["Gefäße", Werner Windisch (2002)]
I'll
eat my words, I swear I will
If I am wrong I'll pay the bill
No cards for me, I'll look what's dealt
There's one here up my sleeve.
If I am wrong I'll pay the bill
No cards for me, I'll look what's dealt
There's one here up my sleeve.
[From:
Rory Gallagher »Eat
My Words«
(1970)]
Without
contraries there is no progression.
Attraction
and repulsion, reason and energy,
love
and hate are necessary to human existence.
[From:
William Blake »The
Marriage of Heaven and Hell« (1790 - 1793)]
["Fleisch", Michelle Schneider (2019)]
VI.
Kannibalismus
Don't
you know, little fool,
You never can win?
Why not use your mentality
- step up, wake up to reality?
But each time I do just the thought of you
Makes me stop just before I begin
'Cause I've got you under my skin.
Yes, I've got you under my skin.
You never can win?
Why not use your mentality
- step up, wake up to reality?
But each time I do just the thought of you
Makes me stop just before I begin
'Cause I've got you under my skin.
Yes, I've got you under my skin.
[From:
Cole Porter »I've
Got You Under My Skin«
(1936)]
Der
außerordentliche Stellenwert des christlichen Nächstenliebegebotes
gründet zweifellos in der Tatsache der bemerkenswert geringen
Liebenswürdigkeit des Mitmenschen an sich. Jawohl, manche lieben wir
mit verzweifelter Heftigkeit und hängen an ihnen wie an unseren
sehnlichsten Wünschen überhaupt und insbesondere solchen bezüglich
unserer eigenen Person. Jemanden zum Fressen gern zu haben
vergegenwärtigt mehr als alles andere unseren grundsätzlichen Ekel
vor anderen Menschen. Ausnahmsweise kann diese Abneigung einmal
zurücktreten. Man hüte sich aber vor zu hohen Erwartungen.
Auch
der Kannibalismus stößt naturgemäß an diese Grenze. Sein Verbot
artikuliert entgegen allem Anschein die geringe Neigung zum Körper
unseres Mitmenschen. Keineswegs haben wir großen Appetit auf ein
Schnitzel oder einen Schinken von ihm. Schon unserem Appetit auf
Pferdefleisch sind enge Grenzen gesteckt, ist doch das Pferd Träger
unserer großen Sympathien, da wir es reiten und es uns somit zum
Ritter macht oder zur Amazone. Von grausamen Tyrannen ist bekannt,
dass sie ihren Gefangenen kannibalische Speisen vorsetzen, von
Genossen und Angehörigen bis hin zu ihren eigenen Amputaten, um der
Sache die Krone aufzusetzen beispielsweise die Residuen ihrer
Kastration.
Speiseverbote
berühren den Menschen an einem Konstituens seines Daseins. Der
Mensch muss essen und tut es mit Lust; sollte er sich angesichts
seiner Not nicht eigentlich auflehnen gegen diese Tyrannei? Die
Bewältigung seines Schicksals unter dem Terror des Stoffwechsels
geschieht indessen in Form der Sanktionierung des Essens. Was und wie
gegessen werden darf und soll, auch in wessen Gesellschaft, das
ersetzt die Alternative, nämlich überhaupt nicht zu essen. Manche
Speisen dürfen eben nicht genossen werden, wenn sie auch noch so
nahrhaft wären und auch gar nicht schädlich. Von Pferd bis Mensch
tut sich noch eine lange Reihe verbotener Speisen auf, mehr oder
weniger verboten, also von der sozialen Speisekarte beliebigen
gesellschaftlichen Kontextes, beispielsweise des regionalen,
gestrichen.
Da
wir die Provokation lieben, machen wir auf diese offensichtlichen
Sachverhalte aufmerksam und verschmähen den Zitronenarm
unseres Dichters nicht, wenn wir auch selber leicht schaudern
angesichts des anderen Armes der Geliebten, der noch im Eisfach
liegt, ganz wie die Torsi furchtbarer Frauen- und Serienmörder, die
in finsteren Waschküchen ihrer schrecklichen Verirrung frönen. [B.
Karl Decker]
["In Eis", Michelle Schneider (2019)]
VII.
Metzger
Nous
sommes tous des cannibales.
Après
tout, le moyen le plus simple d’identifier autrui à soi-même,
c’est
encore de le manger. [Claude
Lévi-Strauss]
Manfred Metzger, von seinen Genossinnen und Genossen liebevoll Manni, von den ihm weniger wohlgesonnenen schlicht Metzger genannt, Maler und Bildhauer, vor geraumer Zeit einmal weltweit erfolgreich, zumindest in den entsprechenden Kreisen, liebte das gesellschaftliche Ereignis, festlich zelebrierte Empfänge und pflegte ein deftiges, bisweilen wollüstiges Verhältnis zu seinen Mitmenschen, insbesondere zu seinen beiden Töchtern sowie zur Tochter seines jüngeren Bruders Melchior, einem Lehrstuhlinhaber für innovatives Markenmanagement, deren Zuneigung zu ihrem Onkel für viele der Anwesenden die Grenzen des guten Geschmacks überschritt, sodass es nicht weiter überraschte, wenn sich die Zusammensetzung der Gesellschaften kaum wiederholte. Die Brüder, so betonten und wiederholten es beide oft, waren gleichzeitig von ihren Lebensgefährtinnen verlassen worden.
Abgestoßen
von dem, wie er es nannte, protzigen Hype, in dem die Galeristinnen
und Galeristen Europas und aus Übersee dem Publikum seine Werke
präsentierten, zog er es seit geraumer Zeit vor, seine Gäste, je
mehr und je unterschiedlicher, desto besser, selbst auszuwählen. Als
Ehrengast wählte Metzger meist einen politischen Würdenträger aus,
dem er, so drückte er sich gern aus, den ideologisch eingedünsteten
Kopf zu düngen gedachte.
Im
Mittelpunkt der Festlichkeiten standen neben einer von Mahl zu Mahl
abwechselnden Plastik oder einem seiner üppigen Aktgemälde mehrere
Platten mit saftigen, reichlich mit Camembert gefüllten Lenden, die
traditionsgemäß von seinen drei Mädchen zubereitet und
ausschließlich mit französischem Weißbrot, Oliven und frisch
geschnittenen, in Eis eingelegten Zitronen von ihnen serviert wurden.
Hierzu trank man, auch dies eine ungebrochene Tradition, einen
hochwertigen »Primitivo
di Manduria«
vom Absatz des italienischen Stiefels.
Zur
Eröffnung des Büfetts hob Metzger meist ein gut gefülltes Glas mit
der linken Hand, während er mit der rechten die Lende seiner Nichte
presste, manchmal auch schlug, um seine Rede auf besonders joviale
Weise zu unterstreichen. Nicht selten verschüttete er den Wein in
Richtung der ihm zugewandten Gäste, vor allem aber in Richtung der
Nichte, die dies jedoch willfährig geschehen ließ. Seine Töchter
hingegen begleiteten solche ausufernden Rituale in der Regel mit
kreischendem Lachen, ganz als ob sie ihren Vater bei einer Orgie
anheizen wollten.
"Dass
der Lauf der Dinge", so hob er etwa dem Marxisten Mehring
gegenüber einmal an, "wie sie nun einmal sind beziehungsweise
geworden sind, sich nicht nach derartig trockenen Rezepten
korrigieren lässt, zeigen allenfalls die Abschnitte der Geschichte,
die dem Verfasser der Pariser Manuskripte zu seinen Gunsten erspart
geblieben sind. Heute wirkt so mancher Abschnitt aus den Schriften
des jungen Karlchens, als habe sich das Kerlchen bei seinem Versuch,
die Welt zu einem besseren Örtchen zu machen, ein in sich schon
zutiefst religiöser und romantischer Gedanke, gut zureden wollen,
sich, gespickt mit würzigen Imperativen und fein abgeschmeckten
Modalverben, den Appetit hinsichtlich der Unwirtlichkeit des
Ist-Zustands nicht nur nicht verderben, sondern ihn sich mit dem
halbtrockenen Tischwein der Intellektualität besonders schmackhaft
machen lassen. Hut ab vor dem jugendlichen Übermut des Kritikers der
Kritik! Gewiss würde der altbackene Weise von der Mosel heute eher
Kochbücher verfassen angesichts des Schlamassels, den seine Jünger
und Philister mit seinen frommen Weltverbesserungsattitüden
angerichtet haben. Mag sich Marx in den Reihen bedeutender
Religionsstifter auch ein wenig unbehaglich fühlen, führte auch
seine auserlesene Sorgfalt letztlich zu einer Anpassung an die Dinge,
wie sie nun einmal sind."
Metzger,
der ohnehin kein Interesse an Dialogen hatte, beendete das Gespräch,
indem er sein Gesicht lange im Dekolleté seiner Nichte verschwinden
ließ, während sein Bruder seinerseits seiner Tischnachbarin
nüchtern erläuterte, welche Vorteile es dem Markt böte, wenn eine
Marke eine andere auffräße. [Liana
Helas]
VIII.
Das
Interview
Die
Sache ließ sich ruhig an. Der Termin war seit Wochen klar, man
wundert sich, woher andere Leute so viel Zeit nehmen, jedenfalls
schienen sie sich besser zu organisieren als ich. Sie hatten diesen
jungen Typen zu mir geschickt, fast noch ein Kind, dachte ich. Der
Wagen neu, ein Fahrzeug der Zeitung, ohne Aufschrift, aber erkennbar
ein Dienstwagen, ein junger Mann würde sich privat kein neues,
derart belangloses Auto kaufen. Turnschuhe, zerfetzte Jeans, so etwas
trug man heutzutage auch, wenn man Reporter war, - eigentlich logisch
- wie das Publikum auch. Professionelles Equipment, man sah, dass
Herr Heller, jedenfalls für den Anfang siezte man sich noch, kein
Praktikant oder sonst ein Anfänger war.
Dann
also, wenn auch ohne Eile, aber gleich zur Sache: Was das Ziel
unserer Vereinigung sei? Natürlich wollte ich nicht, dass die Leute
ein paar Tage vor dem Kongress in der Zeitung lasen, was ich dann
sagen würde. Überhaupt das Ziel unvermittelt zu nennen, würde ohne
die Argumentation, die ich mir in langen Nächten zurechtgelegt
hatte, falsch verstanden werden. Das Manuskript lag ja auf dem
Couchtisch, und während ich Luft holte in der Absicht die Energie
des Angriffes zur Verteidigung zu nutzen, "nun", sagte ich.
Er sah wohl an meinem Blick, worauf die Sache für ihn hinauslaufen
sollte und antwortete selbst: "Sie wollen die Leute wieder dazu
kriegen, sich von Ihnen beibringen zu lassen, was mit ihnen nicht
stimmt." Das fand ich nun ziemlich frech und wollte auf seinem
Tablet nachlesen, ob er das wirklich so aufschrieb. "Einen
Augenblick mal", herrje, dass ich immer in solchen Momenten erst
meine Brille aufsetzen musste! "Na ja", sagte er, "Sie
ärgern sich darüber, dass die Leute von Ihnen Unterhaltung
erwarten, statt dass man ihnen von hinten durchs Knie den Marsch
bläst." Jetzt hatte ich sein Tablet in der Hand und auch im
selben Augenblick den Wagenschlüssel vom Couchtisch gegriffen. "Ja,
so bringen wir das", wozu er auch nickte, frech, wie ich
weiterhin fand. Meinte er, ich wollte mir an dieser Stelle Ironie
gefallen lassen? Im Hinausgehen, was dachte er wohl, wo ich hin
wollte? - sah ich ihn die Füße auf meinen Couchtisch legen, nach
dem Manuskript angelnd. Als ich seine Wagentür aufschließen wollte,
kam ich sozusagen zur Besinnung. [B. Karl Decker]
IX.
Plenum
Aber die
Stille im Saal, die tiefe Aufmerksamkeit,
die
ringsumher alles in Bann hielt, wirkte auf ihn,
sie
weckte ihn förmlich aus seinem Dämmern.
[Thomas
Mann »Der
Zauberberg«]
Selbst
der einzige Reporter im Plenarsaal hielt inne, als der Vorstand die
Stufen zum Podest auf dem Weg zur vorläufig letzten Rede im Haus der
Literatur erklomm. Die Anspannung übertrug sich unmittelbar auf alle
Mitglieder der Versammlung, die an diesem denkwürdigen Tag nahezu
vollzählig erschienen waren. Der Vorstand blickte von seinem Podest
aus ungewöhnlich lange in die Gesichter der Anwesenden, teils als ob
er jemanden suchte, teils als wollte er jeden und jede einzeln vor
seiner Ansprache wahrnehmen.
Ein
Auszug aus der Rede sei im Folgenden wiedergegeben: »Der
Stellenwert von Literatur ist seit jeher ein eher fragwürdiger.
Welchen gesellschaftlichen und praktischen Nutzen ziehen wir aus der
Erkenntnissphäre eines Phänomens, das seit Jahrhunderten mühsam
mit Kategorien wie „Belletristik“, „Sachbuch“, „Lyrik“ et
cetera angepriesen wird? Let's file under: „Belletristik“ first!
[Zuruf]
„Belle“ ist da seit weit über einhundert Jahren kaum noch etwas
Ernstzunehmendes. [Erneuter
Zuruf]
Die Verlagslandschaft ist in zunehmendem Maße überfordert und
amerikanisiert. Agencies öffnen die Türen namhafter und
unabhängiger Verlagshäuser mit strengem und gescheitem Blick auf
schnelllebige Trends. Relevanz im literarhistorischen, aber auch im
politischen Sinne unterliegt allenfalls noch dem Zufallsprinzip. Gute
Beziehungen, namhafte Väter, Mütter, Ehemänner und Ehefrauen
erleichtern den Zugang in die Verlagslandschaft. Die Verkaufszahlen
bestimmt das Echo in den bekannten Medien sowie im elektronischen
Milieu. Den Rest erledigen selbsternannte Rezensentinnen und
Rezensenten etwa an den Ufern des Amazon, die Vox Populi also. Rasch
werden Stimmen laut, dies sei doch Wachstum, Vielfalt, Demokratie,
Zeichen einer offenen Gesellschaft und des Pluralismus. Der
Fortschritt gewährleistet Errungenschaften wie die
Aktiengesellschaft Suhrkamp, Fußballerbiographien bei Fischer oder
Rowohlt, ohne die Meilensteine der Gegenwartsliteratur gar nicht mehr
finanzierbar wären. Im Rahmen einer Kolumne, einer gedruckten
„Säule“, mag es genügen, das Dilemma derart anzudeuten. Gesetzt
den Fall, es regte sich ein Pflänzchen wie etwa Virginia Woolf im
deutschsprachigen Raum, es würde verwelken, ohne dass je jemand
Notiz davon nähme. Hie und da hängen sogar einige recht hartnäckige
Heroinnen und Heroen an den Fenstersimsen der Wolkenkratzer von Babel
und rufen: „Innovation!“, ohne zu wissen, dass im Büro ein
Psychologe lauert, der das Opfernarrativ des ewig missverstandenen
Ichs anmahnt. Ihm gegenüber reckt sich der Ökonome, der die
Kostenrechnung und Kostenanalyse parat hat und die Gescheiten wissen,
was bereits an den prunkvollen Eingangstüren des „Tour de Babel“
vernommen werden kann: „Jedes Jahr verunglücken hunderttausende
Vögel an Fensterscheiben.“ [Pause]
Der säulenartig anwachsende Analphabetismus sorgt dafür, dass im
Land der Dichter und Denker - Vorsicht: Realsatire! - weiterhin die
Diktatur der Emojis den Ton angibt: „Goethe ist geil.“ Goethe als
Gewährsmann für den Glamour der Warenwelt. Goethe on TV, Goethe in
der Nutellawerbung, Goethe, so etwa bei Thomas Bernhard, der große
Homöopath der Deutschen. Goethe im Mercedes, als Gast bei Markus
Lanz, Goethe, honoris causa, in der "Zeit" und bei der
FIFA. Das ist Größe, Freunde! Gewiss. Und Goethe regiert unter der
Kuppel des gläsernen Turms, der Vox Populi zum Trotz, den Status Quo
der um Versöhnlichkeit bemühten Schreiberinnen und Schreiber, die
sich nach wie vor scheuen, den Wachstumskolonialisten Einhalt zu
gebieten. Friede den Hütten!«
Ein
stillschweigendes Einverständnis überwog unter den ansonsten so
diskussionsfreudigen Mitgliedern der Versammlung. Nichtmals vonseiten
des Reporters wurde die Stille im Saal, die ringsumher alles in Bann
hielt, unterwandert. [Liana
Helas]
["The Insect Goddess", R. A. ol-Omoum]
X.
Im
Stein der Sphinx (Für Walter Zimmermann und Herbert Henck)
Ο
αληθινός Χριστός περπατάει και αγωνίζεται
μαζί με τους ανθρώπους.
Beginner's
Mind.
- Weit entfernt in einem Spiel der Mehrstimmigkeit Partei zu
ergreifen, blieb er - ganz im Sinne des Epilogs zu »Vom Nutzen des
Lassens« - schlicht selbst ein winz'ges Steinchen in dieser Welt.
Was konnte ihm wohl auch daran liegen, so fragte er sich, in einer
Fehde, von der er nichtmals wusste, wieviel an ihr fiktiv und wieviel
den Irrungen und Wirrungen realer Probleme entsprungen war, eine
Rolle einzunehmen, an einer Instrumentierung teilzunehmen, die aus
Bewegungen hervorging, deren Sinn sich ihm entzog? Gewiss wurde jede
Äußerung, gleich auf welcher Erfahrung sie beruhen, gleich aus
welcher Absicht heraus sie in die Welt geraten sein mochte, zu einem
Mosaiksteinchen in einem fragmentierten Meinungsbild, dessen
Bestandteile stets mehr aus Möglichkeiten als aus anderen Mächten
bestanden. Zum Spielball, wie gesagt wird, fremder Mächte zu werden,
war grundsätzlich das Risiko, die Gefahr, die das Sein in dem, was
wir »Welt« nennen, barg. Mit Steinen zu werfen, auch wenn es
singende Steine sein mochten, entsprach nicht seinem Entwurf des
Mosaiks. Dass man in dem ständigen Wandel des Gesamtbildes fliegende
Steine erkannte, war nicht auszuschließen. Am weitesten entfernt war
er indessen davon, in irgendeiner Form zu richten; aufrichtig
richtete er sich auf und sprach im Nachhinein: „Wer von euch ohne
Sünde ist, werfe als Erster einen Stein!“
Sollte
es wirklich und tatsächlich der Fall sein, dass der Adressat sich in
irgendeiner Weise einem ergebenen Freund gegenüber eigennützig und
allein daher unredlich verhalten hatte, so verurteilte er auch dies
nicht. Es gehörte im Falle seiner unmaßgeblichen Erfahrungen eben
beides zu den Fährten, die er fortwährend hinterließ, dass er
nämlich sowohl feindselig gestimmt war als auch als Feindbild
diente. Aus beiden Käfigen fand er, glücklicherweise hatte er nicht
den Umfang eines Kranichs, bisher geeignete Auswege und
Schlupflöcher, durch die er sie, ganz im Sinne des Credos eines
Käfers, auch wieder zu verlassen verstand. Sollte er künftig den
Eindruck erwecken, einen Stein in seinen Händen zu wiegen, um zu
einem Wurf auszuholen, durften die Anwesenden davon ausgehen, dass er
ihn allenfalls zum Schutz und zum Nutzen der Erde fallen lassen
werde. [Liana
Helas]
XI.
Kein
Mensch sieht den andern
"Natürlich
verstehe ich dich nicht", so etwas konnte Bertram treuherzig
sagen, Juliane hatte sich irgendwie daran gewöhnt, und seinem
Verhalten war auch keinerlei Distanz anzumerken. Im Gegenteil er war
der aufmerksamste, warmherzigste Freund, den sie je hatte. Also war
das einfach eine Marotte, eine Überzeugung, über die das Leben
schon lange hinweggegangen war. Aber da er sie einmal in der Jugend,
wer weiß unter welchen Verwicklungen, durch die man nun einmal
hindurch musste, wenn man je erwachsen wurde, gewonnen hatte, hatte
er sich an sie gewöhnt. So behielten auch Leute eine Frisur bei,
obwohl die Mode lange vorüber und das Haar auch schütter geworden
war. Anfangs hatte sie oft versucht, ihn davon zu überzeugen, dass
man sich natürlich verstehe. Deshalb diskutiere man doch. "Nein",
beharrte Bertram, "ich verstehe dich nicht. Es ist nicht deshalb,
warum ich dir widerspreche, ich bemerke bloß, dass das, was du
sagst, in sich nicht stimmt." - "Soll das heißen, ich
verstehe mich selber nicht?" - "Das auch, aber darüber
hinaus machst du, machen wir alle auch noch Fehler. Und die kann man
sehr wohl bemerken." - "Du verstehst dich also selber auch
nicht?" - "Natürlich, weil das, was ich denke, ich mir ja
nicht selber ausgedacht habe." - "Du denkst nicht, was du
denkst?" - "Klar, das habe ich gelernt, musste ich so
lernen, weil diese Gedanken die sind, die man hier und in der Zeit,
in der wir leben, lernt." - Es war nichts zu machen, vielleicht
sagte Bertram einfach etwas, was alle Menschen sagen konnten, ja
sogar sagen mussten, es aber nicht sagten. "Träumen",
meinte er, "kann man schon eher vertrauen. Zwar sprechen sie zu
uns auch in diesen vorgesehenen Bildern; aber sie machen doch klar,
dass sie nicht erzählen, was wir erlebt haben. Sie erheben sich über
die Logik unserer Wahrnehmung, ohne dass die dafür neue Bilder
schaffen müssten." - "Und die verstehst du dann?" -
"Ja", meinte Bertram, "und zwar, solange ich träume.
Dass man träumt, merkt man allerdings in dem Augenblick, in dem man
es eigentlich schon nicht mehr tut. Die Erinnerung daran ist
hauptsächlich die der Befangenheit im Traum, mag er noch so
unrealistisch gewesen sein. Im Aufwachen merke ich, wie nötig ich
diesen Traum hatte. Die daran sich anknüpfenden Gedanken verlieren
rasch an Überzeugungskraft; und überhaupt zieht sich der Traum dann
ins Vergessen zurück." Das mochte alles so sein, dachte
Juliane. Ob es aber das, was wir sahen und dachten, zur Illusion
machte, bloß weil es in sich stimmte und man mit anderen darin
übereinstimmen konnte? "Manchmal", sagte sie, "denke
ich, andere nicht zu verstehen, ist einfach bloß ein wenig
egoistisch von dir." Bertram, der nicht egoistisch sein wollte,
war dieser Vorwurf aber angenehmer als das unglückliche Gesicht, das
Juliane gewöhnlich machte, völlig unbegründet, wenn das leidige
Thema an den Himmel kam. Warum eigentlich wollte er ausgerechnet
diesen Gegenstand nicht als ebenso konventionell gelten lassen wie
jeden anderen? Juliane also verstehen,
so wie sie es erwartete, ihrer beider gute Laune etwas weniger
strapazierend? [B.
Karl Decker]
["Südwärts", Horst Paetzold (1978)]
XII.
Clouts
Die
Gemütsneigungen machen und zerstören alles.
Wenn
die Vernunft über die Welt herrschen möchte,
so
würde nichts auf derselben vorgehen.
Man
sagt, dass sich die Schiffer vor den stillen Meeren
aufs
äußerste fürchten sollen und dass sie sich Wind wünschen,
ob
gleich die Gefahr eines Ungewitters dabei zu besorgen ist.
Die
Gemütsbewegungen sind bei dem Menschen die Winde,
welche
notwendig sind, alles in Bewegung zu setzen,
ob
sie gleich bisweilen Sturm und Ungestüm erregen.
[Bernard
le Bovier de Fontenelle »Totengespräche«
(1683)]
Die
Freitreppe war nicht hoch.
[Samuel
Beckett »Der Ausgestoßene«
(1946)]
Drama,
sagte Lola unvermittelt, den Laptop auf ihrem Schoß hin und her
wiegend, sei kein Indikator für Tiefe. Ein lauer Wind drang durch
das halbgeöffnete Fenster in die Ferienwohnung an der Côte
d'Azur. Die ganze Zusammensetzung, dachte Gentz ein wenig gereizt,
einen schmalen Band mit Erzählungen in seiner Hand, nun darin
blätternd, ein Missgriff auf die Natur, eine Kapitulation vor dem
Gleißen der Hast. "Du sitzt in der Falle deiner Ideen; nichts
weiter", sagte er schließlich möglichst beiläufig, bevor er
nochmals umblätterte. Einer Schilderung, einem, wie er fand,
packenden, wenn auch vorübergehenden Eindruck der Dramatik einer
Momentaufnahme, konnte er bereits nicht mehr folgen, als Lola
begonnen hatte, ihren Gedanken stillschweigend vorzubereiten. Gentz
würde wenigstens sieben, so fasste er seine Situation nüchtern
zusammen, vielleicht sogar zehn unruhige Tage und Nächte benötigen,
um diesen Anschlag auf seinen Speicherplatz wieder zu bereinigen. Die
Datenübertragung, etwa wie die zwischen einer künstlichen
Intelligenz und einer Pflanze oder einem Gewässer, würde ihre
Spuren hinterlassen, mochte man den Konjunktiv, die reine
Möglichkeit, die Art und Weise des Urteilens, auch noch so sehr
missachten. Die Freitreppe sei nicht hoch gewesen; Zahlen – keiner
der unzähligen Algorithmen. Es sei eine Entscheidung, ob man
zerbräche oder nicht zerbräche, fuhr Lola fort. Die Tiefe einer
Treppe, ebenso ihre Höhe, könne natürlich nur eine künstlich
konstruierte sein, hörte sich Gentz sagen. Jedes Gespräch, gleich
wie belanglos es begann, barg die Kraft jederzeit auszuufern.
Behalte, dachte Gentz, den Gedanken bei dir, scherze, besinne dich
auf die Seite, die du aufgeschlagen hattest, bevor Lola von Tiefe
sprach, bevor sie ihn in Aufruhr versetzte. Echtes Leid verberge
sich, wirke gegebenenfalls ähnlich wie Ausgeglichenheit, was es
gewissermaßen notwendigerweise auch sei. Zerbrechen sei ein Luxus,
den man sich erst einmal leisten können müsse. Gentz dachte an den
Vater, der sich gelegentlich noch des Machtworts bediente. "Schweig
still", sagte er manchmal, "undankbares Volk, du siehst
einen Republikaner sterben." Er selbst indes lauschte dem
Aufsteigen der Melodie eines Kanons aus einem kurzen, aber bestimmten
und leicht fasslichen Satz, der ihn an Bratkartoffeln erinnerte, an
einfache Sätze wie: "Reiche mir die Butter!" Nochmals nahm
der Aufruhr indessen zu, als Lola, vielleicht um ihrem Gedanken die
nötigen Clouts
zu geben, endlich noch die Coolness
der
Gospels
erwähnte. Die Sklaven in den Südstaaten hätten um ihr psychisches
Überleben gesungen, was eine tiefe Coolness sei, während das
allgegenwärtige Geschrei des 21. Jahrhunderts in den
ausdifferenzierten Erste-Welt-Ländern eher dem Versuch nahekomme,
sich entgangene Tiefe herbeizuklagen. "Cooler nur der King of
Rock 'n' Roll, der aus diesem Erbe Kapital zu schlagen wusste",
raunte Gentz und versuchte gleichzeitig den Faden zu seiner
verdrängten Erzählung über die Freitreppe nicht zu verlieren,
behielt aber bloß den Schluss derselben. Kunst, so Lola, sei ja
nicht Klagen, sondern Sublimation – und indiskret wie das
Lamentieren sei sie, der Verfremdung wegen, letztlich auch nicht. Ums
Lamentieren, entgegnete Gentz nun doch mit einer gewissen Dramatik,
sei es aber doch niemals nicht gegangen; ums Anklagen schon eher.
"Anklagen", scherzte sie, "ist gut. Ach, - hätten wir
nur Gewaltenteilung." Es war inzwischen windstill geworden.
Gentz, ohne an Wunder zu glauben, stellte sich vor, wie das Meer sich teilte und der feurige Wagen mit Elia in den mediterranen Himmel
flog. [Liana
Helas]
["Kühn", Michelle Schneider (2019)]
XIII.
Frau
Liebe
Der
Cursor auf Kühns Computer hinter dem Wort "Liebe", das er
gerade getippt hatte, blinkte und irgendeine blödsinnige
Programmierung setzte sich wohl in Gang, wenn man nach so und so
vielen Sekunden nicht weiterschrieb. Jedenfalls blinkte jetzt das
komplette Wort, woraufhin Kühn versuchte weiterzutippen, so würde
das bescheuerte Blinken ja wohl aufhören. Aber es ließ sich gar
nichts tippen. Herr im Himmel, waren das Zeiten, als man noch von
Hand schrieb! Wenigstens war man einigermaßen Herr der Dinge. Nun
hatte wohl auch noch jemand seinen Computer gehackt, denn es
erschienen doch Wörter, die er allerdings nicht getippt hatte: "Frau
Liebe, wenn ich bitten darf." Kühn kannte nur eine einzige
Person dieses Namens, Frau Lieb hatte er sie konzilianterweise am
Telefon angesprochen, die Sachbearbeiterin vom Finanzamt. Aber sie
hieß tatsächlich Liebe. Das Finanzamt schrieb einem also in seine
privaten Tippereien hinein. Dieser Frau Liebe wollte er einmal
gehörig Bescheid stoßen. "Also passen Sie auf", die
Tastatur sprach wieder an! - "Wie meinen?", antwortete Frau
Liebe, während er noch ganz andere Worte schrieb, offenbar konnte
man ihm die Tastatur beliebig blockieren! Das war doch ein starkes
Stück! "Was heißt hier Stück?" Das ging nun gar nicht
mehr mit rechten Dingen zu, denn das hatte er ja gar nicht getippt,
sondern bloß hier als personaler Erzähler dem geneigten Publikum zu
wissen gegeben! "Nun mach nicht einen solchen Aufstand",
erschien prompt der Text auf seinem Bildschirm. Kühn hatte schon
davon gehört, das Profil des Tippens lasse sich analysieren, so dass
beispielsweise die Identität eines Internetnutzers festgestellt
werden konnte. Von da bis zum Gedankenlesen war es für einen
entsprechend gefütterten Rechner wohl nicht mehr mehr als ein
Katzensprung. Kühn blieb das Herz stehen. "Also, meine liebe
Frau Liebe", die Formulierung war idiotisch, ließ sich aber
immerhin tippen. - "Ja, bitte?" Es funktionierte also. "Das
geht doch nun wirklich nicht, dass Sie hier in meine Privatsphäre"
- "eindringen", vervollständigte sich der Satz, ohne
Tippen, das war heftig. Und wenn es nun so war, dass er an ein
Programm geraten war, das aufgrund seines Schreibhabitus den
wahrscheinlichsten nächsten Gedanken seinerseits errechnete? Dann
war es wenigstens nicht Frau Liebe vom Finanzamt, die ihm antwortete.
"Kluges Kerlchen", las er und fand nun doch, das sei genau
die Art von Frau Liebe vom Finanzamt, wie er sie kannte. Wie e r sie
kannte! "So lange du hier schreibst", las er - ohne zu
tippen, er stand der Sache schon etwas gelassener gegenüber, "wirst
du dich im Kreis deiner eigenen Gedanken drehen. Die Liebe, von der
du schreibst, das bin nicht ich, die Liebe." Kühn und Frau
Liebe standen voreinander wie Leute, die sich gegenseitig den
Vortritt lassen wollten. Einer musste am Ende den anderen den
Höflicheren sein lassen. Es gab Dinge, deren durfte man sich nicht
bewusst werden, sonst gab es im Leben kein Vorbeikommen. Die größte
Kunst des Seiltänzers schien es zu sein, über die dreißig Meter,
die unter ihm lagen, nicht anders zu denken als über die paar
Zentimeter, über denen man das Balancieren lernt. [B. Karl Decker]
http://riedel-henck.herbert-henck.de/index.php/fundstuecke/32-im-stein-der-sphinx-fuer-walter-zimmermann-und-herbert-henck
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