu werden, durch seine Kündigung entzogen.
"What
else was he, but a left-wing extremist?", hörte man die
Angestellten im Nachhinein krächzen. Es hätte ohnehin nicht die
geringste Möglichkeit gegeben, sich adäquat zu verteidigen.
Es
gelang ihm dem Radioempfänger kurzerhand einige bluesige Klänge
abzuringen, was ihm sofort das trügerische Gefühl vermittelte Herr
der Lage zu sein.
"I
won't slave for beggar's pay, likewise gold and jewels, but I would
slave to learn the way to sink your ship of fools",
dröhnte es aus dem Gerät und er gab dem Impuls nach den Refrain
lauthals mitzusingen, bevor man ihn zu guter letzt doch noch
verhaftete. Er hörte bereits das Klicken der Handschellen.
"Mein
Fall ist doch klar", dachte Rohlfs. "Ich habe die Chance
bekommen ein Ding durchzuziehen und sie genutzt. Na und? Ich habe von
jeher Farbe bekannt und vor allen Dingen Weichenstellungen für die
Zukunft vorgenommen. Wenn ihr es wünscht, nehme ich den hochkant
gestellten Koffer ohne viel Federlesens vom Beifahrersitz, verstaue
ihn in der Ladewanne und setze mich mit erhobener Brust schlankweg
neben den Edelmann mit dem blauen Tuchmantel. Gestatten Sie? Mein
Name ist Rohlfs und selbstverständlich bin ich nicht der, für den
ich mich ausgegeben habe. Ich gestehe nachgerade alles, freiheraus,
ohne Umschweife, ohne Zaudern oder Zagen. Sie können mich schlagen,
mich einsperren oder aufhängen, es bleibt jedoch dabei: Es ist eine
rein persönliche Angelegenheit! Ein von der Welt losgelöster,
gewissermaßen übergreifender Auftrag, fast ohne Pathos, jenseits
der Absperrgitter und Müllcontainer! Grenzenlos! Verstehen Sie? Und
kein Gott sei im Spiel, außer es hat sich eine Verstrickung ergeben,
die einen Befreier verlangt. Das Überwechseln ins feindliche Lager
ist und bleibt völlig inakzeptabel! Verstehen Sie? Wir müssen
unweigerlich auf den richtigen Zeitpunkt warten. Illusionen bestimmen
unser Tun in der Wirklichkeit. Unser System würde ohne den Glauben
an den Geldfetisch nicht funktionieren und gleichzeitig müssen wir
unser Wissen, dass wir damit lediglich eine Illusion
aufrechterhalten, von Grund auf verdrängen. Hören Sie mich? Es mag
sonderbar erscheinen, dass Saeed in jüngster Zeit auf einem vom Wind
getragenen Teppich aus Tangu in Erscheinung tritt, doch ist dies
nichts weiter als Pose, Provokation vielleicht, die gewiss große
Manipulationsmacht besitzt. Zweifelsfrei dürfen wir davon ausgehen,
dass diese Geste der Abschreckung dient und dem, der sich fürchtet,
in keiner Weise schadet. Hören Sie mich? Wenn nur Miss Righteous die
Freundlichkeit besäße das Nasebohren zu unterlassen. Mit Sicherheit
ist das nicht zu viel verlangt. Das ist fernab meines Verständnisses
und freilich müssen Sie zugeben, dass ein solches Verhalten der
Situation nicht angemessen sein kann. Meinen Sie nicht auch, dass
hier der Staat in der Verantwortung bleiben muss? Ich weiß wirklich
zu schätzen, was Sie für mich getan haben, doch man muss die Welt
sehen, wie sie wirklich ist. Im leeren Raum frisst man sich entweder
selbst auf oder man wird gefressen. Meinen Sie nicht auch?" Miss
Righteous' teilnahmsloser Blick schien sagen zu wollen: "Oh
well, for God's sake, we all have hard luck sometimes. We all need to
realize this reality."
Gelangweilt schob sie sich einen Kaugummi zwischen die schneeweißen
Zähne und fing an sich ihre rot lackierten Fingernägel zu feilen.
Der
mürrische Bursche verließ aufs Geratewohl den Jeep und
positionierte sich abseits des Parkplatzgeländes in der
Kampfstellung eines Boxers: Sein linkes Bein stand vorne, das rechte
Bein hinten, beide Beine waren leicht gebeugt, die Fäuste befanden
sich als geschlossene Deckung in Kinnhöhe. Aus der Deckung heraus
streckte er seinen linken Arm ohne Ausholbewegung auf direktem Wege
nach vorne, die Beine drückten sich gleichzeitig ab, die Hüfte
wurde leicht seitlich abgedreht.
Nach
einem ersten Schlag gegen einen imaginären Gegner zog er den Arm auf
gleichem Wege zurück, drehte die Hüfte in die Ausgangskampfstellung
ein und beugte die Knie wieder leicht. Schließlich streckte er den
rechten Arm nach vorne, drehte die Hüfte und den Fuß nach vorne ein
um sich danach auf gleichem Weg zurück in die Ausgangslage zu
begeben. Auf diese Weise trainierte der Bursche über einen längeren
Zeitraum die linke und die rechte Gerade sowie den Seitwärtshaken,
indem er gleichzeitig den linken Arm mit der Schulter seitlich anhob
und die Hüfte und den vorderen Fuß nach innen eindrehte, wobei sein
Arm keine Ausholbewegung machte, sondern auf kürzestem Wege zum Kinn
oder zur Schläfe des Gegners mitgeführt wurde.
Rohlfs
begann sich unterdessen ernstlich Sorgen über den Verbleib und das
Wohlergehen von Emilian zu machen. Wie lange mochte es dauern, ehe
der Tankwart ihnen die Genehmigung für einen Stellplatz auf dem
Parkplatzgelände erteilte? Emilians Russischkenntnisse beschränkten
sich allenfalls auf ein paar Brocken, die aus seiner Schulzeit
hängengeblieben waren. Die Trainingseinheiten des Boxers zogen sich
bereits über einen längeren Zeitraum hin.
Vielleicht
gelang es Rohlfs anhand der Radiobeiträge herauszufinden, wie lange
er bereits wartete, auch wenn er diese bisher nur vage wahrgenommen
hatte. Er erinnerte sich an die Stimmen von Jerry Garcia, John Cale,
Robert Plant, Andy Bell, Peter Hammill und Bob Seger, die alle auf
ihre Weise das Narrenschiff
besangen,
was sich ihm nunmehr mit befremdender Deutlichkeit aufdrängte.
Überdies fiel ihm im Nachhinein in der Moderation des russischen
Radiosprechers die stete Wiederholung der Wörter Mars
Hotel
und korabyl
durakov
auf.
Nach
seiner Einschätzung musste inzwischen mindestens eine halbe oder
sogar eine dreiviertel Stunde vergangen sein. Weshalb zögerte man so
lange mit seiner anstehenden Verhaftung? Durfte er sich etwa noch
immer der abwegigen Illusion hingeben, dass man ihn gar nicht erkannt
hatte?
Eben
noch hatte er in seiner Anmaßung gedacht, die Wellen des
Meeres müssten ihm gehorchen und er könnte die höchsten
Berge auf der Waagschale wiegen, als Emilian missgelaunt in die
Fahrerkabine des Wagens kletterte und ohne weitere Umschweife den
Motor startete.
Aus
dem Radiogerät schallte die dunkle Stimme Jim Morrisons: "The
human race was dying out. No one left to scream and shout. People
walking on the moon. Smog will get you pretty soon."
Im Vorbeifahren sah Rohlfs, dass der untersetzte Mann im blauen
Tuchmantel an einem Hörgerät herumnestelte.
Ohne
ein Wort mit Rohlfs zu wechseln lenkte Emilian den Transporter durch
Rostow. Es schien völlig außer Frage zu stehen, dass man weiterhin
nach dem Maler Ausschau hielt. Halbherzig blickte Rohlfs hinaus auf
die Stadt
der fünf Meere
und lauschte ungerührt der nicht enden wollenden elegischen Musik
von Vyacheslav Artyomov, die Emilian zumindest ein wenig besänftigte.
Gleichwohl wusste Rohlfs, dass Emilian ihm früher oder später von
der Begebenheit mit dem Tankwart berichten würde.
Emilians
Gesicht zierte ein voller weißer Bart. Vielleicht durfte man sich so
einen Weisen vorstellen, dachte Rohlfs, glaubte aber gleichzeitig,
dass sein Eindruck von der Symphonie
der Elegien
beeinflusst sei, die allem um ihn herum Harmonie und Glanz verlieh.
Auch ihm wuchs das Haar aus allen Poren bis hinab zum Hals. Noch vor
seinem Treffen mit Reich hatte er sich glatt rasiert und seine Haare
vor dem Badezimmerspiegel abgeschnitten. Anschließend, so erinnerte
er sich, verspürte er das, was er als die
unerträgliche Müdigkeit als Grund für
seinen Aufbruch bezeichnete. Apathisch schlug er sein Skizzenbuch an
einer beliebigen Stelle auf und las dort die Worte: Gerade
am Tisch sitzend teilt sie in der Rolle der Richterin, die wie
einstudiert wirkt, kaum wahrnehmbare Demütigungen aus. Ihr Gesicht
ist verhärmt, ihr überlegenes Lächeln Fassade. Die Erpressung
erfolgt in harter Währung.
Rohlfs zwirbelte lange an seinem Bart, dann rückte er sich die
selbstgestrickte Mütze zurecht.
Um
die Zeit zu vertreiben und sich mit dem kyrillischen Alphabet
vertraut zu machen, notierte er sich Namen der Vororte und kleinen
Städte außerhalb von Rostow, die er mit festem Druck quer über die
Zeilen schrieb, die er soeben gelesen hatte, vermutlich um sie bis
zur Unkenntlichkeit zu entstellen. Manches Mal fügte er den Namen
auch Brocken hinzu, die ihn unversehens durchfuhren: Mayakovskogo,
Lenina, Divnyy, Abkapselung, capsula, Behälter, Kanister, ein aus
Rohr geflochtener Korb, Slava Truda, Übermittlung durch Ausstrahlung
elektromagnetischer Wellen, in der Sprache der Zimmerleute ist das
Haus gerichtet, wenn der Dachstuhl fertig ist, Signum, das Zeichen,
eingeschnittene Marke, der Maler, Kolja Konstantinov, Kapsel, in
einer Linie stehen, fluchten, Zimmerflucht, Fluchtlinie, Fluglinie,
fliegendes Blatt, Usman, Usman, Florence
André und Florence Porcel, geistige Weite und irdische Enge,
Elegiensinfonie, Krasnodonskiy, Elkin, another gas station, Artyomovs
Lamentations, Way to Olympus, The Morning Star Arises, On the
Threshold of a Bright World, Gentle Emanation, Artyomovs Requiem,
gewidmet dem Gedenken der Opfer des kommunistischen Terrors in
Russland, Verkündigungen, Zeichen, Ave, maris stella, Dei
mater alma, atque semper virgo, felix cœli porta, Salve,
Regina, Mater misericordiæ, vita, dulcedo, et spes nostra, salve,
Auslegungen, Zeichen, Verkhneyanchenkov, Kudinov, Übermittlung
durch Ausstrahlung elektromagnetischer Wellen,
The Universe of Absence, Azhinov, an Sankt Lucia ist der Abend dem
Morgen nah, Lucia, die Leuchtende, Prophetien, Auslegungen und
Verkündigungen der Orakelsprüche, Winger, "Smog
will get you pretty soon",
Spur, Sporn, also genau genommen Tritt, ein vom
Wind getragener Teppich aus Tangu,
korabyl
durakov, Karpovka,
Reich,
die Richterin, eine Art verkümmerter Spatz, un fel de vrabioi
inchircit,
another
gas station, got lost at a gas station, the day I lost my wife and my
daughters, arrested for being a suspect, at the gas station where I
go to get gas almost every week, Kanister, ein aus Rohr geflochtener
Korb, Mann in blauem Tuchmantel mit einem Hörgerät, in Maß und
Norm, Miss Righteous' Rachefeldzug, ein Boxer, Erpressung
in harter Währung, Susat, Topilin, Krutoberezhnyy, Bolshaya Orlovka,
Bolshaya Martynovka, Mars Hotel, another gas station, korabyl
durakov,
korabyl
durakov,
korabyl
durakov, Razdorskiy,
Arabia Terra, Utopia, Bernard Ferdinand Lyot, Tyrrhena Terra,
Hesperia Planum, Daedalia Planum, Thaumasia Planum, Mare Sirenum, Way
to Olympus, Olympus Mons.
Der
Maler habe sich, so Emilian, noch immer verstimmt, in Zimovniki,
bereits im vergangenen Winter an der Nordostküste des Kaspischen
Meeres, nicht weit entfernt von Atyrau, niedergelassen um in den
Erdölfeldern von Tengiz seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Er
klage indes längst über Atemwegsbeschwerden. Der Tankwart aus
Rostow wisse aus sicherer Quelle, dass Konstantinov seinen Weggang
von langer Hand geplant und es seit geraumer Zeit aufgegeben habe
sich weiterhin unter Namenlosen einen Namen machen zu wollen. Emilian
sei, so der Tankwart, bereits der Dritte, der sich nach dem Maler
erkundigte.
Der
Defender
habe
schon am Vormittag hier geparkt und mehrmals sei ein untersetzter
Mann mit einem Hörgerät mit der sonderbaren Bitte auf ihn
zugekommen nach einem heruntergekommenen Deutschen Ausschau zu
halten, der Zuflucht bei einem Maler suche und eine Gefahr für die
nationale Sicherheit darstelle. Er trüge, so der Mann mit dem
Hörgerät zu dem Tankwart, Dinge bei sich, wertvolle Dokumente,
goldene Datenplatten und ein Notizbuch. Der Deutsche bräche
fortwährend das Gesetz. Auch ein Mann namens Petrică
wolle den Deutschen um jeden Preis zu fassen bekommen und gehe mit
aller Sicherheit davon aus, dass er spätestens hier, an einer
Tankstelle des staatlichen Mineralölunternehmens Rosneft,
sein weiteres Vorgehen noch einmal gründlich überdenken und
hinterfragen werde. Petrică
sei im Übrigen in Begleitung einer Frau mit dem Namen Francesca
gewesen, die ihm schließlich für eine ganze Menge Geld,
zwanzigtausend Rubel seien es gewesen, die jetzige Adresse des Malers
abgerungen habe. "Natürlich
wollte der Tankwart, dieses Arschloch," sagte Emilian und fügte
in seiner Muttersprache hinzu, "asta
cu gura bine conturată
pe o bortă
de cur, o
grămadă
de bani, einen Haufen Geld, domnule Rohlfs, und aus irgendeinem Grund
gab ich dem Kerl ein paar Scheinchen, rund dreihundert Dollar müssen
es gewesen sein, dreihundert Dollar für die Adresse des Malers. Der
Truppe im Defender
wird
der Kerl natürlich aufs Genaueste Rede und Antwort gestanden haben,
noch ehe wir in Rostow waren. Trotzdem glaube ich, domnule Rohlfs,
dass ich dem Kerl mit Händen und Füßen weismachen konnte, dass wir
es lediglich auf den Maler abgesehen und selbst ums Überleben zu
kämpfen hätten. Es gehe um geschäftliche Angelegenheiten, nichts
weiter. Dass ich dennoch mit den Scheinchen zu wedeln anfing,
futu-ţi Cristosu' mă-tii să-ţi fut, war zweifellos ein
Fehler und ich könnte nicht einmal genau sagen, weshalb. Bisher
scheint uns zumindest niemand gefolgt zu sein und wir sind schon
verdammt weit gekommen. Wenn wir ohne Zwischenfälle in diesem Tempo
vorwärtskommen, domnule Rohlfs, sind wir spätestens gegen
Mitternacht an der kasachischen Grenze. Mehr als hundert Sachen
lassen sich aus dem TV-14 C eben nicht rausholen. Den Berg runter
vielleicht. Sollten wir uns den Maler trotz allem nicht einfach aus
dem Kopf schlagen? Was meinen Sie? Seltsam genug, dass ein
dahergelaufener Tankwart etwas über den Verbleib des Malers wissen
sollte. Ein Grund mehr sich aus dem Staub zu machen, nicht wahr?
Schnurstracks in Richtung Baikonur. Şi, cu asta, basta!"
Rohlfs
wand ein, dass man es sicher nicht so furchtbar eilig habe,
selbstverständlich aber auf die Begegnung mit dem Maler verzichten
könne, zumal man nunmehr davon ausgehen müsse, entweder von Petrică
und Francesca oder dem Defender
in Empfang genommen zu werden. Höchstwahrscheinlich sei der Tankwart
nicht vertrauenswürdig. Davon abgesehen könne sich der Tankwart das
Geld sonst wohin stecken. Vermutlich kämpfe auch er bloß gegen die
eigenen Vorbehalte.
Horner
sei der Name des Mannes mit dem Hörgerät gewesen, fiel Emilian kurz
hinter Elista ein, nachdem er sich mit angespannter Aufmerksamkeit
lange auf die dichte Verkehrslage konzentriert hatte. Rohlfs hingegen
musste über dem Studium und Verfassen seiner Notizen eingeschlafen
sein. Sein Skizzenbuch lag jedenfalls aufgeschlagen vor seinen Füßen
auf der löchrigen Fußmatte des Wagens. Ob Rohlfs diesen Namen
vielleicht schon einmal gehört habe, fragte Emilian, woraufhin
Rohlfs verschlafen erwiderte er kenne bloß einen englischen
Mathematiker des neunzehnten Jahrhunderts gleichen Namens, der die
Wundertrommel, das Daedalum, erfunden hatte, das die Illusion eines
kontinuierlichen Bewegungsablaufs erzeugt. Als Kind habe er ein
solches Spielzeug besessen. Es sei ein Geschenk seines Großvaters
Alois gewesen.
Emilian
bedauerte es sehr durch Kalmückien zu fahren ohne an dem
buddhistischen Tempel Halt gemacht zu haben. Das sei unverzeihlich,
betonte er, ohne weiter auf Horner und die Wundertrommel einzugehen.
Wenigstens habe er von der Straße einen kurzen Blick auf den Tempel
erhascht. Nach der Oktoberrevolution 1917, so Emilian, seien alle
Tempel und Klöster in Kalmückien zerstört und die Mönche getötet
oder als Gefangene in Arbeitslager deportiert worden. Sie seien erst
nach dem Tod Stalins nach Kalmückien zurückgekehrt. Vermutlich
werde er auch die Moscheen Astrachans nicht mehr sehen können, da es
zum einen bald dunkel werde und er es vorziehe die Nacht irgendwo
außerhalb der Stadt an der Wolga zu verbringen. Hiervon wolle er
sich unter keinen Umständen abbringen lassen. Den TV-14 C habe er
sicherheitshalber irgendwo unweit von Zimovniki, genau genommen
zwischen Marchenkov und Glubokiy, auf einem verlassenen Feldweg
vollgetankt. "Eine Sauerei ist das gewesen, domnule Rohlfs.
Mindestens einen halben Kanister habe ich verschüttet. Geschnarcht
haben Sie, domnule Rohlfs, wie eine Motorsäge. Zwei Flaschen Kagor
habe ich getrunken. Und dann haben auch noch die Batterien den Geist
aufgegeben. Radionuklidbatterien sollten wir uns besorgen, domnule
Rohlfs! Es ist schon besser die Grenze in Kotyayevka erst im
Morgengrauen zu überqueren. Mein Alkoholpegel ist wohl mit jeder
Straßenverkehrsordnung der Welt unvereinbar. Am Lenkrad übertrift
mich jedoch keiner so ohne Weiteres. Beschleunigung ist Sozialismus,
Genosse Rohlfs, das hat der Kommunismus uns gelehrt. Diesen Betrug
nennt man heute Globalisierung.
Was für eine Ironie der Geschichte! Ob im Osten oder Westen, im
Norden oder im Süden, den Reibach teilen sich eine Handvoll
Lumpenhunde. Legen Sie ruhig neue Batterien ein, Genosse Rohlfs. Die
Revolution, heißt es bei Towarischtsch Lenin, sei Kommunismus
plus Elektrizität.
Die kalmückische Steppe macht mir die Augen schwer. Ist das nicht
Wüstensand da hinten auf der Straße? Sehen Sie die kalmückischen
Reiter am Horizont, Towarischtsch Rohlfs? Reiterschwadronen. Hierher
verirrt sich niemand einfach so ohne Grund. Selbst der Straßenverkehr
ist wie weggeblasen. Vor uns niemand, hinter uns niemand. Das ist
tatsächlich Wüstensand, Towarischtsch Rohlfs! Wüstensand! Am
nächsten Tempel machen wir Halt!"
Rohlfs
friemelte einige Zeit an dem Radiogerät herum, bevor es ihm gelang
dem Empfänger Energie zuzuführen. Allzu geschickt stellte er sich
ganz gewiss nicht dabei an, zumal er seine Brille nicht hatte finden
können. Er schaltete das Gerät indessen nicht ein. Die
kalmückischen Reiter verschwanden allmählich aus seinem
Gesichtskreis, während sich die Steppe zunehmend in Wüste zu
verwandeln schien. In Jaschkul hielt Emilian den Wagen schließlich
vor einer kleinen Tempelstätte an, weniger allerdings der stillen
Andacht wegen als um einen Teil des Weinvorrats in die Fahrerkabine
zu befördern. In der Nähe von Utta bemerkte Rohlfs im Vorbeifahren
einen dunklen Mercedes Pullmann, der auf einem Parkplatz neben einer
Tankstelle mit Raststätte abgestellt worden war. Durch das geöffnete
Fenster folgte der Beifahrer mit dem Kopf dem TV-14 C. Eine
hellblonde Frau in einem langen Pelzmantel und einer Pelzmütze mit
einer dicken Schildpattbrille lehnte am Kofferraum des Wagens und
rauchte hastig.
In
Khulkhuta tauschte
Emilian ein
Waschbecken aus Aluminium gegen eine Kiste Wein aus der Region
Krasnodar bei einem Krämer am Straßenrand, der ihnen ein Lager für
die Nacht anbot,
das sie jedoch dankend ablehnten. "Că la noi în România",
lobte Emilian die kleine Siedlung, an deren Ende ihnen die
monumentale Antenne auffiel. "Hier, am Rande der Wüste, sollte
der Empfang überwältigend sein. Was meinen Sie, domnule Rohlfs?
Weshalb schalten Sie das Gerät nicht ein?" - "Ich kann
meine Brille nicht finden." - "Vielleicht liegt sie unter
Ihrem Skizzenbuch. Haben Sie sie dort schon gesucht?" - "Haben
Sie den Pullmann gesehen?" - "Saß da etwa ein Bischof
drin, Towarischtsch?" - "Das neben Reich muss Wilhelmy
gewesen sein, Emilian. Ich bin mir nicht sicher." - "Treten
Sie nicht auf Ihrer Brille herum, domnule Rohlfs. Că la noi în
România! In Khulkhuta würde es mir gefallen. Am Rande der Wüste.
Karawanen, Lamas, Reiterschwadronen und Gestalten, mit Geist besselt;
es hatte jegliche vier Angesichter; Leib und Flügen waren, wie mit
Sternen, dicht mit Augen, funkelnd übersät, so auch die Räder
unseres TV-14 C. Soll ich den Wagen vielleicht irgendwo anhalten,
dass wir ihre Brille suchen können, domnule Rohlfs?" - "Fahren
Sie nur weiter, Emilian. Beschleunigung ist Sozialismus." -
"Hören Sie mich? Astrahan, Astrahan, Astrahan! Oh,
musulmane, eşti
ca şi
rusul, şi
rusul ar putea fi musulman. Ochi blânzi,
puţin
îngustaţi
aproape
ca un cadru de oblon.
Oh, Hlebnikov, copilul Astrahanului. Hlebnikov, der Vorsitzende der
Erdkugel."
-
"Pobeda
nad solnzem." - "Den Berg runter schaffen wir ein wenig
mehr als hundert Sachen. In wenigen Tagen beginnt es zu schneien. Man
kann das riechen, domnule Rohlfs." - "Die Frau am
Kofferraum, Emilian. Ist Sie Ihnen aufgefallen?" - "Ich
bemühe mich solchen Gestalten möglichst keine Beachtung zu
schenken. Verstehen Sie? Möglichst keine Beachtung." - "Ich
kenne diese Frau." - "Constance vermutlich." - "Das
weiß ich nicht. Man kann das nicht wissen." - "Verzagen
Sie nicht." - "Wilhelmy neben Reich." - "Wüste,
so weit man blicken kann, domnule Rohlfs, Finsternis. Öffnen Sie
eine Flasche Wein für mich, domnule Rohlfs. Vielleicht sollten wir
besser direkt über die Grenze ans Kaspische Meer fahren. Ich
verzichte aus freiem Willen auf die Wolga, Towarischtsch." -
"Noch eine Flasche Wein?" Erneut sang Emilian das alte
russische Volkslied: "Ei,
uchnem! Ei,
uchnem! Jeschtscho rasik, jeschtscho da ras! Ei, uchnem! Ei, uchnem!
Jeschtscho rasik, jeschtscho da ras! Rasowjom my berjosu, Rasowjom my
kudrjawu! Aj-da, da aj-da, Aj-da, da aj-da, Rasowjom my kudrjawu. My
po bereschku idjom, Pesnju solnyschku poiom. Aj-da, da aj-da, Aj-da,
da aj-da, Pesnju solnyschku poiom. Ei, ei, tjani kanat silnei! Pesnju
solnyschku poiom. Ei, uchnem! Ei, uchnem! Jeschtscho rasik,
jeschtscho da ras! Ech ty, Wolga, mat-reka, Schiroka i gluboka,
Aj-da, da aj-da, Aj-da, da aj-da, Wolga, Wolga, mat-reka."
Nachdem Rohlfs die Flasche geöffnet hatte, faltete er die Hände und
stimmte mit ein in den Gesang. Emilian lavierte den Transporter mit
einer Hand über die A 154 durch die Wüste bis hinein in
fruchtbareres Land. Die leere Flasche warf er zum Fenster hinaus.
"Kaviar, Erdöl und Gas! Genießen Sie den Anblick der Wolga,
Rohlfs!"
Im
Oblast Astrachan bog Emilian sehr langsam, fast im Schritttempo, auf
die E 119 ab und wählte schließlich die E 40 in Richtung Solyanka.
Die Wolga überquerten sie zweimal kurz hintereinander im zweiten
Gang. Der belebte Straßenverkehr und das Lichtermeer in und um
Astrachan herum, irritierten Emilian in keiner Weise.
Unweit
von Leninskij fand Rohlfs seine Brille auf der Fußmatte links
unterhalb des aufgeschlagenen Skizzenbuchs. Das Brillengestell war
zwar unbeschädigt, aber das rechte Brillenglas war stark
zersplittert und zur Hälfte herausgefallen. Mit dem linken Glas
hingegen gelang es ihm die winzigen Schriftzeichen in deutlicher
Schärfe zu entziffern.
Die
aufgeschlagenen Seiten des Buchs offenbarten Rohlfs die Abschrift
eines Schreibens von Alois, in dem er seine politische Vergangenheit
darstellte.
Mein
Name befindet sich nicht auf der hier am Ort bekannt gemachten Liste
der Entlasteten. Ich ersehe hieraus, dass die Spruchkammer Lauterbach
– wegen Mitgliedschaft in SA, NSV, NSLB, LSB und Kolonialbund –
über meine Person verhandeln wird. Ich bitte die nachfolgenden an
Eides statt gemachten Erklärungen den Akten meines Falles
beizufügen. Sicher werden die eigenen Eindrücke des Betroffenen,
die er in solcher zusammengefassten Form besser schriftlich als
mündlich geben kann, den Richter interessieren.
Meine
Abberufung aus dem hessischen Schuldienst mit Wirkung vom 11.04.1933
(Dekret des Hessischen Ministeriums für Kultus und Bildungswesen
K.M.VI.36853 vom 05.04.1933, gez. Ringshausen) war – unter
Einziehung meiner Bezüge als Schulamtsanwärter – auf die Tatsache
meiner langjährigen Mitgliedschaft in der SPD, Ortsgruppe Mainz,
zurückzuführen, wohl auch darauf, dass ich meinen
sozialdemokratischen, pazifistischen, antifaschistischen Standpunkt
gegenüber den Stahlhelmern und Hitleranhängern unter meinen
Kollegen in zahlreichen Diskussionen während der Pausen auf dem
Schulhof in scharfer Weise vertreten habe. (Lehrer Stauder
bezeichnete im Jahre 1930 in Mainz-Kostheim mein Auftreten ihm, dem
Kriegsteilnehmer, gegenüber als das eines "Lausbuben".
Lehrer Brunn forderte mich in Mainz-Bretzenheim im Frühjahr 1933
auf, doch ins Ausland zu gehen, für Leute wie mich sei in einem
nationalen Deutschland kein Platz mehr.)
Zwischen
1920 und 1933 war ich freier Mitarbeiter des sozialdemokratischen
Mainzer Parteiblattes in kulturellen Fragen. Die Belegstücke
befinden sich in meinem Besitz. Auch eine pazifistische und eine
linksstehende pädagogische Zeitschrift, die Neue Erziehung, Organ
des Bundes entschiedener Schulreformer, dessen Mainzer Ortsgruppe ich
angehörte, brachten Artikel aus meiner Feder. Gelegentlich sprach
ich in der Jugendorganisation meiner Partei sowie in
Gewerkschaftsversammlungen.
Meine
Entlassung bedingte, da ich ohne eigenes Vermögen war und von Seiten
meiner Eltern keinerlei Unterstützung haben konnte, die
Inanspruchnahme von Mitteln des städtischen Wohlfahrtsamtes Mainz.
(Mein Vater war Geschäftsführer des Deutschen
Metallarbeiterverbandes Mainz und wurde ebenfalls aus seiner Stellung
entfernt. Meine Schwester, Angestellte in einem jüdischen
Unternehmen, das sich verkleinerte, wurde entlassen. Als Tochter
meines Vaters wurde ihr längere Zeit die Zuweisung einer Stellung
vom Arbeitsamt verweigert.) Meine Frau und ich versuchten bis zu
einer erhofften Änderung der Lage zusätzlich zu verdienen, ich
durch den Abschluss von Versicherungen für die Allianz Vers.Ges.,
meine Frau durch den Vertrieb von Wäsche. Der Verdienst, besonders
aus dem Versicherungsgeschäft, war entmutigend gering, was ohne
Zweifel meiner geringen geschäftlichen Begabung zuzuschreiben war.
Eine mir mehr zusagende Tätigkeit, etwa in der Presse, war für mich
infolge meiner politischen Einstellung unmöglich. Meine bisherige
Zweizimmerwohnung konnte ich nicht halten und musste mich mit zwei
engen Mansardenkammern begnügen.
Ich
glaube, dass die Spruchkammer den Zustand der seelischen Depression
würdigen wird, der sich aus dem Brachliegen meiner eigensten Kräfte,
insbesondere meines pädagogischen Wissens und Könnens, und aus
einer anscheinenden Aussichtslosigkeit, je wieder in meinem Beruf
arbeiten zu können, ergab. Hinzu kam der niederschmetternde
Eindruck, den die politischen Geschehnisse im März 1933 und die
nachfolgende Entwicklung des NS-Staates auf mich und auf fast alle
meine Bekannten machten. Ich beobachtete Umfang und Tiefe der
nationalsozialistischen Seuche und sah, wie das deutsche Volk durch
die brutalen, aber raffiniert inszenierten Taten der NS-Regierung in
seiner Verblendung noch bestärkt wurde. Ein Ende war nicht
abzusehen, zumindest nur von wenigen. Der Lügenvorhang war zu dick
gewebt.
Die
auf den Gebrauch des Verstandes, auf Wissen und innere Anständigkeit
berechneten liberalen Wege der politischen Erziehung, wie sie von
meiner Partei vor dem Jahr 1933 angewendet worden waren, schienen
durch das erfolgreiche Auftreten Adolf Hitlers als unwirksam
erwiesen. Der durch die Entwicklung der technischen und
kapitalistischen Kräfte geforderte Sozialismus trat nicht direkt,
das heißt auf dem Wege der parlamentarischen Demokratie, sondern
zunächst in der verfälschten, nationalsozialistischen Form durch
den autoritären Staat eines Hitler oder Mussolini in Kraft. Eine
solche Zwischenstufe – und die geschichtliche Entwicklung ist ja
immer Umwege gegangen! - konnte, wie damals auch in meinen Kreisen
angenommen wurde, Jahrzehnte in Anspruch nehmen. Und dies wäre ohne
Zweifel der Fall gewesen, wenn sich Hitler nicht in das Abenteuer des
Krieges gestürzt hätte. Dann hätten die Großmächte der
Entwicklung des Nationalsozialismus noch lange zugesehen und dieser
hätte das politische Leben in Deutschland auf unabsehbare Zeit
formen können. (Freilich lag es im Wesen des faschistischen Staates
zu kriegerischen Konflikten zu treiben.) Die
seelischen Wirkungen, die solche – wenn auch nicht hundertprozentig
zutreffenden – Erkenntnisse hatten, kann nur der ermessen, der in
denselben Schuhen gestanden hat.
In
dieser Lage und unter diesen Eindrücken empfahl mir jemand mich an
den Vorsitzenden des NSLB in Mainz, Studiendirektor Dr. Michel zu
wenden, der ein "Mensch"
sei und sich bei der Regierung für meine Wiedereinstellung verwenden
könne. Ich müsse freilich versprechen mich in den neuen Staat
einzufügen. (Äußerlich haben das die im Lande Verbliebenen auch
alle getan.) Der
Bruch in meiner bisherigen geraden politischen und charakterlichen
Entwicklung besteht nun darin, dass ich um meiner und meiner Familie
(Frau und Kind) Existenz willen – und auf andere Weise konnte ich
nicht existieren, wollte ich nicht materiell und geistig verelenden –
beschloss dieses Versprechen zu geben. Es bedeutete eine dauernde
Lüge, denn ich konnte mich natürlich zu diesem Staat nicht positiv
stellen. Niemals habe ich für diesen Staat oder in seinem Sinne
Propaganda gemacht. Meine Feierstunden (1. Mai, u.s.w.) enthielten
immer nur Gedankengänge, die ich auch von meinem Standpunkt aus
billigen konnte - und solche haben sich die Nationalsozialisten
bekanntlich in reichem Maß aus fremdem Gedankengut angeeignet. Ich
ging zu Dr. Michel, sprach zu ihm von meinen Nöten und versuchte ihm
meine politische Harmlosigkeit durch Vorlage meiner lyrischen
Gedichte zu beweisen. Ich nehme an, dass Dr. Michel sich für mich
eingesetzt hat, denn bei einer darauffolgenden Vorsprache im
Ministerium in Darmstadt wurde ich von einem jungen Beamten, Herrn
Siebert, empfangen und auf eine kurze Schilderung meiner politischen
Entwicklung und auf das Versprechen mich anzupassen für den 1.
September 1933 zur Wiedereinstellung vorgemerkt. Auf diesem meinem
Schritt zurück in den Staatsdienst beruhen meine nachherigen
Beziehungen zu einigen NS-Organisationen: Wer mit dem Teufel umgeht,
macht sich rußig. Bevor ich jedoch auf diese Beziehungen eingehe,
möchte ich auf meine Jahre hindurch bestehenden
Minderwertigkeitskomplexe und lästigen, auf Zwangsvorstellungen
beruhenden, nervösen Störungen hinweisen, die ich als die
seelischen Folgen der erlittenen inneren Erniedrigungen betrachte. So
konnte ich etwa selbst im kleinsten Kreis von Kollegen oder sonstigen
Personen keine drei Sätze mehr sprechen ohne in Verwirrung zu
geraten und mich heillos zu verhaspeln, während ich früher vor
hunderten von Menschen stundenlang freie Ausführungen gemacht hatte.
Was ich ferner beim Heben des Armes zum Hitlergruß, wozu ich als
Beamter verpflichtet war, empfand, kann nur der nachfühlen, der eine
ähnliche Entwicklung durchgemacht hat.
Warum
ich im Oktober 1933 dem LSB beitrat? Man wollte durch Abseitsstehen
nicht auffallen. Ich empfand das Ganze als eine nationalistische
Stimmungsmache und glaubte nicht, dass dies wirkliche
Kriegsvorbereitungen wären.
Einige
Zeit nach meinem Wiedereintritt wurde mir in der Schule ein
Antragsformular für den Eintritt in die SA vorgelegt. Ich glaubte
nicht ablehnen zu können, wenn ich mein Versprechen der "positiven
Einstellung"
nicht selbst widerrufen wollte. Aber jedes Anlegen des Braunhemdes
und jeder SA-Dienst waren ein wahres Martyrium für mich. Ich fehlte
häufig und war auch sonst keine Zierde des "Sturmes".
Durch ein Gesuch, in welchem ich Studien zum Zwecke der Vorbereitung
auf die Mittelschullehrerprüfung vorschützte, machte ich mich nach
einem halben Jahr, am 31.08.1934, aus dieser Enge wieder frei.
Um
meine geistige Verfassung auch nach meinem Wiedereintritt in den
Schuldienst zu kennzeichnen, erwähne ich folgenden Vorfall aus dem
Jahr 1935 oder 1936: Ein Kollege an der Schule in Mainz-Weisenau
erzählte in witziger Weise auf dem Schulhof, er habe zugesehen, wie
ein deutscher Soldat einem unvorsichtigen Franzosen, der aus dem
Schützengraben stieg um seine Notdurft zu erledigen, "eins
hinten reingepfeffert"
habe. Der Franzose habe gerufen: "O
maman!"
und
sei lautlos umgesunken. Die Darstellung erregte große Heiterkeit.
Ich erklärte empört, dieser Deutsche sei ein "Schweinehund"
gewesen.
Der
Kollege, der meiner Vermutung nach selbst jener "Held"
gewesen sein könnte, nahm meine Äußerung sehr übel und drohte,
sie als defaitistisch und unnational höheren Orts zu melden. Ob
meine bald darauf erfolgte Versetzung nach Offenbach hiermit
zusammenhing, kann ich nicht sagen.
In
die NSV, am 01.05.1934, einzutreten hatte ich weniger Bedenken, da
ich diesen Einsatz – obwohl die NSV meinen Vorstellungen von
sozialer Gerechtigkeit in keiner Weise entsprach – für politisch
und moralisch unerheblich ansah. Es war für mich eine Möglichkeit
der Tarnung mehr.
Wie
viele andere Lehrer wurde ich aufgefordert als Jugendhelfer der
NSV-Jugendhilfe zu fungieren, wobei ich den Zustand von Pflegekindern
zu überwachen hatte. Auch hier erhob ich keine Einwände, denn ich
hatte dieselben Obliegenheiten schon vor 1933 im Auftrag des
Oberbürgermeisters von Mainz wahrgenommen. Jetzt zählte die
Jugendfürsorge zu den Aufgaben der NSV.
Nach
meiner Versetzung nach Offenbach im Jahr 1936, wo ich diese Tätigkeit
fortsetzte, wurde ich von meinem Ortsgruppenleiter mit der Ordnung
der Jugendhilfe-Ortsgruppenakten und der Weiterleitung der von der
NSV-Kreisamtsleitung übermittelten Überwachungsaufträge an die
Jugendhelfer beauftragt. Um ein Amt mit selbstständigen Befugnissen
hat es sich hierbei nicht gehandelt. Am 01.01.1936 wurde ich in den
NS-Lehrerbund aufgenommen. Das wurde in Lehrerkreisen als besondere
Ehre angesehen und die Nichtbeachtung oder gar Ablehnung dieser
Möglichkeit wäre mir von Vorgesetzten und Kollegen übel ausgelegt
worden. Betätigt habe ich mich in dieser Organisation nicht, es gab
auch keine Möglichkeit dazu. Jedoch habe ich im Jahr 1940 in der
Beilage zum "Deutschen
Erzieher"
einen Aufsatz über das Thema "Kraftfeld
der Volkssage"
veröffentlicht, in welchem ich Ansichten von rein pädagogischem
Interesse vortrug, die ich schon vor der Regierungszeit Hitlers hatte
und noch heute habe und die mit keinem Wort den Nationalsozialismus
betrafen oder stützten. Eine andere Möglichkeit der
Veröffentlichung bestand nicht.
Schließlich
bin ich am 01.10.1938 auf wiederholte Aufforderung hin dem
Reichskolonialbund beigetreten. Ich lehnte nicht ab, weil ich wusste,
wie sehr gerade in dieser Sache auch in der SPD die Meinungen
auseinandergingen. Ich wurde aber auch aufgefordert in die Partei
einzutreten sowie als Vertrauenslehrer in der HJ zu wirken, und zwar
in Offenbach durch meinen Rektor Karl Roth. Ich unterrichtete in den
Jahren 1937/38 in den Begabtenklassen der dortigen Goethe-Schule, an
die mich Rektor Roth wegen meiner Sprachkenntnisse geholt hatte. Roth
drückte seine Zufriedenheit mit meiner Arbeit aus: "In
Ihrer Klasse herrscht geistiges Leben, das merkt man gleich!"
Auch Stadtschulrat Seibert lobte mein "pädagogisches
Geschick".
Meine
Ziele erwiesen sich indessen, da das Stadtschulamt eine Herabsetzung
des Bildungsniveaus vornahm, als zu hoch gesteckt. Auch nur
durchschnittlich, ja praktisch unter dem Durchschnitt begabte Kinder
wurden nun zugelassen. Die idealen Forderungen der direkten Methode,
die von der damaligen Reformbewegung im Sprachunterricht vertreten
wurde, waren mit diesen teils unbegabten, teils lernunwilligen
Kindern nicht zu verwirklichen. Rektor Roth wiederholte sein
Verlangen auf Eintritt in die Partei. Von linksstehenden Kollegen
wurde mir gesagt, dass eines der Ziele dieses strebsamen Mannes ein
rein nationalsozialistisches Lehrerkollegium an seiner Schule sei.
Als ich nicht reagierte, änderte er sein früher höfliches Betragen
gegen mich in auffälliger Weise. So nahm er eine Belanglosigkeit
(Verspätung einer vom Sportplatz zurückkehrenden Klasse um wenige
Minuten) zum Anlass mich vor Lehrern und Schülerklassen laut
schreiend herunterzukanzeln. Ich wies diese Art der Behandlung sofort
zurück.Seine Antwort war: "Das
werden Sie behalten!"
Am darauffolgenden Tag wohnte Rektor Roth, zum ersten Mal seit meinen
anderthalb Jahren Goethe-Schule, meinem Unterricht bei, ohne sich
weiter darüber zu äußern. An einem der nächsten Tage erschien
Schulrat Jäger, sichtlich auf Veranlassung und unterrichtet von
Rektor Roth. Es war seine erste Inspektion bei mir.
Nicht
uninteressant ist übrigens, dass Schulrat Jäger meine Art
Aufsatzentwürfe mit Verbesserungsvorschlägen zu versehen – eine
Arbeit, auf die ich ungemein viel Zeit verwendete – scharf
verurteilte. Kurz zuvor hatte eine Frau Jöckel, Mutter einer meiner
Schülerinnen, Frau eines forsch auftretenden SS-Mannes, an eben
dieser Methode Anstoß genommen – der korrigierte Aufsatz hatte
offenbar aus der Feder ihres Mannes gestammt! Sie war dabei sehr grob
geworden und rügte, dass ich, nach Aussage ihrer Tochter, niemals
aus dem Leben des Führers oder aus der Geschichte der "Bewegung"
erzählte. Schulrat Jäger verurteilte meine gesamte, mit unendlicher
Mühe geleistete Arbeit und verfügte meine sofortige Entfernung aus
den Begabtenklassen. Nie ist mir ein schmerzenderer Schlag versetzt
worden, denn ich hatte zwei Jahre lang meine ganze Zeit bis in die
Nächte hinein für diesen Unterricht aufgewendet. Eine Beratung oder
Belehrung, auch nur andeutungsweise, ist mir vorher durch den
Schulrat nicht zuteil geworden.
Aus
der ganzen Art und Weise, wie meine Entfernung aus den
Begabtenklassen, die später zur Mittelschule ausgebaut wurden,
erfolgte, schließe ich, dass sie eine Antwort auf meine ablehnende
Haltung in politischer Hinsicht darstellte. Roth ist vor kurzem von
der Spruchkammer Offenbach-Stadt zu 3000 Mark Geldstrafe und
Sachwertleistungen in Höhe von 500 Mark verurteilt worden. In einer
zweijährigen Bewährungsfrist darf er nur gewöhnliche Arbeit
verrichten. Seinen Lehrerberuf darf er nicht mehr ausüben.
Der
Lehrerschaft war er als einhundertprozentiger Nationalsozialist
bekannt, der sein Kollegium mit autoritären Methoden regierte und
die Menschenwürde der ihm Unterstellten mit Füßen trat. Ich habe
ihm die Ausschließung von einer mir bevorstehenden Laufbahn zu
danken, auf die ich mich durch Übungen an der Universität Frankfurt
vorbereitet hatte. Aus dem Kreis der Kollegen, die von den von mir
geschilderten Vorgängen wissen und darüber Auskunft geben können,
nenne ich die Lehrer Noß und Reitz, beide aus Offenbach am Main.
Im
Frühjahr 1941 wurde ich als Lehrer nach Lothringen abgeordnet, ohne
dass ich dafür gemeldet hätte. Ich stand dort, in Gaudach
(Jouy-aux-Arches) bei Metz, in bestem Einvernehmen mit der
lothringischen, antifaschistisch eingestellten Bevölkerung. Nie
grüßte ich auf der Straße mit "Heil
Hitler".
Die Leute kannten meine Einstellung, mit vielen habe ich mich offen
darüber ausgesprochen.
Nach
meiner Abordnung nach Ulrichstein im Herbst 1943 habe ich bei einer
von der Partei veranstalteten Schulentlassungsfeier als Lehrer einige
Worte sprechen müssen, die allgemein gehalten waren. Im Herbst 1944
wurde ich von den hiesigen Parteigrößen, die mich als
Nicht-Parteimann geringschätzten, zusammen mit einem anderen
Verdächtigen vier Wochen auf den Westwall geschickt, wo ich mir eine
schwere Gastritis zuzog. Volkssturmführer Schmidt beauftragte mich
nach meiner Rückkehr mit der Erstattung von Referaten über die
Themen "Deutsche
Vorgeschichte",
"Träger
des Reichsgedankens"
sowie
"Die
Rassenfrage".
Das letztere lehnte ich ab. Ganz ablehnen hielt ich für untunlich,
da dauernd das Damoklesschwert der Einberufung zur Wehrmacht über
mir schwebte.
Auf
welche Weise ich mich des Auftrags entledigt habe, ist den hiesigen
Antifaschisten bekannt. NS-Propaganda stellten meine Vorträge nicht
dar. Mit den Trägern des Reichsgedankens kam ich bis zu Friedrich
dem Großen, den ich offen als einen Militaristen und
Katastrophenpolitiker zeichnete.
Die
Krönung des Ganzen, der "Führer",
fehlte in meinem Vortrag, so dass Parteigenosse Schmidt in seinem
Schlusswort gereizt bemerkte, das sei zwar alles recht schön und
gut, aber der bedeutendste Träger des Reichsgedankens bleibe doch
Adolf Hitler.
"Cel
cu inima vicleană nu
va găsi binele şi cel cu limba vicleană va cădea în nenorocire",
unterbrach Emilian Rohlfs' Lektüre und steuerte den Transporter in
einen abgelegenen Weg am Rande der Ortschaft Karaosek. Am Ufer der
Algara parkte er das Fahrzeug und eröffnete Rohlfs, dass er nicht
einen einzigen Meter mehr fahren könne. Nach einer kurzen Pause
setzte Emilian hinzu, er habe aus Rohlfs' gedämpfter Stimme
Anzeichen von Zorn herausgehört. Manchmal habe Rohlfs beim Lesen der
Atem gestockt und er sei blutrot im Gesicht geworden. Man müsse
wahrscheinlich davon ausgehen, dass diejenigen, die Alois den Status
eines Mitläufers zusprachen, sein Schreiben allenfalls als
Gegenstand der Belustigung betrachtet hätten.
Emilian
wiederholte, dass der Niederträchtige, auch wenn es nur ein frommer
Wunsch sei, nichts Gutes finde und dem Unglück nicht entkomme. Alois
habe gewiss gut daran getan sich in seinem Bittbrief nicht damit in
die Brust zu werfen, viele der in Lothringen ansässigen jüdischen
Familien vor der Deportation bewahrt zu haben. Kopfschüttelnd
erklärte Emilian schließlich, dass er nicht den geringsten Appetit
verspüre und schleunigst seinen Rausch ausschlafen müsse. Dann
streckte er sich aus und begann kurz darauf sanft zu schnarchen.
Alois
musste es sich also wohl oder übel gefallen lassen seinen Dienst als
ausgewiesener Mitläufer so lange anzutreten, bis ihm sein Körper
den Dienst quittierte und ihn ans Bett fesselte, ohne dass man ihm je
eine ernsthaftere Krankheit hätte nachweisen können. Seine
Krankheit, so Alois, sei ihm ein intimer Begleiter gewesen und er
habe sie stets als verdiente Aussicht auf das Ende seiner täglichen
Selbstzerwürfnisse und schlaflosen Nächte wahrgenommen.
Es
sei ihm nicht gegeben gewesen als Held für seine Sache zu sterben,
nicht einmal dafür zu kämpfen oder sich zuwenigst rechtzeitig
davonzumachen. Auf seinen entzündeten Lungenflügeln, so betonte er
in der Nacht vor seinem Tod, habe er sich längst schon ausgebreitet
und wolle sich nunmehr endgültig aus dieser Welt entfernen.
In
ihm war keinerlei Auflehnung gegen das Unvermeidliche. Die Natur,
sagte er mit den Worten Wernher von Brauns, kennt keine Vernichtung,
nur Verwandlung, Umgestaltung von einer Form zur anderen. Am Ufer der
Algara beobachtete Rohlfs für geraume Zeit den ersten Schnee, bevor
auch er erschöpft in einen unruhigen Schlaf fiel.
Aus
dem Turm einer Festung in den Dünen erhob sich eine Gestalt aus
dunkelrotem Sand mit weiblichen Zügen. Ein alter, bärtiger Mann auf
einem Ziegenbock verfolgte den Flug des Wesens. Er sah sehr schwache
Blitze, deren Herkunft er sich anfangs nicht erklären konnte, die
aber, so erkannte er, von dem Wesen auszugehen schienen und ihn immer
mehr zu blenden begannen. Unwillkürlich verdeckte er die Augen mit
der Hand, als das Wesen sich ihm näherte und über seinem Kopf
Kreise zu ziehen begann. Der alte Mann spürte, dass es unmöglich
sein würde sich dem Blick des Geschöpfs zu entziehen und er nicht
stark genug war ihm standzuhalten, sodass er sich auf den Boden warf
und sein Gesicht im Wüstensand verbarg. Mehrmals wagte sich das
Wesen nah an ihn heran, scheute sich aber noch davor ihn zu berühren.
Für einen Moment war ihm, als würde sich sein Körper vom Boden
lösen und er hörte deutlich die dunkle Stimme des Geschöpfs: "Du
sollst verstehen, dass deine Vision sich auf das Ende der Zeiten
bezieht. All diejenigen, die dir nahestehen, werden sehr mächtig
werden, wenn auch nicht durch eigene Kraft, und ungeheures Verderben
anrichten. Was sie auch unternehmen, es wird ihnen gelingen. Öffne
deine Augen und schau dir die Verwüstung an, die uns von langer Hand
umgibt!"
Es
gelang dem alten Mann indes nicht die Augen zu öffnen, bis er hörte,
dass sich der Ziegenbock mit schnellen Schritten näherte. Er sah
gerade noch, wie das Tier das Wesen mit einem seiner zottigen Hufe an
der rechten Ferse traf, sodass es den hinteren Teil seines Fußes
verlor und sich aufgeschreckt in den Himmel schwang. Das
schmerzverzerrte Geschrei des Geschöpfs ähnelte den Kriegsgesängen
der Kureten und ebbte lange nicht mehr ab. Erst als der alte Mann auf
seinem Ziegenbock fruchtbareres Land erreichte, ließ der betäubende
Lärm allmählich nach. Das Tier erschien ihm indessen weitaus größer
als zuvor und in seiner Verwirrung über den Vorfall bemerkte er erst
jetzt, dass ihm ganz offensichtlich zwei weitere Hörner gewachsen
waren. Was hatte er doch für ein tapferes und tüchtiges Tier,
dachte der alte Mann schließlich. Er spürte ein starkes Fieber und
zugleich eine eisige Kälte, die sich seines Körpers bemächtigten,
als er im Steppengras urplötzlich mit Wildkraut überwucherte Gleise
erblickte, denen er fortan folgen wollte.
In
der Ferne weidete ein Widder unter dem Schatten einer Ulme inmitten
einer duftenden Kräuterwiese und berauschte sich am wild wachsenden
Wermut. Aus einem unerfindlichen Grund versetzte dies den Ziegenbock
einmal mehr derart in Rage, dass er, nachdem er den fieberkranken,
alten Mann jäh abgeworfen hatte, kampfeslustig auf den Widder
losstürmte. Mit letzter Kraft klammerte sich der alte Mann, ohne zu
wissen, was weiterhin geschah, in eines der Gleise und kam erst nach
einigen Tagen wieder zu sich.
Vor
ihm türmten sich nun bedrohlich glänzende Öltanks in großer Zahl
auf, doch von seinem ihm sonst so treu ergebenen Ziegenbock war, so
sehr er auch nach ihm suchte, keine Spur zu sehen. Auch die Gleise
waren nicht mehr vorhanden.
Stattdessen
gewahrte er den enthörnten Widder, der sich an dem mächtigen Stamm
der kahlen Ulme rieb und ihn mit wachsamen Blicken zu mustern schien,
ehe er kraftlos in sich zusammensank.
Als
der alte Mann endlich wieder aufstehen konnte, war er fassungslos
über das Geschaute, fand allerdings weit und breit niemanden, der es
ihm auszulegen verstanden hätte. Er ging ein Stück auf einen
Sanddornbusch zu, der unweit von einem der Öltanks aus dem Boden
rankte. Am Fuße des Buschs fand er eine Umhängetasche, die
eine
zertrümmerte Uhr und
einen Schlüsselbund, einen Geldbeutel, mehrere zusammengerollte
Geldscheine, einen Kamm und Münzen, ein Schnupftuch, ein
Diktiergerät mit einer
Mikrokassette sowie ein Schneidemesser und vier verschiedene
Reisepässe enthielt.
Der
alte Mann konnte sich seiner Neugier nicht erwehren und bediente die
Starttaste des Diktiergeräts. Das Band, das sich nur sehr langsam
bewegte, da die Energiezufuhr offenbar zu versagen drohte, ließ eine
tiefe und stark schleppende, nahezu unverständliche Stimme
erklingen: "Ich
warne euch daher: Verkehret nicht den Sinn der Worte aus Feigheit;
und nennet nicht Sklaverei friedliche Ruhe." Verstört
verstaute der Alte die Gegenstände in der Umhängetasche und vergrub
sie so tief, wie es ihm mit bloßen Händen möglich war, unter dem
Sanddornbusch. Er folgte einem Pfad, der ihn schon bald zu einer
asphaltierten Straße brachte, an der ein Mann in einem Malerkittel
allem Anschein nach auf eine Mitfahrgelegenheit in östliche Richtung
wartete. Weit und breit war kein Fahrzeug zu sehen.
Der
Maler trug hohe, schwarze Juchtenstiefel und eine selbstgestrickte
Mütze verdeckte sein Gesicht. Der Alte stellte sich anstandshalber
ein wenig abseits neben den Maler an den Straßenrand. Es war sehr
kalt und, so dachte der Alte, die Luft roch nach dem ersten Schnee,
der sich jetzt vom Nordwesten her ankündigte. Zwischen seinen
langen, schlaksigen Beinen stützte der Maler eine mit Öl bemalte
Leinwand, etwa 80 x 40 cm, auf welcher der Alte die Umrisse einer
weiblichen Gestalt erkannte, deren rechter Fuß, wie man auf den
zweiten Blick deutlich erkennen konnte, fehlte. Der Alte vermutete,
dass er ihr abgetrennt worden sein musste. Ihr Kopf ähnelte indes
dem eines Ziegenbocks. Im Hintergrund des Gemäldes türmten sich
glänzende Öltanks. Das Bild war vornehmlich in Rottönen gehalten
und wirkte insgesamt wie die Landschaft eines fernen Planeten.
Der
Maler stellte sich mit dem Namen Konstantinov vor. Er habe der
Andacht wegen die Moschee in Makat aufgesucht und müsse nun zurück
in die Gegend von Atyrau, wo er einer Arbeit auf den Erdölfeldern
nachgehe, da er, obwohl er gerade in der jüngsten Vergangenheit
recht viele Bilder vor allem an Touristen aus dem In- und Ausland
verkauft habe, von dem Erlös bereits den letzten Winter nicht hätte
überleben können. Heute sei seit langem sein erster freier Tag
gewesen und, sofern sich eine Möglichkeit dazu böte, würde er
nicht zögern die Herausforderung anzunehmen sich weiter im Osten
einer Gruppe kasachischer Weltraumschrottsammler anzuschließen. Hier
lasse sich noch ein ordentliches Geschäft machen.
Der
Alte kam nicht mehr dazu sich seinerseits dem Maler vorzustellen, da
sich ihre Aufmerksamkeit nunmehr ganz und gar auf das Fahrzeug
richtete, das sich von Westen her mit hoher Geschwindigkeit näherte
und erst etwa einen Kilometer entfernt von ihnen das Tempo
verlangsamte. Tatsächlich hielt das Fahrzeug, ein Mercedes Pullmann,
und eine in einen Pelz gehüllte hellblonde
Frau mit einer dicken Schildpattbrille
bot ihnen vom Rücksitz her eine Mitfahrgelegenheit.
Der
Alte scheute sich indes in ein Fahrzeug einzusteigen, das er bisher
nur aus Nachrichten kannte, fragte die Insassen des Fahrzeugs nach
einigem Zögern aber dennoch, ob sie einen umherirrenden Ziegenbock
gesehen hätten, der ihm stets treu ergeben gewesen sei. Die vornehme
Dame warf dem Alten über ihre Brille hinweg zunächst einen
freundlichen Blick zu, bevor sie ihm sagte, dass sie leider die
meiste Zeit über in die Lektüre der Aufzeichnungen ihres Mannes
vertieft gewesen sei und die Hoffnung nicht aufgegeben habe ihn in
dieser Gegend anzutreffen. Anstelle eines Buchs befand sich jedoch
lediglich ein Etui mit mehreren goldenen Scheiben auf ihrem Schoß.
Die beiden Männer auf den Vordersitzen starrten die ganze Zeit über
stumm und bewegungslos auf die von Schlaglöchern durchfurchte,
verlassene Straße, was den Alten letztlich dazu bewog sich im
Laufschritt in entgegengesetzter Richtung zu entfernen, während der
Maler bereits seine Leinwand im Kofferraum des Fahrzeugs
verfrachtete. Von weitem hörte der Alte noch die Stimme des Malers,
der ihm hinterherrief, dass Allahs Gabe unerschöpflich sei.
"Oh,
musulmane, eşti
ca şi
rusul, si
rusul ar putea fi musulman.
Weites
Land, so weit man blicken kann, domnule Rohlfs. Öffnen Sie die Augen
und öffnen Sie endlich eine Flasche Wein für mich. Ich bin sehr
durstig", rief Emilian lachend und
bot Rohlfs eine moldawische Zigarette an. "Atis - eine würzige
Filterzigarette! Es muss geraucht werden! Finden Sie nicht?"
Rohlfs lehnte ab und reichte dem Fahrer eine halb geleerte Flasche
von dem Wein aus Krasnodar um sich hierauf lange in den Anblick der
Landschaft zu vertiefen.
Geschickt umfuhr Emilian jedes Schlagloch auf dem Weg nach Mukur.
Verstört und ohne jegliche Erinnerung an die Zeit ihres Aufbruchs
durchsuchte Rohlfs unversehens mit den Augen den Wagen, doch die
Umhängetasche war unauffindbar. Man habe Ballast abwerfen müssen,
entgegnete Emilian schließlich in einer Weise, die keinen
Widerspruch duldete.
Die
kasachischen Grenzposten durchforsteten den TV-14 C laut Emilian aufs
Genaueste und hätten nicht das geringste Interesse an seinen
diskreten Bestechungsversuchen gezeigt. "Werfen
Sie bei Gelegenheit einen Blick auf die Ladefläche. Leer, domnule
Rohlfs! Immerhin sind uns Ihr Skizzenbuch und rund eine Million Tenge
erhalten geblieben. Bei besonnenem Umgang kommen wir ein gutes Jahr
über die Runden. Die Tankfüllung reicht noch für eine Ewigkeit,
mindestens aber bis nach Aralsk. Die Umhängetasche habe ich dann vor
etwa einer Stunde in hohem Bogen aus dem Fenster geschleudert, sagen
wir, aus einem Affekt heraus. Nun ja, das muss ich zugeben."
Allerdings räumte Emilian ein, dass er den dringenden Verdacht
gehabt habe, die Tasche sei von einem der Grenzer verwanzt worden.
Ja, vielleicht sei sie sogar von Beginn an verwanzt gewesen.
Ihn
persönlich bekümmere seltsamerweise vor allem die Tatsache, dass
man ihnen sogar das Radiogerät genommen habe, das ihm stets so treu
ergeben gewesen sei. Ganz gewiss habe er, Rohlfs, hierfür das
wenigste Verständnis. Im Grunde seines Herzens, versicherte Emilian,
sei er jedoch nach wie vor voller Zuversicht. Er wisse, fügte er
hinzu, dass man, trotz der beunruhigenden Ungewissheit, was noch
kommen werde, den Wind nicht ändern könne.
"Aber
wir können die Segel richtig setzen", bekräftigte Emilian nach
einer längeren Pause mit Nachdruck. "Und die goldenen Scheiben,
domnule Rohlfs, die Scheiben sind wertlos in den falschen Händen.
Man wird sich ihrer bedienen, wie man sich eines Werkzeugs, oder
einer gefährlichen Waffe bedient. Der Raketenbauer Braun bediente
sich zur Untermauerung seiner Auffassung hemmungslos bei der
christlichen Staatslehre eines Ritter von Elislago um sich,
vermutlich nach einem romantischen Blick hoch hinauf in die
Sixtinische Kapelle, gleich einem neuen Adam, mit einem Fingerzeig
der göttlichen Allmacht entgegenzurecken. Alle schleudern sie
letzten Endes ihre ureigensten, geistigen Abgase in einer Art von
andauernder Trunkenheit als hochtrabenden, brandgefährlichen
Treibstoff zum Fenster hinaus. Und keiner davon ist nur gut oder nur
böse. Hören Sie mich?"
Rohlfs aber schwieg und antwortete nichts.
In
der Wüstenlandschaft um Baygonin entdeckte Emilian das abgenagte
Skelett eines Ziegenbocks am Straßenrand. Er beschloss sich den
widrigen Umständen zum Trotz alsbald einen neuen Radioempfänger
anzuschaffen, auch wenn das alte Gerät verständlicherweise nicht
einmal mit Gold aufwiegbar sei.
Noch
vor Shubarkuduk ging ein derart starker Schneeregen nieder, dass er
betrübt den Entschluss fasste auf der A 27 weiterzufahren. Weder in
Kalmyk-Kurgan noch in Pokrovka ließ sich jedoch ein Gerät
auftreiben, das Emilians Vorstellungen entsprochen hätte. Zumindest
klarte es langsam auf.
Erst
am frühen Abend fand er bei einem turkmenischen Trödler in
Qandyaghash ein lettisches Radio, ein gut gepflegtes, schwarzgelbes
VEF Spidola-12 aus dem Jahr 1968, das genau genommen fast identisch
mit seinem eigenen Gerät war und einschließlich Batterien immerhin
zehntausend Tenge kostete. Sein Gerät sei hingegen ein Prototyp aus
dem Jahr 1960 gewesen und selbstverständlich weitaus wertvoller.
Auch wenn es müßig erscheine über die Rolle des tatarischen
Grenzers zu spekulieren, so habe dieser doch zweifellos genau
gewusst, was er konfiszierte. Bei genauerer Betrachtung sei der
tatarische Grenzer hinsichtlich seiner Bestechlichkeit der
raffinierteste und habgierigste Kerl von allen gewesen, was auch
immer er mit seiner Beute anstellen mochte. Rohlfs kam nicht umhin
sich von Emilians Freude über den Erwerb des Empfängers anstecken
zu lassen und gestand ohne Weiteres, dass er dem Gerät bisher nicht
die gebührende Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Er berichtete von
General Clay, dem Südstaatler mit der Adlernase, den er bei seinem
Eintritt ins Amt, das müsse, so glaube er, im Jahr 1965 gewesen
sein, einmal persönlich kennengelernt habe. Der General habe bei
einem Besuch auf der Base mehrmals einen ebensolchen Empfänger
erwähnt, den man im Amt fortan auch "the
instrument of crime"
nannte. Das lettische Radio habe einen nicht unwesentlichen Anteil
bei all den kleinen Siegen der Demokratie im Kalten Krieg gespielt.
Wie hatte er, Rohlfs, das nur vergessen können? "The
Spidola was, in many cases, used to listen to western stations such
as the Voice of America",
sagte der General. Demokratie müsse in jedem Dorf beginnen, habe der
General übrigens, so Dr. Reich, unmittelbar nach dem Zweiten
Weltkrieg zu ihm gesagt, fügte Rohlfs hinzu. Man habe in
Deutschland, so der General, schließlich bei Null angefangen. Dr.
Reich habe laut Lieutenant Striker auch später noch recht häufig
mit dem General telefoniert.
Zur
Feier des Tages kaufte Emilian bei einem usbekischen
Gemischtwarenhändler sechs Päckchen Pegasus Filter, einen kleinen
Laib Brot, einen gedünsteten Schinken, vier Flaschen Kumys, sechs
Flaschen von einem sehr süßen und fruchtigen, kasachischen Rotwein
aus den Bergen östlich von Almaty, zwei Kanister frisches
Trinkwasser sowie acht große Wasserflaschen zu je zwei Liter, wofür
er alles in allem weitere zwanzigtausend Tenge ausgab.
"Achten
Sie darauf", sagte Emilian mit erhobenem Zeigefinger zu Rohlfs,
"regelmäßig und ausreichend zu trinken. Mir ist
aufgefallen, dass Sie nicht genug Flüssigkeit zu sich nehmen. Das
kann schlimme Folgen wie Verwirrtheit oder ein höheres Sturzrisiko
nach sich ziehen. In unserem Alter ist das nun einmal so." Er
freue sich wie ein Kind auf eine weitere Nachtfahrt, sagte Emilian
auf der Auffahrt zur A 26 und schaltete alsbald den Radioempfänger
mit allergrößter Behutsamkeit ein. Mit der Absicht die Reisenden
vermittels langsamer und gleichmäßiger Bewegungen in einen
Ruhezustand zu versetzen, wählte er eine sanfte, zunächst kaum
hörbare Klaviermusik. Es werde gut sein sich mit ernster
Regungslosigkeit, in größter Stille, auf den nun kommenden
Abschnitt des Weges vorzubereiten. Die Insel
der Wiedergeburt
sei nicht allzu weit entfernt, Ostrow
Wosroschdenija,
Herberge der Sowjetbehörde Biopreparat,
einem ehemaligen Netzwerk geheimer Labore zur massenhaften Produktion
und Distribution von natürlichen, tödlichen Giftstoffen, Wirten,
Fressfeinden oder konkurrierenden Mikroorganismen.
Der
Weg ähnelte zunehmend einer zerfurchten Piste durch die
Steppenlandschaft, dachte Rohlfs. Immer wieder hörte die
Asphaltierung abrupt auf. Die Fortbewegung war mühselig und langsam.
Meist lenkte Emilian den TV-14 C in äußerst gemäßigtem Tempo über
den bloßen sandigen Boden mit seinem wuchernden, buscheligen
Grasbewuchs. Wie aus dem Nichts tauchten Bahngleise am Straßenrand
auf, die sie von nun an begleiteten und ihnen den Weg wiesen.
Das
Klavierstück baute auf einer einstimmigen, einfachen Melodie auf und
schien sich endlos zu wiederholen. Rohlfs erkannte keinerlei tonale
Melodieführung in dem Stück, lediglich zwei Variationen aus jeweils
zwei Stimmen, die den Eindruck einer mehrstimmigen Satzweise
vermittelten oder lediglich vortäuschten.
"Die
gemessene Zeit ist die Summe für die Fallzeit und die Zeit, die der
Schall braucht um wieder aufzusteigen. Der Weg, den beide zurücklegen
müssen, ist der gleiche", sagte Emilian in Shalkar plötzlich
und überreichte Rohlfs ein neues japanisches Diktiergerät der Marke
Sanyo,
das ihm der Händler für einen geringen Aufschlag angeboten habe.
Es
sei letztlich leichtsinnig und verantwortungslos, ja dumm gewesen,
die Umhängetasche samt Inhalt aus dem Fenster zu schleudern. Nicht
immer gehe das Alter mit Weisheit einher. In seinem Fall sei dies
sogar ganz offensichtlich.
Nach
einer sehr langen Pause, in der die Klaviermusik ihre volle
Wirkungskraft zu entfalten begann, wechselte Emilian von der A 26 auf
die M 32 in Richtung Aralsk.
Rohlfs
hätte nicht mit Sicherheit sagen können, ob sich vor seinen Augen
im Licht der Scheinwerfer eine Schneelandschaft ausbreitete oder ob
es sich hier bereits um Dünen der vom Wind angewehten Salze
handelte.
Die
Fahrt auf der M 32 war indes noch weitaus beschwerlicher als die auf
der A 26. Die stetigen Hebungen und Senkungen auf der Straße ließen
Rohlfs befürchten er werde seekrank. Auch die von der Zeit
überwucherten Bahngleise, die den Reisenden zur Orientierung gedient
hatten, konnte er nicht mehr finden. Vielleicht waren sie aber auch
lediglich in der Finsternis verschwunden. In etwa drei bis vier
Stunden, sagte Emilian, wolle er in Aralsk nach einer Bleibe für die
Nacht, vielleicht sogar für die nächsten Tage, Ausschau halten.
Auch der Gedanke eine Arbeit zu finden sei nicht ganz von der Hand zu
weisen. Rohlfs hielt es für höchst unwahrscheinlich, dass sie
Aralsk so zügig erreichen würden.
Mit
dem Willen, hatte Alois einmal zu ihm gesagt, werde meist ein
ungerechtfertigter Kult getrieben. Der Wille könne sich an manchen
Tagen gar nicht oder doch nur schlecht durchsetzen. Ansätze dazu
könnten allenfalls in den günstigen Momenten wirksam werden.
"Betrachte
nichts als Haupt-, sondern alles als eine Nebensache! Wir verbohren
uns in eine Hauptsache
und
arbeiten, wo wir nur des Verstandes bedurft hätten, mit Gefühl und
Willen, den mächtigen Verführern. Weiterer Horizont! Dann wird es
Dir nichts ausmachen, dass dies oder das nicht gelingt oder nicht
sofort gelingt."
Die
Morgendämmerung brach bereits ein, als Rohlfs weit hinten am
Horizont vereinzelte Reitergruppen auftauchen sah. Sie näherten und
entfernten sich wieder. Aus ihren Gebärden glaubte er sogar zu
erkennen, dass sie ihm winkten.
Nur
wenige Kilometer, allenfalls etwa zwanzig, hinter der Grenze der
Provinz Qysylorda begann der Motor des TV-14 C zu stottern und starb
schon bald darauf ab. Schwaden von Rauch stiegen aus dem Motorraum
auf. Emilian kannte sein Fahrzeug allzu gut, als dass für ihn die
Möglichkeit in Frage kam der Tank könne leer sein. Nein, sagte
Emilian, vielmehr sei der TV-14 C schlicht und ergreifend, so drückte
er sich aus, schlicht und ergreifend tot, ja, tot. Er sei eines
plötzlichen und kardialen, ja, kardialen Todes gestorben. Der
gottverdammte, alte TV-14 C blicke nach weit über einer dreiviertel
Million Kilometer unter den Rädern nunmehr auf eine Lebenszeit, ja
verdammt nochmal, Lebenszeit zurück, die für einen enormen und
beispiellosen wissenschaftlichen Fortschritt stehe, für den niemand,
ja, niemand eine reinere Freude empfinde als er, Emilian. Der
revolutionäre, ja, revolutionäre TV-14 C habe in Spanien für ihn
bereit gestanden, wenn er, Emilian, von seinen Seereisen zu den
amerikanischen Kontinenten zurückgekehrt sei. Der TV-14 C habe ihm
auf Reisen zu den Bergwerken Sibiriens wie auch zu den meisten
Werkstätten Europas stets treue Dienste geleistet. "Gewiss",
sagte Emilian beinahe schluchzend, "er hatte viele Feinde,
Towarischtsch Rohlfs, und während des größten Teils seiner
unzähligen Fahrten war er, ja, ganz gewiss, das meistgehasste und
meistverleumdete Fortbewegungsmittel in Europa. Doch wenn je einer
die Verleumdung besiegte, dann war es er, der gottverdammte, alte
TV-14 C. Vai de mine! Sunt pierdut! Doamne Dumnezeule! O, Dumnezeule
mare! Nu ştiu,
doamne, ce să fac. Mi-a murit maşina.
Nu ştiu
ce să fac! Nu pot să cred aşa
ceva. Imposibil! Incredibil, chiar incredibil! Doamne, Dumnezeule!
Mi-a murit maşina.
Vai de mine! Ce să fac?"
Emilian
kramte seufzend einen löchrigen Seesack unter seinem Fahrersitz
hervor und drehte nach einem Moment des Zögerns mit andächtiger
Langsamkeit den Lautstärkeregler des VEF Spidola-12 herunter.
Hiernach bat er Rohlfs in feierlichem Ton ihm so behutsam wie
irgendwie möglich nacheinander den vollständigen Inhalt des
Handschuhfachs sowie alle anderen losen Gegenstände in der
Fahrzeugkabine zu reichen. Unter den zahlreichen Papieren, Dokumenten
und Landkarten aus aller Welt befanden sich auch mehrere Spannriemen
sowie zwei alte Skibrillen aus rotbraunem Leder mit Polycarbonatglas,
die sie unabgesprochen sofort aufsetzten. Zuletzt verstaute Emilian
den kleinen Laib Brot, den Wein aus den Bergen östlich von Almaty,
die Wasserflaschen, den gedünsteten Schinken, zwei Flaschen Kalmaty
und die russischen Filterzigaretten in dem Seesack, der sein Volumen
vor allem durch vier große und feste Wolldecken erhielt. Die zwei
übrigen Flaschen Kalmaty tranken sie zur Stärkung in einem Zuge aus
um sich auf den Kraftakt vorzubereiten.
"Es
wird sich sicher eine geeignete Mitfahrgelegenheit bieten",
sagte Emilian nach einem langen Moment des Innehaltens und
Nachdenkens bereits mit sehr viel größerer Zuversicht, "ja,
vielleicht sogar eine Abschleppmöglichkeit." Emilian schenkte
Rohlfs ein freundliches Lächeln, dachte erneut nach und sagte: "Doch
ich muss Sie wirklich inständig und von ganzem Herzen bitten,
domnule Rohlfs, den Seesack immerhin solange zu tragen, bis sich
meine geplagten Beine an den Marsch gewöhnt haben. Mein Rücken
schmerzt mich sehr und ich bin alt und schwach und grau."
Die
größte Schwierigkeit bestand jedoch darin die beiden schweren
Wasserkanister zu je fünf Gallonen mithilfe der Spannriemen derart
an Rohlfs' Oberkörper zu befestigen, dass er schließlich einen
Kanister unterhalb des Brustkorbs und den anderen oberhalb des
Steißbeins trug. Die Kanister dienten ihm indes, wie sich schon bald
herausstellte, als gut geeignete Stütze für den Seesack, den
Emilian mit seinem Schwerpunkt auf dem am Brustkorb befindlichen
Wasserkanister anbrachte, so dass er ihn ohne größeren Aufwand
hinter seinem Rücken festbinden konnte. Das neue Diktiergerät und
die beschädigte Lesebrille brachte Emilian in einer der äußeren
Seitentaschen von Rohlfs' Uniform unter. Daraufhin band er ihm einen
blassblauen Schal, der einmal seiner Tochter Lucia gehört habe, mit
einem speziellen Pionierknoten um den Hals. Der Schal solle ihm Glück
und Frieden bringen, erklärte Emilian und deklamierte: "O, voi,
cei care credeţi!
Căutaţi
ajutor întru răbdare şi
Rugăciune, căci Allah este cu cei răbdători!"
Rohlfs,
der den Aufbruch beschleunigen wollte, versicherte seinem Gegenüber
sodann, dass er glaube dem enormen Gewicht standhalten zu können.
Zuallerletzt
fixierte Rohlfs nun seinerseits die Ausgabe der Pforte,
das Skizzenbuch sowie das schwarzgelbe VEF Spidola-12 mithilfe der
vier übriggebliebenen Spannriemen an Emilians geschwächtem und
schmerzendem Oberkörper, woraufhin die Fußreisenden umgehend den
Marsch durch den verlandeten See auf sich zu nehmen begannen;
gemeinsam kämpften sie, jeder auf seine Weise, mit strengen
Minustemperaturen von mehr als 15° und einem salzigen Südwestwind
gegen das Gewicht und die Schwerkraft.
Nach
einigen Kilometern, höchstens aber zehn, unterstrich Emilian den
mühseligen Gang teils mit seinem eigenen gelegentlichen Gesang,
teils mit Klängen einer Qobuz oder Sibizgi aus dem Radio. Mit
größter Aufmerksamkeit hörten die Fußreisenden Klara und Iara
Tulenbaeva, Edil Huseinov, Berik Zhusipov, Kurmash Ibishev, Ikilas
Ozkhai, Asylbek Akhatov, Aitolkin Toktagan, Bayan Musaeva, Alexei
Yefremenko, Ardak Balazhanova, Elmira Zhanabergenova, Kunduz
Kalambaeva und Anar Muzdakhanova, bis die Stimmen zunehmend von dem
brummenden Motorengeräusch eines sich aus nördlicher Richtung
nähernden Lastfahrzeugs übertönt wurden.
Die
Fahrerkabine des Lieferwagens erwies sich allerdings bereits als
überfüllt. Neben zwei Beifahrern war offenbar auch ein Teil der
Fracht in der Kabine untergebracht worden. Mit Zeichen und
unmissverständlichen Gebärden gab der Fahrer des Wagens den
Fußreisenden sein aufrichtiges Bedauern hierüber zu erkennen, einer
der Beifahrer warf ihnen aber ein kleines Ledersäckchen zu, in dem
sich, wie Emilian herausfand, nachdem der schwer beladene Lieferwagen
längst aus ihrem Gesichtskreis verschwunden war, etwa ein Gramm
getrocknete Cocablätter befanden, die ihnen, wie sich zeigte, die
Mühsal des Marsches durch den verlandeten See weitaus erträglicher
machten. Rohlfs wollte bemerkt haben, dass die drei Insassen des
Lieferwagens keine Einheimischen waren.
Die
Mittagszeit war vermutlich schon längst überschritten, als Rohlfs
Emilian erstmals um eine Pause bat. Sie hatten die Wahl einem Weg in
Richtung Saksaulskiy zu folgen oder weiterhin auf der Straße nach
Aralsk zu bleiben. Man entschied sich vorerst dafür an der
Wegkreuzung Rast zu machen und alles weitere dem Zufall zu
überlassen. Emilian schnitt einige Streifen von dem Brot und dem
gedünsteten Schinken herunter und öffnete eine weitere Flasche
Kalmaty, nachdem er seinen Begleiter von seiner Last befreit hatte.
Die vergorene Stutenmilch gab ihnen die verlorene Kraft zurück und
Emilian wurde nicht müde zu betonen, dass er sich selten so stark
und lebendig, so machtvoll und unaufhaltbar gefühlt habe wie in
diesem Moment. Seine Schmerzen seien trotz der klirrenden Kälte wie
weggeblasen. Rohlfs vertiefte sich beim Essen in die Klänge der
Qobuz und wollte, ohne dass er sich darin vollkommen sicher gewesen
wäre, auch ein Akkordeon gehört haben. Gleichzeitig dachte er an
die Worte seines Großvaters, dass es vollkommen nutzlos sei mit Gott
zu hadern, wie er es beinahe täglich getan habe, da er zwar als
Allmächtiger und
Barmherziger
gepriesen
werde, seine Macht aber an den kleinen und schwachen Menschen oder
den unschuldigsten Tieren ausübe und allen diesen auch noch ihr
bisschen Leben verleide. Der Rest sei Weihrauch, sagte Alois, denn
einem jeden stehe dasselbe bevor, ob klug oder dumm, reich oder arm.
Es
war ein tiefer Blick, den er da in die eigene Seele tat. Plötzlich
sah er klar – so klar, als ob er die Regungen eines fremden Lebens,
vielleicht eines Tieres, beobachte -, wie sein tiefstes Sein,
unbeeindruckt von dem Selbstbetrug des Ich, seine derzeitige Lage
beurteilte. Diese Lage war ausweglos; er hatte sich hoffnungslos
verfahren, er war ein auf Grund gelaufenes Schiff.
Eine
Sibizgi in Begleitung einer älteren, männlichen Stimme entlockten
Rohlfs ein sanftes Lächeln, doch allem Anschein nach kam die Musik
nicht mehr aus dem Radiogerät, sondern von leibhaftigen Musikern.
Rohlfs fand sich in einem kreisrunden, spitz nach oben hin
zulaufenden Zelt wieder, das vollständig mit turkmenischen Teppichen
ausgelegt war; einen Teppich aus Tangu konnte er auf den ersten Blick
indes nicht ausfindig machen. Die Musik verstummte allmählich.
Schritte und Stimmen entfernten sich vom Eingang des kreisrunden
Zeltes. Auf einem kleinen Tisch in der Nähe eines Samowars entdeckte
Rohlfs einen Teil seiner persönlichen Sachen. Auf seinem Skizzenbuch
lagen das
neue Diktiergerät, Papiere, Dokumente, Landkarten, die beschädigte
Lesebrille sowie die alte Skibrille aus rotbraunem Leder mit
Polycarbonatglas. Über
einem Stuhl hing seine Uniform, sorgfältig übereinander gelegt. Auf
der Sitzfläche des Stuhls befand sich Lucias blassblauer Schal sowie
seine selbstgestrickte Mütze. Er selbst lag auf einem handgewebten
Kelim aus Wolle unter einer schweren, bunt bestickten Decke, war in
einen türkischroten Kaftan gekleidet und fühlte sich friedlich und
gereinigt. Sein Kopf ruhte auf einem weißen Kissen. Ganz
offensichtlich war er allein.
"Denkst
du etwas?", fragte Constance in die Stille hinein. "Doch,
du denkst doch etwas. Nie willst du sagen, was du denkst." -
"Nein, Schatz, ich habe wirklich nichts gedacht."
"Für
die magischen Praktiken der Primitiven interessierst du dich, Rohlfs,
weil du das geistige Werden der Menschheit verfolgen willst. Und da
hoffst du auf Einblicke, indem du den Zauberern und allen möglichen
Quacksalbern zuschaust. In Wirklichkeit hegst du aber bloß eine
Abneigung gegen alles, was Technik und Fortschritt ist, nämlich die
Welt, wie sie nun einmal nur mit den Mitteln der höheren Mathematik
zu begreifen ist."
Alle
Begegnungen sowie deren Folgen sind ausschließlich rein zufälliger
Natur, dachte Rohlfs. Ja, selbst die mit dem Gekreuzigten
beispielsweise, dessen geschichtlich
gewordene, geistige Bildung nicht einfach über Bord
geworfen werden kann. Dass
Mithra nicht
Mensch geworden war wie der
Gekreuzigte, hat
ihn wohl von vornherein dem jüdischen Heiland unterlegen sein
lassen. Vielleicht – so könnte man einen Augenblick, den Blick auf
gewisse mythologische Analogien gerichtet, denken – hätte der
griechische Herakles,
der ja ebenfalls der Sohn eines Gottes und eines Menschweibes war,
der als Knecht diente und die niedrigsten Arbeiten verrichtete und
der sich, wie der
Gekreuzigte,
selbst opferte um darauf zu seinem Vater im Himmel zurückzukehren,
eine solche Rolle übernehmen können. Wurde er doch nicht nur als
Heros gefeiert, sondern in manchen Gegenden Griechenlands als Gott
verehrt! Aber Herakles stand nicht im Brennpunkt der antiken Welt, wo
Morgen- und Abendland sich berührten, sondern am Rande, irgendwo in
Attika oder Böotien. Er erlebte nicht mehr die hohe Zeit der
Jahrhunderte vor und nach Beginn unserer Ära, da, zur Zeit
Alexanders des Großen und im Römerreich, die Religionen, die
Kulturen, das Denken aus ihren Grenzen traten, ineinanderflossen,
sich befruchteten, wie es der
Gekreuzigte erlebte.
Er war zu früh, er verkam irgendwo am Wegrand der Weltgeschichte.
Sie ergriff ihn nicht, indem sie ihn zum Weltgott erhob, seinen
lokalen Kult zur Weltreligion erweiterte.
Übrigens
wäre seine ethische Substanz, trotz seiner ungeheuerlichen
Selbstopferung, wohl zu gering für diese Rolle gewesen; er war ja
weder für die Menschen noch für eine Idee gestorben, sondern um die
Qualen zu beenden, die ihm das von seinem Weibe geschenkte,
vergiftete Nesselhemd bereitete.
Waren
es nicht gerade Verluste, die einem Menschen einen Grad an Tiefe
verliehen, der ihn vom seichten Gewässer seiner Mitmenschen
absonderte. An die jungen Jahre erinnerte sich Rohlfs allzu gut, als
dass er auf die Idee gekommen wäre, es könnten etwa die Lebensjahre
sein, die uns von anderen gewissermaßen abheben. Sollte es
irgendetwas geben, das Alois für den Beruf des Lehrers auszeichnete,
war es aus seiner Sicht doch die Empathie für das Kindliche, das
Vermögen ins Staunen zu geraten. Ein wahrer Mensch sei laut Goethe,
wer sein Kinderherz nicht verliere - nun ja, Wahrhaftigkeit, dachte
Rohlfs; indessen war schwer abzuschätzen, wie, ob und in welcher
Weise man in seiner Tätigkeit auf die Nachgeborenen wirkte.
Gelegentlich waren es allerdings die feinsinnigeren Wesen, die uns
spüren ließen, dass wir nicht vollends fehl am Platz gewesen sein
sollten. Der Verlust eines nahestehenden Menschen, in seinem Falle
der des Großvaters, schien, so dachte er, etwas wie eine
Aneinanderreihung gewisser chemikalischer Reaktionen im Menschen
auszulösen, die ihn, metaphorisch gesprochen, der nächsten
Entbindung, der Vergänglichkeit, bereits ein wenig näher brachten.
Eine Art Haltlosigkeit mochte ebenfalls Folge dieser Erfahrung sein.
Naturgemäß
musste hier, im tiefsten Sinne des Wortes, auch ein fruchtbarer
Nährboden für die Anbindung an den Glauben entstehen, womit man
erneut bei dem Gekreuzigten wäre sowie der ungeheuren Haltlosigkeit
der Spezies insgesamt. Der kollektive Verdrängungsprozess tat und
tut allerdings sein Übriges und hier bewegte man sich bereits
inmitten der Fluten der Aufklärung. Dass
der Verlust unseres Selbst in greifbare Nähe rückte, war wahrhaftig
die erschütterndste Erfahrung, die man bewusst zu erleben fähig
sein konnte. Die Begegnung mit jenem gleißenden Licht, dem
Fegefeuer, welches das Lebewesen, so dachte er, momentan von allem
Irdischen zu entrücken im Stande war, veränderte den Betroffenen
unmittelbar und auf unwiderrufliche Weise. Eine schwere
Lungenentzündung ließ Rohlfs als Kind von etwa fünf oder sechs
Jahren einmal in dieses Licht blicken, doch offenbar gab es etwas,
etwas Stärkeres, das ihn daran hinderte hindurchzugehen.
Alois
jubelte; er entschied sich für Frankreich. Er verabschiedete sich
von Frau und Kindern und fuhr ins gelobte Land. Die Abordnung lautete
auf Metz; also ging es nach Lothringen.
Der
Führer
wollte
das Elsaß, wollte Lothringen, die der Versailler Vertrag zu
Frankreich geschlagen hatte, zurüchgewinnen. Ein
nationalsozialistischer Lothringer erläuterte den Lehrern die
Absichten des Führers. Er empfahl ihnen die "direkte Methode",
was nichts anderes hieß, als dass kein einziges französisches Wort
gesprochen werden durfte.
In
dem kleinen, zehn Kilometer moselaufwärts gelegenen Gaudach sollte
Alois seine Sprachkünste ins Werk setzen. Die Eisenbahn brachte ihn
nach Ars, das gegenüber von Gaudach auf dem linken Moselufer liegt.
Der Bürgermeister von Ars, den er aufsuchte, empfahl ihm das Haus
von Herrn Terclavers, in dem er eine gute Unterkunft finden werde.
Der
Weg nach Gaudach führte ihn über eine hölzerne Brücke, unter der
die Mosel, die hier gestaut war, donnernd hinabstürzte. Die
Terclavers waren ein altes, kinderloses Ehepaar, in deren zwischen
andere kleine Häuser hineingeklemmtes Haus er ein gut möbliertes,
geschmackvoll tapeziertes Zimmer bezog. Alois verstand nur wenig von
dem, was die Leute höflich und freundlich parlierten, doch
verstanden andererseits sie sehr gut, was er sagte. Anscheinend waren
sie befriedigt, dass der deutsche Lehrer französisch verstand und zu
sprechen versuchte.
Das
Schulhaus, das sich nicht weit vom Haus Terclavers erhob, war ein die
Blicke eines Reisenden auf sich ziehendes Gebäude aus gelbem
Sandstein. Mit seinen Fenstern und dem Portal beeindruckte es den
Betrachter und war doch ein Fremdkörper unter den bescheidenen
Häusern der Ortsansässigen, zwischen denen sich da und dort ein
vornehmes Haus mit marmorner Freitreppe erhob. Das Schulhaus war ein
deutscher Bau aus der Bismarckzeit. Es gehörte nicht hierher.
Die
Kinder, ein Haufen wohlerzogener Knaben und Mädchen (oder wichen sie
bloß vor dem deutschen Lehrer zurück?), waren sichtlich überrascht,
als Alois sie auf französisch ansprach. Er ließ sie einzeln
vortreten, setzte sich auch mitten unter sie auf eine Bank und
notierte ihre Namen. Roland Hochard, Roger Coltin, Hubert Méa,
Marcellus de Cillia oder Gilberte Bévilacqua, Jaqueline Boda, Denise
Paniel, Bernadette Brulhard – alles Namen von einschmeichelndem,
gallischem Klang, den er so liebte. Die Welt, die ihm da auf einmal
naherückte, hatte ihm der Führer,
den er durchaus nicht liebte, zum Geschenk gemacht. Noch mehr waren
die Kinder überrascht, als er auf französisch zu unterrichten
begann. (Das war es freilich nicht, was der lothringische Schulrat
mit dem schwarzen Hakenkreuzabzeichen von ihm erwartete.) Die Kinder
erzählten es ihren Eltern und er freute sich, wenn er auf der Straße
an ihnen vorbeiging, über ihr freundliches "Bonjour Monsieur!"
"Salam
aleikum!", hörte Rohlfs jemanden sagen, noch bevor er ein
Gesicht ausfindig machen konnte. Langsam schob sich ein junger Mann
in einem Lammfellmantel mit einem vernarbten Gesicht durch den
Zelteingang. "Salam aleikum!", wiederholte der Mann und
verbeugte sich schließlich mehrmals vor der Lagerstätte, ehe er
sich in einigem Abstand im Schneidersitz auf einen Diwan setzte. "Wa
aleikum as-salam!", entgegnete Rohlfs mit beinahe feierlicher
Stimme und hätte seinen Kopf als Zeichen des Dankes, Entgegenkommens
und Anstands gern ein wenig höher gehoben, spürte aber sofort, dass
er hierfür noch allzu erschöpft war.
"Sälemetsis
be!", hörte er kurz darauf eine zweite Männerstimme, die einem
kleinen, rundlichen alten Mann in einem langen Gewand aus feinem
weißen Leinen mit Würfelmuster gehörte, der ein zerfleddertes Buch
bei sich trug und sich nach einem ähnlichen Begrüßungsritual neben
dem Mann mit dem vernarbten Gesicht auf einem zweiten Diwan
platzierte. Der Alte blätterte eine Weile in dem Buch, bei dem es
sich, wie Rohlfs bald herausfand, um ein kasachisch-deutsches
Wörterbuch handelte, und begann seinem Nachbarn daraufhin genaue
Instruktionen zu geben. Von Zeit zu Zeit schenkte man Rohlfs ein
freundliches und verbindliches Lächeln. Zu guter letzt betraten fünf
weitere Männer in gröberen Stoffen aus Ziegen- und Kamelhaar die
Jurte und setzten sich schweigsam hinter die beiden anderen auf einen
Teppich. Nacheinander stellte der Alte nun die Männer hinter ihm als
Ahmet, Muhammed, Eugeniy, Rumazan und Iskender vor. Sein Nachbar
erhob sich kurz und gab Rohlfs mit wenigen, teils schwer
verständlichen Worten zu verstehen, dass er ihn am Wegrand
aufgelesen hatte. Sein Name war Kuralbek und er komme aus Avangard.
Amir, sein Großvater, sagte er hiernach mit einem liebevollen Blick
auf den Alten, sei vor langer Zeit einmal in Almanīya
gewesen.
"Ja,
ja, Almanīya,
Almanīya! Ja, Almanīya Reich! Almanīya Krieg, Krieg! Benzin!
Almanīya Benzin! Krieg! Almanīya Reich!Reich Benzin!",
sagte der Alte und klopfte sich lachend auf die Schenkel um endlich
in ernstem Ton hinzuzufügen: "Alt Mann Eis! Emil, o Emil! Eis,
Mann! Avangard, Avangard. Doktor Roman, Doktor Said. Avangard. Gut!
Doktor Ahmet, Doktor Muhammed, Doktor Eugeniy, Doktor Rumazan, Doktor
Iskender! Kuralbek, er nemere! Gut! Verstehen? Auto tot! Tot! Alt
Mann, sehr Salz! Sehr Salz!"
Im
Anschluss an diese Worte standen die Männer einer nach dem anderen
auf und verließen die Jurte in teilnahmsvoller Trauer. Als letzter
verließ der Alte das Zelt, hielt jedoch am Eingang einen Moment inne
und sagte hinter vorgehaltener Hand: "Telefon! Uyaly telefon!
Zhar! Frau!
Frau!
Frau! Uyaly telefon, Doktor Muhammed, uyaly telefon, uyaly telefon,
Doktor Muhammed! Almanīya!
Auto! Almanīya! Auto! Salz! Almanīya! Auto! Auto! Qyzylzhuldyz!
Qyzylzhuldyz! Qyzylzhuldyz!"
Der Alte wiederholte die letzten Worte im Hinausgehen noch einige
Male, bis es dann wieder still um Rohlfs wurde. Er wusste, dass es
nun höchste Zeit zu handeln war, auch wenn man sein Vorhaben als
gescheitert betrachten musste. Es gelang ihm mit ein wenig Mühe
aufzustehen und, nachdem er sich drei Mal gen Osten verneigt hatte,
sein Hab und Gut an sich zu nehmen. Bei Allah, er hatte sein Ziel
erreicht.
Der
Anruf sei für ihn gewesen, erklärte sich Rohlfs die Worte des Alten
beim Ankleiden, was ebensogut ein Missverständnis sein konnte, denn
wie sollte irgendjemand ihn auf jemandes Mobiltelefon anrufen, den er
selber gar nicht kannte. Jetzt in dieser Jurte zu bleiben, wo er
sicherlich wohl versorgt sein, aber absehbar nichts weiter geschehen
würde; man müsste einmal schauen, was geschah, wenn man ein wenig
hinausgehen würde. Ebenso nichts, wie Rohlfs bemerkte, der sich ein
wenig umsah. Man hatte die üblichen Sächelchen, die eigentlich
weggeworfen gehörten, in die eine oder andere Ecke gerückt, ein
kaputtes Kinderfahrrad, mit rosa Sprühlack vor Zeiten einmal für
ein kleines Mädchen hergerichtet, das inzwischen erwachsen und in
die Stadt gezogen war, stand ohne Hinterrad auf Sattel und
Lenkstange.
Auch
wenn man sich etwas weiter von der Jurte entfernte, geschah nichts.
Die Bewohner hatten auf ihre Weise jeder für sich in irgendeinem
Winkel zu tun, bis zur Straße waren es vielleicht dreißig Meter,
ein Graben, der sich im Nichts verlor, ebenso wie ein Zaun, an dessen
Resten ein paar Plastikfetzen flatterten. Es war eine der Pisten, auf
denen nicht jede Stunde einmal ein Fahrzeug entlangfuhr, und doch gab
es Verkehr, zum Beispiel diesen maisgelben Mercedes, wie sie wohl
gerade in solchen Weltgegenden von der einstigen Dauerhaftigkeit
Stuttgarter Wertarbeit kündeten. Er zog erst eine gewaltige
Staubwolke hinter sich her und näherte sich schließlich doch mit
beachtlicher Geschwindigkeit, schwerere Wagen steckten ja eine
Holperstrecke bekanntlich mit einer Art Achselzucken weg.
So
war es also doch richtig gewesen, dass Rohlfs nicht in der Jurte
geblieben war, von wo aus man ihm, wie er beim Einsteigen bemerkte,
zum Abschied zuwinkte.
"Hallo,
pünktlich auf die Minute, ich dachte erst, ich sei doch am Telefon
nicht richtig verstanden worden. In dieser gottverlassenen Gegend
würde es ausgerechnet eine Tankstelle geben?" - "Ja, ja",
entgegnete Rohlfs, "man denkt, alles müsse hier weit weg sein,
weil die Gegend an sich so weit ist. Tatsächlich ist man aber zu Fuß
in ein paar Minuten da." - "Dann lass uns dort ein Tässchen
Kaffee trinken, ich glaube, es ist gerade die richtige Zeit. Aber
nicht, dass du mir gleich wieder verschütt gehst!"
Rohlfs
machte sich an seinem Hosenbein zu schaffen und bemerkte, dass er nur
einen Strumpf trug. Das Skizzenbuch verstaute er sorgfältig im
Handschuhkasten, wo Constance schön aufgeräumt hatte. Sie bogen in
die Tankstelle ein, es war überraschenderweise eine europäische
Kette, oder eine Art Replika davon, jedenfalls standen da die
üblichen Preistafeln, auch flatterten drei, wenn auch vom
Steppenwind etwas mitgenommene, Fahnen verzweifelt im Wind.
"Da
wären wir also."