Montag, 10. Juni 2019

Bzw. ۲ ۲ ۹ [Acht »Nachträglichkeiten« für Christopher Ecker und euch]



["Gefäße", Werner Windisch (2002)]


I'll eat my words, I swear I will
If I am wrong I'll pay the bill
No cards for me, I'll look what's dealt
There's one here up my sleeve.
[From: Rory Gallagher »Eat My Words« (1970)]

Without contraries there is no progression.
Attraction and repulsion, reason and energy,
love and hate are necessary to human existence.
[From: William Blake »The Marriage of Heaven and Hell« (1790 - 1793)]



["Fleisch", Michelle Schneider (2019)]


VI.

Kannibalismus

Don't you know, little fool,
You never can win?
Why not use your mentality
- step up, wake up to reality?
But each time I do just the thought of you
Makes me stop just before I begin
'Cause I've got you under my skin.
Yes, I've got you under my skin.
[From: Cole Porter »I've Got You Under My Skin« (1936)]


Der außerordentliche Stellenwert des christlichen Nächstenliebegebotes gründet zweifellos in der Tatsache der bemerkenswert geringen Liebenswürdigkeit des Mitmenschen an sich. Jawohl, manche lieben wir mit verzweifelter Heftigkeit und hängen an ihnen wie an unseren sehnlichsten Wünschen überhaupt und insbesondere solchen bezüglich unserer eigenen Person. Jemanden zum Fressen gern zu haben vergegenwärtigt mehr als alles andere unseren grundsätzlichen Ekel vor anderen Menschen. Ausnahmsweise kann diese Abneigung einmal zurücktreten. Man hüte sich aber vor zu hohen Erwartungen.
Auch der Kannibalismus stößt naturgemäß an diese Grenze. Sein Verbot artikuliert entgegen allem Anschein die geringe Neigung zum Körper unseres Mitmenschen. Keineswegs haben wir großen Appetit auf ein Schnitzel oder einen Schinken von ihm. Schon unserem Appetit auf Pferdefleisch sind enge Grenzen gesteckt, ist doch das Pferd Träger unserer großen Sympathien, da wir es reiten und es uns somit zum Ritter macht oder zur Amazone. Von grausamen Tyrannen ist bekannt, dass sie ihren Gefangenen kannibalische Speisen vorsetzen, von Genossen und Angehörigen bis hin zu ihren eigenen Amputaten, um der Sache die Krone aufzusetzen beispielsweise die Residuen ihrer Kastration.
Speiseverbote berühren den Menschen an einem Konstituens seines Daseins. Der Mensch muss essen und tut es mit Lust; sollte er sich angesichts seiner Not nicht eigentlich auflehnen gegen diese Tyrannei? Die Bewältigung seines Schicksals unter dem Terror des Stoffwechsels geschieht indessen in Form der Sanktionierung des Essens. Was und wie gegessen werden darf und soll, auch in wessen Gesellschaft, das ersetzt die Alternative, nämlich überhaupt nicht zu essen. Manche Speisen dürfen eben nicht genossen werden, wenn sie auch noch so nahrhaft wären und auch gar nicht schädlich. Von Pferd bis Mensch tut sich noch eine lange Reihe verbotener Speisen auf, mehr oder weniger verboten, also von der sozialen Speisekarte beliebigen gesellschaftlichen Kontextes, beispielsweise des regionalen, gestrichen.
Da wir die Provokation lieben, machen wir auf diese offensichtlichen Sachverhalte aufmerksam und verschmähen den Zitronenarm unseres Dichters nicht, wenn wir auch selber leicht schaudern angesichts des anderen Armes der Geliebten, der noch im Eisfach liegt, ganz wie die Torsi furchtbarer Frauen- und Serienmörder, die in finsteren Waschküchen ihrer schrecklichen Verirrung frönen. [B. Karl Decker]



["In Eis", Michelle Schneider (2019)]

VII.

Metzger

Nous sommes tous des cannibales.
Après tout, le moyen le plus simple d’identifier autrui à soi-même,
c’est encore de le manger. [Claude Lévi-Strauss]


Manfred Metzger, von seinen Genossinnen und Genossen liebevoll Manni, von den ihm weniger wohlgesonnenen schlicht Metzger genannt, Maler und Bildhauer, vor geraumer Zeit einmal weltweit erfolgreich, zumindest in den entsprechenden Kreisen, liebte das gesellschaftliche Ereignis, festlich zelebrierte Empfänge und pflegte ein deftiges, bisweilen wollüstiges Verhältnis zu seinen Mitmenschen, insbesondere zu seinen beiden Töchtern sowie zur Tochter seines jüngeren Bruders Melchior, einem Lehrstuhlinhaber für innovatives Markenmanagement, deren Zuneigung zu ihrem Onkel für viele der Anwesenden die Grenzen des guten Geschmacks überschritt, sodass es nicht weiter überraschte, wenn sich die Zusammensetzung der Gesellschaften kaum wiederholte. Die Brüder, so betonten und wiederholten es beide oft, waren gleichzeitig von ihren Lebensgefährtinnen verlassen worden.
Abgestoßen von dem, wie er es nannte, protzigen Hype, in dem die Galeristinnen und Galeristen Europas und aus Übersee dem Publikum seine Werke präsentierten, zog er es seit geraumer Zeit vor, seine Gäste, je mehr und je unterschiedlicher, desto besser, selbst auszuwählen. Als Ehrengast wählte Metzger meist einen politischen Würdenträger aus, dem er, so drückte er sich gern aus, den ideologisch eingedünsteten Kopf zu düngen gedachte.
Im Mittelpunkt der Festlichkeiten standen neben einer von Mahl zu Mahl abwechselnden Plastik oder einem seiner üppigen Aktgemälde mehrere Platten mit saftigen, reichlich mit Camembert gefüllten Lenden, die traditionsgemäß von seinen drei Mädchen zubereitet und ausschließlich mit französischem Weißbrot, Oliven und frisch geschnittenen, in Eis eingelegten Zitronen von ihnen serviert wurden. Hierzu trank man, auch dies eine ungebrochene Tradition, einen hochwertigen »Primitivo di Manduria« vom Absatz des italienischen Stiefels.
Zur Eröffnung des Büfetts hob Metzger meist ein gut gefülltes Glas mit der linken Hand, während er mit der rechten die Lende seiner Nichte presste, manchmal auch schlug, um seine Rede auf besonders joviale Weise zu unterstreichen. Nicht selten verschüttete er den Wein in Richtung der ihm zugewandten Gäste, vor allem aber in Richtung der Nichte, die dies jedoch willfährig geschehen ließ. Seine Töchter hingegen begleiteten solche ausufernden Rituale in der Regel mit kreischendem Lachen, ganz als ob sie ihren Vater bei einer Orgie anheizen wollten.
"Dass der Lauf der Dinge", so hob er etwa dem Marxisten Mehring gegenüber einmal an, "wie sie nun einmal sind beziehungsweise geworden sind, sich nicht nach derartig trockenen Rezepten korrigieren lässt, zeigen allenfalls die Abschnitte der Geschichte, die dem Verfasser der Pariser Manuskripte zu seinen Gunsten erspart geblieben sind. Heute wirkt so mancher Abschnitt aus den Schriften des jungen Karlchens, als habe sich das Kerlchen bei seinem Versuch, die Welt zu einem besseren Örtchen zu machen, ein in sich schon zutiefst religiöser und romantischer Gedanke, gut zureden wollen, sich, gespickt mit würzigen Imperativen und fein abgeschmeckten Modalverben, den Appetit hinsichtlich der Unwirtlichkeit des Ist-Zustands nicht nur nicht verderben, sondern ihn sich mit dem halbtrockenen Tischwein der Intellektualität besonders schmackhaft machen lassen. Hut ab vor dem jugendlichen Übermut des Kritikers der Kritik! Gewiss würde der altbackene Weise von der Mosel heute eher Kochbücher verfassen angesichts des Schlamassels, den seine Jünger und Philister mit seinen frommen Weltverbesserungsattitüden angerichtet haben. Mag sich Marx in den Reihen bedeutender Religionsstifter auch ein wenig unbehaglich fühlen, führte auch seine auserlesene Sorgfalt letztlich zu einer Anpassung an die Dinge, wie sie nun einmal sind."
Metzger, der ohnehin kein Interesse an Dialogen hatte, beendete das Gespräch, indem er sein Gesicht lange im Dekolleté seiner Nichte verschwinden ließ, während sein Bruder seinerseits seiner Tischnachbarin nüchtern erläuterte, welche Vorteile es dem Markt böte, wenn eine Marke eine andere auffräße. [Liana Helas]


VIII.

Das Interview

Die Sache ließ sich ruhig an. Der Termin war seit Wochen klar, man wundert sich, woher andere Leute so viel Zeit nehmen, jedenfalls schienen sie sich besser zu organisieren als ich. Sie hatten diesen jungen Typen zu mir geschickt, fast noch ein Kind, dachte ich. Der Wagen neu, ein Fahrzeug der Zeitung, ohne Aufschrift, aber erkennbar ein Dienstwagen, ein junger Mann würde sich privat kein neues, derart belangloses Auto kaufen. Turnschuhe, zerfetzte Jeans, so etwas trug man heutzutage auch, wenn man Reporter war, - eigentlich logisch - wie das Publikum auch. Professionelles Equipment, man sah, dass Herr Heller, jedenfalls für den Anfang siezte man sich noch, kein Praktikant oder sonst ein Anfänger war.
Dann also, wenn auch ohne Eile, aber gleich zur Sache: Was das Ziel unserer Vereinigung sei? Natürlich wollte ich nicht, dass die Leute ein paar Tage vor dem Kongress in der Zeitung lasen, was ich dann sagen würde. Überhaupt das Ziel unvermittelt zu nennen, würde ohne die Argumentation, die ich mir in langen Nächten zurechtgelegt hatte, falsch verstanden werden. Das Manuskript lag ja auf dem Couchtisch, und während ich Luft holte in der Absicht die Energie des Angriffes zur Verteidigung zu nutzen, "nun", sagte ich. Er sah wohl an meinem Blick, worauf die Sache für ihn hinauslaufen sollte und antwortete selbst: "Sie wollen die Leute wieder dazu kriegen, sich von Ihnen beibringen zu lassen, was mit ihnen nicht stimmt." Das fand ich nun ziemlich frech und wollte auf seinem Tablet nachlesen, ob er das wirklich so aufschrieb. "Einen Augenblick mal", herrje, dass ich immer in solchen Momenten erst meine Brille aufsetzen musste! "Na ja", sagte er, "Sie ärgern sich darüber, dass die Leute von Ihnen Unterhaltung erwarten, statt dass man ihnen von hinten durchs Knie den Marsch bläst." Jetzt hatte ich sein Tablet in der Hand und auch im selben Augenblick den Wagenschlüssel vom Couchtisch gegriffen. "Ja, so bringen wir das", wozu er auch nickte, frech, wie ich weiterhin fand. Meinte er, ich wollte mir an dieser Stelle Ironie gefallen lassen? Im Hinausgehen, was dachte er wohl, wo ich hin wollte? - sah ich ihn die Füße auf meinen Couchtisch legen, nach dem Manuskript angelnd. Als ich seine Wagentür aufschließen wollte, kam ich sozusagen zur Besinnung. [B. Karl Decker]


IX.

Plenum

Aber die Stille im Saal, die tiefe Aufmerksamkeit,
die ringsumher alles in Bann hielt, wirkte auf ihn,
sie weckte ihn förmlich aus seinem Dämmern.
[Thomas Mann »Der Zauberberg«]


Selbst der einzige Reporter im Plenarsaal hielt inne, als der Vorstand die Stufen zum Podest auf dem Weg zur vorläufig letzten Rede im Haus der Literatur erklomm. Die Anspannung übertrug sich unmittelbar auf alle Mitglieder der Versammlung, die an diesem denkwürdigen Tag nahezu vollzählig erschienen waren. Der Vorstand blickte von seinem Podest aus ungewöhnlich lange in die Gesichter der Anwesenden, teils als ob er jemanden suchte, teils als wollte er jeden und jede einzeln vor seiner Ansprache wahrnehmen.
Ein Auszug aus der Rede sei im Folgenden wiedergegeben: »Der Stellenwert von Literatur ist seit jeher ein eher fragwürdiger. Welchen gesellschaftlichen und praktischen Nutzen ziehen wir aus der Erkenntnissphäre eines Phänomens, das seit Jahrhunderten mühsam mit Kategorien wie „Belletristik“, „Sachbuch“, „Lyrik“ et cetera angepriesen wird? Let's file under: „Belletristik“ first! [Zuruf] „Belle“ ist da seit weit über einhundert Jahren kaum noch etwas Ernstzunehmendes. [Erneuter Zuruf] Die Verlagslandschaft ist in zunehmendem Maße überfordert und amerikanisiert. Agencies öffnen die Türen namhafter und unabhängiger Verlagshäuser mit strengem und gescheitem Blick auf schnelllebige Trends. Relevanz im literarhistorischen, aber auch im politischen Sinne unterliegt allenfalls noch dem Zufallsprinzip. Gute Beziehungen, namhafte Väter, Mütter, Ehemänner und Ehefrauen erleichtern den Zugang in die Verlagslandschaft. Die Verkaufszahlen bestimmt das Echo in den bekannten Medien sowie im elektronischen Milieu. Den Rest erledigen selbsternannte Rezensentinnen und Rezensenten etwa an den Ufern des Amazon, die Vox Populi also. Rasch werden Stimmen laut, dies sei doch Wachstum, Vielfalt, Demokratie, Zeichen einer offenen Gesellschaft und des Pluralismus. Der Fortschritt gewährleistet Errungenschaften wie die Aktiengesellschaft Suhrkamp, Fußballerbiographien bei Fischer oder Rowohlt, ohne die Meilensteine der Gegenwartsliteratur gar nicht mehr finanzierbar wären. Im Rahmen einer Kolumne, einer gedruckten „Säule“, mag es genügen, das Dilemma derart anzudeuten. Gesetzt den Fall, es regte sich ein Pflänzchen wie etwa Virginia Woolf im deutschsprachigen Raum, es würde verwelken, ohne dass je jemand Notiz davon nähme. Hie und da hängen sogar einige recht hartnäckige Heroinnen und Heroen an den Fenstersimsen der Wolkenkratzer von Babel und rufen: „Innovation!“, ohne zu wissen, dass im Büro ein Psychologe lauert, der das Opfernarrativ des ewig missverstandenen Ichs anmahnt. Ihm gegenüber reckt sich der Ökonome, der die Kostenrechnung und Kostenanalyse parat hat und die Gescheiten wissen, was bereits an den prunkvollen Eingangstüren des „Tour de Babel“ vernommen werden kann: „Jedes Jahr verunglücken hunderttausende Vögel an Fensterscheiben.“ [Pause] Der säulenartig anwachsende Analphabetismus sorgt dafür, dass im Land der Dichter und Denker - Vorsicht: Realsatire! - weiterhin die Diktatur der Emojis den Ton angibt: „Goethe ist geil.“ Goethe als Gewährsmann für den Glamour der Warenwelt. Goethe on TV, Goethe in der Nutellawerbung, Goethe, so etwa bei Thomas Bernhard, der große Homöopath der Deutschen. Goethe im Mercedes, als Gast bei Markus Lanz, Goethe, honoris causa, in der "Zeit" und bei der FIFA. Das ist Größe, Freunde! Gewiss. Und Goethe regiert unter der Kuppel des gläsernen Turms, der Vox Populi zum Trotz, den Status Quo der um Versöhnlichkeit bemühten Schreiberinnen und Schreiber, die sich nach wie vor scheuen, den Wachstumskolonialisten Einhalt zu gebieten. Friede den Hütten!«
Ein stillschweigendes Einverständnis überwog unter den ansonsten so diskussionsfreudigen Mitgliedern der Versammlung. Nichtmals vonseiten des Reporters wurde die Stille im Saal, die ringsumher alles in Bann hielt, unterwandert. [Liana Helas]






["The Insect Goddess", R. A. ol-Omoum]




X.

Im Stein der Sphinx (Für Walter Zimmermann und Herbert Henck)


Ο αληθινός Χριστός περπατάει και αγωνίζεται μαζί με τους ανθρώπους.
[Νίκος Καζαντζάκης]


The sun shone, having no alternative, on the nothing new.
[Samuel Beckett]


Beginner's Mind. - Weit entfernt in einem Spiel der Mehrstimmigkeit Partei zu ergreifen, blieb er - ganz im Sinne des Epilogs zu »Vom Nutzen des Lassens« - schlicht selbst ein winz'ges Steinchen in dieser Welt. Was konnte ihm wohl auch daran liegen, so fragte er sich, in einer Fehde, von der er nichtmals wusste, wieviel an ihr fiktiv und wieviel den Irrungen und Wirrungen realer Probleme entsprungen war, eine Rolle einzunehmen, an einer Instrumentierung teilzunehmen, die aus Bewegungen hervorging, deren Sinn sich ihm entzog? Gewiss wurde jede Äußerung, gleich auf welcher Erfahrung sie beruhen, gleich aus welcher Absicht heraus sie in die Welt geraten sein mochte, zu einem Mosaiksteinchen in einem fragmentierten Meinungsbild, dessen Bestandteile stets mehr aus Möglichkeiten als aus anderen Mächten bestanden. Zum Spielball, wie gesagt wird, fremder Mächte zu werden, war grundsätzlich das Risiko, die Gefahr, die das Sein in dem, was wir »Welt« nennen, barg. Mit Steinen zu werfen, auch wenn es singende Steine sein mochten, entsprach nicht seinem Entwurf des Mosaiks. Dass man in dem ständigen Wandel des Gesamtbildes fliegende Steine erkannte, war nicht auszuschließen. Am weitesten entfernt war er indessen davon, in irgendeiner Form zu richten; aufrichtig richtete er sich auf und sprach im Nachhinein: „Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als Erster einen Stein!“
Sollte es wirklich und tatsächlich der Fall sein, dass der Adressat sich in irgendeiner Weise einem ergebenen Freund gegenüber eigennützig und allein daher unredlich verhalten hatte, so verurteilte er auch dies nicht. Es gehörte im Falle seiner unmaßgeblichen Erfahrungen eben beides zu den Fährten, die er fortwährend hinterließ, dass er nämlich sowohl feindselig gestimmt war als auch als Feindbild diente. Aus beiden Käfigen fand er, glücklicherweise hatte er nicht den Umfang eines Kranichs, bisher geeignete Auswege und Schlupflöcher, durch die er sie, ganz im Sinne des Credos eines Käfers, auch wieder zu verlassen verstand. Sollte er künftig den Eindruck erwecken, einen Stein in seinen Händen zu wiegen, um zu einem Wurf auszuholen, durften die Anwesenden davon ausgehen, dass er ihn allenfalls zum Schutz und zum Nutzen der Erde fallen lassen werde. [Liana Helas]


XI.

Kein Mensch sieht den andern

"Natürlich verstehe ich dich nicht", so etwas konnte Bertram treuherzig sagen, Juliane hatte sich irgendwie daran gewöhnt, und seinem Verhalten war auch keinerlei Distanz anzumerken. Im Gegenteil er war der aufmerksamste, warmherzigste Freund, den sie je hatte. Also war das einfach eine Marotte, eine Überzeugung, über die das Leben schon lange hinweggegangen war. Aber da er sie einmal in der Jugend, wer weiß unter welchen Verwicklungen, durch die man nun einmal hindurch musste, wenn man je erwachsen wurde, gewonnen hatte, hatte er sich an sie gewöhnt. So behielten auch Leute eine Frisur bei, obwohl die Mode lange vorüber und das Haar auch schütter geworden war. Anfangs hatte sie oft versucht, ihn davon zu überzeugen, dass man sich natürlich verstehe. Deshalb diskutiere man doch. "Nein", beharrte Bertram, "ich verstehe dich nicht. Es ist nicht deshalb, warum ich dir widerspreche, ich bemerke bloß, dass das, was du sagst, in sich nicht stimmt." - "Soll das heißen, ich verstehe mich selber nicht?" - "Das auch, aber darüber hinaus machst du, machen wir alle auch noch Fehler. Und die kann man sehr wohl bemerken." - "Du verstehst dich also selber auch nicht?" - "Natürlich, weil das, was ich denke, ich mir ja nicht selber ausgedacht habe." - "Du denkst nicht, was du denkst?" - "Klar, das habe ich gelernt, musste ich so lernen, weil diese Gedanken die sind, die man hier und in der Zeit, in der wir leben, lernt." - Es war nichts zu machen, vielleicht sagte Bertram einfach etwas, was alle Menschen sagen konnten, ja sogar sagen mussten, es aber nicht sagten. "Träumen", meinte er, "kann man schon eher vertrauen. Zwar sprechen sie zu uns auch in diesen vorgesehenen Bildern; aber sie machen doch klar, dass sie nicht erzählen, was wir erlebt haben. Sie erheben sich über die Logik unserer Wahrnehmung, ohne dass die dafür neue Bilder schaffen müssten." - "Und die verstehst du dann?" - "Ja", meinte Bertram, "und zwar, solange ich träume. Dass man träumt, merkt man allerdings in dem Augenblick, in dem man es eigentlich schon nicht mehr tut. Die Erinnerung daran ist hauptsächlich die der Befangenheit im Traum, mag er noch so unrealistisch gewesen sein. Im Aufwachen merke ich, wie nötig ich diesen Traum hatte. Die daran sich anknüpfenden Gedanken verlieren rasch an Überzeugungskraft; und überhaupt zieht sich der Traum dann ins Vergessen zurück." Das mochte alles so sein, dachte Juliane. Ob es aber das, was wir sahen und dachten, zur Illusion machte, bloß weil es in sich stimmte und man mit anderen darin übereinstimmen konnte? "Manchmal", sagte sie, "denke ich, andere nicht zu verstehen, ist einfach bloß ein wenig egoistisch von dir." Bertram, der nicht egoistisch sein wollte, war dieser Vorwurf aber angenehmer als das unglückliche Gesicht, das Juliane gewöhnlich machte, völlig unbegründet, wenn das leidige Thema an den Himmel kam. Warum eigentlich wollte er ausgerechnet diesen Gegenstand nicht als ebenso konventionell gelten lassen wie jeden anderen? Juliane also verstehen, so wie sie es erwartete, ihrer beider gute Laune etwas weniger strapazierend? [B. Karl Decker]






["Südwärts", Horst Paetzold (1978)]



XII.

Clouts

Die Gemütsneigungen machen und zerstören alles.
Wenn die Vernunft über die Welt herrschen möchte,
so würde nichts auf derselben vorgehen.
Man sagt, dass sich die Schiffer vor den stillen Meeren
aufs äußerste fürchten sollen und dass sie sich Wind wünschen,
ob gleich die Gefahr eines Ungewitters dabei zu besorgen ist.
Die Gemütsbewegungen sind bei dem Menschen die Winde,
welche notwendig sind, alles in Bewegung zu setzen,
ob sie gleich bisweilen Sturm und Ungestüm erregen.
[Bernard le Bovier de Fontenelle »Totengespräche« (1683)]


Die Freitreppe war nicht hoch.
[Samuel Beckett »Der Ausgestoßene« (1946)]


Drama, sagte Lola unvermittelt, den Laptop auf ihrem Schoß hin und her wiegend, sei kein Indikator für Tiefe. Ein lauer Wind drang durch das halbgeöffnete Fenster in die Ferienwohnung an der Côte d'Azur. Die ganze Zusammensetzung, dachte Gentz ein wenig gereizt, einen schmalen Band mit Erzählungen in seiner Hand, nun darin blätternd, ein Missgriff auf die Natur, eine Kapitulation vor dem Gleißen der Hast. "Du sitzt in der Falle deiner Ideen; nichts weiter", sagte er schließlich möglichst beiläufig, bevor er nochmals umblätterte. Einer Schilderung, einem, wie er fand, packenden, wenn auch vorübergehenden Eindruck der Dramatik einer Momentaufnahme, konnte er bereits nicht mehr folgen, als Lola begonnen hatte, ihren Gedanken stillschweigend vorzubereiten. Gentz würde wenigstens sieben, so fasste er seine Situation nüchtern zusammen, vielleicht sogar zehn unruhige Tage und Nächte benötigen, um diesen Anschlag auf seinen Speicherplatz wieder zu bereinigen. Die Datenübertragung, etwa wie die zwischen einer künstlichen Intelligenz und einer Pflanze oder einem Gewässer, würde ihre Spuren hinterlassen, mochte man den Konjunktiv, die reine Möglichkeit, die Art und Weise des Urteilens, auch noch so sehr missachten. Die Freitreppe sei nicht hoch gewesen; Zahlen – keiner der unzähligen Algorithmen. Es sei eine Entscheidung, ob man zerbräche oder nicht zerbräche, fuhr Lola fort. Die Tiefe einer Treppe, ebenso ihre Höhe, könne natürlich nur eine künstlich konstruierte sein, hörte sich Gentz sagen. Jedes Gespräch, gleich wie belanglos es begann, barg die Kraft jederzeit auszuufern. Behalte, dachte Gentz, den Gedanken bei dir, scherze, besinne dich auf die Seite, die du aufgeschlagen hattest, bevor Lola von Tiefe sprach, bevor sie ihn in Aufruhr versetzte. Echtes Leid verberge sich, wirke gegebenenfalls ähnlich wie Ausgeglichenheit, was es gewissermaßen notwendigerweise auch sei. Zerbrechen sei ein Luxus, den man sich erst einmal leisten können müsse. Gentz dachte an den Vater, der sich gelegentlich noch des Machtworts bediente. "Schweig still", sagte er manchmal, "undankbares Volk, du siehst einen Republikaner sterben." Er selbst indes lauschte dem Aufsteigen der Melodie eines Kanons aus einem kurzen, aber bestimmten und leicht fasslichen Satz, der ihn an Bratkartoffeln erinnerte, an einfache Sätze wie: "Reiche mir die Butter!" Nochmals nahm der Aufruhr indessen zu, als Lola, vielleicht um ihrem Gedanken die nötigen Clouts zu geben, endlich noch die Coolness der Gospels erwähnte. Die Sklaven in den Südstaaten hätten um ihr psychisches Überleben gesungen, was eine tiefe Coolness sei, während das allgegenwärtige Geschrei des 21. Jahrhunderts in den ausdifferenzierten Erste-Welt-Ländern eher dem Versuch nahekomme, sich entgangene Tiefe herbeizuklagen. "Cooler nur der King of Rock 'n' Roll, der aus diesem Erbe Kapital zu schlagen wusste", raunte Gentz und versuchte gleichzeitig den Faden zu seiner verdrängten Erzählung über die Freitreppe nicht zu verlieren, behielt aber bloß den Schluss derselben. Kunst, so Lola, sei ja nicht Klagen, sondern Sublimation – und indiskret wie das Lamentieren sei sie, der Verfremdung wegen, letztlich auch nicht. Ums Lamentieren, entgegnete Gentz nun doch mit einer gewissen Dramatik, sei es aber doch niemals nicht gegangen; ums Anklagen schon eher. "Anklagen", scherzte sie, "ist gut. Ach, - hätten wir nur Gewaltenteilung." Es war inzwischen windstill geworden. Gentz, ohne an Wunder zu glauben, stellte sich vor, wie das Meer sich teilte und der feurige Wagen mit Elia in den mediterranen Himmel flog. [Liana Helas]



["Kühn", Michelle Schneider (2019)]


XIII.

Frau Liebe

Der Cursor auf Kühns Computer hinter dem Wort "Liebe", das er gerade getippt hatte, blinkte und irgendeine blödsinnige Programmierung setzte sich wohl in Gang, wenn man nach so und so vielen Sekunden nicht weiterschrieb. Jedenfalls blinkte jetzt das komplette Wort, woraufhin Kühn versuchte weiterzutippen, so würde das bescheuerte Blinken ja wohl aufhören. Aber es ließ sich gar nichts tippen. Herr im Himmel, waren das Zeiten, als man noch von Hand schrieb! Wenigstens war man einigermaßen Herr der Dinge. Nun hatte wohl auch noch jemand seinen Computer gehackt, denn es erschienen doch Wörter, die er allerdings nicht getippt hatte: "Frau Liebe, wenn ich bitten darf." Kühn kannte nur eine einzige Person dieses Namens, Frau Lieb hatte er sie konzilianterweise am Telefon angesprochen, die Sachbearbeiterin vom Finanzamt. Aber sie hieß tatsächlich Liebe. Das Finanzamt schrieb einem also in seine privaten Tippereien hinein. Dieser Frau Liebe wollte er einmal gehörig Bescheid stoßen. "Also passen Sie auf", die Tastatur sprach wieder an! - "Wie meinen?", antwortete Frau Liebe, während er noch ganz andere Worte schrieb, offenbar konnte man ihm die Tastatur beliebig blockieren! Das war doch ein starkes Stück! "Was heißt hier Stück?" Das ging nun gar nicht mehr mit rechten Dingen zu, denn das hatte er ja gar nicht getippt, sondern bloß hier als personaler Erzähler dem geneigten Publikum zu wissen gegeben! "Nun mach nicht einen solchen Aufstand", erschien prompt der Text auf seinem Bildschirm. Kühn hatte schon davon gehört, das Profil des Tippens lasse sich analysieren, so dass beispielsweise die Identität eines Internetnutzers festgestellt werden konnte. Von da bis zum Gedankenlesen war es für einen entsprechend gefütterten Rechner wohl nicht mehr mehr als ein Katzensprung. Kühn blieb das Herz stehen. "Also, meine liebe Frau Liebe", die Formulierung war idiotisch, ließ sich aber immerhin tippen. - "Ja, bitte?" Es funktionierte also. "Das geht doch nun wirklich nicht, dass Sie hier in meine Privatsphäre" - "eindringen", vervollständigte sich der Satz, ohne Tippen, das war heftig. Und wenn es nun so war, dass er an ein Programm geraten war, das aufgrund seines Schreibhabitus den wahrscheinlichsten nächsten Gedanken seinerseits errechnete? Dann war es wenigstens nicht Frau Liebe vom Finanzamt, die ihm antwortete. "Kluges Kerlchen", las er und fand nun doch, das sei genau die Art von Frau Liebe vom Finanzamt, wie er sie kannte. Wie e r sie kannte! "So lange du hier schreibst", las er - ohne zu tippen, er stand der Sache schon etwas gelassener gegenüber, "wirst du dich im Kreis deiner eigenen Gedanken drehen. Die Liebe, von der du schreibst, das bin nicht ich, die Liebe." Kühn und Frau Liebe standen voreinander wie Leute, die sich gegenseitig den Vortritt lassen wollten. Einer musste am Ende den anderen den Höflicheren sein lassen. Es gab Dinge, deren durfte man sich nicht bewusst werden, sonst gab es im Leben kein Vorbeikommen. Die größte Kunst des Seiltänzers schien es zu sein, über die dreißig Meter, die unter ihm lagen, nicht anders zu denken als über die paar Zentimeter, über denen man das Balancieren lernt. [B. Karl Decker]



2 Kommentare:

  1. http://riedel-henck.herbert-henck.de/index.php/fundstuecke/32-im-stein-der-sphinx-fuer-walter-zimmermann-und-herbert-henck

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  2. https://lianahelas.blogspot.com/2019/02/bzw-funf-intermezzi-uber-andere-hafen.html

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