Donnerstag, 27. Juni 2019

Bzw. ۲ ۳ ۰ [»Selected Piano Pieces in an Ancient Style« (1992/93) by R. A. ol-Omoum with paintings by Horst Paetzold (*1938)]



["Sonnenaufgang über karger Landschaft" (2018)]


To select, combine and concentrate that which is beautiful in nature and admirable in art is as much the business of the landscape painter in his line as in the other departments of art. [Joseph Mallord William Turner]


The sun is God. [Joseph Mallord William Turner]




["Venedig" (2014)]


You may have heard the world is made up of atoms and molecules, but it's really made up of stories. When you sit with an individual that's been here, you can give quantitative data a qualitative overlay. [Joseph Mallord William Turner]



["Seestrand" (1998)]


The solitude of the sea intensifies the thoughts and the facts of one's experience which seems to lie at the very centre of the world, as the ship which carries one always remains the centre figure of the round horizon. [Joseph Conrad]

The snotgreen sea. The scrotumtightening sea. [James Joyce]





["Klavierstück XV"]


It is only when we are no longer fearful that we begin to create. [Joseph Mallord William Turner]


["Orkan" (1977)]

Consider the subtleness of the sea; how its most dreaded creatures glide under water, unapparent for the most part, and treacherously hidden beneath the loveliest tints of azure. [Herman Melville]

They say the sea is cold, but the sea contains the hottest blood of all. [D.H. Lawrence]



["Atlantik" (1979)]


If I could find anything blacker than black, I'd use it. [Joseph Mallord William Turner]



["Canarias I" (1988)]


So fine was the morning except for a streak of wind here and there that the sea and sky looked all one fabric, as if sails were stuck high up in the sky, or the clouds had dropped down into the sea. [Virginia Woolf]

Unfathomable mind, now beacon, now sea. [Samuel Beckett]






["Klavierstück XXVI"]


The sea, he thought, had treasured its memories deeper than the faithless land. [F. Scott Fitzgerald]






["Klavierstück XIV"]


My business is to paint what I see, not what I know is there. [Joseph Mallord William Turner]



["Canarias II" (1988)]


Time is more complex near the sea than in any other place, for in addition to the circling of the sun and the turning of the seasons, the waves beat out the passage of time on the rocks and the tides rise and fall as a great clepsydra. [John Steinbeck]



["Cefalù" (2000)]


The old man knew he was going far out and he left the smell of the land behind and rowed out into the clean early morning smell of the ocean. [Ernest Hemingway]




["Ive" (2010)]


["Selbstporträt" (1990)]


["Gudrun" (1989)]


Zum Hoffen gehört Jugend. Zum Erinnern gehört Jugend, aber es gehört Mut dazu, die Wiederholung zu wollen. Wer nur hoffen will, ist feig; wer nur erinnern will, ist wollüstig; aber wer die Wiederholung will, ist ein Mann, und je nachdrücklicher er sie sich klarzumachen verstanden hat, ein umso tieferer Mensch ist er. Aber wer nicht faßt, daß das Leben eine Wiederholung ist und daß darin des Lebens Schönheit besteht, der hat sich selbst gerichtet und verdient nichts anderes als – was ihm auch widerfahren wird - zugrunde zu gehen; denn die Hoffnung winkt wie eine Frucht, die nicht sättigt, die Erinnerung ist ein kümmerliches Zehrgeld, das nicht sättigt; aber die Wiederholung ist das tägliche Brot, das mit Segen sättigt. Hat man das Dasein umschifft, dann wird sich zeigen, ob man den Mut hat zu verstehen, daß das leben eine Wiederholung ist, und die Lust, sich darauf zu freuen. Wer das Leben nicht umschifft hat, bevor er zu leben begann, der gelangt niemals dahin, zu leben; wer es umschifft hat, aber satt geworden ist, der besaß eine schlechte Konstitution; wer die Wiederholung erwählt hat, der lebt. [Aus: Søren Aabye Kierkegaard, »Die Wiederholung« (1843)]




["Klavierstück XIII"]


For I say there is no other thing that is worse than the sea is for breaking a man, even though he may a very strong one. [Homer]



["Klavierstück XVII"]


And, day and night, aloof, from the high towers and terraces, the Earth and Ocean seem to sleep in one another's arms, and dream of waves, flowers, clouds, woods, rocks, and all that we read in their smiles, and call reality. [Percy Bysshe Shelley]




["Klavierstück X"]


["Cornwall" (2014)]


The sea-shore is a sort of neutral ground, a most advantageous point from which to contemplate this world. [Henry David Thoreau] - For most of history, man has had to fight nature to survive; in this century he is beginning to realize that, in order to survive, he must protect it. [Jacques-Yves Cousteau]




Donnerstag, 20. Juni 2019

The Gas Station (Variationen) [= S / W 5.14] mit Aufzeichnungen und Zeichnungen aus Zeiten »zwischen« Kriegen



["Alois", Willy Piehler (1919)]


Ich habe von den Erfordernissen des Lebens gar nichts mitgebracht, soviel ich weiß, sondern nur die allgemeine menschliche Schwäche. Mit dieser – in dieser Hinsicht ist es eine riesenhafte Kraft – habe ich das Negative meiner Zeit, die mir ja sehr nahe ist, die ich nie zu bekämpfen, sondern gewisser-maßen zu vertreten das Recht habe, kräftig aufgenommen. An dem geringen Positiven sowie an dem äußersten, zum Positiven umkippenden Negativen, hatte ich keinen Anteil. [Franz Kafka, »Tagebücher« (1918)]



["Dante", Willy Piehler (1922)]



Der sterbende Soldat

Hauptmann, hol her das Standgericht!
Ich sterb’ für keinen Kaiser nicht!
Hauptmann, du bist des Kaisers Wicht!
Bin tot ich, salutier’ ich nicht!

Wenn ich bei meinem Herren wohn’,
ist unter mir des Kaisers Thron,
und hab’ für sein Geheiß nur Hohn!
Wo ist mein Dorf? Dort spielt mein Sohn.

Wenn ich in meinem Herrn entschlief,
kommt an mein letzter Feldpostbrief.
Es rief, es rief, es rief, es rief!
Oh, wie ist meine Liebe tief!

Hauptmann, du bist nicht bei Verstand,
dass du mich hast hieher gesandt.
Im Feuer ist mein Herz verbrannt.
Ich sterbe für kein Vaterland!

Ihr zwingt mich nicht, ihr zwingt mich nicht!
Seht, wie der Tod die Fessel bricht!
So stellt den Tod vors Standgericht!
Ich sterb’, doch für den Kaiser nicht!
[Karl Kraus (1920)]






5. 14 Mobil




Ich bin nur einer von den Epigonen,
die in dem alten Haus der Sprache wohnen.
Doch hab' ich drin mein eigenes Erleben,
ich breche aus und ich zerstöre Theben.
[Karl Kraus]



Der Schein erleuchteter Fenster fiel auf das nasse Trottoir. Es regnete und tropfte unaufhörlich. Eine leise Trauer schien auf allen Gegenständen zu liegen, auf den Pflastersteinen, auf der Gosse, in der das abfließende Wasser gleichmäßig hüpfte, auf den Häusern, auf den vorübereilenden Menschen. Eben kamen zwei junge Fabrikarbeiterinnen vorbei. "So, du hast Antwort gekriegt?", sagte die Ältere, und nach einer Weile: "Warte! Hier im Hausgang brennt Licht, da lesen wir's!"

Beide schlüpften in eine schmutzige, zugige, schlecht erleuchtete Torfahrt, die, obwohl auch hier die Kälte sich einnistete, doch wenigstens den Regen abhielt. Sie lasen den Brief, den die Jüngere aus einem Kuvert zog. Da stand:



Frankreich, 2. September


Sehr geehrtes Fräulein!




Teile Ihnen mit, dass Ihr werter Brief hier eingetroffen ist. Ich habe ihn in einer Munitionskiste, in die ihn ein Kamerad gelegt hat, entdeckt und an mich genommen. Es freut uns sehr, wenn uns jemand schreibt. Nicht nur die Eltern oder Geschwister! Es macht uns Spaß zu denken, dass wir im Urlaub oder wenn Schluss ist, eine kleine Sie am Arm führen dürfen. Bitte, schreiben Sie mir bald!



Mit vielen herzlichen Grüßen


Kanonier N. M.

Feldpostnummer 35/879



Dieser Brief kam von der Westfront. Ein Briefwechsel, bei dem sich Absender und Empfänger nicht kennen, entspann sich hier. Der Absender war ohne Zweifel – das ließ sich seinem Schreiben entnehmen – ein netter, junger Mann. Die Adressatin war ein junges und doch schon alt aussehendes Geschöpf; sie sah aus, als wäre sie nie jung gewesen. Ineinander verschlungene Brauen, unter denen sich schwermütige Lider auf und ab bewegten, beherrschten ihr Gesicht. Sie wirkte befremdend, etwas einer Rassenschranke Vergleichbares schien um sie aufgerichtet.

Ihr fahles, gelbliches Gesicht erinnerte an den fernen Osten, wo die Menschen, wenn die Sonne im Aufgehen ist, niederstürzen, Gebete stammeln und sich kasteien.

Sie war die jüngere der beiden in der Torfahrt stehenden Mädchen, schien aber älter und verbrauchter als die Gefährtin.

Was sagte ihr geschlossener, dünner Mund? Was war auf der niedrigen Stirn unter dem glatten, gescheitelten Haar zu lesen?

War sie, da sie den Brief in der Hand hielt, glücklich? Oder verzichtete sie auch jetzt, im Vorgefühl davon, dass sie ja doch nie dem Hasten und Jagen der anderen nach Glück sich zugesellen noch je Befriedigung aus ihm schöpfen werde, auf Lust und Freude?

Sie war das Kind eines Trinkers, eines Mannes, der vor kurzem, als er in der Fabrik, noch taumelig von der durchzechten Nacht, an die Starkstromleitung gegriffen hatte, über und über verbrannt zu Boden gestürzt war. Doch ganz leise gab sie jetzt zwischen den Wänden, in denen sich der Wind verfing, einem neuen Wunsch Raum, der aus der Tiefe ihres Herzens aufstieg.

Aus der totenähnlichen Ruhe ihrer Seele erhob sich, vergleichbar einem das Wild witternden Wolf, ein brennendes Liebesverlangen. Sie fühlte ihr Herz klopfen; ihre Brust wogte. Los und ledig aller Fesseln erwartete sie – nicht mehr verlassen, sondern mit einem eigenen Erleben beschenkt – die Zukunft.

Außer Essen und Schlafen empfand sie jetzt andere, dringendere Bedürfnisse. Spaziergänge machen, ins Kino gehen, wandern, Blumen und Beeren pflücken – das könnte sie doch sicher auch! Und tanzen, tanzen ... Aber so weit würde sie nicht kommen; das würde ihr nicht gelingen; das stand ihr nicht zu. Doch, zusammen mit ihm in einem Café sitzen und etwas Leckeres essen? Oder mit der Eisenbahn irgendwohin fahren, wie die anderen es sonntags taten! Wohin? Er würde es schon wissen! Zuweilen lächelte sie vor sich hin, wenn sie so etwas dachte.

Im Verlauf von mehreren Tagen brachte sie eine Antwort zuwege, die – so kindlich unbeholfen sie auch war – doch einen Faden von hier nach dort zog, von ihr zu ihm. Mit Freuden fühlte sie, dass auch sie jetzt ihre Heimlichkeiten hatte, kraft derer sie einem Schatz verbunden war. Sie verbot der Freundin ein Aufhebens von diesen Dingen zu machen, ja auch nur einem einzigen Menschen, einer Arbeitskollegin etwa, davon zu erzählen. Das hätte sie sehr gekränkt.

"Es ist ja doch ein Nichts", sagte sie, "er kennt mich ja gar nicht, und wer weiß, ob ich ihm gefalle, wenn er mich sieht."

Es war das Gefühl einer Minderwertigkeit, das aus ihr sprach. Doch ihre Seele, ein leichtes und freies Wesen jetzt, der gewohnten Trostlosigkeit entbunden, dachte anders.

Voll Eitelkeit und Gefallsucht stand sie jetzt eine Stunde früher auf als sonst, wusch und kämmte sich gründlicher, zog ihr gutes Kleid, ihre Schuhe, sie hatte sich ein paar neue gekauft, an und überlegte, wie sie ihn anreden würde, wenn er käme.

In der Fabrik arbeitete sie weniger rasch und genau als sonst; ja sie vergriff sich ein paarmal. Was Wunder, dass die Kolleginnen sie schalten und verspotteten. Sie machte sich nichts daraus. Was wussten die schon?

Die Hochgefühle, die entstehen, wenn sich die beiden Geschlechter nähern, ja wenn sie sich nur entschließen, es zu tun, verliehen ihr Schutz und Sicherheit. Was wussten die schon?

Eines Tages kam seine Antwort. Eine Postkarte, mehr nicht. Er zeigte ihr an, dass er sie gelegentlich seines bevorstehenden Urlaubs besuchen werde. Gewiss hatte sie zu offen von sich gesprochen. Aber sie hatte ihn doch gar nicht eingeladen! Oder doch? Nun, dann sollte er nur kommen! Andere, dachte sie, schreiben doch auch so. Verliebte schreiben eben so.

Der Brief ließ, obwohl er sie freute, doch keine wahre Freude in ihr zurück. Warum nur nicht? Tief in ihrer Brust fühlte sie den Stachel: eine rätselhafte Angst vor seinem Erscheinen. Ja, das war es! War das nicht töricht?

An einem Sonntag saß sie lange, mit ihrem Haar beschäftigt, vor dem Spiegel. Vor ihr lagen Kamm und Haarnadeln, die ihr helfen sollten, eine andere Frisur ins Werk zu setzen. Sie hoffte, dass es auf die eine oder andere Art hübsch würde, aber wohl zwanzig Mal zerstörte sie wieder, was sie begonnen hatte. Sie erhob sich. Ihre schmächtige Gestalt neigte sich, um besser sehen zu können, gegen die Spiegelfläche, die berührt von dem Hauch ihres Atems, einen Augenblick erblindete. In diesem Gesicht bebte es von Begehren, Wünschen und Hoffen. Würde sie ihm gefallen?

"Kein Mensch hat ja so Angst wie ich!", schalt sie sich. Dennoch fühlte sie wie der Schleier, der in den letzten Tagen sie von der Welt geschieden hatte, fiel.

Während sie so saß, stieg die Nacht unmerklich empor und sah zum Fenster herein. Doch weiter bewegte sie die schlanken Finger. "Vielleicht gescheitelt?", dachte sie einen Augenblick.

Da war es ihr plötzlich, als bewege sich der Spiegel langsam von seinem Platz. Seine Rundung wankte. Ohne Zweifel! Und aus der Dämmerung seiner Fläche leuchtete es seltsam, wie phosphoreszierend. Mit weit aufgerissenen Augen schaute sie hinein. Ein grässliches Phantom blickte ihr entgegen. Eine lachende Larve. In diesem Augenblick betrat ihre Mutter das Zimmer, eine Lampe in der Hand. Da zerrann die Erscheinung.

Am Morgen darauf – es war noch Nacht – begab sie sich wie gestern und vorgestern, wie jeden Tag, in die Fabrik. Dort war es hell und warm. Die Maschinen brausten. Alle hörten es gern, wenn die schweren Treibriemen, Schlag auf Schlag, an der Saaldecke entlang sausten. Ein funkelnder Glanz ruhte auf den tausend Rädern. Manchmal sah es aus, als stünden sie still, so schnell drehten sie sich. Alle Mädchen sangen ein Lied, nur kurz vom Chef, der durch den Saal ging, unterbrochen. Hell war ihr kretinenhaft greises Gesicht, wenn sie arbeitete. Fast glücklich!

Etliche Zeit verstrich. Da kam ein Brief – nicht mit der Hand, mit der Maschine geschrieben – des Inhalts, dass Kamerad N. M. seit dem Angriff vom 22. September nicht zur Truppe zurückgekehrt sei. Vor vier Wochen war das schon!

Wie im Traum ging sie heimwärts; es war niemand zu Hause, die Stube war leer. Plötzlich merkte sie, dass alles aus war. Ein dumpfer Schmerz bemächtigte sich ihrer. Sie legte die Hände vors Gesicht und weinte bitterlich.

Die Liebe und das Liebesglück, von denen die Arbeitskolleginnen seiner Heldin schwärmten, die schöne Welt, von der sie wohl große Töne redeten – das alles gab es für sie nicht. Dieses eine Mal war sie nahe daran gewesen, an der Liebe teilzuhaben; doch die Grausamkeit von Welt und Zeit hatten sie in der letzten Minute, so stellte es Alois dar, darum betrogen. Die Verunsicherung und Enttäuschung darüber, dass seine Zeitgenossen sein Pathos nicht teilten, war immens. Journalisten sind, so Alois, zur Hetze und – was am schlimmsten ist – zur Oberflächlichkeit verdammt.

Ich hätte keiner werden mögen, doch mein Vater bildete sich ein, ich sei auf dem Wege dazu. Vom Hof aus konnte man in den Maschinenraum hineinsehen. Da sah ich die mächtige Rotationspresse laufen und die gedruckten Zeitungen herausschleudern.

Johannes Gensfleisch, wenn du das hättest sehen können, wie wäre dir da zumute gewesen! Du hättest es nicht glauben wollen oder können, dass man so drucken kann. Und doch warst du es, der den Anfang gemacht hat!

"Ihnen fehlt die journalistische Nase!", sagte der Chef einmal zu mir. Damit meinte er wohl die Nase, die im Moment, in dem in der Welt etwas geschieht, es riecht und herausschneuzt. Wie stolz wäre ich gewesen, wenn ich eine solche Nase besessen hätte. Ich beschloss, mir eine zuzulegen.

In dem Betrieb hatte Rohlfs erst vor kurzem begonnen zu arbeiten. Wie oft bei solchen Jobs war der Kontakt über eine Bekannte zustande gekommen. In kürzester Zeit gehörte man zur Familie, im wahrsten Sinne des Wortes; denn es war ein Familienbetrieb, wenn auch nicht im hergebrachten Sinne. Es war, wenn man so wollte, ein Transportunternehmen. Hauptsächlich wurden Fotos transportiert, sowohl als Filme als auch die fertigen Fotos. Niemand machte sich ja Gedanken, wie all die wunderbaren Angebote der Läden zustande kamen, was sich beispielsweise dahinter verbarg, dass man einen Film an einem Tag abgab, möglicherweise einfach nur in eine Box warf, und am nächsten Tag konnte man seine fertig entwickelten Bilder in dem Laden abholen. Inzwischen waren die Fotos hunderte von Kilometern unterwegs gewesen, in halsbrecherischer Fahrt, hauptsächlich über Land, denn dadurch wurde die ganze Sache erst möglich, dass es ja zig Geschäfte waren, die auf einer Tour liegen mussten, damit die Sache rentabel wurde. Und das war sie.

Der Betrieb nahm ständig zu. Alle paar Wochen saß man in einem neuen Auto, das, chaotisch wie das Geschäft war, das sich eigentlich erst im Entstehen befand, auch eine alte Rappelkiste sein konnte, aber top in Schuss, wie hätte es sonst seinen hektischen neuen Alltag überstehen sollen. Andere waren nagelneu, wenn man allerdings die Kilometerstände sah, fasste man sich an den Kopf. Natürlich wurde auch ständig getankt, die Rechnung ging direkt an den Betrieb. Der wiederum befand sich, von den Autos einmal abgesehen, die allerdings ihrerseits auf allen verfügbaren Nachbarschaftsparkplätzen standen, wo man sie sich abholen ging, in der Wohnung des Unternehmers.

Das Haus war gerade erst fertig geworden. Kennengelernt hatte man sich noch in der alten Wohnung, einer Bude im dritten oder vierten Stock in irgendeiner Straße in der Innenstadt, wo es das ganze Treppenhaus hinauf bis in die Wohnung hinein nach Heizöl roch. Um das neue Haus  in einem Vorort herum lag noch der Bauschutt, unausgepackte Gegenstände, die im Haus erst noch eingebaut werden sollten, standen herum. Tagsüber gingen wohl noch Firmen ein und aus. Von manchen Räumen wusste man nicht, was aus ihnen überhaupt noch werden sollte, wie oft in solchen Häusern, die in Hinsicht auf Ansprüche gebaut wurden, die die Besitzer vorerst noch gar nicht hatten. Überall brannte Licht, Fahrer, die Rohlfs teils gar nicht kannte, saßen da um nach der Schicht noch einen Kaffee zu trinken, der für das Frühstück war, die Kinder standen mit Schulranzen verträumt einmal hier, einmal da. Einer der Fahrer würde sie auf dem Nachhauseweg gerade noch rasch bei der Schule absetzen, was aber auch nicht klappen konnte, wegen Schichttauschs, woran niemand gedacht hatte. Also war Frau Reinig selber kurz einmal weg und auch schon wieder da. Niemand wunderte sich darüber, dass sie in der Nacht gar nicht geschlafen hatte. Das Licht brannte sowieso immer, auch am Tag, zumal manche Rollläden nicht öffneten. Ohnehin hätten sie auch nur den Blick frei gegeben in jene Neubauödnis im Regen glänzender Erdhaufen, zum Haus hin lief man über einen Brettersteg.

Die schweinischen Brüder hatten ihr Büro im Hof, man erkannte kaum noch, ob es hier früher Landwirtschaft gab, oder ob es das Rückgebäude war, in dem einmal ein Handwerker Depot und Werkstatt hatte. Den Fotoladen an der Straße hätte Rohlfs fast übersehen, über der Hofeinfahrt prangte aber das übliche Blechschild einer Fotofirma, so dass man wusste, hier ging es hinein, zumal man auf der engen, gepflasterten Straße ohnehin nicht hätte anhalten können. Er wunderte sich, wer wohl in einem solchen Gässchen ein Fotogeschäft besuchte, aber hier auf dem Land, wo jeder jeden kannte und es den Laden möglicherweise schon seit Generationen gab, natürlich nicht Foto, aber irgendetwas eben, ging man wohl mit seinen Filmen her und alles lief im Prinzip genauso wie in den schicken Läden in irgendeiner Fußgängerzone.

Zwischen Kisten und Kasten im rückwärtigen Bereich hinter einem veritablen Schreibtisch hervor krähte es in der vermutlich ortsüblichen Dialektfärbung etwa: "Morgen, haha, nur hier lang, ja, hier hab' ich schon alles fertig. Egal, irgendwo oben drauf, hehe!" - "Ja, was, ein Neuer!", ertönte nun dieselbe Stimme in demselben Kauderwelsch von falscher Grammatik, seltsamen Vokalen und verdrehten Konsonanten, allerdings aus einer anderen Richtung, während Rohlfs doch das glatzköpfige Männlein, das ihn begrüßt hatte, nun direkt vor sich sah. Während er noch versuchte hinter allerlei Regalen, Gerümpel und Werbeutensilien nach rechts spähend dem Rätsel auf die Spur zu kommen, fuhr die Stimme fort: "Und wie geht's denn so, ich meine unten rum?" - "Das ist bloß mein Bruder, auf den brauchst du gar nichts zu geben, der hat nur einen Wasserharten, haha!" - "Von wegen Wasser", gab der andere zurück, den Rohlfs inzwischen entdeckt hatte, wie er hinter einem genau gleichen monströsen Schreibtisch thronte, über das ganze Gesicht eine einzige Fröhlichkeit. "Das werden wir noch sehen", sprach er in einer Art Gemecker weiter, "wem seiner hier länger steht, hehe. Ja, ja, nur dahin mit den Taschen. Das Zeug, das du mitnimmst, gibt dir der andere hier. So, du kommst jetzt also auch? Ja, schön haben wir es hier, was? Wir sind beide Säue, mein Bruder und ich, wen findest du von uns die größere Sau?" - "Jetzt mach ihn doch nicht gleich beim ersten Mal ganz fertig! Gelt, nichts für ungut, nicht wahr?" Rohlfs, der noch einmal schaute, ob er über den Reden der Brüder auch nicht die Taschen verwechselt hatte, war schon im Gehen und hörte hinter sich, wie sich die Unterhaltung der beiden fortsetzte: "Und ob ich weiß, wie oft so ein junger Kerl es jeden Tag braucht!" - „Grad du mit deinem Wasserharten!" Anstelle einer Verabschiedung ertönte ein anhaltendes Gelächter der beiden, die Rohlfs hinterherschauten, soweit es in dem Durcheinander von Regalen und so weiter möglich war.

Rohlfs hatte wohl im Umdrehen irgendetwas von wegen auf Wiedersehen gesagt, konnte damit aber kaum auf das Thema einwirken, das die beiden offenbar fortwährend beschäftigte. Nie hätte er in einem solchen Kaff diese Art von Leuten erwartet. Womöglich stand vorne ihre Mutter in einer Kittelschürze im Laden und hätte die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, was die Umgangsformen ihrer um die vierzigjährigen Sprösslinge anging.

Helmuth Wilhelmys Diskothek war ein stillgelegtes Kino samt der dazugehörigen Kneipe. Es herrschte ein irrsinniger Betrieb. Man fragte sich, was um alles in der Welt all die Leute in dieses Grenznest verschlug, noch dazu mitten in der Woche. Da ansonsten im Dorf offenbar der Hund begraben war, hatte dieser Menschenauflauf etwas davon, wie Schaulustige sich an einer Unfallstelle herumtrieben. Es wurde mitten auf der Straße angehalten, auf die wildeste Art geparkt, die Traube der Thekensteher quoll aus dem Eingang, und alles dies versank nach fünfzig Metern im Nichts der Dorfstraße, die auf diese Weise sich noch dreißig Kilometer durch weitere Dörfer schlängelte, bis zur nächsten Kleinstadt, wo auch nichts los war. Helmuth war ein Phänomen, denn auch hier kam es offenbar nur auf seine bloße Anwesenheit an.

In einem seiner krass geblümten Hemden mit dem unvermeidlichen übergroßen Kragen, dessen Knöpfe über der wohl behaarten Brust klafften, regelrecht hinein gegossen, saß er an einem der breiten Tische der Theke gerade gegenüber. Wer ihn nicht kannte, hätte in ihm einen x-beliebigen Gast vermutet, allenfalls einen Stammgast. Vielleicht war das das Geheimnis der Kneipe und Helmuth war sozusagen exemplarischer Gast. Da es seine Kneipe war, war er immer da, aber nicht als ein Wirt, der Geld verdienen wollte, der die Gäste kannte, weil das zum Geschäft gehörte. Helmuth lebte den Gästen vor, wie man in einer Gaststätte glücklich sein konnte, und dazu kamen sie schließlich. Alle Frauen küssten ihn, ohne dass man je gesehen hätte, wie Helmuth seinerseits eine Frau anschmachtete, von der allein er geküsst werden wollte. Seine Begleiterinnen waren flüchtig, kaum einmal wiederholte sich ein Abend mit derselben, höchstens, so dass man sich wunderte, konnte es geschehen, dass Wochen oder Monate vergangen waren, und Helmuth erschien mit einer alten Flamme aufs Innigste vereint.

Sollte sich eher umgekehrt der Kalender geirrt haben? Niemand konnte sich vorstellen, dass der Wirt schon einmal mit irgendjemandem einen Streit gehabt hätte, mit den Frauen am allerwenigsten.

Militärisches Sperrgebiet betrat man sozusagen, wenn man die Eisengittertür durchschritt, die am Treppenabsatz des unteren Flurs martialisch angebracht war. Es befand sich dort noch eine Art Hausmeisterzimmer und wohl noch eine alte Toilette, die als Abstellraum für die Reinemachefrau diente. Rohlfs sah, wie der Fahrer sich dort hin und wieder zu schaffen machte; es war klar, dass man jemand anderes dort nicht zu suchen hatte. Auch gab es einen hinteren Ausgang, der in einen Garten führen musste, der aber jetzt, wie man aus einem der oberen Räume sehen konnte, eine triste Einöde war. Alte Gartenmöbel, die darin zurückgeblieben waren, zeugten von einer längst vergangenen Zeit. Wenn der Getränkehändler stapelweise vor allem Bierkästen mit seinem Sackkarren ins Haus brachte, herrschte vor dem Zimmer des Fahrers rege Betriebsamkeit. Niemand schien sich darüber zu wundern, dass schließlich ein Bürogebäude beliefert wurde. Wenn der Wagen bei der Gaststätte einige Häuser weiter das nächste Mal hielt, waren es kaum mehr Getränkekisten, die auf dem Gehsteig manövriert wurden.

Wer den großen  Kühlschrank in Wilhelmys Büro bestückte und das Leergut nach unten beförderte, war Rohlfs bisher entgangen. Für Wilhelmy selber waren es alltägliche Vorgänge im doppelten Sinne des Wortes. Am allgemeinen Getränkekonsum beteiligte er selber sich ausgesprochen mäßig, kaum dass man ihn einmal an einer warm gewordenen Cola nippen sah.

Die Gaststätte hatte früher schlicht Kinoklause geheißen, welcher Name auch immer noch in den Farben der Brauerei über dem Eingang prangte. In Anspielung auf Helmuths Bundeswehr-Vergangenheit und seine Bikerleidenschaft hieß sie jetzt "The Helmet", was anfangs einige versprengte wirkliche Biker angelockt hatte, so dass einigen der Atem stockte, als diese in der üblichen Formation eintrafen. Im "Helmet" selber wurde allerdings ihre Ankunft nicht besonders zur Kenntnis genommen. Keine zwanzig Minuten später verließen sie in offenbar feststehender Reihenfolge das Lokal, machten sich gegenseitig aufmerksam auf die Lächerlichkeit von Helmuths Honda Gold Wing, die sie beim Eintreten eigentlich keines Blickes gewürdigt hatten, und hatten dann zu tun ihre mit den bekannten Westernattributen ausstaffierten, rüttelnden, schmatzend fehlzündenden Chopper  auszuparken, auf die sie sich tief niedergelassen hatten.

Die Boons, wie in Ermangelung vertiefter Englischkenntnisse alle, übrigens auch sie selber sich, nichtsdestoweniger in tiefer Verneigung vor allem, was aus Amerika kam, nannten, trugen,  richtig geschrieben, das nun doch, auf ihren Jeans- oder natürlich auch Lederjacken, das Emblem "The Bones - Germany". Man mochte sie für junge Leute halten, die ihrem Hobby frönten, Verrückte, die den letzten Groschen ausgaben für die wahrscheinlich Tieferlegung ihres ohnehin schon reichlich schrägen Feuerstuhls, oder was man sonst mit diesen Dingern anstellte, man kannte das ja von den Mantafahrern.

Der dicke Philipp Adler hier aus der Nachbarschaft beispielsweise fuhr einen GTI, dem man ansonsten nichts ansah. Eigentlich hätte man bei ihm auch befürchten können, er sei einer von denen, die auf Kinderspielplätzen hinter Zeitungen heraus kleinen Mädchen unters Röckchen schauten, denn manchmal war der Philipp für ein, zwei Stunden verschwunden. Die Eltern, bei denen er mit seinen vierzig Jahren nichtsdestoweniger noch wohnte, sorgten sich aber nicht. Der Vater wusste ja, dass der Philipp inzwischen mal die Autobahn rauf und runter ist, vielleicht auch zweimal, man konnte es an den Reifen fühlen. Auch die Boons waren gewissermaßen fahrendes Volk. Zuerst hauste man in einem der baufälligen Behelfsheime, die nach dem Krieg für die Ausgebombten errichtet worden waren, und die nun nach und nach leer standen, da die alten Leutchen, die dort seither gewohnt hatten, der Reihe nach starben. Auch der eine oder andere Sohn oder sonstige Verwandte, der versucht hatte sich in dem primitiven Gelass seiner Jugend festzusetzen oder dort eine letzte Zuflucht eines gescheiterten Lebens zu suchen, verkam etwa vollends in zwei Zimmerchen, in denen es von der Decke tropfte und die Wände schimmelten. Seit einiger Zeit aber waren auf der Straße zuerst, dann auf dem Gelände eines halb eingestürzten dieser Häuschen, dessen klägliche Überreste einige Boons an ein, zwei Nachmittagen vermittels zweier Container entsorgt hatten, auffällige Wagen geparkt, entweder eindeutig amerikanischer Herkunft, oder aber auch deutsche, jedenfalls das, was man Schlitten nannte, allesamt schwarz, so dass es nicht weiter auffiel, dass sich auch ein veritabler Leichenwagen unter den Gefährten befand. Diese Fahrzeuge parkten teils mit Planen abgedeckt mit angelaufenen Scheiben, wurden gegen wieder andere ausgetauscht, man hätte schon zufällig genau in dem Augenblick vorbeikommen müssen um die eigentlichen Aktivitäten zu sehen, die auf dem Gelände stattfanden. Neu war die Wagenladung Schotter, der den Platz abdeckte, an dem das alte Häuschen gestanden hatte, wenn es nicht zwei waren, denn das sah man wohl, dass das Gelände lichter wurde, und im Hintergrund waren zwei der Häuser durch eine geschickte Konstruktion miteinander verbunden worden, der Eingang offenbar wohl des Clubhauses, denn dort prangte in der Art, wie man Elektrogeschäften nachgemachte Leuchtreklamen kaufen konnte, "The Bones" über einer zweiflügeligen Ladentür, die wohl von einem alten Einkaufsmarkt stammte. Nichts von dem, was die Boons für sich herrichteten, hatte den Charakter der Behelfsmäßigkeit, so wie sonst Hobbyleute billige Lösungen suchten, weil keiner sich von den anderen ausnutzen lassen wollte. Hier entstand nach und nach eine veritable Welt, so wie Rohlfs das von den Amerikanern selber kannte, wenn auch die Boons keineswegs Amerikaner waren, nichtsdestoweniger schufen sie für sich und ihre amerikanischen Motorräder die einzig richtige Barackensiedlung, arrangierten sich noch mit einem ebenso aufstrebenden Kleinunternehmer aus dem Baugewerbe und waren binnen einiger Jährchen mit ihm Eigentümer des gesamten Areals, auf dem vorher zehn, zwanzig jener Behelfsheime gestanden hatten. Da offenbar Geld vorhanden war und man weiter nichts von ihnen zu leiden hatte, außer, dass sie mit ihren Feuerstühlen an einem vorbei donnerten oder knatterten, je nachdem, dachte man sich bei dem Übrigen nichts weiter, wagte wohl den einen oder anderen vorsichtigen Blick auf chromblitzende Tieflader mit Sidepipes, wie sie eigentlich in Deutschland verboten waren, möglicherweise eben Attrappen, und erging sich in den üblichen Kommentaren über Sonderlinge, die ihr Geld, von dem sie ganz offensichtlich erheblich mehr besaßen als man selber, für diese Art von Dingen ausgab. Möglich, dass auch berufsmäßige Rocker unter ihnen waren, und mit denen legte man sich bekanntlich besser nicht an.

Wilhelmys Faktotum war ein gewisser Herr Kappeser. Man sah ihn an Tagen, an denen es hoch herging, auch hinter der Theke. Die weiße Kellnerjacke machte die schwarzen Fingernägel kaum wett, für die ihn Wilhelmy hasste, die er dann ungeschickt versuchte zu verbergen, wobei ihm nur weitere Missgeschicke unterliefen, was der Chef umso lächerlicher fand, der ihn so bald nicht wieder hinter die Theke ließ. Wie alle erkannte auch Kappeser Wilhelmys Autorität fraglos an, lief, eine Art menschlicher Schraubstock, hündisch hinter ihm her und versuchte es ihm in jeder Weise recht zu machen. Als Kasper und Hauptfeld Weber beim Helmet ankamen, war Kappeser dabei Küchenabfälle in die dafür vorgesehene Tonne zu schütten. Was sie um diese Zeit hier wollten, sprach er sie unvermittelt an, Kasper wollte aus der allgemeinen Anrede indes herausgehört haben, dass man offenbar geduzt werde, was auch der Fall war, denn Kappeser hatte "ihr" gesagt. Das Helmet war eindeutig ein Platz, den man in der Dunkelheit besuchte, wie man an der allgemeinen Schäbigkeit der Fassade und des Vorplatzes wohl erkennen konnte. Trüb brannte auch die Leuchtreklame der Brauerei, es war wohl spät geworden und jemand hatte vergessen sie zu löschen.

Hauptmann Kasper hatte sich vorgestellt, man werde einfach dem Lokal des etwas exzentrischen Mitarbeiters anlässlich eines Ausfluges einmal einen Besuch abstatten. Ein Schinkenbrot mochte dort doch wohl zu bekommen sein. Bei dem brüsken Empfang könne es sich immerhin doch um ein Missverständnis handeln. Ob denn Herr Wilhelmy nicht da sei, möglicherweise mit dem Wagen unterwegs, denn das sei ja sein Motorrad. Kappeser, keinesfalls gewillt sich auf eine dämliche Fragerei einzulassen, fuhr auf, sie sollten ihre dreckigen Nasen in ihre eigenen Angelegenheiten stecken. Hauptfeld Weber, der eigentlich schon bei der Begrüßung bemerkt hatte, dass hier etwas aus dem Ruder laufen werde, holte Luft für eine Entgegnung, etwa in dem Sinne, hier müsse ein Missverständnis vorliegen. Aber Kappeser war schon in seinem Element und fuhr ihn an: "Ihr könnt euch genauso gut verpissen, ihr Arschgesichter!", worauf er den Deckel der Tonne zuknallte und um die Ecke verschwand. Der Hauptmann, dem die Zornesröte ins Gesicht gestiegen war, hatte plötzlich das Gefühl, die Tasche seiner Frau, die er immer noch in der Hand trug, gebe ihn vollends der Lächerlichkeit preis, weshalb er sie kurzerhand auf die vordere Haube von Webers Käfer stellte. Dort drohte sie das Übergewicht zu bekommen, auch war es Weber wohl nicht recht, dass man den Lack seines Wagens womöglich beschädigte, weshalb nun er mit der Damenhandtasche dastand, was bei ihm allerdings weitaus weniger lächerlich aussah. Tatsächlich kam Kappeser mit einem weiteren Eimer voller Abfälle und Unrat um die Ecke, würdigte aber nun die Anwesenden keines Blickes mehr und hantierte nur lärmend an den Tonnen, in die er darin befindliche Müllbeutel tiefer hineinstieß um seine Ladung noch unterzubringen. Natürlich wagte man nicht mehr das Wort an ihn zu richten, stand vielmehr durch sein neuerliches Auftauchen überrascht und gewärtig Opfer weiterer Beschimpfungen zu werden, da.

Hauptmann Kasper, der schwer atmete, vergaß jede Höflichkeit gegenüber seiner Frau und schwang sich in den Wagen, wo er jetzt saß und geradeaus stierte, während man draußen beriet, was nun weiter zu tun sei.

Wilhelmy, der die Szene von einem oberen Fenster aus verfolgt hatte, wollte später von Kappeser wissen, was da los gewesen sei. Der zuckte und rückte irgendwie seinen Kopf in dem viel zu eng zugeknöpften Hemdkragen zurecht. Er kannte sich und bereute seine Ausbrüche, gegen die gleichwohl nichts zu machen war. Es kam einfach so über ihn. Wilhelmy hatte den Galgenstrick von Anfang an beobachtet und fand, dass er gerade die Unberechenbarkeit Kappesers in seinem Laden gebrauchen konnte. Eines durfte allerdings nie geschehen, dass der Kerl sich auch nur ein einziges Mal gegen den Chef wandte. Aber das schien auch so programmiert zu sein. Einfach hinzuzutreten, wenn Kappeser einen Gast in der Mache hatte, genügte, dass der auf dem Absatz kehrtmachte, oder sich der Tätigkeit wieder zuwandte, bei der er sich gerade unterbrochen hatte. In diesem Fall hatte Wilhelmy vom Fenster aus gesehen, um wen es sich handelte. Er war nicht eigentlich überrascht, alle aus der Dienststelle kamen früher oder später einmal vorbei aus einer Mischung aus Neugier und geheimem Respekt heraus vor der Tatsache, dass der unscheinbare Kollege ein veritables Doppelleben führte, über das man sich seine Geschichten erzählte. Kasper würde umso eisiger schweigen und einen Bogen um Wilhelmy machen. Er soll sogar ernsthaft erwogen haben einen Anwalt einzuschalten. Was sich da ereignet habe, käme ja regelrecht auf ein Lokalverbot heraus. Und was man sich denn zu Schulden habe kommen lassen? Da müsse eigentlich das Gewerbeaufsichtsamt, oder jedenfalls die Schankbehörde in Kenntnis gesetzt werden, verlor er sich in Spekulationen.

"Wieso fährst du überhaupt dahin, wenn du den Wilhelmy nicht leiden kannst?", unterbrach seine Frau das ewige Schweigen im Auto. "Was denn, Schankbehörde, gibt es denn so etwas überhaupt?" Sie war den ständigen Ärger satt, den er sich bei ihr erlaubte. Dass er auch ganz anders konnte, hatte sie sehr wohl bemerkt, und es geschah ihm recht, dass er sich seine Abfuhr vor den Augen und Ohren von Webers Freundin eingehandelt hatte. Als ob ihr entgehen würde, wie er um die herumscharwänzelte, alter Bock, der er jedenfalls sei, aber das könne man ja nicht ernst nehmen. Nicht einmal der Weber nehme es ernst.

"Frau Kasper", hatte er gesagt, "nehmen Sie sich das mal nicht zu Herzen. Ich kenne den Heinz. Man muss ihn zu nehmen wissen." Und ob sie ihn zu nehmen wusste. Solche Tage wie heute mussten ab und zu sein, die brachten ihn wieder auf den Boden der Tatsachen. Erst jetzt fiel es ihm ein im Rückspiegel nachzusehen, wo Weber blieb. Es war weit und breit nichts von ihm zu sehen. Also wendete Kasper um ihm entgegen zu fahren. Als sie wieder auf der Höhe von Wilhelmys Helmet waren, stand Webers Käfer noch da, weshalb der Hauptmann zwar ziemlich langsam, aber ohne weiter nach dem Kollegen und seiner Begleiterin Ausschau zu halten, vorüberrollte.

Neuerdings tauchte ein Typ namens Magnus im Helmet auf. Er sprach mit ziemlich lauter Stimme und hatte stets eine Schar von, man konnte nicht sagen Bewunderern um sich, denn es gab wohl den einen oder anderen, der seinen gewagten Thesen widersprach. Solche Einsprüche parierte Magnus mit einer Geläufigkeit, dass er die Lacher und damit eben doch Bewunderer stets auf seiner Seite hatte. Er kam spät, immer in Begleitung einer zwar älteren aber auffallend adretten Begleiterin, mit der ihn offenbar mehr als nur Geschäftliches verband. Nicht dass man die beiden je mit sich selber, also miteinander beschäftigt sah. Hedda, wie sie hieß oder auch bloß sich nannte, war unter den Bewunderern von Magnus diejenige, die alle seine Geschichten kannte und darum Zustimmung und Bestätigung bereits signalisierte, wenn die übrigen Zuhörer noch herumrätselten, ob der Prahlhans sich nicht dieses Mal aus seinen eigenen Worten einen Strick drehen würde, man also rechtzeitig abspringen musste, schließlich hatte man schon immer gewusst, dass der Typ es eindeutig zu weit trieb. Dazu kam es aber nicht, da Magnus diesen Zweig seines Geschäftes mit derselben Professionalität betrieb wie den, wozu er überhaupt in die Gegend gekommen war. Seine letzte Station war Berlin gewesen, daher auch Hedda mit dem bewussten Tonfall, wie man jetzt erkannte. "Wenn man mich nach meinem Beruf fragt", verkündete er etwas überlaut wie stets, "so sage ich Buchhälter", worüber recht verspätet gelacht wurde, die wenigsten verstanden, was der Wichtigtuer im Einzelnen sagte. Sehr wohl verstand man, dass er es sich leisten konnte, wie er überhaupt sich einiges leisten konnte. Der Wagen, den er in der schrägen Reihe der übrigen Dutzendfahrzeuge parkte, war ein amerikanisches Modell, nicht von der übertrieben ausladenden Sorte, aber unverkennbar das, was man einen Schlitten nannte, und trug ein belgisches Kennzeichen, während Magnus' Deutsch ihn als Schweizer auswies. Woran man die Deutschen erkenne, egal in welchem Ausland, erklärte er, niemand wusste, wie er auf das Thema gekommen war, an ihren billigen Schuhen! Deutsche hätten alles, die beste Fotokamera, eine Versicherung für alles Mögliche, den Leihwagen schon von zu Hause aus fest gebucht, Nichtraucher, obwohl sie selber rauchten, und: billige Schuhe. Er würde allein anhand der Schuhe aus hundert Leuten, die am Flughafen Schlange stehen, die zehn, zwanzig oder dreißig Deutschen herausfinden. Für Schuhe hätten sie nichts übrig. Woher er die Frechheit nahm, auf diese Weise vor lauter Deutschen zu sprechen, mochte sich fragen, wer wollte. Offenbar ging die Identifikation mit ihm so weit, dass man in seiner Gesellschaft zur erlesenen Schar derer zu gehören hoffte, die nicht bloß Deutsche waren. Da er ja selber Deutsch sprach, wenn auch Schweizerdeutsch, so hatten seine Reden, was dieses Thema betraf, möglicherweise jenen Ton von Selbstkritik, den man von Stammtischen kannte. Schön dumm waren die Deutschen, dass sie sich dies und jenes gefallen ließen! Also gewann man letztlich patriotisches Kapital, wenn man sich ihm anschloss.

Der Blick auf seine Schuhe lehrte allerdings etwas anderes, dass sie jedenfalls nicht billig waren. Das, und da hatte Magnus nicht recht, waren ihre eigenen allerdings auch nicht. Man hätte nicht gewusst, wo man solche wie Magnus' Schuhe eigentlich kaufte, und praktisch waren sie auch nicht, so wenig wie der Schlitten, den er fuhr. Er sei, behauptete Magnus, wobei Hedda, die immer zu wissen schien, was er als Nächstes zum Besten geben würde, bereits zustimmend nickte, er sei ja ein entlaufener Mönch, habe hinter Klostermauern in die üblichen Abgründe geblickt. In Holland sei das gewesen, und er habe mit mehr oder weniger heiligem Ernst das Geschäft des durchschnittlichen Klosterbruders betrieben. Das jedenfalls könne er behaupten, sonst wäre er ja gar nicht da, dass Klostermauern nicht um die Klöster gebaut seien, damit man nicht hinauskönne. Klaustrophobisch sei man im Kloster, und mit Recht, gegenüber dem, was durch die Mauern von außen abgehalten werde. Heute mehr denn je! Hatte Luther im Kloster vielleicht noch darum gerungen, wie er vor Gott Gnade finden könne, so ringe doch der Mensch außerhalb des Klosters heute darum, wie er vor sich selber Gnade finden könne. Und da wisse er, nicht zuletzt als Geschäftsmann, nun wirklich Bescheid. Was man sich unter Buchhälterei konkret vorzustellen habe, wusste fürs Erste niemand so genau, außer Hedda, die schließlich die Angestellten anleitete, von denen auch hin und wieder die eine oder andere mit im Helmet war, meist sehr spät in der Nacht. Nicht dass jemand ein Geheimnis daraus machte, es war letztlich zu banal, als dass man es glauben wollte.

Hedda war, wie sie ohne jedwede Umschweife erklärte, erst in kleineren Städten und schließlich in Berlin auf den Strich gegangen, wo sie zuletzt ein kleines, aber feines, ja, ja, meine Herren, Etablissemang betrieb. Dann sei der Magnus in ihr Leben getreten. Als ehemaliger Klosterbruder habe er wohl einigen Nachholbedarf gehabt, und auch sonst sei er treu wie Gold. Sie stehe auf treue Männer, besonders, wenn sie auch bezahlen könnten. Magnus habe möglicherweise die Klosterkasse mitgehen lassen, sei jedenfalls mit der Buchhaltung des Klosters befasst gewesen. Hedda auf ihrem Barhocker wippte mit dem Bein, einen cremefarbigen Schuh balancierend, der sehr spitz war und den sie ohne Strümpfe trug. Sie war eine ehemalige Schönheit, kaum zurechtgemacht, sich des Kapitals ihrer Erscheinung jederzeit bewusst. Nie machte sie jemand anderem auch nur ansatzweise schöne Augen als Magnus, den sie wohl liebte wie eine Mutter, die stolz war auf ihren Sohn. Dabei war sie nicht alt, sondern sie schien sich auf der Tatsache auszuruhen, erfolgreich gewesen zu sein, eine Geschäftsfrau mit ihrem Partner. Allen lief das Wasser nach ihr im Munde zusammen, zur großen Genugtuung Magnus', während sie beides ignorierte, schließlich war sie nicht im Dienst. Die Kirche habe schon Recht gehabt, sich abzuschotten gegen die Gier der Welt, das viehische Geiern nach Geld ewig Geiler, genoss Magnus sein Statement in die Runde blickend, dabei mehr oder weniger starren Blicken begegnend, teils wegen des Geldes, das er offensichtlich hatte wie Heu, in erster Linie aber wegen Hedda, die wieder nachdrücklich Zustimmung nickte.

Magnus kam wie gewöhnlich spät, der Abend hatte so vor sich hingedümpelt, es würde also um eins geschlossen werden und wovon man insgeheim hoffte, dass es heute geschehen würde, musste um ein weiteres Mal vertagt werden. Helmuth hatte ein paarmal in die Gaststube geschaut, sich aber ansonsten hinter einem Bildschirm verkrochen, der sein kleines Kabinett in ein bläuliches Licht tauchte. Dem Geschehen, das da an ihn heranflimmerte, schien er keine große Aufmerksamkeit zu schenken, vielmehr widmete er sich irgendwelchen Papieren, die er in Häufchen sortierte, an die er mit Büroklammern Zettelchen heftete, alles durch eine große Altmännerbrille betrachtend, für die er eigentlich noch nicht in die richtigen Jahre gekommen war. Niemand wusste, was er wirklich da trieb, während man selber bloß als Besucher seiner Kneipe die Zeit totschlug. Da Magnus und Hedda das Lokal betreten hatten, verbreitete sich binnen einiger Minuten eine Stimmung von Aufgekratztheit. Niemand wollte sich mehr an ein heimliches Gähnen erinnern, mit dem er Kappeser vor einer Viertelstunde "zahlen" zugerufen hatte. Dieser atmete durch die Zähne, das Hereinkommen des Paares unter knappen Blicken in den Spiegel registrierend. Helmuths Faktotum hasste Magnus auf eine abgründige Weise, und dieser spielte auf der Klaviatur dieses Hasses mit allen Kniffen und Tücken eines, der seine Sache ganz genau verstand. Zu diesem Spiel gehörte, dass Kappeser mit seinem Tuch die Stelle des Tresens gewischt hatte, noch bevor Magnus dort Platz nahm, ebenso wie das, was dieser gewöhnlich trank, serviert war, beide Getränke, auch das Heddas, also ein Kännchen Kaffee und ein Bier mit perfekter Krone.

Magnus trank nie etwas Alkoholisches. Den Reden, die Magnus mit lauter Stimme führte, und zu denen er die Stichwörter derer virtuos aufgriff, die nun doch geblieben waren, wie er wohl wusste, seinetwegen, folgte Kappeser dreiviertel abgewandt wischend und sonst auf jede nur denkbare Art hantierend.

Er wusste, Magnus würde ihn jederzeit aufs Korn nehmen können, und er würde ihm Bescheid geben, nicht mit diesen geschliffenen Worten eines Erzaufschneiders, sondern das Maul würde er ihm stopfen und überhaupt ihm seine unverschämte Fresse einschlagen. Wozu reden mit so einem Schwätzer! Ihm seine unverschämte Fresse einschlagen! Entgeistert blickte Kappeser auf das Handtuch, das sich mit Blut vollsog, weil das Glas zerbrochen war, in das er das Tuch hineingedreht hatte. Für den Bruchteil einer Sekunde begegneten sich ihre Blicke im Spiegel, Magnus war keiner, dem etwas entgangen wäre, und natürlich schwieg er dazu, vorerst.

In der Stadt hatte man noch nirgends etwas in dem Sinne unternommen, dass sie dadurch etwa schöner werden könnte. Fußgängerzonen waren entstanden, womit man sich von einer Autoflut befreien wollte, wie sie erst Verheißung einer besseren Zeit gewesen war und nun das allgemeine Heil nicht brachte, weil sie es jedem brachte.

Die Vision der autofreien Stadt rang darum mit der Idee, wie gut es doch wäre, wenn man selber sehr wohl überall mit dem Auto hinkönnte, nicht aber so viele andere. Den durch Fußgängerzonen verschenkten Verkehrsraum sah man darum mit Skepsis, zumal erst einmal nur provisorisch Pflanzkübel in die gesperrten Straßen gerückt waren. Die standen schief, weil man mit dem entstandenen Raum im Grunde nichts anfangen konnte und auch, weil ja die Oberfläche der Straße wegen der Wasserführung gekrümmt war. Der Verkehr quälte sich ein paar Straßen weiter in der gewohnten Weise, vielleicht sogar mehr, weil er einen Umweg nehmen musste und weil Raum von ihm freigehalten wurde, in den er sich sonst ergossen hatte. Man schüttelte die Köpfe. Niemand hätte geglaubt, dass eines fernen Tages eine andere Nützlichkeit in Betracht käme als eine solche der Fortschreibung dessen, was bisher als nützlich anerkannt war. Die Straße, ein Ort, an dem man verweilte, überhaupt verweilen, sich etwas hinzugeben, bereits da zu sein, also nicht von einem zum anderen Ort unterwegs, eine Vorstellung, die der Epoche völlig abzugehen schien. Man musste das alles nicht bemerken. Umso weniger, als man wirklich schlimme Zeiten gesehen hatte. Kein einziges Mal, dass man beispielsweise Bob etwa hätte klagen hören über die allgemeine Hässlichkeit dessen, was einen umgab. Er erwartete einfach nicht mehr. Was Rohlfs widerwärtig genannt hätte, war für ihn crazy, mit der Welt selber befand er sich völlig im Einklang.

"Wie warst du eigentlich als Kind? Das bist du doch hier?" - "Nein, die Lederhosen hätte ich allerdings gerne gehabt." - "Dann bist du der hier. Herrje, was für Brillen sie euch damals verpasst haben! Auch die Mädchen, schau mal, die hier!" - "Das ist die Edith Schaußen. Und die neben ihr, das ist Veronika, der Familienname fällt mir gerade nicht ein; und der gehört eigentlich die Brille, die Edith aufhat. Für dritte oder vierte Klasse eigentlich ganz schön frech. Es gab ein Riesentamtam, so ein Klassenfoto war in den Jahren noch eine Art Ereignis, und dass sich jemand einen Jux damit erlaubte, noch dazu so kleine Gören, das sorgte schon für einigen Wirbel. Es hieß, einige wollten das Foto dann nicht haben, obwohl die Sache sich erst nach und nach herumsprach, unter den Eltern meine ich, die Kinder fanden nichts dabei. Unsinn wurde schließlich immer getrieben." - "Kinderbrillen gab es natürlich nicht, ebenso wenig wie Kinderkleider. Irgendwie seht ihr alle etwas verbiestert aus, wie kleine Monster. Rück' mal ein Stück zur Seite!" Constance zog sich die Decke ein wenig höher um die Schulter. "Kennst du eigentlich heute noch irgend jemanden von denen allen?" - "Nicht viele, es ist ja meine Grundschulklasse, das heißt, Grundschule sagte man damals gar nicht, es war einfach die Volksschule, in der die meisten dann ja auch blieben. Eine Handvoll von uns ist in dem Jahr, aus dem das Foto, glaube ich, ist, aufs Gymnasium gegangen, und dann sah man sich kaum noch." - "Du warst also ein guter Schüler, du siehst auch wirklich aus wie ein Herr Professor." - "Für damalige Verhältnisse vielleicht, heute sehen Professoren doch immer irgendwie cool aus, kariertes Hemd und Stoppelbart haben nur noch die Altmodischen. Glatze mit Zopf ist auch noch häufiger zu sehen." - "Komm, sei nicht fies, Rohlfs! Ich will wissen, ob du ein Streber warst." - "Jedenfalls sehe ich wie einer aus. Aber dann wäre Gustav Heinemann auch ein Streber gewesen. Ich finde, ich sehe aus wie Gustav Heinemann." Constance lachte: "Da hast du Recht, wundere dich nicht, wenn ich dich dann manchmal Gustav nenne!" - "Vielleicht war man für die anderen Kinder ein Streber, einfach weil man aufs Gymnasium sollte. Gute Noten fand ich normal, nicht dass ich alles gleich gekonnt hätte, im Gegenteil, ich fand das meiste schwierig und wunderte mich, wie wenig Mühe andere auf das Schulische verwendeten."

"Sag mal, was sind das für Brillen, die du neuerdings trägst? Warum gehst du nicht zum Augenarzt, hörst du? Du solltest wirklich nicht irgendwelche Brillen tragen. Wo hast du die überhaupt her? Ach, hier bist du. Hörst du mir überhaupt zu?"

"Doch, du meinst die Brillen, im Ernst, mit manchen sehe ich manchmal ganz gut. Ich habe einen ganzen Sack voll davon." - "Einen Sack voll?" - "Sie sammeln sich so an bei mir. Manche schlachte ich aus, oder nehme das störende Glas raus. Eins passt ja immer, jedenfalls bei diesen Dingern für alte Leute." - "Alte Leute, das sieht dir ähnlich, Rohlfs, allerdings sind sie wohl schon so lange aus der Mode, dass sie gerade wieder neu rauskommen."

"Habe ich auch schon festgestellt. Neulich hat mich sogar jemand nach einer gefragt, weil sie sie so cool fand, ja wirklich, ich glaube cool hat sie gesagt, oder sagt man das schon gar nicht mehr, jedenfalls etwas in der Richtung. Als ich ihr die Sache mit den Senioren und so weiter erzählte, war's ihr, glaube ich, gar nicht so recht." - "Kann ich verstehen." - "Du meinst Brillen von anderen Leuten sind unhygienisch?" - "Nicht direkt. Du wirst sie doch wenigstens waschen? Aber weißt du, diese Leute, von denen du die Brillen hast, die sind doch nicht tot? Mal ehrlich!" - "Manche, jeder ist mal tot, Consti, aber im Ernst, ich weiß es nicht, beziehungsweise, ich merke es mir nicht. Ich stoße auf alle möglichen alten Sachen; wovon ich glaube, dass es noch zu gebrauchen ist, das behalte ich. Brillen sind sogar regelrecht kostbar. Ich weiß, dass meine Mutter welche für 700.- hat." - "Siebenhundert was?" - "Ist doch egal, einen Haufen Geld eben. Also ich wasche die Dinger tatsächlich nicht, das heißt, bei mir werden sie so dreckig, dass ich sie nach einer Weile auch mal wasche." - "Wenn ich es nicht sehen würde, also weißt du, Rohlfs, manchmal glaube ich, du denkst dir diese Sachen einfach nur aus. Komm, ich seh's dir an, was soll der Unsinn, worauf willst du hinaus? Und jetzt nimm dieses gottverdammte Ding von der Nase! Ich rede im Ernst mit dir." - "Constilein, nicht böse sein, du regst dich doch bloß künstlich auf."