Der
Schein erleuchteter Fenster fiel auf das nasse Trottoir. Es regnete
und tropfte unaufhörlich. Eine leise Trauer schien auf allen
Gegenständen zu liegen, auf den Pflastersteinen, auf der Gosse, in
der das abfließende Wasser gleichmäßig hüpfte, auf den Häusern,
auf den vorübereilenden Menschen. Eben kamen zwei junge
Fabrikarbeiterinnen vorbei. "So, du hast Antwort gekriegt?",
sagte die Ältere, und nach einer Weile: "Warte! Hier im
Hausgang brennt Licht, da lesen wir's!"
Beide
schlüpften in eine schmutzige, zugige, schlecht erleuchtete
Torfahrt, die, obwohl auch hier die Kälte sich einnistete, doch
wenigstens den Regen abhielt. Sie lasen den Brief, den die Jüngere
aus einem Kuvert zog. Da stand:
Frankreich,
2. September
Sehr
geehrtes Fräulein!
Teile
Ihnen mit, dass Ihr werter Brief hier eingetroffen ist. Ich habe ihn
in einer Munitionskiste, in die ihn ein Kamerad gelegt hat, entdeckt
und an mich genommen. Es freut uns sehr, wenn uns jemand schreibt.
Nicht nur die Eltern oder Geschwister! Es macht uns Spaß zu denken,
dass wir im Urlaub oder wenn Schluss ist, eine kleine Sie am Arm
führen dürfen. Bitte, schreiben Sie mir bald!
Mit
vielen herzlichen Grüßen
Kanonier
N. M.
Feldpostnummer
35/879
Dieser
Brief kam von der Westfront. Ein Briefwechsel, bei dem sich Absender
und Empfänger nicht kennen, entspann sich hier. Der Absender war
ohne Zweifel – das ließ sich seinem Schreiben entnehmen – ein
netter, junger Mann. Die Adressatin war ein junges und doch schon alt
aussehendes Geschöpf; sie sah aus, als wäre sie nie jung gewesen.
Ineinander verschlungene Brauen, unter denen sich schwermütige Lider
auf und ab bewegten, beherrschten ihr Gesicht. Sie wirkte befremdend,
etwas einer Rassenschranke Vergleichbares schien um sie aufgerichtet.
Ihr
fahles, gelbliches Gesicht erinnerte an den fernen Osten, wo die
Menschen, wenn die Sonne im Aufgehen ist, niederstürzen, Gebete
stammeln und sich kasteien.
Sie
war die jüngere der beiden in der Torfahrt stehenden Mädchen,
schien aber älter und verbrauchter als die Gefährtin.
Was
sagte ihr geschlossener, dünner Mund? Was war auf der niedrigen
Stirn unter dem glatten, gescheitelten Haar zu lesen?
War
sie, da sie den Brief in der Hand hielt, glücklich? Oder verzichtete
sie auch jetzt, im Vorgefühl davon, dass sie ja doch nie dem Hasten
und Jagen der anderen nach Glück sich zugesellen noch je
Befriedigung aus ihm schöpfen werde, auf Lust und Freude?
Sie
war das Kind eines Trinkers, eines Mannes, der vor kurzem, als er in
der Fabrik, noch taumelig von der durchzechten Nacht, an die
Starkstromleitung gegriffen hatte, über und über verbrannt zu Boden
gestürzt war. Doch ganz leise gab sie jetzt zwischen den Wänden, in
denen sich der Wind verfing, einem neuen Wunsch Raum, der aus der
Tiefe ihres Herzens aufstieg.
Aus
der totenähnlichen Ruhe ihrer Seele erhob sich, vergleichbar einem
das Wild witternden Wolf, ein brennendes Liebesverlangen. Sie fühlte
ihr Herz klopfen; ihre Brust wogte. Los und ledig aller Fesseln
erwartete sie – nicht mehr verlassen, sondern mit einem eigenen
Erleben beschenkt – die Zukunft.
Außer
Essen und Schlafen empfand sie jetzt andere, dringendere Bedürfnisse.
Spaziergänge machen, ins Kino gehen, wandern, Blumen und Beeren
pflücken – das könnte sie doch sicher auch! Und tanzen, tanzen
... Aber so weit würde sie nicht kommen; das würde ihr nicht
gelingen; das stand ihr nicht zu. Doch, zusammen mit ihm in einem
Café sitzen und etwas Leckeres essen? Oder mit der Eisenbahn
irgendwohin fahren, wie die anderen es sonntags taten! Wohin? Er
würde es schon wissen! Zuweilen lächelte sie vor sich hin, wenn sie
so etwas dachte.
Im
Verlauf von mehreren Tagen brachte sie eine Antwort zuwege, die –
so kindlich unbeholfen sie auch war – doch einen Faden von hier
nach dort zog, von ihr zu ihm. Mit Freuden fühlte sie, dass auch sie
jetzt ihre Heimlichkeiten hatte, kraft derer sie einem Schatz
verbunden war. Sie verbot der Freundin ein Aufhebens von diesen
Dingen zu machen, ja auch nur einem einzigen Menschen, einer
Arbeitskollegin etwa, davon zu erzählen. Das hätte sie sehr
gekränkt.
"Es
ist ja doch ein Nichts", sagte sie, "er kennt mich ja gar
nicht, und wer weiß, ob ich ihm gefalle, wenn er mich sieht."
Es
war das Gefühl einer Minderwertigkeit, das aus ihr sprach. Doch ihre
Seele, ein leichtes und freies Wesen jetzt, der gewohnten
Trostlosigkeit entbunden, dachte anders.
Voll
Eitelkeit und Gefallsucht stand sie jetzt eine Stunde früher auf als
sonst, wusch und kämmte sich gründlicher, zog ihr gutes Kleid, ihre
Schuhe, sie hatte sich ein paar neue gekauft, an und überlegte, wie
sie ihn anreden würde, wenn er käme.
In
der Fabrik arbeitete sie weniger rasch und genau als sonst; ja sie
vergriff sich ein paarmal. Was Wunder, dass die Kolleginnen sie
schalten und verspotteten. Sie machte sich nichts daraus. Was wussten
die schon?
Die
Hochgefühle, die entstehen, wenn sich die beiden Geschlechter
nähern, ja wenn sie sich nur entschließen, es zu tun, verliehen ihr
Schutz und Sicherheit. Was wussten die schon?
Eines
Tages kam seine Antwort. Eine Postkarte, mehr nicht. Er zeigte ihr
an, dass er sie gelegentlich seines bevorstehenden Urlaubs besuchen
werde. Gewiss hatte sie zu offen von sich gesprochen. Aber sie hatte
ihn doch gar nicht eingeladen! Oder doch? Nun, dann sollte er nur
kommen! Andere, dachte sie, schreiben doch auch so. Verliebte
schreiben eben so.
Der
Brief ließ, obwohl er sie freute, doch keine wahre Freude in ihr
zurück. Warum nur nicht? Tief in ihrer Brust fühlte sie den
Stachel: eine rätselhafte Angst vor seinem Erscheinen. Ja, das war
es! War das nicht töricht?
An
einem Sonntag saß sie lange, mit ihrem Haar beschäftigt, vor dem
Spiegel. Vor ihr lagen Kamm und Haarnadeln, die ihr helfen sollten,
eine andere Frisur ins Werk zu setzen. Sie hoffte, dass es auf die
eine oder andere Art hübsch würde, aber wohl zwanzig Mal zerstörte
sie wieder, was sie begonnen hatte. Sie erhob sich. Ihre schmächtige
Gestalt neigte sich, um besser sehen zu können, gegen die
Spiegelfläche, die berührt von dem Hauch ihres Atems, einen
Augenblick erblindete. In diesem Gesicht bebte es von Begehren,
Wünschen und Hoffen. Würde sie ihm gefallen?
"Kein
Mensch hat ja so Angst wie ich!", schalt sie sich. Dennoch
fühlte sie wie der Schleier, der in den letzten Tagen sie von der
Welt geschieden hatte, fiel.
Während
sie so saß, stieg die Nacht unmerklich empor und sah zum Fenster
herein. Doch weiter bewegte sie die schlanken Finger. "Vielleicht
gescheitelt?", dachte sie einen Augenblick.
Da
war es ihr plötzlich, als bewege sich der Spiegel langsam von seinem
Platz. Seine Rundung wankte. Ohne Zweifel! Und aus der Dämmerung
seiner Fläche leuchtete es seltsam, wie phosphoreszierend. Mit weit
aufgerissenen Augen schaute sie hinein. Ein grässliches Phantom
blickte ihr entgegen. Eine lachende Larve. In diesem Augenblick
betrat ihre Mutter das Zimmer, eine Lampe in der Hand. Da zerrann die
Erscheinung.
Am
Morgen darauf – es war noch Nacht – begab sie sich wie gestern
und vorgestern, wie jeden Tag, in die Fabrik. Dort war es hell und
warm. Die Maschinen brausten. Alle hörten es gern, wenn die schweren
Treibriemen, Schlag auf Schlag, an der Saaldecke entlang sausten. Ein
funkelnder Glanz ruhte auf den tausend Rädern. Manchmal sah es aus,
als stünden sie still, so schnell drehten sie sich. Alle Mädchen
sangen ein Lied, nur kurz vom Chef, der durch den Saal ging,
unterbrochen. Hell war ihr kretinenhaft greises Gesicht, wenn sie
arbeitete. Fast glücklich!
Etliche
Zeit verstrich. Da kam ein Brief – nicht mit der Hand, mit der
Maschine geschrieben – des Inhalts, dass Kamerad N. M. seit dem
Angriff vom 22. September nicht zur Truppe zurückgekehrt sei. Vor
vier Wochen war das schon!
Wie
im Traum ging sie heimwärts; es war niemand zu Hause, die Stube war
leer. Plötzlich merkte sie, dass alles aus war. Ein dumpfer Schmerz
bemächtigte sich ihrer. Sie legte die Hände vors Gesicht und weinte
bitterlich.
Die
Liebe und das Liebesglück, von denen die Arbeitskolleginnen seiner
Heldin schwärmten, die schöne Welt, von der sie wohl große Töne
redeten – das alles gab es für sie nicht. Dieses eine Mal war sie
nahe daran gewesen, an der Liebe teilzuhaben; doch die Grausamkeit
von Welt und Zeit hatten sie in der letzten Minute, so stellte es
Alois dar, darum betrogen. Die Verunsicherung und Enttäuschung
darüber, dass seine Zeitgenossen sein Pathos nicht teilten, war
immens. Journalisten sind, so Alois, zur Hetze und – was am
schlimmsten ist – zur Oberflächlichkeit verdammt.
Ich
hätte keiner werden mögen, doch mein Vater bildete sich ein, ich
sei auf dem Wege dazu. Vom Hof aus konnte man in den Maschinenraum
hineinsehen. Da sah ich die mächtige Rotationspresse laufen und die
gedruckten Zeitungen herausschleudern.
Johannes
Gensfleisch, wenn du das hättest sehen können, wie wäre dir da
zumute gewesen! Du hättest es nicht glauben wollen oder können,
dass man so drucken kann. Und doch warst du es, der den Anfang
gemacht hat!
"Ihnen
fehlt die journalistische Nase!", sagte der Chef einmal zu mir.
Damit meinte er wohl die Nase, die im Moment, in dem in der Welt
etwas geschieht, es riecht und herausschneuzt. Wie stolz wäre ich
gewesen, wenn ich eine solche Nase besessen hätte. Ich beschloss,
mir eine zuzulegen.
In
dem Betrieb
hatte
Rohlfs erst vor kurzem begonnen zu arbeiten. Wie oft bei solchen Jobs
war der Kontakt über eine Bekannte zustande gekommen. In kürzester
Zeit gehörte man zur Familie, im wahrsten Sinne des Wortes; denn es
war ein Familienbetrieb, wenn auch nicht im hergebrachten Sinne. Es
war, wenn man so wollte, ein Transportunternehmen. Hauptsächlich
wurden Fotos transportiert, sowohl als Filme als auch die fertigen
Fotos. Niemand machte sich ja Gedanken, wie all die wunderbaren
Angebote der Läden zustande kamen, was sich beispielsweise dahinter
verbarg, dass man einen Film an einem Tag abgab, möglicherweise
einfach nur in eine Box warf, und am nächsten Tag konnte man seine
fertig entwickelten Bilder in dem Laden abholen. Inzwischen waren die
Fotos hunderte von Kilometern unterwegs gewesen, in halsbrecherischer
Fahrt, hauptsächlich über Land, denn dadurch wurde die ganze Sache
erst möglich, dass es ja zig Geschäfte waren, die auf einer Tour
liegen mussten, damit die Sache rentabel wurde. Und das war sie.
Der
Betrieb nahm ständig zu. Alle paar Wochen saß man in einem neuen
Auto, das, chaotisch wie das Geschäft war, das sich eigentlich erst
im Entstehen befand, auch eine alte Rappelkiste sein konnte, aber top
in Schuss, wie hätte es sonst seinen hektischen neuen Alltag
überstehen sollen. Andere waren nagelneu, wenn man allerdings die
Kilometerstände sah, fasste man sich an den Kopf. Natürlich wurde
auch ständig getankt, die Rechnung ging direkt an den Betrieb. Der
wiederum befand sich, von den Autos einmal abgesehen, die allerdings
ihrerseits auf allen verfügbaren Nachbarschaftsparkplätzen standen,
wo man sie sich abholen ging, in der Wohnung des Unternehmers.
Das
Haus war gerade erst fertig geworden. Kennengelernt hatte man sich
noch in der alten Wohnung, einer Bude im dritten oder vierten Stock
in irgendeiner Straße in der Innenstadt, wo es das ganze Treppenhaus
hinauf bis in die Wohnung hinein nach Heizöl roch. Um das neue Haus
in einem Vorort herum lag noch der Bauschutt, unausgepackte
Gegenstände, die im Haus erst noch eingebaut werden sollten, standen
herum. Tagsüber gingen wohl noch Firmen ein und aus. Von manchen
Räumen wusste man nicht, was aus ihnen überhaupt noch werden
sollte, wie oft in solchen Häusern, die in Hinsicht auf Ansprüche
gebaut wurden, die die Besitzer vorerst noch gar nicht hatten.
Überall brannte Licht, Fahrer, die Rohlfs teils gar nicht kannte,
saßen da um nach der Schicht noch einen Kaffee zu trinken, der für
das Frühstück war, die Kinder standen mit Schulranzen verträumt
einmal hier, einmal da. Einer der Fahrer würde sie auf dem
Nachhauseweg gerade noch rasch bei der Schule absetzen, was aber auch
nicht klappen konnte, wegen Schichttauschs, woran niemand gedacht
hatte. Also war Frau Reinig selber kurz einmal weg und auch schon
wieder da. Niemand wunderte sich darüber, dass sie in der Nacht gar
nicht geschlafen hatte. Das Licht brannte sowieso immer, auch am Tag,
zumal manche Rollläden nicht öffneten. Ohnehin hätten sie auch nur
den Blick frei gegeben in jene Neubauödnis im Regen glänzender
Erdhaufen, zum Haus hin lief man über einen Brettersteg.
Die
schweinischen Brüder hatten ihr Büro im Hof, man erkannte kaum
noch, ob es hier früher Landwirtschaft gab, oder ob es das
Rückgebäude war, in dem einmal ein Handwerker Depot und Werkstatt
hatte. Den Fotoladen an der Straße hätte Rohlfs fast übersehen,
über der Hofeinfahrt prangte aber das übliche Blechschild einer
Fotofirma, so dass man wusste, hier ging es hinein, zumal man auf der
engen, gepflasterten Straße ohnehin nicht hätte anhalten können.
Er wunderte sich, wer wohl in einem solchen Gässchen ein
Fotogeschäft besuchte, aber hier auf dem Land, wo jeder jeden kannte
und es den Laden möglicherweise schon seit Generationen gab,
natürlich nicht Foto, aber irgendetwas eben, ging man wohl mit
seinen Filmen her und alles lief im Prinzip genauso wie in den
schicken Läden in irgendeiner Fußgängerzone.
Zwischen
Kisten und Kasten im rückwärtigen Bereich hinter einem veritablen
Schreibtisch hervor krähte es in der vermutlich ortsüblichen
Dialektfärbung etwa: "Morgen, haha, nur hier lang, ja, hier
hab' ich schon alles fertig. Egal, irgendwo oben drauf, hehe!" -
"Ja, was, ein Neuer!", ertönte nun dieselbe Stimme in
demselben Kauderwelsch von falscher Grammatik, seltsamen Vokalen und
verdrehten Konsonanten, allerdings aus einer anderen Richtung,
während Rohlfs doch das glatzköpfige Männlein, das ihn begrüßt
hatte, nun direkt vor sich sah. Während er noch versuchte hinter
allerlei Regalen, Gerümpel und Werbeutensilien nach rechts spähend
dem Rätsel auf die Spur zu kommen, fuhr die Stimme fort: "Und
wie geht's denn so, ich meine unten rum?" - "Das ist bloß
mein Bruder, auf den brauchst du gar nichts zu geben, der hat nur
einen Wasserharten, haha!" - "Von wegen Wasser", gab
der andere zurück, den Rohlfs inzwischen entdeckt hatte, wie er
hinter einem genau gleichen monströsen Schreibtisch thronte, über
das ganze Gesicht eine einzige Fröhlichkeit. "Das werden wir
noch sehen", sprach er in einer Art Gemecker weiter, "wem
seiner hier länger steht, hehe. Ja, ja, nur dahin mit den Taschen.
Das Zeug, das du mitnimmst, gibt dir der andere hier. So, du kommst
jetzt also auch? Ja, schön haben wir es hier, was? Wir sind beide
Säue, mein Bruder und ich, wen findest du von uns die größere
Sau?" - "Jetzt mach ihn doch nicht gleich beim ersten Mal
ganz fertig! Gelt, nichts für ungut, nicht wahr?" Rohlfs, der
noch einmal schaute, ob er über den Reden der Brüder auch nicht die
Taschen verwechselt hatte, war schon im Gehen und hörte hinter sich,
wie sich die Unterhaltung der beiden fortsetzte: "Und ob ich
weiß, wie oft so ein junger Kerl es jeden Tag braucht!" - „Grad
du mit deinem Wasserharten!" Anstelle einer Verabschiedung
ertönte ein anhaltendes Gelächter der beiden, die Rohlfs
hinterherschauten, soweit es in dem Durcheinander von Regalen und so
weiter möglich war.
Rohlfs
hatte wohl im Umdrehen irgendetwas von wegen auf Wiedersehen gesagt,
konnte damit aber kaum auf das Thema einwirken, das die beiden
offenbar fortwährend beschäftigte. Nie hätte er in einem solchen
Kaff diese Art von Leuten erwartet. Womöglich stand vorne ihre
Mutter in einer Kittelschürze im Laden und hätte die Hände über
dem Kopf zusammengeschlagen, was die Umgangsformen ihrer um die
vierzigjährigen Sprösslinge anging.
Helmuth
Wilhelmys Diskothek war ein stillgelegtes Kino samt der dazugehörigen
Kneipe. Es herrschte ein irrsinniger Betrieb. Man fragte sich, was um
alles in der Welt all die Leute in dieses Grenznest verschlug, noch
dazu mitten in der Woche. Da ansonsten im Dorf offenbar der Hund
begraben war, hatte dieser Menschenauflauf etwas davon, wie
Schaulustige sich an einer Unfallstelle herumtrieben. Es wurde mitten
auf der Straße angehalten, auf die wildeste Art geparkt, die Traube
der Thekensteher quoll aus dem Eingang, und alles dies versank nach
fünfzig Metern im Nichts der Dorfstraße, die auf diese Weise sich
noch dreißig Kilometer durch weitere Dörfer schlängelte, bis zur
nächsten Kleinstadt, wo auch nichts los war. Helmuth war ein
Phänomen, denn auch hier kam es offenbar nur auf seine bloße
Anwesenheit an.
In
einem seiner krass geblümten Hemden mit dem unvermeidlichen
übergroßen Kragen, dessen Knöpfe über der wohl behaarten Brust
klafften, regelrecht hinein gegossen, saß er an einem der breiten
Tische der Theke gerade gegenüber. Wer ihn nicht kannte, hätte in
ihm einen x-beliebigen Gast vermutet, allenfalls einen Stammgast.
Vielleicht war das das Geheimnis der Kneipe und Helmuth war sozusagen
exemplarischer Gast. Da es seine Kneipe war, war er immer da, aber
nicht als ein Wirt, der Geld verdienen wollte, der die Gäste kannte,
weil das zum Geschäft gehörte. Helmuth lebte den Gästen vor, wie
man in einer Gaststätte glücklich sein konnte, und dazu kamen sie
schließlich. Alle Frauen küssten ihn, ohne dass man je gesehen
hätte, wie Helmuth seinerseits eine Frau anschmachtete, von der
allein er geküsst werden wollte. Seine Begleiterinnen waren
flüchtig, kaum einmal wiederholte sich ein Abend mit derselben,
höchstens, so dass man sich wunderte, konnte es geschehen, dass
Wochen oder Monate vergangen waren, und Helmuth erschien mit einer
alten Flamme aufs Innigste vereint.
Sollte
sich eher umgekehrt der Kalender geirrt haben? Niemand konnte sich
vorstellen, dass der Wirt schon einmal mit irgendjemandem einen
Streit gehabt hätte, mit den Frauen am allerwenigsten.
Militärisches
Sperrgebiet betrat man sozusagen, wenn man die Eisengittertür
durchschritt, die am Treppenabsatz des unteren Flurs martialisch
angebracht war. Es befand sich dort noch eine Art Hausmeisterzimmer
und wohl noch eine alte Toilette, die als Abstellraum für die
Reinemachefrau diente. Rohlfs sah, wie der Fahrer sich dort hin und
wieder zu schaffen machte; es war klar, dass man jemand anderes dort
nicht zu suchen hatte. Auch gab es einen hinteren Ausgang, der
in einen Garten führen musste, der aber jetzt, wie man aus einem der
oberen Räume sehen konnte, eine triste Einöde war. Alte
Gartenmöbel, die darin zurückgeblieben waren, zeugten von einer
längst vergangenen Zeit. Wenn der Getränkehändler stapelweise vor
allem Bierkästen mit seinem Sackkarren ins Haus brachte, herrschte
vor dem Zimmer des Fahrers rege Betriebsamkeit. Niemand schien sich
darüber zu wundern, dass schließlich ein Bürogebäude beliefert
wurde. Wenn der Wagen bei der Gaststätte einige Häuser weiter das
nächste Mal hielt, waren es kaum mehr Getränkekisten, die auf dem
Gehsteig manövriert wurden.
Wer
den großen Kühlschrank in Wilhelmys Büro bestückte und das
Leergut nach unten beförderte, war Rohlfs bisher entgangen. Für
Wilhelmy selber waren es alltägliche Vorgänge im doppelten Sinne
des Wortes. Am allgemeinen Getränkekonsum beteiligte er selber sich
ausgesprochen mäßig, kaum dass man ihn einmal an einer warm
gewordenen Cola nippen sah.
Die
Gaststätte hatte früher schlicht Kinoklause geheißen, welcher Name
auch immer noch in den Farben der Brauerei über dem Eingang prangte.
In Anspielung auf Helmuths Bundeswehr-Vergangenheit und seine
Bikerleidenschaft hieß sie jetzt "The Helmet", was anfangs
einige versprengte wirkliche Biker angelockt hatte, so dass einigen
der Atem stockte, als diese in der üblichen Formation eintrafen. Im
"Helmet" selber wurde allerdings ihre Ankunft nicht
besonders zur Kenntnis genommen. Keine zwanzig Minuten später
verließen sie in offenbar feststehender Reihenfolge das Lokal,
machten sich gegenseitig aufmerksam auf die Lächerlichkeit von
Helmuths Honda Gold Wing, die sie beim Eintreten eigentlich keines
Blickes gewürdigt hatten, und hatten dann zu tun ihre mit den
bekannten Westernattributen ausstaffierten, rüttelnden, schmatzend
fehlzündenden Chopper auszuparken, auf die sie sich tief
niedergelassen hatten.
Die
Boons,
wie in Ermangelung vertiefter Englischkenntnisse alle, übrigens auch
sie selber sich, nichtsdestoweniger in tiefer Verneigung vor allem,
was aus Amerika kam, nannten, trugen, richtig geschrieben, das
nun doch, auf ihren Jeans- oder natürlich auch Lederjacken, das
Emblem "The Bones - Germany". Man mochte sie für junge
Leute halten, die ihrem Hobby frönten, Verrückte, die den letzten
Groschen ausgaben für die wahrscheinlich Tieferlegung ihres ohnehin
schon reichlich schrägen Feuerstuhls, oder was man sonst mit diesen
Dingern anstellte, man kannte das ja von den Mantafahrern.
Der
dicke Philipp Adler hier aus der Nachbarschaft beispielsweise fuhr
einen GTI, dem man ansonsten nichts ansah. Eigentlich hätte man bei
ihm auch befürchten können, er sei einer von denen, die auf
Kinderspielplätzen hinter Zeitungen heraus kleinen Mädchen unters
Röckchen schauten, denn manchmal war der Philipp für ein, zwei
Stunden verschwunden. Die Eltern, bei denen er mit seinen vierzig
Jahren nichtsdestoweniger noch wohnte, sorgten sich aber nicht. Der
Vater wusste ja, dass der Philipp inzwischen mal die Autobahn rauf
und runter ist, vielleicht auch zweimal, man konnte es an den Reifen
fühlen. Auch die Boons waren gewissermaßen fahrendes Volk. Zuerst
hauste man in einem der baufälligen Behelfsheime, die nach dem Krieg
für die Ausgebombten errichtet worden waren, und die nun nach und
nach leer standen, da die alten Leutchen, die dort seither gewohnt
hatten, der Reihe nach starben. Auch der eine oder andere Sohn oder
sonstige Verwandte, der versucht hatte sich in dem primitiven Gelass
seiner Jugend festzusetzen oder dort eine letzte Zuflucht eines
gescheiterten Lebens zu suchen, verkam etwa vollends in zwei
Zimmerchen, in denen es von der Decke tropfte und die Wände
schimmelten. Seit einiger Zeit aber waren auf der Straße zuerst,
dann auf dem Gelände eines halb eingestürzten dieser Häuschen,
dessen klägliche Überreste einige Boons an ein, zwei Nachmittagen
vermittels zweier Container entsorgt hatten, auffällige Wagen
geparkt, entweder eindeutig amerikanischer Herkunft, oder aber auch
deutsche, jedenfalls das, was man Schlitten nannte, allesamt schwarz,
so dass es nicht weiter auffiel, dass sich auch ein veritabler
Leichenwagen unter den Gefährten befand. Diese Fahrzeuge parkten
teils mit Planen abgedeckt mit angelaufenen Scheiben, wurden gegen
wieder andere ausgetauscht, man hätte schon zufällig genau in dem
Augenblick vorbeikommen müssen um die eigentlichen Aktivitäten zu
sehen, die auf dem Gelände stattfanden. Neu war die Wagenladung
Schotter, der den Platz abdeckte, an dem das alte Häuschen gestanden
hatte, wenn es nicht zwei waren, denn das sah man wohl, dass das
Gelände lichter wurde, und im Hintergrund waren zwei der Häuser
durch eine geschickte Konstruktion miteinander verbunden worden, der
Eingang offenbar wohl des Clubhauses, denn dort prangte in der Art,
wie man Elektrogeschäften nachgemachte Leuchtreklamen kaufen konnte,
"The Bones" über einer zweiflügeligen Ladentür, die wohl
von einem alten Einkaufsmarkt stammte. Nichts von dem, was die Boons
für sich herrichteten, hatte den Charakter der Behelfsmäßigkeit,
so wie sonst Hobbyleute billige Lösungen suchten, weil keiner sich
von den anderen ausnutzen lassen wollte. Hier entstand nach und nach
eine veritable Welt, so wie Rohlfs das von den Amerikanern selber
kannte, wenn auch die Boons keineswegs Amerikaner waren,
nichtsdestoweniger schufen sie für sich und ihre amerikanischen
Motorräder die einzig richtige Barackensiedlung, arrangierten sich
noch mit einem ebenso aufstrebenden Kleinunternehmer aus dem
Baugewerbe und waren binnen einiger Jährchen mit ihm Eigentümer des
gesamten Areals, auf dem vorher zehn, zwanzig jener Behelfsheime
gestanden hatten. Da offenbar Geld vorhanden war und man weiter
nichts von ihnen zu leiden hatte, außer, dass sie mit ihren
Feuerstühlen an einem vorbei donnerten oder knatterten, je nachdem,
dachte man sich bei dem Übrigen nichts weiter, wagte wohl den einen
oder anderen vorsichtigen Blick auf chromblitzende Tieflader mit
Sidepipes, wie sie eigentlich in Deutschland verboten waren,
möglicherweise eben Attrappen, und erging sich in den üblichen
Kommentaren über Sonderlinge, die ihr Geld, von dem sie ganz
offensichtlich erheblich mehr besaßen als man selber, für diese Art
von Dingen ausgab. Möglich, dass auch berufsmäßige Rocker unter
ihnen waren, und mit denen legte man sich bekanntlich besser nicht
an.
Wilhelmys
Faktotum war ein gewisser Herr Kappeser. Man sah ihn an Tagen, an
denen es hoch herging, auch hinter der Theke. Die weiße Kellnerjacke
machte die schwarzen Fingernägel kaum wett, für die ihn Wilhelmy
hasste, die er dann ungeschickt versuchte zu verbergen, wobei ihm nur
weitere Missgeschicke unterliefen, was der Chef umso lächerlicher
fand, der ihn so bald nicht wieder hinter die Theke ließ. Wie alle
erkannte auch Kappeser Wilhelmys Autorität fraglos an, lief, eine
Art menschlicher Schraubstock, hündisch hinter ihm her und versuchte
es ihm in jeder Weise recht zu machen. Als Kasper und Hauptfeld Weber
beim Helmet
ankamen,
war Kappeser dabei Küchenabfälle in die dafür vorgesehene Tonne zu
schütten. Was sie um diese Zeit hier wollten, sprach er sie
unvermittelt an, Kasper wollte aus der allgemeinen Anrede indes
herausgehört haben, dass man offenbar geduzt werde, was auch der
Fall war, denn Kappeser hatte "ihr" gesagt. Das Helmet
war
eindeutig ein Platz, den man in der Dunkelheit besuchte, wie man an
der allgemeinen Schäbigkeit der Fassade und des Vorplatzes wohl
erkennen konnte. Trüb brannte auch die Leuchtreklame der Brauerei,
es war wohl spät geworden und jemand hatte vergessen sie zu löschen.
Hauptmann
Kasper hatte sich vorgestellt, man werde einfach dem Lokal des etwas
exzentrischen Mitarbeiters anlässlich eines Ausfluges einmal einen
Besuch abstatten. Ein Schinkenbrot mochte dort doch wohl zu bekommen
sein. Bei dem brüsken Empfang könne es sich immerhin doch um ein
Missverständnis handeln. Ob denn Herr Wilhelmy nicht da sei,
möglicherweise mit dem Wagen unterwegs, denn das sei ja sein
Motorrad. Kappeser, keinesfalls gewillt sich auf eine dämliche
Fragerei einzulassen, fuhr auf, sie sollten ihre dreckigen Nasen in
ihre eigenen Angelegenheiten stecken. Hauptfeld Weber, der eigentlich
schon bei der Begrüßung bemerkt hatte, dass hier etwas aus dem
Ruder laufen werde, holte Luft für eine Entgegnung, etwa in dem
Sinne, hier müsse ein Missverständnis vorliegen. Aber Kappeser war
schon in seinem Element und fuhr ihn an: "Ihr könnt euch
genauso gut verpissen, ihr Arschgesichter!", worauf er den
Deckel der Tonne zuknallte und um die Ecke verschwand. Der Hauptmann,
dem die Zornesröte ins Gesicht gestiegen war, hatte plötzlich das
Gefühl, die Tasche seiner Frau, die er immer noch in der Hand trug,
gebe ihn vollends der Lächerlichkeit preis, weshalb er sie
kurzerhand auf die vordere Haube von Webers Käfer stellte. Dort
drohte sie das Übergewicht zu bekommen, auch war es Weber wohl nicht
recht, dass man den Lack seines Wagens womöglich beschädigte,
weshalb nun er mit der Damenhandtasche dastand, was bei ihm
allerdings weitaus weniger lächerlich aussah. Tatsächlich kam
Kappeser mit einem weiteren Eimer voller Abfälle und Unrat um
die Ecke, würdigte aber nun die Anwesenden keines Blickes mehr
und hantierte nur lärmend an den Tonnen, in die er darin befindliche
Müllbeutel tiefer hineinstieß um seine Ladung noch unterzubringen.
Natürlich wagte man nicht mehr das Wort an ihn zu richten, stand
vielmehr durch sein neuerliches Auftauchen überrascht und gewärtig
Opfer weiterer Beschimpfungen zu werden, da.
Hauptmann
Kasper, der schwer atmete, vergaß jede Höflichkeit gegenüber
seiner Frau und schwang sich in den Wagen, wo er jetzt saß und
geradeaus stierte, während man draußen beriet, was nun weiter zu
tun sei.
Wilhelmy,
der die Szene von einem oberen Fenster aus verfolgt hatte,
wollte später von Kappeser wissen, was da los gewesen sei. Der
zuckte und rückte irgendwie seinen Kopf in dem viel zu eng
zugeknöpften Hemdkragen zurecht. Er kannte sich und bereute seine
Ausbrüche, gegen die gleichwohl nichts zu machen war. Es kam einfach
so über ihn. Wilhelmy hatte den Galgenstrick von Anfang an
beobachtet und fand, dass er gerade die Unberechenbarkeit Kappesers
in seinem Laden gebrauchen konnte. Eines durfte allerdings
nie geschehen, dass der Kerl sich auch nur ein einziges Mal
gegen den Chef wandte. Aber das schien auch so programmiert zu sein.
Einfach hinzuzutreten, wenn Kappeser einen Gast in der Mache hatte,
genügte, dass der auf dem Absatz kehrtmachte, oder sich der
Tätigkeit wieder zuwandte, bei der er sich gerade unterbrochen
hatte. In diesem Fall hatte Wilhelmy vom Fenster aus gesehen, um wen
es sich handelte. Er war nicht eigentlich überrascht, alle aus der
Dienststelle kamen früher oder später einmal vorbei aus einer
Mischung aus Neugier und geheimem Respekt heraus vor der Tatsache,
dass der unscheinbare Kollege ein veritables Doppelleben führte,
über das man sich seine Geschichten erzählte. Kasper würde umso
eisiger schweigen und einen Bogen um Wilhelmy machen. Er soll sogar
ernsthaft erwogen haben einen Anwalt einzuschalten. Was sich da
ereignet habe, käme ja regelrecht auf ein Lokalverbot heraus. Und
was man sich denn zu Schulden habe kommen lassen? Da müsse
eigentlich das Gewerbeaufsichtsamt, oder jedenfalls die Schankbehörde
in Kenntnis gesetzt werden, verlor er sich in Spekulationen.
"Wieso
fährst du überhaupt dahin, wenn du den Wilhelmy nicht leiden
kannst?", unterbrach seine Frau das ewige Schweigen im Auto.
"Was denn, Schankbehörde, gibt es denn so etwas überhaupt?"
Sie war den ständigen Ärger satt, den er sich bei ihr erlaubte.
Dass er auch ganz anders konnte, hatte sie sehr wohl bemerkt, und es
geschah ihm recht, dass er sich seine Abfuhr vor den Augen und Ohren
von Webers Freundin eingehandelt hatte. Als ob ihr entgehen würde,
wie er um die herumscharwänzelte, alter Bock, der er jedenfalls sei,
aber das könne man ja nicht ernst nehmen. Nicht einmal der Weber
nehme es ernst.
"Frau
Kasper", hatte er gesagt, "nehmen Sie sich das mal nicht zu
Herzen. Ich kenne den Heinz. Man muss ihn zu nehmen wissen." Und
ob sie ihn zu nehmen wusste. Solche Tage wie heute mussten ab und zu
sein, die brachten ihn wieder auf den Boden der Tatsachen. Erst jetzt
fiel es ihm ein im Rückspiegel nachzusehen, wo Weber blieb. Es war
weit und breit nichts von ihm zu sehen. Also wendete Kasper um ihm
entgegen zu fahren. Als sie wieder auf der Höhe von Wilhelmys Helmet
waren, stand Webers Käfer noch da, weshalb der Hauptmann zwar
ziemlich langsam, aber ohne weiter nach dem Kollegen und seiner
Begleiterin Ausschau zu halten, vorüberrollte.
Neuerdings
tauchte ein Typ namens Magnus im Helmet auf. Er sprach mit ziemlich
lauter Stimme und hatte stets eine Schar von, man konnte nicht sagen
Bewunderern um sich, denn es gab wohl den einen oder anderen, der
seinen gewagten Thesen widersprach. Solche Einsprüche parierte
Magnus mit einer Geläufigkeit, dass er die Lacher und damit eben
doch Bewunderer stets auf seiner Seite hatte. Er kam spät, immer in
Begleitung einer zwar älteren aber auffallend adretten Begleiterin,
mit der ihn offenbar mehr als nur Geschäftliches verband. Nicht dass
man die beiden je mit sich selber, also miteinander beschäftigt sah.
Hedda, wie sie hieß oder auch bloß sich nannte, war unter den
Bewunderern von Magnus diejenige, die alle seine Geschichten kannte
und darum Zustimmung und Bestätigung bereits signalisierte, wenn die
übrigen Zuhörer noch herumrätselten, ob der Prahlhans sich nicht
dieses Mal aus seinen eigenen Worten einen Strick drehen würde, man
also rechtzeitig abspringen musste, schließlich hatte man schon
immer gewusst, dass der Typ es eindeutig zu weit trieb. Dazu kam es
aber nicht, da Magnus diesen Zweig seines Geschäftes mit derselben
Professionalität betrieb wie den, wozu er überhaupt in die Gegend
gekommen war. Seine letzte Station war Berlin gewesen, daher auch
Hedda mit dem bewussten Tonfall, wie man jetzt erkannte. "Wenn
man mich nach meinem Beruf fragt", verkündete er etwas überlaut
wie stets, "so sage ich Buchhälter", worüber recht
verspätet gelacht wurde, die wenigsten verstanden, was der
Wichtigtuer im Einzelnen sagte. Sehr wohl verstand man, dass er es
sich leisten konnte, wie er überhaupt sich einiges leisten konnte.
Der Wagen, den er in der schrägen Reihe der übrigen
Dutzendfahrzeuge parkte, war ein amerikanisches Modell, nicht von der
übertrieben ausladenden Sorte, aber unverkennbar das, was man einen
Schlitten nannte, und trug ein belgisches Kennzeichen, während
Magnus' Deutsch ihn als Schweizer auswies. Woran man die Deutschen
erkenne, egal in welchem Ausland, erklärte er, niemand wusste, wie
er auf das Thema gekommen war, an ihren billigen Schuhen! Deutsche
hätten alles, die beste Fotokamera, eine Versicherung für alles
Mögliche, den Leihwagen schon von zu Hause aus fest gebucht,
Nichtraucher, obwohl sie selber rauchten, und: billige Schuhe. Er
würde allein anhand der Schuhe aus hundert Leuten, die am Flughafen
Schlange stehen, die zehn, zwanzig oder dreißig Deutschen
herausfinden. Für Schuhe hätten sie nichts übrig. Woher er die
Frechheit nahm, auf diese Weise vor lauter Deutschen zu sprechen,
mochte sich fragen, wer wollte. Offenbar ging die Identifikation mit
ihm so weit, dass man in seiner Gesellschaft zur erlesenen Schar
derer zu gehören hoffte, die nicht bloß Deutsche waren. Da er ja
selber Deutsch sprach, wenn auch Schweizerdeutsch, so hatten seine
Reden, was dieses Thema betraf, möglicherweise jenen Ton von
Selbstkritik, den man von Stammtischen kannte. Schön dumm waren die
Deutschen, dass sie sich dies und jenes gefallen ließen! Also gewann
man letztlich patriotisches Kapital, wenn man sich ihm anschloss.
Der
Blick auf seine Schuhe lehrte allerdings etwas anderes, dass sie
jedenfalls nicht billig waren. Das, und da hatte Magnus nicht recht,
waren ihre eigenen allerdings auch nicht. Man hätte nicht gewusst,
wo man solche wie Magnus' Schuhe eigentlich kaufte, und praktisch
waren sie auch nicht, so wenig wie der Schlitten, den er fuhr. Er
sei, behauptete Magnus, wobei Hedda, die immer zu wissen schien,
was er als Nächstes zum Besten geben würde, bereits zustimmend
nickte, er sei ja ein entlaufener Mönch, habe hinter Klostermauern
in die üblichen Abgründe geblickt. In Holland sei das gewesen, und
er habe mit mehr oder weniger heiligem Ernst das Geschäft des
durchschnittlichen Klosterbruders betrieben. Das jedenfalls könne er
behaupten, sonst wäre er ja gar nicht da, dass Klostermauern nicht
um die Klöster gebaut seien, damit man nicht hinauskönne.
Klaustrophobisch sei man im Kloster, und mit Recht, gegenüber dem,
was durch die Mauern von außen abgehalten werde. Heute mehr denn je!
Hatte Luther im Kloster vielleicht noch darum gerungen, wie er vor
Gott Gnade finden könne, so ringe doch der Mensch außerhalb des
Klosters heute darum, wie er vor sich selber Gnade finden könne. Und
da wisse er, nicht zuletzt als Geschäftsmann, nun wirklich Bescheid.
Was man sich unter Buchhälterei konkret vorzustellen habe, wusste
fürs Erste niemand so genau, außer Hedda, die schließlich die
Angestellten anleitete, von denen auch hin und wieder die eine oder
andere mit im Helmet war, meist sehr spät in der Nacht. Nicht dass
jemand ein Geheimnis daraus machte, es war letztlich zu banal, als
dass man es glauben wollte.
Hedda
war, wie sie ohne jedwede Umschweife erklärte, erst in kleineren
Städten und schließlich in Berlin auf den Strich gegangen, wo sie
zuletzt ein kleines, aber feines, ja, ja, meine Herren, Etablissemang
betrieb. Dann sei der Magnus in ihr Leben getreten. Als ehemaliger
Klosterbruder habe er wohl einigen Nachholbedarf gehabt, und auch
sonst sei er treu wie Gold. Sie stehe auf treue Männer, besonders,
wenn sie auch bezahlen könnten. Magnus habe möglicherweise die
Klosterkasse mitgehen lassen, sei jedenfalls mit der Buchhaltung des
Klosters befasst gewesen. Hedda auf ihrem Barhocker wippte mit dem
Bein, einen cremefarbigen Schuh balancierend, der sehr spitz war und
den sie ohne Strümpfe trug. Sie war eine ehemalige Schönheit, kaum
zurechtgemacht, sich des Kapitals ihrer Erscheinung jederzeit
bewusst. Nie machte sie jemand anderem auch nur ansatzweise schöne
Augen als Magnus, den sie wohl liebte wie eine Mutter, die stolz war
auf ihren Sohn. Dabei war sie nicht alt, sondern sie schien sich auf
der Tatsache auszuruhen, erfolgreich gewesen zu sein, eine
Geschäftsfrau mit ihrem Partner. Allen lief das Wasser nach ihr im
Munde zusammen, zur großen Genugtuung Magnus', während sie beides
ignorierte, schließlich war sie nicht im Dienst. Die Kirche habe
schon Recht gehabt, sich abzuschotten gegen die Gier der Welt, das
viehische Geiern nach Geld ewig Geiler, genoss Magnus sein Statement
in die Runde blickend, dabei mehr oder weniger starren Blicken
begegnend, teils wegen des Geldes, das er offensichtlich hatte wie
Heu, in erster Linie aber wegen Hedda, die wieder nachdrücklich
Zustimmung nickte.
Magnus
kam wie gewöhnlich spät, der Abend hatte so vor sich hingedümpelt,
es würde also um eins geschlossen werden und wovon man insgeheim
hoffte, dass es heute geschehen würde, musste um ein weiteres Mal
vertagt werden. Helmuth hatte ein paarmal in die Gaststube geschaut,
sich aber ansonsten hinter einem Bildschirm verkrochen, der sein
kleines Kabinett in ein bläuliches Licht tauchte. Dem Geschehen, das
da an ihn heranflimmerte, schien er keine große Aufmerksamkeit zu
schenken, vielmehr widmete er sich irgendwelchen Papieren, die er in
Häufchen sortierte, an die er mit Büroklammern Zettelchen heftete,
alles durch eine große Altmännerbrille betrachtend, für die er
eigentlich noch nicht in die richtigen Jahre gekommen war. Niemand
wusste, was er wirklich da trieb, während man selber bloß als
Besucher seiner Kneipe die Zeit totschlug. Da Magnus und Hedda das
Lokal betreten hatten, verbreitete sich binnen einiger Minuten eine
Stimmung von Aufgekratztheit. Niemand wollte sich mehr an ein
heimliches Gähnen erinnern, mit dem er Kappeser vor einer
Viertelstunde "zahlen" zugerufen hatte. Dieser atmete
durch die Zähne, das Hereinkommen des Paares unter knappen Blicken
in den Spiegel registrierend. Helmuths Faktotum hasste Magnus auf
eine abgründige Weise, und dieser spielte auf der Klaviatur dieses
Hasses mit allen Kniffen und Tücken eines, der seine Sache ganz
genau verstand. Zu diesem Spiel gehörte, dass Kappeser mit seinem
Tuch die Stelle des Tresens gewischt hatte, noch bevor Magnus dort
Platz nahm, ebenso wie das, was dieser gewöhnlich trank, serviert
war, beide Getränke, auch das Heddas, also ein Kännchen Kaffee und
ein Bier mit perfekter Krone.
Magnus
trank nie etwas Alkoholisches. Den Reden, die Magnus mit lauter
Stimme führte, und zu denen er die Stichwörter derer virtuos
aufgriff, die nun doch geblieben waren, wie er wohl wusste,
seinetwegen, folgte Kappeser dreiviertel abgewandt wischend und sonst
auf jede nur denkbare Art hantierend.
Er
wusste, Magnus würde ihn jederzeit aufs Korn nehmen können, und er
würde ihm Bescheid geben, nicht mit diesen geschliffenen Worten
eines Erzaufschneiders, sondern das Maul würde er ihm stopfen und
überhaupt ihm seine unverschämte Fresse einschlagen. Wozu reden mit
so einem Schwätzer! Ihm seine unverschämte Fresse einschlagen!
Entgeistert blickte Kappeser auf das Handtuch, das sich mit Blut
vollsog, weil das Glas zerbrochen war, in das er das Tuch
hineingedreht hatte. Für den Bruchteil einer Sekunde begegneten sich
ihre Blicke im Spiegel, Magnus war keiner, dem etwas entgangen wäre,
und natürlich schwieg er dazu, vorerst.
In
der Stadt hatte man noch nirgends etwas in dem Sinne unternommen,
dass sie dadurch etwa schöner werden könnte. Fußgängerzonen waren
entstanden, womit man sich von einer Autoflut befreien wollte, wie
sie erst Verheißung einer besseren Zeit gewesen war und nun das
allgemeine Heil nicht brachte, weil sie es jedem brachte.
Die
Vision der autofreien Stadt rang darum mit der Idee, wie gut es doch
wäre, wenn man selber sehr wohl überall mit dem Auto hinkönnte,
nicht aber so viele andere. Den durch Fußgängerzonen verschenkten
Verkehrsraum sah man darum mit Skepsis, zumal erst einmal nur
provisorisch Pflanzkübel in die gesperrten Straßen gerückt waren.
Die standen schief, weil man mit dem entstandenen Raum im Grunde
nichts anfangen konnte und auch, weil ja die Oberfläche der Straße
wegen der Wasserführung gekrümmt war. Der Verkehr quälte sich ein
paar Straßen weiter in der gewohnten Weise, vielleicht sogar mehr,
weil er einen Umweg nehmen musste und weil Raum von ihm freigehalten
wurde, in den er sich sonst ergossen hatte. Man schüttelte die
Köpfe. Niemand hätte geglaubt, dass eines fernen Tages eine andere
Nützlichkeit in Betracht käme als eine solche der Fortschreibung
dessen, was bisher als nützlich anerkannt war. Die Straße, ein Ort,
an dem man verweilte, überhaupt verweilen, sich etwas hinzugeben,
bereits da zu sein, also nicht von einem zum anderen Ort unterwegs,
eine Vorstellung, die der Epoche völlig abzugehen schien. Man musste
das alles nicht bemerken. Umso weniger, als man wirklich schlimme
Zeiten gesehen hatte. Kein einziges Mal, dass man beispielsweise Bob
etwa hätte klagen hören über die allgemeine Hässlichkeit dessen,
was einen umgab. Er erwartete einfach nicht mehr. Was Rohlfs
widerwärtig genannt hätte, war für ihn crazy, mit der Welt selber
befand er sich völlig im Einklang.
"Wie
warst du eigentlich als Kind? Das bist du doch hier?" -
"Nein, die Lederhosen hätte ich allerdings gerne gehabt."
- "Dann bist du der hier. Herrje, was für Brillen sie euch
damals verpasst haben! Auch die Mädchen, schau mal, die hier!"
- "Das ist die Edith Schaußen. Und die neben ihr, das ist
Veronika, der Familienname fällt mir gerade nicht ein; und der
gehört eigentlich die Brille, die Edith aufhat. Für dritte oder
vierte Klasse eigentlich ganz schön frech. Es gab ein Riesentamtam,
so ein Klassenfoto war in den Jahren noch eine Art Ereignis, und dass
sich jemand einen Jux damit erlaubte, noch dazu so kleine Gören, das
sorgte schon für einigen Wirbel. Es hieß, einige wollten das Foto
dann nicht haben, obwohl die Sache sich erst nach und nach
herumsprach, unter den Eltern meine ich, die Kinder fanden nichts
dabei. Unsinn wurde schließlich immer getrieben." -
"Kinderbrillen gab es natürlich nicht, ebenso wenig wie
Kinderkleider. Irgendwie seht ihr alle etwas verbiestert aus, wie
kleine Monster. Rück' mal ein Stück zur Seite!" Constance zog
sich die Decke ein wenig höher um die Schulter. "Kennst du
eigentlich heute noch irgend jemanden von denen allen?" - "Nicht
viele, es ist ja meine Grundschulklasse, das heißt, Grundschule
sagte man damals gar nicht, es war einfach die Volksschule, in der
die meisten dann ja auch blieben. Eine Handvoll von uns ist in dem
Jahr, aus dem das Foto, glaube ich, ist, aufs Gymnasium gegangen, und
dann sah man sich kaum noch." - "Du warst also ein guter
Schüler, du siehst auch wirklich aus wie ein Herr Professor." -
"Für damalige Verhältnisse vielleicht, heute sehen Professoren
doch immer irgendwie cool aus, kariertes Hemd und Stoppelbart haben
nur noch die Altmodischen. Glatze mit Zopf ist auch noch häufiger zu
sehen." - "Komm, sei nicht fies, Rohlfs! Ich will wissen,
ob du ein Streber warst." - "Jedenfalls sehe ich wie einer
aus. Aber dann wäre Gustav Heinemann auch ein Streber gewesen. Ich
finde, ich sehe aus wie Gustav Heinemann." Constance lachte: "Da
hast du Recht, wundere dich nicht, wenn ich dich dann manchmal Gustav
nenne!" - "Vielleicht war man für die anderen Kinder ein
Streber, einfach weil man aufs Gymnasium sollte. Gute Noten fand ich
normal, nicht dass ich alles gleich gekonnt hätte, im Gegenteil, ich
fand das meiste schwierig und wunderte mich, wie wenig Mühe andere
auf das Schulische verwendeten."
"Sag
mal, was sind das für Brillen, die du neuerdings trägst? Warum
gehst du nicht zum Augenarzt, hörst du? Du solltest wirklich nicht
irgendwelche Brillen tragen. Wo hast du die überhaupt her? Ach, hier
bist du. Hörst du mir überhaupt zu?"
"Doch,
du meinst die Brillen, im Ernst, mit manchen sehe ich manchmal ganz
gut. Ich habe einen ganzen Sack voll davon." - "Einen Sack
voll?" - "Sie sammeln sich so an bei mir. Manche schlachte
ich aus, oder nehme das störende Glas raus. Eins passt ja immer,
jedenfalls bei diesen Dingern für alte Leute." - "Alte
Leute, das sieht dir ähnlich, Rohlfs, allerdings sind sie wohl schon
so lange aus der Mode, dass sie gerade wieder neu rauskommen."
"Habe
ich auch schon festgestellt. Neulich hat mich sogar jemand nach einer
gefragt, weil sie sie so cool fand, ja wirklich, ich glaube cool hat
sie gesagt, oder sagt man das schon gar nicht mehr, jedenfalls etwas
in der Richtung. Als ich ihr die Sache mit den Senioren und so weiter
erzählte, war's ihr, glaube ich, gar nicht so recht." - "Kann
ich verstehen." - "Du meinst Brillen von anderen Leuten
sind unhygienisch?" - "Nicht direkt. Du wirst sie doch
wenigstens waschen? Aber weißt du, diese Leute, von denen du die
Brillen hast, die sind doch nicht tot? Mal ehrlich!" - "Manche,
jeder ist mal tot, Consti, aber im Ernst, ich weiß es nicht,
beziehungsweise, ich merke es mir nicht. Ich stoße auf alle
möglichen alten Sachen; wovon ich glaube, dass es noch zu gebrauchen
ist, das behalte ich. Brillen sind sogar regelrecht kostbar. Ich
weiß, dass meine Mutter welche für 700.- hat." -
"Siebenhundert was?" - "Ist doch egal, einen Haufen
Geld eben. Also ich wasche die Dinger tatsächlich nicht, das heißt,
bei mir werden sie so dreckig, dass ich sie nach einer Weile auch mal
wasche." - "Wenn ich es nicht sehen würde, also weißt du,
Rohlfs, manchmal glaube ich, du denkst dir diese Sachen einfach nur
aus. Komm, ich seh's dir an, was soll der Unsinn, worauf willst du
hinaus? Und jetzt nimm dieses gottverdammte Ding von der Nase! Ich
rede im Ernst mit dir." - "Constilein, nicht böse sein, du
regst dich doch bloß künstlich auf."