But too late to find
That their beauty has been lost
With their peace of mind
Man stand Schlange, weil bekannt geworden war, eine ziemlich angesagte Rockgruppe würde auf Einladung der Stadt im Blumengarten spielen. Karten würden zum Freundschaftspreis, weil von der Stadt subventioniert, an diesem Nachmittag verkauft, und zwar hatte die Aktion eine Gesundheitsbehörde übernommen, bei der gerade keine weiteren Arbeiten anstanden, weil die Computer abgestürzt waren. Den Kartenverkauf hatte man sich auch ohne Computer zugetraut und lieber alles andere stehen und liegen lassen, wer wusste, was nicht alles in Unordnung kam, würde man, nachdem endlich das neue Programm lief, nach dem alten System arbeiten.
Man konnte die ansonsten versteckt in einem Hof liegende Behörde zwar auch so nicht sehen, wusste aber gleich Bescheid, wenn man die Menschenmenge sah, die sich bereits am frühen Nachmittag gebildet hatte, obwohl es hieß, die Karten gebe es erst ab 17.00 Uhr. Niemand konnte sagen, wie es weiter gehen würde, wenn die Schlange einmal ganz um den Block herumstehen würde, was offensichtlich in weniger als einer Stunde der Fall sein würde. Zum Glück war der Gehsteig breit genug, so dass an den meisten Stellen der unablässig vorbeizockelnde Verkehr nicht behindert wurde. Dort, wo die Leute auf die Fahrbahn gedrängt wurden, herrschte das übliche Gehupe, Gestikulieren, man rief sich mehr oder weniger scherzhaft Gemeintes zu, wollte schließlich auch wissen, ob das die Schlange für das Konzert sei und wo man denn parken könne. Unter den Wartenden war eine Atmosphäre entstanden, als kenne man sich schon lange, was bei etlichen wohl auch der Fall sein mochte. Es herrschte in den einzelnen Grüppchen, es wurde ja nur eine Karte pro Person abgegeben, ein reges Kommen und Gehen, welches man mittels Handy organisierte. Es mochte wohl Schummeleien dabei geben, aber das hielt sich alles in einem Rahmen, den man selber nicht mit weniger Freiheit interpretiert haben würde, so dass natürlich keine genaue Kontrolle über die Schlange existierte, aber sich auch niemand empörte. Vereinzelte Einwände wurden mit höflichen Erläuterungen und Appellen beschwichtigt, man möge mal nicht so sein, oder es handle sich nur um ein kleines Schwätzchen, nein, man stehe selber gar nicht an und werde gleich wieder gehen. Rohlfs wollte selber einmal sehen, wo die Schlange nun eigentlich wirklich begann, da sie sich seit geraumer Zeit nicht um das Geringste bewegt hatte. Auch waren die üblichen Straßenverkäufer aufgezogen und hatten mit allerhand Imbissen und Erfrischungen auf dem gegenüberliegenden Gehweg Position bezogen. Um die Ecke erklang Musik, von der Rohlfs zuerst dachte, sie würde aus einem Lautsprecher ertönen. Tatsächlich war es aber ein Bursche mit Gitarre, der in der Schlange ziemlich weit vorne stand, wie man daran erkennen konnte, dass sie durch ein Tor in einen Hof einbog. Er sang, wie Rohlfs fand, wie ein professioneller Künstler, versuchte wohl auch den Umstehenden das Lied, das er sang, beizubringen, wozu er sich immer wieder unterbrach und bestimmte Passagen wiederholte, nach denen man ihn fragte. Dann wieder sang er einfach, ganz so, als würde er es auf einer Bühne tun. Man wippte mit dem Kopf, ein Mädchen seitlich deutete einige Tanzschritte an, und als er endete, applaudierte man ihm lebhaft, was er wie selbstverständlich hinnahm, weiter einige Riffs auf der Gitarre klimpernd. Rohlfs konnte nicht recht schlau aus ihm werden, denn anders als alle übrigen, wiewohl die meisten auch direkt von der Arbeit gekommen sein mochten, trug er förmlich Krawatte und Sakko, welches an den Schultern und am Rücken von dem Band, an dem er die Gitarre trug, entsprechend zusammengeknautscht wurde. Auch war er für die Art Song, den er vortrug, zu alt. Rohlfs glaubte einen der Hits darin zu erkennen, die man zur Zeit häufig im Radio hörte. Auch war sein Englisch gar nicht von der landesüblich verballhornten Art, so als sei er einer jener Prediger, die aus den USA ins Land kamen und seltsamerweise großen Anklang fanden. Andererseits wiederum war es logisch, dass ein Musikbegeisterter unter den ersten war, die hier anstanden, und wenn auch der Erfolg des städtischen Konzertes noch in den Sternen stand, so hatte hier eine erste Festivalstimmung schon einmal Platz gegriffen. Auf dem Rückweg hörte Rohlfs, wie man einander erklärte, es zeichne sich ab, dass die Karten heute jedenfalls nicht mehr alle abgegeben werden könnten, weshalb gleich Angestellte der Behörde eine Liste herumgäben, auf der man sich in der Reihenfolge der Schlange eintragen könne um morgen aufs Neue anzustehen. Dasselbe erklärte man ihm auch, als er an seinem ursprünglichen Warteplatz wieder angekommen war.
Die jungen Leute des Amtes waren zwar nicht, was auch möglich gewesen wäre, uniformiert, wiesen sich aber in ihrer Funktion durch unterschiedliche Grade förmlicher Kleidung aus und durch die Klemmbretter, die man einander reichte, nachdem man geduldig umständliche Angaben zur eigenen Person und für andere mit, für die man schließlich auch anstand, gemacht hatte. Die Aufgabe der Bediensteten war das Klemmbrett wieder an sich zu nehmen, wenn nicht klar war, wer es als nächster erhalten sollte, oder wie viele Personen außer sich selber man eigentlich eintragen durfte. Auch wussten manche nicht, worum es überhaupt gehe, so dass sie mit ein paar freundlichen Worten instruiert werden mussten. Witzigerweise hatte sich ein Herr angestellt, der auf die Ausgabe kostenlosen Verbandsmaterials für seinen pflegebedürftigen Vater wartete, und der sich auf keine Weise davon abhalten lassen wollte, sich auch in die Liste einzutragen, was man in Gottes Namen geschehen ließ.
Ein paar zwanzig Autos bogen vor Rohlfs an der Ampel ab. Er schaute zu, wie Lenkräder gedreht wurden. Köpfe neigten sich, indem der Blick die zu fahrende Strecke vorwegnahm. Auto fahrende Männer in ihren besten Jahren, Frauen, bei denen blitzende Ohrringe vom Gegenlicht getroffen ihren Teil des Fahrmanövers übernahmen; kleinere reckten Kinne empor, streckten Arme zum oberen Lenkradkranz. Wer rauchte und nun beide Hände nehmen musste, hatte vorgesorgt, die Zigarette zwischen zwei Fingern oben am Steuer haltend, wo sie der Windschutzscheibe entgegen qualmte, oder sie auf dem Aschenbecher abgelegt, was man auch am Rauch sah, der von irgendwoher aufstieg. Manche mussten auch noch schalten, weshalb sie die Zigarette im Mund behielten, die Augen zusammengekniffen und dann doch blinzelnd. Alle fuhren, als hätten sie dasselbe Ziel, immer ein Vordermann dem Nachfolgenden im Weg, man wollte auf jeden Fall bei dieser Ampelperiode über die Kreuzung kommen: "Na ja, mach schon!" Natürlich duzte man andere Autofahrer, solange sie es nicht hörten. Bei manchen sah man tatsächlich, wie sich die Lippen bewegten. Von Rohlfs so intensiv beobachtet zu werden bemerkte man nicht. Es war eine Szene, in der man gesehen wurde, aber nicht beobachtet. Wer hatte auch für so etwas Zeit? Außerdem, wozu sollte das führen? Jemand, der gerade abbog, machte sich am Autoradio zu schaffen, die Zigarette dabei zwischen den Lippen, auch die Asche noch abklopfend, die gerade heruntergefallen sein musste. In der gleichen Weise Leuten beim Einparken zuzuschauen, wäre zwar auch möglich gewesen, aber weil es die typische Fahrschulsituation war, besaß es Prüfungscharakter und man lief Gefahr in eine Auseinandersetzung verwickelt zu werden. Auch parkte jeder verschieden ein und der Erfolg war immer nur ein mittelmäßiger. Manche waren schon ein paar Schritte gegangen um dann wieder zum Wagen zurückzukehren. Die Einparkprozedur wurde dann wiederholt. da jetzt noch das Ausparken hinzukam, oft mit einem schlechteren Ergebnis als zuvor, was dann aber kopfschüttelnd oder auch ohne erkennbare Reaktion hingenommen wurde. Anders das Öffnen und Abschließen des Wagens mit Fernbedienung. Es hatte erfunden werden müssen! Zentralverriegelung musste auch sein, weil sie den Gang um das Auto herum ersparte, auch ob der Kofferraum abgeschlossen war, musste früher ja kontrolliert werden. Schließlich war es auch verboten, seinen Wagen unverschlossen abzustellen, um Diebstählen vorzubeugen, oder aber Gefahren entgegenzuwirken, die von dem Wagen dadurch ausgehen konnten, dass ein Unbefugter sich seiner bemächtigte. Nicht dass man jemals von so etwas gehört hätte, aber alle stimmten in dieser Einschätzung überein. Das Befolgen eines Gebotes verschaffte Genugtuung, da alle sich ihm unterwerfen mussten. Einer Vorschrift, die sich persönlich an einen selbst richtete, begegnete man mit Empörung. Seinen Wagen schloss man ab, jetzt nicht mehr in Hut und Mantel an den Türgriffen rüttelnd, sondern im Weggehen durch einen Druck auf die Fernverriegelung. Von Weitem konnte man sehen, zu welchem Wagen jemand gehen würde, der ihm nämlich mit den Blinkleuchten entgegen flackerte, wenn es ein Peugeot war, oder sonst sein mehr oder weniger sachliches Blinken seinem Besitzer entgegensandte. Rohlfs stellte sich vor, wie dieses Autoaus- und Einsteigritual sich je wieder auf einen bescheideneren Fuß bringen lassen könnte. Vielleicht musste es sich erst ins Gigantische und damit völlig Absurde steigern, was ja der Grund dafür war, warum sich die spektakulären Flügeltüren einiger Modelle nicht durchgesetzt hatten.
Rohlfs wusste, dass die Szene ihn glatt ins Irrenhaus bringen konnte, Geschlossene, Haldol. Nicht dass dies seine Absicht gewesen wäre. Was ihn antrieb, im wahrsten Sinne des Wortes, das war das Bild Gregors, der einfach vergessen hatte auf der Toilette die Hose wieder hochzuziehen. Gregor war schwerst mehrfach behindert, nahm auf seine Weise am gesellschaftlichen Leben teil, indem er seine Eltern begleitete, zum Beispiel auf dieses Konzert, bei dem er lebhaft Beifall klatschte und sich mit manchem Zwischenruf auch nicht zurückhielt, was zwar störte, sich aber in Grenzen hielt, da abwechselnd der Vater oder die Mutter ihn dazu anhielten sich zu mäßigen. Der Gang zur Toilette geschah so selbstständig wie alles andere, was Gregor tat. Also kündigte er seine Absicht gestikulierend und grinsend an, der Tatsache Rechnung tragend, dass hier ein Thema berührt war, das einer gewissen Diskretion bedurfte. Dennoch musste man ihn auch hierbei ermahnen und ihm gut zureden, allzu lautes Lachen unterbleiben zu lassen, denn in seinem Gestikulieren und Glucksen hatte er sich doch in eine Art Begeisterung gesteigert, die die Umgebung in ihrer heiteren Toleranz ins Schwanken brachte.
So war er denn zur Toilette abgezogen, wo Rohlfs sich gerade die Hände wusch. Vor einem der Pissoirs streifte er die Hose übertrieben nach unten, so dass sie ganz bis auf seine Schuhe fiel, desgleichen auch die Unterhose. Wie er das Hemd vorne hielt, konnte Rohlfs nicht sehen, nur den kleinen blanken Po unter dem stark durchgedrückten Kreuz, der Kopf dabei tief auf die Brust gesunken. Das spärliche Plätschern begleitete Gregors schnaufender Atem, auch etwas wie ein Seufzen, allerdings in einer ganz hohen Stimmlage. Es war der Augenblick, in dem Rohlfs klar wurde, dass Gregor nach der Verrichtung dieses kleinen Geschäftes die Station des sich wieder Ankleidens überspringen würde; wie es dann auch geschah. Da er es erwartet hatte, war Rohlfs auch der erste, der es sah. Die übrigen Konzertbesucher blickten gebannt zur Bühne. Gregor war ohne über die Hosen zu stolpern quer durch den Saal fast bis zum Tisch der Eltern gelangt, als der Vater auf ihn aufmerksam wurde und die Sache in langjähriger Routine in Ordnung brachte. Es hatte kaum jemand hingeschaut.
Rohlfs versuchte sich darüber klar zu werden, ob er peinlich berührt war, und worin die Peinlichkeit in diesem Falle bestehen konnte, da Gregor für das, was er tat, nur auf eine sehr spezielle Weise verantwortlich war. Möglicherweise war es die Tatsache, dass dennoch hier ein Teil auch seines eigenen Menschseins entblößt wurde und sich auf eine sehr subtile Art der Liebe der anderen empfahl. Es bestand nur wenig Aussicht, dass dieser Ruf verstanden wurde, so wie ihn Gregors Vater verstand.
Rohlfs, der wenig weinte, fühlte einen unendlich süßen Schmerz in sich aufsteigen, als er den fröhlichen Gregor einen Augenblick lang sein hellblaues Hemd tragen sah, wie er mit seinem Gesicht den Weg von dieser Toilette machte, hindurch zwischen den festlich Gekleideten auf diesem Konzert, wie ein Gefangener mit seiner Fußfessel, den heruntergelassenen Hosen. Constance griff nach seiner Hand. "Was ist denn? Du hast ja ganz feuchte Augen", flüsterte sie ihm ins Ohr, wobei er immer eine Gänsehaut bekam, "was hat denn dieses Stück für eine geheimnisvolle Bedeutung? Ich finde es aber auch wunderschön." Sie behielt seine Hand dann noch eine ganze Weile. Tatsächlich konnte Rohlfs für den Rest des Abends der Musik nicht mehr recht folgen. Constance, die ohnehin nicht gerne bis spät blieb, bemerkte seinen offenbaren Stimmungswechsel ohne dafür selber verstimmt zu werden. Im Gegenteil, sie war zärtlicher als sonst. Rohlfs, dem der Umweg ihrer Gefühle halb bewusst war, wollte sie darin nicht stören, denn sie war glücklich. Es war nur natürlich, dass man einander aus unterschiedlichen Gründen liebte.
"Das kannst du mir doch nicht antun, Rohlfs, du bist ja völlig wahnsinnig", Constances Gesicht war tränenüberströmt. Im Konzert hatte sie vollkommen erstarrt dagesessen. Zuerst hatte sie auch gedacht, es sei Gregor, der wieder einmal mit heruntergelassenen Hosen von der Toilette gekommen war. Und richtig war ja auch sein Vater aufgestanden und verdeckte die Sicht auf Gregor. Der aber befand sich an seinem Platz neben dem jetzt leeren Stuhl des Vaters, blickte fuchtelnd zu der Szene neben der Eingangstür und gab jauchzende Laute von sich, darunter auch den Namen Rohlfs'. Es war unfassbar. Gregors Vater hatte zwar in geübter Routine Rohlfs soweit in Ordnung gebracht und unter Murmeln an seinen Platz neben Constance begleitet, und doch war er es gewesen, der wie ein Kleinkind von der Toilette gekommen war und vergessen hatte sich wieder anzuziehen. Jetzt blickte er starr zur Bühne und auch Constance schaute nicht zu ihm hin. Der Eiseskälte und Erstarrung, die sie fühlte, als sie die Szene verstand, folgte eine rasende Wut, die in heißen Wellen in ihr aufstieg. Fast wäre das Tischchen umgestürzt, als sie nach einer Weile aufstand um den Zuschauerraum zu verlassen. Unschlüssig hielt sie sich noch einige Minuten in der Garderobe auf, Rohlfs würde ihr vielleicht folgen. Dann verlangte sie ihren Mantel und ging davon. Als er nach Hause kam, saß sie in der Küche und weinte. "Das kann ich nicht ertragen! Ich weiß, dass du es mit Absicht tust. Der bekloppte Gregor kann wenigstens nichts dafür. Aber du bist wirklich völlig bescheuert. Ich will auch gar nicht wissen, was du dir dabei gedacht hast. Weißt du eigentlich, was du mir antust? Du legst es doch darauf an, dass sie dich in die Klapsmühle stecken!"
Rohlfs, der Constance gerne in den Arm genommen und sie getröstet hätte, stand da und schwieg. Worin sie Unrecht hatte, nämlich dass er absichtlich dieses Theater aufgeführt habe. Es war nicht wirklich Absicht gewesen, sondern ein Reflex auf eine ungeheure Zärtlichkeit, die er neulich gefühlt hatte, als er Gregor in seiner Schande gesehen hatte, und dass man um ihn zu lieben ihm gleich sein müsse.
Constance liebte ihn, die Bedingungen, die sie an diese Liebe stellte, schienen ihr gerechtfertigt, weil jeder sie teilte, jedenfalls jeder, den sie kannte. Rohlfs, der wusste, dass jedes Leben und deshalb auch jede Liebe Bedingungen unterworfen war, lehnte sich dennoch dagegen auf. Was er Constance dabei zumutete, war nicht in Ordnung. Wollte er also, dass sie ihn verließ?
Welchen Weltuntergang er denn in Gottes Namen darin sehen könne, dass Leute eine bestimmte Art von Hosen trugen, oder Herrgott nochmal Tätowierungen oder sonst irgendeinen nebensächlichen Mist? Das sei doch nicht normal, auf so etwas überhaupt zu achten. Schließlich würde man letzten Endes immer irgendetwas so oder so tun, gar nicht mal, weil man es so irrsinnig gut finden würde, sondern einfach, weil man es eben so tat. Ja, man könnte es auch partout genau anders machen, zum Beispiel vor allem eben anders als alle übrigen, aber wozu denn um alles in der Welt, wobei sich kein Mensch auf der Welt auch nur die Bohne dächte?
Rohlfs kannte diese Ausbrüche Constances, von denen jedes einzelne Wort bedeutete, dass es eben zu ihr nicht passte sich still aufzulehnen. An ihr konnte alles Wut werden, sogar Faulheit, die sie normalerweise wunderbar träge machte, so dass es eine Lust war mit ihr etwas zu genießen. Sie war es, die eine üppige Leckerei an einem x-beliebigen Tag mit nach Hause bringen konnte. Man konnte mit ihr herrliche Spaziergänge machen, wenn das Wetter gut war, und Rohlfs genoss es, wie sie sich bei ihm einhängte, alle Streitigkeiten vergessend, ja fast wollte er in solchen Augenblicken glauben, dass sie ihn doch insgeheim gerade für das liebte, worüber sie gewöhnlich so heftig mit ihm stritt. War dieses die sanfte Seite ihres Phlegmas, so kannte es auch eine wütende. Dann schrieb sie tagelang in einem verschließbaren schwarzen Buch, so wie sie auch ellenlange Briefe schrieb.
Rohlfs, der nie unerlaubt darin gelesen hätte, konnte nicht anders, als darin eine bittere Abrechnung mit ihm zu vermuten, was noch die harmlosere Variante war, denn, wie sich unschwer offenbarte, wendete sich dieses wütende Schreiben gegen alles, und Rohlfs war es lediglich beschieden davon ein Teil zu sein. Regelmäßig mündeten diese Phasen in Krankheit mit schwerer Bettlägerigkeit. Rohlfs vermutete, dass sie davon überhaupt erst krank würde, aber es war einerlei und gab auch keinen Ausweg. Nicht von einer einzigen dieser Krisen wusste er, wie sie letztlich ausgegangen war, nur so viel, dass er selber keinen Trost wusste und auch keiner war. Vielleicht war das es, worin sich alles Elendsein schließlich erschöpfte, es führte einfach zu nichts und geriet eben in Vergessenheit um bei der nächsten Gelegenheit auf genau die gleiche Art und Weise seinen schwarzen Rachen aufzureißen. Man konnte nicht wissen, an welcher Stelle jenes fatalen Kreislaufes Constance sich befand, wenn sie beispielsweise heftig mit Rohlfs über dessen Marotten und Überempfindlichkeit stritt. Es konnte Stärke beweisen, während Rohlfs matt war, tröstend gemeint sein und der Beginn eines sehr zärtlichen Nachmittags, es konnte aber auch bereits der Beginn neuen Wütens und schwerer Lähmung sein, Rohlfs so fern wie nur irgendetwas, ein Stachel in seiner spröden Seele, die keine Krankheiten nährte, es sei denn Melancholie und Sehnsucht nach etwas, was so groß nicht war, als dass es sich nicht doch eines Tages noch finden ließe.
"Dieser ganze Verfolgungswahn ist doch ein Scheißdreck", in einer solchen Erregung hatte Rohlfs Constance noch nie erlebt, "ja siehst du das denn nicht? Und der Typ, ich weiß nicht, aus welchen Gründen du ihn Dr. Reich nennst, der ist vielleicht hinter mir her. Nein, ich interessiere mich nicht die Bohne für diesen Heini. Aber was du überhaupt mit ihm angefangen hast, möchte ich einfach einmal gerne wissen. Weißt du, dass ich mir einfach Sorgen mache? Das ist doch das Verhalten eines Dementen, das du an den Tag legst. Demnächst verschwindest du und man findet dich im Bademantel auf einem Autobahnrastplatz! Und ich sage dir eins, du spielst mir was vor, und du hast den Bogen schon einmal überspannt. Rohlfs, ich liebe dich, aber ich lasse mich nicht von dir in Stücke reißen. Und sieh mich verdammt noch mal nicht an wie aus dem Parterre des Theaters, es ist mir ernst, Herrgottnochmal!"
Constance trug gerade den Bademantel Rohlfs', in dem sie ihm ihn selber auf einem Autobahnrastplatz vor Augen gehalten hatte. Die Rumänen, die sich über seinen Aufzug nicht zu wundern schienen, luden ihn ein mitzuhalten bei Käse, Salami und Wein. Ein leeres Fässchen stand bereit auf dem Bordstein für spätere Entsorgung, die aber wohl dem Vergessen anheimfallen würde. Wer dachte beim Genießen ans Aufräumen! Da das Brot alle war, wollte einer der Männer zum Kiosk, weshalb man in Hosentaschen wühlte, einer wollte dem anderen zuvorkommen darin, sein Geld für den Einkauf zu geben, alle lachten, als es ausgerechnet Rohlfs' verknautschter Fünfziger war, der das Rennen machte.
Es war typisch, dass Constance Geld in Jackentaschen vergaß, systematisch vergaß, wie Rohlfs fand, um jederzeit etwas finden zu können. In diesem Punkt konnte man sich auf sie verlassen, notorisch knapp bei Kasse, die sie ansonsten war, man bezahlte ihr einen Hungerlohn für ihre Arbeit. Auf die Idee, dass Rohlfs absichtsvoll die Marotte des Geldvergessens ausnutzte, damit sie fündig werden konnte, kam sie ebenso absichtsvoll nicht. Diese Art Verträge hielt ihr Hauswesen zusammen.
Mj Svenya hatte sich den Sergeant aus der Überzeugung heraus geholt, es müsse nicht der Mann sein, der den ersten Schritt tue. Dass man im Wagen geschwiegen hatte, war für sie keineswegs ein Zeichen dafür, dass etwas schiefgelaufen sein könnte, oder es erst noch würde. Bob, der halbwegs ahnte, was in ihr vorging, stellte das Autoradio ein. Wenn er eins hasste, dann Theorien. Es würde ihn vollkommen fertig machen, zum Beispiel über Beziehungen zu reden, dann schon lieber über die Frage von Sex am Arbeitsplatz, oder was bereits seinen Lachnerv reizte und ihn auf andere Gedanken brachte: Beziehungen mit Untergebenen, er trug ja seinen dunkelgrünen Trenchcoat mit den Rangabzeichen, sogar seine Mütze. "This is a clean car", womit er Mj Thomsons dunklen Golf meinte, in dem sich ihr Parfüm angenehm ausgebreitet hatte. "Könnte schon mal sauber gemacht werden", antwortete sie, ihn bewusst missverstehend. Geputzte Autos waren etwas für Spießer. Bob fand aber alles völlig OK und hatte auch inzwischen einen annehmbaren Sender gefunden, Chet Baker tönte singend aus dem Lautsprecher und enthob sie weiterer Gespräche. Bob, der genau wusste, dass man einer Lady wie Mj Svenya in einem Augenblick wie diesem mit allem kommen durfte, nur nicht damit, wie versehentlich mit der Hand vom Radio hinunter auf ihr Knie zu gleiten, nahm sie züchtig zurück und sank in seinem Sitz noch ein wenig mehr zusammen. "Ist dir kalt?", fragte sie und tastete nun ihrerseits nach seiner Hand, die ihre war von einer angenehmen Sicherheit, die Frage nach seinem Wohlbefinden kein Vorwand, weshalb sie auch nicht übertrieben lange bei ihm verweilte, nachdem sie festgestellt hatte, dass er jedenfalls nicht fror. Von ihrem aparten Parfüm musste sie, wie manche das taten, auch ein wenig ans Handgelenk getupft haben. Diese erste Berührung und der Duft ließen in Bob die Zuversicht wachsen, es werde, jedenfalls was ihn betraf, ein angenehmer Abend werden. Nein, ihm sei ziemlich wohl, antwortete er etwas verspätet, was ihr allerdings entging, da sie mit einem Spurwechsel beschäftigt war. Der französische Sender, den Bob eingestellt hatte, brachte eine Musik von Händel, die er durch ein Dingdong für die Kurznachrichten unterbrach.
Mj Svenya, die vielleicht französisch verstand, mochte der chaotischen Mischung wenn auch nur weniger Meldungen ihre Aufmerksamkeit zugewandt haben. Bob hingegen verstand nur einmal, dass von den American Airlines die Rede war, dieses in der eigentümlichen Art, wie die Franzosen Englisch aussprachen, in diesem Falle war es die Stimme einer der Frauen, für die er den Sender liebte. "Do you speak French?", fragte er, einer Eingebung folgend, Mj Thomson würde ihm etwas ins Ohr flüstern können, was so klang wie die Stimme dieser Rundfunksprecherin. Rohlfs hatte ihm im Büro, wo sie oft den Sender hörten, einmal kolportiert, tatsächlich seien diese Frauen, deren sinnliche Stimmen die Männer verrückt machten, in Wahrheit sehr durchschnittliche Vertreterinnen und ja wohl deshalb beim Radio, wo man sie nicht sah. Eine Illustrierte habe einmal ziemlich ernüchternde Bilder gezeigt, Brille tragend mit Stricknadeln, eine regelrechte Großmutter, um nur eine von ihnen zu nennen. Bob fand das übertrieben, nichts konnte ihn davon abbringen, Französinnen grundsätzlich attraktiv zu finden. Im Übrigen war auch Mj Thomson attraktiv, Französisch sprach sie allerdings nicht, verstand wohl aber ein wenig, ihre Mutter war aus der Nähe von Kehl am Rhein, von wo aus man Ausflüge nach Straßburg und Umgebung machte. Ihr Vater habe einen Spleen mit Frankreich gehabt und auch immer mal Franzosen angeschleppt.
Und ich hab, glaub's mir oder nicht, Rohlfs, die Sache am Ende doch noch geschmissen. Zu blöde aber auch, und dabei gefiel sie mir, ehrlich. Kein dummes Getue, schließlich war es ja klar, wozu sie mich mitgenommen hatte. Sie hatte sogar Bier zu Hause. Denk jetzt nicht, ich sei schon zu blau gewesen. Sie war eine Weile im Bad verschwunden und ich saß in ihrem pikobello Psychologinnen-Wohnzimmer. Nicht dass ich nicht lesen würde, nur, du weißt ja, ich schmeiß die Dinger immer gleich weg. Kein Mensch liest irgendein Buch, sagen wir zehnmal oder so, auch kein psychologisches, das macht mir keiner weis. Der ganze Mist war also eine einzige Trophäensammlung, gejagt höchstpersönlich von Mj Thomson. Ich meine, warum macht das ein Mädel, stellt sich das ganze Geschreibe dahin, als ob's nicht genug damit wäre, sich all das Elend einmal einen ernsten Moment lang vors Auge zu halten! Klar, musste Prüfungen bestehen, so eine Psychologin, aber wofür am Ende? Um mit motherfuckin' Sergeants übers Saufen zu quatschen. OK, es gibt schlimmere Fälle, ich kannte einen Captain, der sich die Hosen vollpisste, Herrgottnochmal, einen abgeschossenen Arm kriegst du auch nicht mehr dran. Soll sie die verdammten Streifen an seinem Ärmel zählen, reingepisst war lange nicht alles, was wir in die fuckin' Armyhosen gemacht haben, drunten in Vietnam, Junge, das kann ich dir sagen. Na ja, ich wollte mich nicht aufregen und war auch echt gespannt, was sie jetzt da draußen in dem Bad mit sich angestellt hatte, ein Babydoll angezogen oder so einen Mist, ich stehe eigentlich nicht drauf, aber es ist eine Art Friedensangebot in dem harten Kampf um das bisschen Spaß, das heutzutage aus den Weibern rauszukitzeln ist. Du kannst dir nicht vorstellen, wie satt ich es habe, all das blabla, Rechtfertigung dafür, dass man gleich für einen kleinen Augenblick lang vergisst, was für ein Herrgottnochmal so tolles Exemplar von einem Sergeant Conley oder sonstwer man ist. Und das sag ich dir, ich will's vergessen, gar nicht mal so oft, wie sie immer sagen, aber vollkommen, wenn du verstehst, was ich meine, Rohlfs. Bei deiner Pia, Mann, musst du's doch vergessen. Na komm, quatsch keinen Scheiß, nicht dass du denkst, ich bin scharf auf sie. Aber mal im Ernst, ich wär's an deiner Stelle. Mach bloß nicht diesen Mist wie ich und rede mit ihr den Quatsch, mit dem die Weiber anfangen. Klar, du musst ihr eine Weile zuhören, aber es ist verdammt gefährlich, wenn du da reingerätst. Am Ende geht man dann zwar doch noch ins Bett, aber es ist nicht halb so schön.
Das Vergessen, dabei war ich ja stehen geblieben, beginnt für mich in dem Augenblick, wo beispielsweise Mj Thomson aufs Klo geht und beim Rauskommen einen Tick mehr nach ihrem sagenhaften Parfüm riecht als vorher. Und ich sage mir, Alter, hoffentlich hast du's nicht vergeigt, und wenn, auch kein Weltuntergang, im Gegenteil, dass es noch funktioniert. Nicht dass du denkst, ich bin ein bekloppter Fetischist, gehe in die BX, und kaufe mir das duselige Parfüm, weil's mich antörnt! Nein, die Lady fand, dieser Tick von ihrem Himmelsduft fehlte jetzt gerade für den alten Sergeant Conley. Und wie's mir gefehlt hat, das kannst du mir glauben! Ich hatte mir also ungefähr fünf Jahre lang ihre Wälzer angeschaut, und wäre ich dann leise abgehauen, würde ich genauso vor dir hier sitzen. Irgendwann muss man immer abhauen, eine Sache ist vorbei, Punkt und fertig, so oder so.
Sie hatte kein dusseliges Babydoll, als sie wiederkam, allerdings Pantoffeln an den Füßen, was an sich der Weltuntergang nicht sein muss. Aber bei den ganzen verdammten Büchern hätte sie wissen können, dass wir wenigstens das Licht etwas runterdrehen sollten. Das war dann meine Idee, eine gute, was auch sonst, jedenfalls kam sie zu mir, ich hatte ja vom Sofa aufstehen müssen, schlang mir die Arme um den Hals, damit wir uns küssten. Ich war ziemlich erleichtert, kann ich dir sagen. Übrigens war sie jetzt ohne Schuhe nicht mehr gar so arg viel größer, eigentlich ziemlich gleich groß, was definitiv besser ist um sich in die Augen zu schauen. Ich hoffte, dass ich nicht allzu benebelt dabei aussah. "Es ist wie ich immer sage", Conley war fast ganz im Rauch seiner Zigarette verschwunden, "ich trete in alle mögliche Scheiße, aber wenn ich rauskomme, dufte ich nach Rosen. Ob du's glaubst oder nicht, Rohlfs, ich habe meinen Führerschein wieder. Als ich am Freitag bei der Anmeldung war, lag er schon da. Mein Termin sei gestrichen. OK, sage ich mir, gehst du Mj Thomson wenigstens Dankeschön sagen und so weiter, aber sie sei gar nicht mehr da. Nachmittags rief sie mich dann an, ich sollte mir bloß nicht einbilden, es hätte etwas mit mir zu tun. Na ja, du weißt schon, eine Woche vorher meinte sie, wir müssten reden. Herrgott, weißt du, wie ich das hasse, reden, verdammt nochmal. Ich konnte eben nicht. Schon als sie reinkam mit den verdammten Pantoffeln, hatte ich das Gefühl, Jesus Christus, ich bin schon halb nicht mehr bei der Sache. Wir haben dann doch noch irre rumgemacht. Ich glaube, mein Fehler war, dass sie am Ende ganz ausgezogen war, während ich sogar noch den Schlips umhatte. Das ist wirklich ein Fehler, Rohlfs, mach das bloß nicht. Es war auch nicht, weil ich blau war, was sie ja auch die ganze Zeit nicht gestört hatte. Wenn du mich fragst, ich war einfach nicht verliebt. Es gibt Leute, denen das nichts ausmacht, Miss Svenya kann, glaube ich, die Augen davor zumachen, jedenfalls eine Weile. Und als sie die Augen wieder aufmachte, sah sie meine grüne Sergeantuniform, du weißt schon. Oder ich war, verdammt nochmal, doch für einen Augenblick eingenickt. Nicht dass es schon furchtbar spät gewesen wäre. Jedenfalls sagte sie: "Wie kommst du denn jetzt heim?" Zum Glück wollte sie da noch nicht reden. Das ist immer das Schlimmste, wenn sie dann reden wollen. Oder sie weinen, Herrgott. Natürlich würde Mj Thomson auch weinen, jede Wette, dass sie weinen kann. Auch so ein Punkt bei mir, heutzutage musst du weinen können, jedenfalls, wenn du eine Therapie machst. Ich sagte: "Kein Ding, Mj, ich komme, glaube ich, gut zurecht." Fast hätte ich meinen Mantel in der Garderobe vergessen. Sie hat mir dann doch noch im Bademantel an der Tür einen Kuss gegeben, was ich richtig nett fand. Als sie neulich hier anrief, wollte sie dann doch noch reden. Sie hat ja das Büro für sich alleine. Tja, sie hätte erwartet, dass ich mich irgendwie mal melde, und so weiter, aber das hätte ich ja nunmal nicht getan. Sie hätte eben schon ganz gerne gewusst und so weiter. "Na ja", sagte ich, "sorry, ich habe es nunmal vergeigt, wir vergessen die Sache am besten." Ich glaube, ich habe dann noch eine Weile in den Hörer gesprochen ohne das Tuten gleich zu bemerken. War auch besser so, ich bin nicht gut in dieser Art Lügen."
Dr. Reich, der gerade dabei war mit seiner großen Schere eine Werbung aus einer Illustrierten auszuschneiden, stand schwerfällig auf um an Bobs Telefon zu gehen, wie er es tat, wenn der beispielsweise auf der Toilette war. Er räusperte sich und brachte sich sozusagen innerlich in Form, wozu auch gehörte, dass er sich erst meldete, wenn die Spiralschnur des Hörers sich einigermaßen entwirrt hatte. Das "R" rollte er besonders ausdrücklich, wie immer in dienstlichen Angelegenheiten betont ernsthaft. Sollte ein amerikanischer Sergeant am anderen Ende der Leitung sein, war dem sofort klar, dass er es mit einem, wenn auch ehemaligen, Captain zu tun hatte. Ein Commitment wurde in dienstlicher Strenge entgegengenommen, jeder einzelne Punkt sorgfältig und womöglich in Buchstabiersprache zurückgefragt, man begann mit dem armen Sergeant zu schwitzen, der natürlich auf diese Weise alles Mögliche durcheinanderbrachte. Rohlfs wusste schon, dass es so zu doppelten Commitments kam, weil man es Bob später zusammen mit einem ganzen Haufen weiterer Kolonnen noch einmal übermittelte, was Dr. Reich aber überhörte oder übersah. Nie hätte Conley aber deshalb seinem Partner etwa abfällige Bemerkungen über den alten Mann erlaubt, mit dem er tagein, tagaus diskutierte, flachste und ihn häufig genug dirty old man nannte. Frauen wurden von Dr. Reich mit ausgesuchter Höflichkeit behandelt, auch gegenüber Frau Bauer nahm er sich keinerlei Zweideutigkeiten heraus, höchstens dass er einmal einen bedeutungsvollen Blick mit dem Sergeant wechselte und bei völlig unpassender Gelegenheit God damn fuckin' horse piss sagte, worauf Frau Bauer gellend aufkreischte: "Hörst du, Bop, focken Horspiss!"
Eine Kollegin aus Süddeutschland, deren offenbar dürftiges Englisch Bob übertrieben schlecht verstand, und die einen, wie er fand, unaussprechlichen Namen hatte, bei dem sie ihn mit zunehmender Gereiztheit verbesserte, weshalb Bob keine Gelegenheit ausließ sie mit dem Namen anzureden, gehörte zu denen, zu denen er noch weiter sprach, wenn er den Hörer bereits aufgelegt hatte. Der Telefonapparat trat dann an die Stelle der Person, mit der er es hatte und zu der er hingrimmassierte und gestikulierte: "Yes, Mrs. Dingelberry, you' so fuckn' right, Mam, and I hope you give me a call back, very soon. What's the spelling of your name again please? Of course, Mrs. Dingelberry!" - "Take care", sagte Dr. Reich, besorgt, ob der Hörer auch wirklich auflag. "Wissen Sie, Herr Rohlfs, was Dingelberries sind? Das sind Klabusterbeeren. Das kennen Sie nicht, die Kügelchen, die einem vom Hinternabwischen hängenbleiben, schließlich geht es im Krieg auf der Latrine nicht allzu vornehm zu."
Schon wegen der Zivilangestellten herrschte in der Kommandantur weithin auch eine zivile Atmosphäre. Militärischer ging es zu, wenn ein Captain aus den Headquarters, meist mit irgendeinem Unteroffizier und einem subalternen Fahrer, zu Gast waren. Dann hatte natürlich der Oberstleutnant wenigstens zufällig anwesend zu sein, oder er bekam es auf den letzten Drücker spitz, weshalb er einigermaßen beleidigt nachrückte. Sein Handicap eines völlig unzureichenden Englisch versuchte er durch einige ziemlich schräge Floskeln wettzumachen. So sagte er nicht einfach "yes", sondern sein berühmtes "Oh I see." - "Wissen Sie, Herr Rohlfs, warum der Captain immer so verdattert schaut, wenn der Oberstleutnant "Oh I see" sagt? OIC heißt "Officer in Charge".
Es war schwer zu sagen, wie der Captain über die Einheit dachte, die in diesem notdürftig umgebauten Wohnhaus logierte, in dessen altmodischer Küche der Gemeinschaftsraum mehr schlecht als recht eingerichtet war, der sozusagen für gesellschaftliche Anlässe herhalten musste. Anstelle eines Küchentisches waren zwei Schreibtische als eine Tafel zusammengerückt, um die herum man, viel zu beengt, Platz nahm. Sgt. Conley, verglichen mit dem der Captain wirkte wie ein großer Junge, verhielt sich gegen alle Offiziere, also auch gegen den Oberstleutnant, ausgesprochen loyal, wenn sie dagegen unter sich waren, nannte er ihn nie anders als "this son of a bitch", "the motherfuckin' Lieutenant Colonel" oder "the cocksucker".
Wieviel davon persönliche Geringschätzung war, konnte man nicht sagen. Neben dem Rassismus war die Unterscheidung hinsichtlich der Dienstgrade etwas, was in keiner Weise in Frage gestellt wurde. Freundschaft über diese Schranken hinweg gab es nicht. Auch war völlig klar, dass die Deutschen mit ihrer Mischung aus Ressentiment und Unterwürfigkeit aus rein professionellen Gründen respektvoll behandelt wurden. Man hatte stets das Gefühl, der Captain, es war auch selten derselbe, aber diese Botschaft wussten alle auszustrahlen, könne den Laden von einer Minute auf die andere dichtmachen und die Veranstaltung für beendet erklären. Stattdessen saß er eingeklemmt neben dem Oberstleutnant, der gerade wieder sein "Oh I see" sprach, und ruckte mit dem Kopf jemandes, der sich verzweifelt nicht anmerken lassen wollte, für was für einen Volltrottel er den Lieutenant Colonel mit dem kecken Schnurrbärtchen hielt. Rohlfs, der bei diesen Gelegenheiten neben dem Leiter der Dienststelle sitzen musste, sollte mit der einen oder anderen kleinen Sprachhilfe zur Stelle sein, was aber daran scheiterte, dass der Officer einen Private nicht in Anspruch nahm für eine Unterhaltung unter Vorgesetzten.
Der alte Mann sprach, nachdem er sich zierlich geräuspert hatte, sein sonorstes "Dr. Reich" in die Muschel des Hörers und den komplizierten amerikanischen Namen der Dienststelle. "Jawohl, mein gnädiges Fräulein, äh, selbstverständlich, einen Augenblick bitte, ich verbinde", wobei er ganz rosig im Gesicht wurde und sein schwerer Leib die Geschmeidigkeit eines Tänzers auf Zehenspitzen in seinen schwarzen Lackschuhen zurückgewann, oder doch wenigstens eines Obers, der Rohlfs den Hörer reichte wie auf einem silbernen Tablett. "Hi", klang Pias Stimme fröhlich in der Muschel, "bei Dr. Reich kannst du dir mal etwas abgucken, Rohlfs, ein vollendeter Gentleman", wobei sie die Stimme verführerisch senkte. "Ja", entgegnete er, der sich schließlich in Anwesenheit des alten Vorgesetzten nicht äußern konnte. "Say hello to that sweet little girl, Rohlfs, and take care of dirty old Reich ready to fall in love with her right on the phone. Come on, Dr. Reich, let's get the hell out of here for a couple of minutes and leave Rohlfs alone talking to his little sweetheart!" - "It's all right", sagte Rohlfs, aber die beiden Männer waren schon im Begriff das Büro zu verlassen. Bob wollte ein Bier ausgeben und Dr. Reich wickelte umständlich eine Pizza aus, die er sich in der kleinen Küche gegenüber in dem Tischbackofen, der dort stand, heiß machen wollte. "And say hi to Sgt. Conley", sprach Pia, immer noch mit ihrer Stimme eines Telefonvamps. Ihrer Begeisterung für alles Amerikanische tat es keinerlei Abbruch, dass man immerhin bei der Army war, wo sie doch ansonsten am Militär kein gutes Haar ließ. Niemals wäre es Rohlfs eingefallen, ihr etwa in Uniform zu begegnen, die er jetzt am Telefon natürlich trug, genauso wie der Sergeant und die übrigen Soldaten im Haus. Conley trug seine Uniform auch auf dem Weg von der Wohnung zum Dienst, was vielleicht unter dem Mantel eher nicht aufgefallen wäre, aber er trug auch vorschriftsmäßig die Mütze, aber so, wie man eigentlich eine Mütze trägt, nämlich wegen des Wetters, während bei der Bundeswehr das Tragen der Mütze ein Hauptstreitpunkt in Bezug auf die korrekte Uniform war.
Eine jener Festivitäten endete relativ dramatisch. Es war in der Weihnachtszeit, was sich nicht etwa dadurch bemerkbar machte, dass Kerzen aufgestellt wurden, gar ein Adventskranz. Aber es war anhaltend schmuddeliges Wetter. Die Neonbeleuchtung, die sonst auch den ganzen Tag brannte, spiegelte sich in schwarzen Fensterscheiben. Zwischendrin musste diese Schwärze einmal für eine Weile einem schmutzigen Grau gewichen sein, man hatte es nicht bemerkt. Es hieß, alle Fernschreiben müssten bis zwei Uhr raus sein, weshalb sich der übliche Stapel in Wilhelmys Büro heute schon früher auf dessen Tisch türmte. Später hörte man die Maschine dann eine längere Weile rattern. An einem Freitag würde Wilhelmy keinesfalls länger bleiben, was er auch sonst nicht tat. Auch dass er höchstens für eine Tasse Tee oder eine Cola in die Wohnküche schaute, schon in der Lederjacke, die er immer trug, focht ihn nicht an. Dort war mit einem langen Tischtuch gedeckt. Jemand hatte Teilchen besorgt, die Kaffeemaschine zischte und röchelte. Die Besonderheit des Tages war Sahne, die allerdings war für den Kaffee bestimmt, es würde Pharisäer geben. Jemand hatte wohl schon gekostet, denn mit dem Kaffeeduft schwang deutlich Alkohol in der dampfigen Luft. Die Amerikaner statteten ihren üblichen kurzen Besuch ab. Wen er von beiden von einem vorhergehenden Besuch bereits kannte, den Captain oder den Fahrer, hätte Rohlfs nicht sagen können. Der Oberstleutnant wollte gerade über den Unterschied von Advent und Christmas sprechen, kam aber dann nicht recht weiter, weil der Captain "adventure" verstanden haben musste, ein Wort, das wiederum der Oberstleutnant nicht kannte, der darum Rohlfs fragte: "Wieso denn Abenteuer, was hat das denn mit Advent zu tun?", worauf er sich abwandte, da mit Rohlfs' Übersetzungen nichts anzufangen war.
Conley, der grundsätzlich Bier trank, warf ihm einen verschwörerischen Blick zu. Da er den Oberstleutnant gar nicht verstand, wusste er auch nichts von dessen Daherstolpern in der kameradschaftlichen Konversation. Auf ein "Good morning, Sergeant" antwortete er stramm: "Good morning Lieutenant Colonel, how are you, Sir?", worauf dieser, Bobs Bierflasche auf dem Schreibtisch bemerkend, nicht antwortete, sondern zwischen den Zähnen einatmete.
Der amerikanische Besuch war dieses Mal schon vor Wilhelmy aufgebrochen, Rohlfs kannte diese Stimmung von Beerdigungen, wenn der Pfarrer gegangen ist. Er hätte nicht sagen können, worum sich die Gespräche drehten, jedenfalls fanden angeregte Unterhaltungen statt und der Geräuschpegel war im Verlauf der letzten Stunde erheblich angestiegen. Der finstere Hauptmann Kasper, von dem Dr. Reich einmal erzählt hatte, er habe eine Schreibkraft in den Wahnsinn getrieben, weil er buchstäblich niemals lachte, saß mit stark gerötetem Gesicht an der Längsseite des Tisches. Er sprach auch heute nicht, räusperte sich nur hin und wieder kellertief, woraufhin er seine Tasse erhob und leer, wie Rohlfs sah, zum Mund führte, wo etwas Schaum der Sahne noch vom letzten Versuch an seiner Oberlippe zurückgeblieben war.
"Darf ich dich zu einem Verstoß gegen das Betäubungsgesetz einladen", womit Stephane meinte, es sei jetzt an der Zeit sich den nächsten Joint zu gönnen. Rohlfs, der mit ihm spazieren ging, einigermaßen geborgen in der Gelassenheit von Meggis Bruder, tief unten in den Gängen, mit denen er die Welt untergrub, die auch so unterging und sich ihr eigenes Grab schaufelte. Aber auch ohne einen entscheidenden Beitrag dazu zu leisten, sei es wichtig, an welchem Platz die Archäologie eines Tages auf einen stoßen würde. Er jedenfalls sei Christ und habe nichts zu tun mit den Halsabschneidern, denen es nur auf eines ankam, nämlich von dem ekelhaft fetten Kuchen ein möglichst widerlich dickes Stück abzubekommen. "Fleisch muss sein", sagte Stephane mit seinem Blick zur Seite, wobei der den Kopf nicht einen Deut drehte, "beiß rein! - Werbespruch der Fleischerinnung."
Rohlfs, dem Vegetarismus als ein weiteres Ingredient eines vagen Weltverweigerungskultes vorkam, fühlte sich doch ein wenig angewidert durch die Vorstellung in ein kaltes Stück Schweineschulter oder Ähnliches zu beißen, was ja die Werbung so auch nicht meinte, wenngleich sie Fotos solcher Fleischbrocken auf großen Plakatwänden zeigte.
Auch ein vergleichsweise harmloses Wurstbrot konnte Stephane mit diesem Spruch, den er häufig und bei den unerwartetsten Gelegenheiten wiederholte über einem Abgrund der Hölle schweben lassen.
Heute trug er selber die Schornsteinfegerjacke, auch das Käppi dazu, allerdings eine gewöhnliche Jeans und derbe Schnürstiefel. Er war guter Dinge wie einer, der sich am Untergang eines Feindes weidet, der zwar noch nicht gemerkt hatte, dass es abwärts ging, abwärts, immerzu abwärts, haha, man selber mit, das sei schon richtig. Und von wegen Auferstehung von den Toten, das sei natürlich Unsinn, aber unter den richtigen Toten zu liegen, darauf jedenfalls komme es an. Rohlfs, dem gerade noch sterbenselend gewesen war, wunderte sich, welchen Trost man darin finden sollte, fühlte sich selber aber angesichts dieses Unsinns auf seltsame Weise leicht und für den Augenblick gerettet.
Da sie inzwischen auf einer Bank saßen, es musste um die Mittagszeit sein und die Stadt lag träge unter ihnen im blauen Dunst, drehte Stephane ein Gerät mit der ihm eigenen Sorgfalt, einerseits Handwerker, der er war, andererseits dem kostbaren Stoff, dem er unentwegt zusprach, in liebevoller Gewohnheit zugetan. Rohlfs, der hin und wieder einen Zug tat, aber in Sachen Dope ein Schnorrer war, jedenfalls seit er festgestellt hatte, dass es für ihn definitiv keine Option darstellte, lehnte auch bei dieser Gelegenheit ab nicht ohne zu bemerken, dass Stephane es schade gefunden hätte, wenn auf diese Weise ein paar Züge verlorengegangen wären.
Geiz allerdings war seine Sache nicht, er hätte zwar nicht sein letztes Piece hergegeben wie das sprichwörtliche letzte Hemd, schließlich konnte sich jeder selber um seinen Stoff kümmern, zum Beispiel anbauen, womit er sich fast ausschließlich beschäftigte. Aber das wollte ja alles auch gelernt sein, keiner war von heute auf morgen in diesen Dingen vollkommen fit; aber dass es Rohlfs gut tun würde, war jedenfalls klar, hatte er nicht selber gesagt, eigentlich wolle er den ganzen Kram hinschmeißen. Diese ganze Wissenschaft sei doch von oben bis unten kompromittiert.
"Ich hätte auch nichts anderes angenommen", sagte Stephane, "dazu musst du nicht studiert haben. Den Kopf darüber musst du dir auch nicht zerbrechen. Hör eben auf, wenn du keinen Bock hast." Seine Augen waren jetzt schon ganz glasig und Rohlfs wusste, dass er genau das nicht tun würde. Wenn schon das, was man einigermaßen wissen und denken konnte, kompromittiert sei, wie erst das, was einen dazu brachte, Bock darauf zu haben oder nicht! Wie üblich verlief der Rückweg einigermaßen schweigsam, Stephane in seinem Tran, Rohlfs wenigstens von einer finsteren Entschlossenheit. Mj Thomson, die das kleine Eiscafe offenbar mühelos gefunden hatte, erwartete Rohlfs und signalisierte mit einem Zurechtrücken in ihrem Stuhl, dass sie richtig vermutete, dass er es sei. Man begrüßte sich, da sie sitzen blieb ohne Küsschen: "Hi, ich bin Svenya, nett Sie kennen zu lernen." Rohlfs, der überlegt hatte, ob man Englisch sprechen werde, kam um den Tick zu spät mit seiner Erwiderung, der sie bereits unmöglich machte. Miss Svenya hatte ihre Zigarette für den Moment der Begrüßung abgelegt und griff nun nach dem Aschenbecher. Rohlfs errötete bei dem Gedanken daran, welche unerhörte Distanz zwischen allem lag, was diese Frau ausstrahlte, und ihm, der er kam um für seinen Freund in die Bresche zu springen. "Sie rauchen nicht?", sprach sie, die seine Verlegenheit bemerkte. - "Ja, eigentlich", begann Rohlfs, den Blick auf ihre Schachtel gerichtet, dabei gleichzeitig auf ihre schöne Hand, die ihn einlud sich zu bedienen. - "Sie meinen, Sie sind gerade dabei es sich abzugewöhnen. Ich möchte Sie nicht verführen, aber ich bin ja nicht im Dienst." Dankbar für die Möglichkeit etwas zu tun zu bekommen holte Rohlfs sich eine Zigarette aus ihrer Schachtel, sie rückte ihm das Feuerzeug näher, so dass er es erreichen konnte und nun bald etwas Sicherheit zurückzuerlangen glaubte, da er das gleiche tat wie sie. "Was möchten Sie bestellen?", fragte sie, die das Mädchen, das hier bediente, angehalten hatte, während er mit seiner Zigarette beschäftigt war. "Ja, auch einen Kaffee", sagte er, da sie für sich selber einen zweiten nahm. "Sie sehen, ich bin prädestiniert für Suchtfragen. Nein, im Ernst, ich bin bei der Army wie alle ohne es eigentlich zu wollen. Es muss erblich sein, mein Vater war bei der Army, oder ansteckend, wie ist es denn bei Ihnen? Ach so, ich vergaß das Geld, wir machen es wegen des Geldes."
Rohlfs fühlte sich durch den Gedanken unangenehm berührt, schließlich war die Bezahlung nicht gerade ehrenvoll, seine jedenfalls nicht, Mj Thomson dürfte sich da auf etwas anderem Niveau befinden. Rohlfs fragte sich, ob er hätte damit rechnen müssen, dass Pia, mit der er sich sonst in diesem Eiscafé traf, wie er selber auch eben ohne sie hinkam, jedenfalls war es jetzt zu spät. Sie hatte mit dem Rücken zu dem Tisch, an dem er mit Mj Thomson saß, Platz genommen. Es war klar, dass sie sie gesehen hatte und nun darauf wartete, wie er sich verhalten würde. An der Art, wie sie die Haare zurechtschüttelte, nachdem die Serviererin die Bestellung entgegengenommen hatte, konnte Rohlfs sehen, dass alles nur schlimmer würde, wenn er nicht zu ihr ginge. "Excuse me", er suchte noch nach einer Erklärung, aber Mj Thomson had to go anyway right in a moment, was er als eine Floskel auffasste, sich aber als Tatsache herausstellte, nachdem er Pia begrüßt und von ihr sarkastisch zu hören bekommen hatte, sehr wohl habe sie ihn gesehen: "Und da hast du dir vorgestellt, ich komme so an euren Tisch, und dann bewundern wir dich um die Wette. Wer ist 'n das eigentlich? Übrigens zischt sie gerade ab, willst du ihr nicht hinterherrennen?" Ob er jetzt auch hinter alten Weibern her sei. "Jetzt krieg dich mal wieder ein. Sie ist eine Kollegin von Conley." - "Darauf kannst du Gift nehmen, dass ich ihn frage, übrigens frage, wie er das findet, dass du ihm die Tussy ausspannst!" - "Aber das ist doch Unsinn. Erstens ist sie wirklich älter. Sie ist Psychologin, wenn du es genau wissen willst." - "Und hinter dir her, oder du hinter ihr." Es war klar, dass sie die Diskussion in dem Eiscafé nicht weiter führen konnten, obwohl wenig Gäste da waren, oder gerade deshalb, Rohlfs zahlte, die Rechnung am anderen Tisch hatte Mrs. Svenya übernommen, eine Gelegenheit noch einmal Kontakt mit ihr aufnehmen zu können, wie es ihm durch den Kopf schoss. Nichts war ihm bewusster als die Tatsache, dass das Fleisch an dem Haken, nach dem er schnappte, vergiftet war. Und doch offenbarte die Aufregung, die er in diesem Augenblick fühlte, den Verrat an der Liebe, die ihn mit Pia verband. Er hasste sich dafür, wie sinnlich und attraktiv er sie fand, was sie ihm ihrerseits vorwarf, nämlich nur deshalb ja sei er mit ihr zusammen. In der Stadt war sie gewesen, um zum Frisör zu gehen. Wie immer danach sah ihr Haar um den Tick zu ordentlich aus, wie Frisöre eben arbeiten. Gleichzeitig strahlte sie etwas von jenem Stolz aus, mit dem schöne Frauen über so etwas hinweggehen, weil sie wissen, dass es dieser Unpässlichkeit bedurfte, um in Form zu bleiben. Pia besaß entsprechend das untrügliche Gespür dafür, dass es sich hier um eine Tatsache handelte, die Rohlfs schlicht nicht leugnen konnte. Ihr kleines Auto hatte sie in einer winzigen Seitenstraße verkehrswidrig geparkt, noch dazu mit einem Rad auf dem Gehweg. Sie gehörte zu den Personen, die aus Phlegma Ungeschicklichkeiten begehen, keine Rede also davon, dass sie etwa aus der Parklücke nicht wieder herauskommen würde.
Lustig ihre Auseinandersetzungen mit den Leuten, denen sie bei dieser Art von Manövern in die Quere kam. Die verschiedenen Wege durch das Einbahnstraßenlabyrinth der Stadt kannte sie nur so ungefähr, und eigentlich war es ja auch nicht wichtig, wohin man nun gleich fuhr. Am Ende saßen sie etwas oberhalb der Stadt an einer Böschung im Gras, zwei Hochhäuser wuchsen in einiger Entfernung auf etwa dieselbe Höhe empor, aber noch ging der Blick über die Baustellen hinweg nach Westen, wo die Sonne am Nachmittagshimmel stand, Erde, Gras und Geröll waren noch warm von der Mittagshitze. Man hätte ewig so sitzen mögen, alle Unruhe hatte sich in Rohlfs verflüchtigt. "Was hat Bob eigentlich mit dieser Psychologin zu tun?", fragte Pia unvermittelt. "Es geht um diese Führerscheinangelegenheit." - "Ich dachte, er wollte die Sache auf sich beruhen lassen. Hat er überhaupt ein Auto?" - "Nein, du kennst ihn ja, er hat es gleich verscherbelt, es scheint ihm nicht die Bohne zu fehlen. Ehrlich gesagt, ich kann ihn mir gar nicht als Autofahrer vorstellen. Einen solchen Schlitten wie die Amis sonst hatte er ohnehin nicht, sogar eine ziemliche Gurke, er sagt einen Simca. Ein Kumpel hat ihn ihm abgekauft. Stress schieben sie in seiner Dienststelle aber trotzdem, er hat ja wohl auch die Army Licence, das heißt, die hat er jetzt auch nicht mehr, und dann geht das alles irgendwie automatisch bei denen." - "Ist bei uns nicht anders, schätze ich mal, du hast doch auch diesen Bundführerschein, oder? Warte mal, du hast wieder diese schwarzen Punkte. Na komm schon, du Feigling. Ja, Sekunde. Hör mal, und Bob, der geht jetzt zu dieser Tussi, die du so scharf findest, halt still, da ist noch einer, jetzt habe ich ihn, und was stellt die mit ihm an?" - "Au, lass doch, jetzt hör doch auf! Ach so, ja, die reden, und wenn du mich fragst, therapiert er sie." - "Du meinst, er hat schon mit ihr?" - "Ich glaube, sie mit ihm." - "Und das hat dem Herrn nicht gepasst." - "Lass uns nicht von ihr reden, bitte." - "Und ob wir noch von ihr reden, darauf kannst du Gift nehmen, Rohlfs. Gut, aber heute will ich Gnade vor Recht ergehen lassen. Das heißt, ich bin bestechlich. Wir gehen essen, du bezahlst, und du fährst, von wegen Alkohol am Steuer."
Major Thomson saß an demselben Platz, an dem sie auch bei der letzten Begegnung gesessen hatte, und es war auch ein Dienstag, nachmittags vier Uhr. Pia schrieb an diesem Tag eine Klausur und rechnete fest damit, dass Rohlfs ihr die Daumen hielt. Sie waren am Abend zuvor sehr zärtlich gewesen, jedenfalls bis kurz vor dem Abschied, denn das war seit einiger Zeit so, dass Pia Rohlfs vorwarf, "dafür" sei sie ihm eben gut genug, was an ihm fraß, denn halb war es vielleicht wahr. Pia besaß alles, wovon er sich vorstellen konnte, dass er es je an Frauen lieben würde. Das sollte und konnte natürlich nicht bedeuten, dass sie nicht ihre Fehler hatte, teils sogar recht nervige. Es war Rohlfs klar, dass es nicht deshalb war, weshalb sich eine Distanz zwischen ihnen aufgebaut hatte. Andererseits nahm er die Vorwürfe, die sie ihm machte, ernst. Dass er beim Militär war, Knut, ein Vorgänger Rohlfs', mit dem Pia weiter auf freundschaftlichem Fuß stand, weil das die bessere Art der Beziehung für sie sei und von dem Rohlfs dachte, dass er irgendwie auf Pias neuen Liebhaber herabblickte, dieser Knut also verweigerte natürlich. Pias Hund, ein schwarzer Hoverwart mit dunkelgelben Flecken, war ein rechtes Prachtstück. Mehr noch liebte Pia ihn, weil ihr Vater ihn ihr als Welpe geschenkt hatte. Von irgendwoher auf dem ehemals großen Bauernhof kam er mehr angetrottet als angerannt, Pias Freundschaftsbekundungen nahm er geduldig hin, so wie sich Jugendliche von Großmüttern und Tanten küssen lassen oder zuhören, wie Mütter von ihrer Kleinkindzeit erzählen. Drago liebte es neben einem herzutrotten und wusste wohl, dass Mensch und Tier eben grundsätzlich unterschiedliche Interessen hatten. Wie anders sollte man es auffassen, dass sie sich in der schönsten Natur ständig unterhielten, anstatt einmal von Herzen loszurennen. Niemals hatte man einen Menschen gesehen, wie er einmal an etwas schnupperte, wie sollte das auch gehen, wenn man ausschließlich auf den Hinterpfoten lief! "Drago!", rief Pia, worauf es auch schon bald in einem Busch oder im hohen Gras der Böschung raschelte, man musste ihn nie lange rufen, eigentlich fast nie ein zweites Mal, vielleicht gab es auch Hunde, die es kindisch fanden, wenn man sich bei etwas zierte, was man am Ende doch tun musste. An der Straße ging Drago an der Leine, Rohlfs konnte sich nicht an ein einziges Mal erinnern, dass die Leine einmal straff gezogen gewesen wäre, es sei denn, es gab einmal ein Missverständnis, in welche Richtung man weiter ging. Sie genossen diese Spaziergänge durch die Felder, manche davon gehörten Pias Vater, der aber im Begriff war, die Landwirtschaft aufzugeben, so wie ein Gutsbesitzer, der ausgesorgt hatte und nun in Ruhe Aufwand und Ertrag gegeneinander abwog. Es war klar, dass er weit und breit, wie man sagte, der größte Bauer war, Rohlfs fragte sich, wie er das wohl alles alleine bewirtschaftet hatte. Er sah ihn wohl manchmal in seinem dunkelblauen Arbeitsanzug, eine Art Eisenbahnermütze auf dem Kopf, wie er eine Ladung Dünger einlagerte. Auch wartete er seine Maschinen selber. Oft war er aber auch wochenlang nicht ein einziges Mal zu Hause, wenn Rohlfs Pia besuchte. Anfangs hatte Rohlfs die Situation so gedeutet, als verberge Pia ihn vor dem Vater, was aber offensichtlich nicht der Fall war, denn der begegnete ihm stets in großer Gelassenheit, wie er überhaupt ein stiller Mann war, der las, der freundlich sprach, wenn über etwas zu reden war, der seine Tochter liebte, wenn er auch ihrer Sprunghaftigkeit in sofern kritisch gegenüber stand, als er nie darauf einging. Einmal steuerte Pia den riesigen Wagen, den er fuhr, viel zu klein hinter dem großen futuristischen Lenkrad. Er selber, auch kein groß gewachsener Mann, wirkte groß, durch die Souveränität, mit der er die Aufgeregtheit seiner anfängerhaft fahrenden Tochter ertrug, die die typischen Kommentare über die Fahrmanöver anderer Autos sprach, wohl auch das eine oder andere Mal einem nachhupte, was dem Vater schon nicht recht war. Die Situation wiederholte sich dann auch nie, jedenfalls war Rohlfs nur dieses eine Mal dabei gewesen.
Blieb er über Nacht, dann schlich er zwar nicht wie beim ersten Mal mit höchster Vorsicht aus dem Haus, ein Einbrecher, den der Hausherr ohne Vorwarnung und ohne Reue erschoss, sollte er ihm geradewegs vor die Flinte laufen; aber irgendwie blieb stets klar, dass das Haus jedenfalls nicht vor den Augen des Vaters verlassen werden konnte, weshalb Rohlfs nie etwa zum Frühstück blieb, wenn er da war, auch das Auto nicht unmittelbar vor dem Haus parkte.
Auch war Pias Vater etwas älter als Rohlfs' Eltern und darum im Krieg gewesen, sogar Offizier und zeitweilig in einer Position, von der Pia mit Stolz sprach, wenn sie auch sonst, wie allgemein unter Altersgenossen üblich, das Militär ablehnte. Der Vater gab auf alles dieses nichts, behandelte sie sowohl in den Punkten, in denen sie ihm bewundernd ergeben war, als auch in Bezug auf ihre Begeisterung für alles amerikanisch hippiemäßige mit gleichbleibend gelassenem Wohlwollen. Rohlfs war nun ihr Freund, ein anderer als bisher, ob solider, war schwer einzuschätzen, vielleicht von daher etwas harmloser, als er wohl jünger und auch unsicherer wirkte. Auf keinen Fall würde es wohl bei ihm bleiben, weshalb es kaum je zu mehr als einem Gruß zwischen ihnen kam. Rohlfs glaubte zu verstehen, dass jedenfalls der Vater völlig über alle Zweifel erhaben war, die Pia an ihm wohl hegen mochte. Für Bob Dylan musste man sich nicht begeistern, wenn man der Vater war, der vielleicht klassische Musik hörte wie Rohlfs, wenn auch erst in anfängerischer Übertriebenheit. Sein Groll über offensichtliche Unterlegenheit in Bezug auf Pias bisherige Männer bestärkte ihn noch in seiner Distanz zu Flower Power, worin er die Überheblichkeit einer wohlsituierteren Jugend sehen wollte. Seltsam, dass er über die Tatsache hinwegsah, dass Pias Vater immerhin in der Armee Hitlers eine Stadtkommandantur innegehabt hatte. Offenbar überwog für ihn der Rang sowohl der Generation als auch in Bezug auf das Militär. Pia, die Russisch studierte, das ihr Vater fließend beherrschte, wenn er auch niemals nur ein einziges Wort sprach, vielleicht in Gegenwart Pias, kauderwelschte das amerikanische Englisch ihrer Gastfamilie in vollendetem Kolorit der Hinterwelt, in dem dieser Aufenthalt von einigen Wochen stattgefunden hatte.
Nein, sie habe sich nicht genau gemerkt, was das sei, was sie da habe. Im Bus umgefallen sei sie, nein, nur kurz, der Busfahrer habe aber angehalten und die Leute hätten sie dann auf einen Sitz verfrachtet, wo sie einigermaßen zu sich gekommen sei und schließlich habe sie sich von der Bushaltestelle, sie wisse nicht wie, nach Hause geschleppt. Ja, jetzt falle es ihr wieder ein, etwas mit Kokken, ja, genau, Streptokokken seien es. Und er müsse dasselbe Medikament... Bob, der von seinem Roman oder Heftchen, das er gerade las, aufblickte schaute verschwommen über seine Brille hinweg, bevor er einen Schluck aus der Bierflasche nahm. Pia war nicht davon abzubringen, dass also irgendwelche kleinen Tierchen in ihr wimmelten, es sei ganz schrecklich. Irgendwie hörte sich die Sache schon unappetitlich an, wahrscheinlich musste man mit einer übelriechenden Salbe ... Nein, es sei etwas zum Schlucken, glaube sie jedenfalls, die Ärztin habe es aufgeschrieben. "Ja kriege ich das dann in der Apotheke einfach?" Pia, die merkte, wie Rohlfs sich zierte, empörte sich darüber, wie lax er die Sache offenbar angehen wollte. Für sie jedenfalls sei klar, worüber sie zu weinen begann, dass sie nichts Chronisches wolle, ihre Tante habe sich da mal was eingefangen und jahrelang, ja, jahrelang, ob er es nun glauben wollte oder nicht, und es sei einfach eine Frage von Hygiene.
Rohlfs fühlte, wie etwas einen hässlichen Fleck bekommen hatte, woran sein Herz hing, weil es ihm über alles hinweg, woran er zweifelte und was an ihm nagte, wie eine Insel der Gewissheit erschienen war. Pia war bei allem die wunderbarste Frau, alles, was sie trennte, erschien ihm als ein Berg von Widrigkeiten, der sich erklimmen, umwandern, notfalls abtragen ließ, und manchmal schien es ihm, dass auch sie, von ihrer Seite des Berges aus, zu ihm auf dem Weg war, ihm davon herab munter entgegen schritt. Es stimmte, weil solche Dinge auch für ihn neu waren, diese Unterleibsgeschichte beunruhigte ihn, aber sie würde doch letztlich nicht so ernst sein und sich auf die eine oder andere Art im Sande verlaufen. Genau das aber warf sie ihm vor, Problemen aus dem Weg zu gehen, oder, was schlimmer sei, jedenfalls für sie, sie aufzuschieben. "Einmal, Rohlfs, musst du doch schon auch Farbe bekennen", sagte sie, womit sie ihn mehr traf, als sie wissen konnte. Denn es war wahr, dass er sich in seinem Leben nicht richtig am Ort fühlte. Einstweilen wollte er in irgendeiner Weise eine Art von Orientierung finden. "Es kommt mir so vor", sagte sie, als würdest du das, was du tust, nicht richtig wollen. Kannst du nicht einmal, ein einziges Mal, auch wollen, was du tust?" Rohlfs erschrak, sie würde stundenlang mit ihm diskutieren, ob er sie liebe, und wie er sie liebe, und worauf es ihm eigentlich bei ihr ankam, ein Abend unendlicher Tränen.
Rohlfs, der sich keineswegs von Anfang an sicher gewesen war, ob er Pia liebte, war in dieser Liebe fester geworden durch Entbehrung, das regelmäßige Anwachsen der Sehnsucht über die Woche hinweg, wenn sie sich nicht sehen konnten, und den Schmerz der Trennung, wenn das Wochenende vorbei war, der ihn härter traf als sie, weil er die Woche über in größerer Unfreiheit leben würde. Wochenendbeziehungen konnten wohl durchaus auch bindenden Stress erzeugen. Beim Militär zu sein stellte allerdings auch einen Punkt grundsätzlicher Kritik und damit etwas Trennendes in anderer Hinsicht dar. Gewissermaßen einer siegreichen Truppe anzugehören war eine Perspektive, die sich unvorhergesehenermaßen erst durch die Amerikaner ergab. Inzwischen besaß Absolution nur, wer verweigerte, möglicherweise sogar "total", weil der Ersatzdienst gewissermaßen anerkannte, was er ersetzte, hieß es, indem er es ersetzte. Die Idee, Frauen hätten es da leichter und könnten auch ungerechterweise mit dem Studium früher anfangen, kam Rohlfs nicht. Das Leben abseits von Schulbänken enthob wenigstens anderer Gewissensfragen, die jedenfalls auch viel konkreter waren, ein Krieg drohte schließlich nicht.
Der Militärdienst war Schlendrian und Leerlauf, was niemand in Frage stellte. Es wurden unsinnige Anforderungen an Unwichtiges gestellt. Bei Verstößen drohten Strafen, die kaum je verhängt wurden, wer hätte all die Sanktionen auch verwalten wollen! Der Unterricht hatte niedriges Niveau, schließlich wurde er von Unteroffizieren mit bescheidenen geistigen Gaben erteilt. Weil aber viel Terminologie vermittelt wurde, so als lernte man Bedienungsanleitungen technischer Geräte, war die Gefahr, dass man bei einem Test durchfiel, natürlich jederzeit gegeben, wodurch irgendwelche Folgen drohten, man brauchte nicht recht zu wissen, welche. Niemand hätte es sich einfallen lassen, etwa ein leeres Blatt abzugeben, wie es in der Schule durchaus ja geschah, entweder aus grundsätzlicher Verweigerung, oder weil man sich ausgerechnet hatte, ob man es sich leisten konnte.
Das Bildnisverbot war natürlich in erster Linie ein Hinweis darauf, dass es nötig war, in dem Sinne nämlich, dass es etwas zu verbieten gab. Die gewaltigen magischen Kräfte, die dem Besitz eines Bildes innewohnten, konnten nicht unberücksichtigt bleiben, wenn man ein System etablierte, das seine Dynamik unter vielen entfalten sollte. Das Bild trat allenthalben an die Stelle der Wirklichkeit, es war sozusagen überhaupt das Tor zu ihr. Das Foto, das Rohlfs von Pia besaß, zeigte sie in dem üblichen Licht, also einem günstigen. Da es ein Passfoto war, hatte die Fotografin auch auf eine Reihe anderer Erfordernisse eines guten Bildes geachtet, die der Laie nicht auf Anhieb zu nennen wüsste, und die es zu einem Gegenstand machten, den man als Gegenwert für sein Geld akzeptierte. Niemand wollte, schon gar nicht auf einem Passbild, so aussehen, wie er sich selber nicht gerne sah. Darum die große Spannung, wenn man das Heftlein mit den kleinen Bildchen öffnete. Leider gab es da genügend Enttäuschungen, und es musste am eigenen Bild noch gehörig gearbeitet werden. Man kleidete sich so und so, trug seine Brille, wenn es sein musste. Pia trug ihre Kontaktlinsen, Kolis, wie sie sagte, in teils kindlicher teils methodischer Selbstliebe, das Haar zwar frisch geschnitten, aber sehr fachmännisch, gerade so, dass es nach Frisur aussah, adrett von sonst größerer Wildheit für diesen förmlichen Anlass gebändigt und nicht etwa plump gestutzt. Sie blickte darauf mit jenem leicht überraschten Lächeln, als sei sie angenehm berührt eines Fotos gewürdigt zu werden. Rohlfs fand, dass das Bild ihr Wesen vollkommen erfasste. Sie besaß ihr schönes Ich selbst in der Weise, wie man einen kostbaren Gegenstand besaß. Verletzte man sie, dann war es eine schändliche Misshandlung eben dieses unter allen Umständen zu schützenden Dinges, das sie verteidigte wie die sprichwörtliche Löwin ihr Junges. Sie hatte ihm das Bild geschenkt, absichtsvoll, wie Rohlfs fand, der seinen Bann von der ersten Sekunde an fühlte, als Besitzer in Besitz genommen von der kleinen schwarz-weißen Fotografie.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen