Mittwoch, 10. April 2019

The Gas Station (Variationen) [= S / W 5.10]



["Ahnen"]


Der Mensch ist nicht ein Gebäude,
dessen Oberfläche etwas hinzugefügt werden kann,
sondern ein Baum,
dessen Stamm und Laub Ausdruck seines Lebenssaftes sind.
[Marcel Proust]



["Ahnung", Michelle Schneider (2019)]






5. 10 Gasolin




Vater, du bist also im Jahr 1313 islamischer Zeitrechnung in Teheran geboren, du warst der erste Sohn deiner Eltern. Ihr lebtet in dem typischen Haus einer iranischen Großfamilie mit Großvater, dessen drei Ehefrauen und deren Kindern und Kindeskindern, die teils auch schon Familien gegründet und Kinder hatten. Das große Haus stand im Süden Teherans, hatte einen großen Innenhof und nach der Straßenseite keinerlei Fenster. Vor dir war deine älteste Schwester Forugh auf die Welt gekommen, das war im Jahr 1311.

Mit etwa sieben Jahren kam sie in eine Schule für Buben und Mädchen. Du wurdest auch dorthin geschickt, obwohl du erst fünf Jahre alt warst, wohl um die Schwester zu beschützen. Euer Leben war, wie du immer sagtest, sehr glücklich und ihr wart alle zufrieden. Immer war für die Kinder jemand aus der Familie da. Großmutter, die erste Frau deines Großvaters, führte das Regiment und keiner traute sich etwas gegen sie zu sagen. Die Familie hatte im großen Bazar von Teheran zwei große Stoffgeschäfte, wo Großvater auch arbeitete. Außerdem handelte er in eigener Regie mit Grundstücken und Häusern. Für grobe Arbeiten standen mehrere Bedienstete zur Verfügung.

Allmählich wurde das iranische Haus für die ganze Familie zu klein, die Schwestern deines Vaters heirateten, und deren Ehemänner und Kinder wohnten auch dort. Deine Eltern bekamen noch zwei weitere Kinder, Nahid und Kamran. Großvater fand ein Haus, das in der Innenstadt von Teheran zum Verkauf stand, das kaufte er. Es war so groß, dass es geteilt werden konnte und für fast alle Familienangehörigen Wohnungen hatte.

Nun kam für alle Kinder der Großfamilie ein Schulwechsel, diesmal streng getrennt nach Jungen und Mädchen. Die Jungenschule erkannte die zwei Jahre, die du zusammen mit Forugh hinter dich gebracht hattest, nicht an, und du musstest wieder mit dem ersten Schuljahr anfangen.

Mit dreizehn Jahren kamst du in ein Gymnasium und machtest dort mit etwa 22 Jahren das Abitur. Eigentlich war geplant, dass du in die Geschäfte deines Vaters einsteigst, aber danach stand dir absolut nicht der Sinn. Du wolltest hinaus in die Welt, am liebsten nach Amerika, wo schon drei deiner Cousins studierten. Viele deiner Schulkameraden studierten auch im Iran, aber auch in Europa und Amerika. Sie wählten oft die Fächer Jura oder Medizin. manche kamen nach dem Studium wieder in den Iran, viele heirateten zu Hause und gingen wieder als Ärzte oder Rechtsanwälte mit ihren jungen Frauen in die USA.

Inzwischen wart ihr in Teheran wieder mehrfach umgezogen. Dein Vater kaufte von der Familie ungesehen irgendein Haus und alle zogen innerhalb kurzer Zeit dort ein. Bevor du den Iran verließt, wohntet ihr in einem dreistöckigen Haus in der Nähe des Flughafens Mehrabat. Die Familie bewohnte Parterre und die erste Etage. Der dritte Stock wurde an ein deutsches junges Ehepaar mit einem kleinen Kind vermietet. Der Ehemann arbeitete auf dem Teheraner Flugplatz. 

Die junge Frau kam oft zu deiner Mutter und sie versuchten sich mit ein paar Brocken Persisch zu unterhalten. Doris konnte etwas Englisch und erzählte dir eines Tages, dass deutsche Universitäten daran interessiert wären, ausländischen Studenten ein Studium in Deutschland zu ermöglichen. Sie bot dir außerdem an, in ihrer Wohnung bei ihren Eltern in Nauheim so lange wohnen zu können, bis sie und ihre Familie wieder zurück nach Deutschland gehen würden.

Das war der Anlass, dich an zwei deutschen Universitäten um einen Studienplatz zu bewerben, und zwar in Frankfurt und Mainz. Frankfurt lehnte deinen Antrag binnen kurzer Zeit ab, aber aus Mainz bekamst du von der Johannes Gutenberg-Universität nach etlichen Wochen eine Zusage.

Es dauerte lange, bis du alle erforderlichen Papiere zusammen hattest, einen Reisepass mit Visum für Deutschland, Gesundheitszeugnis und Kopien aller Zeugnisse samt Lebenslauf. Alles war in deutscher Übersetzung erforderlich.

Die ganze Familie war in Aufregung und kam mit guten Ratschlägen. Du bekamst langsam Reisefieber und Angst. Du konntest kein Wort Deutsch. Eure Mieterin versuchte dir ein paar Worte beizubringen, aber sie wusste auch nicht, was du wirklich brauchtest.

Im November 1957 war es soweit. Im Beisein der ganzen Familie bestiegst du in Mehrabat ein Flugzeug der Iran Air. Es war dein erster Flug überhaupt. Ihr landetet bei starkem Nebel und Regen auf dem Frankfurter Flughafen nach ca. vier Stunden.

Zu dieser Zeit ging es auf dem Frankfurter Flughafen noch sehr einfach zu. Mit deinem Koffer in der Hand gingst du den Leuten hinterher zum Ausgang. Dort empfing dich der Vater von Doris zusammen mit einem Kollegen, der ein Auto hatte und ein wenig Englisch konnte. Sie hielten ein Foto von dir hoch und suchten nach dir. Nachdem ihr euch endlich gefunden hattet, fuhrt ihr Richtung Nauheim.

Du erwartetest eine große deutsche Stadt, aber nun landetest du in einem kleinen Dorf mit damals 1200 Einwohnern, hauptsächlich Bauern und Opelarbeiter. Hier kannte niemand den Iran, nur wenn das Wort Persien fiel, sagten sie: "Das ist doch, wo die Soraya mit dem Schah von Persien lebt."

Du warst damals einer der ersten Ausländer - außer fünf Italienern, die in der Nauheimer Musikindustrie arbeiteten, die dort von Flüchtlingen aus dem Sudetenland aufgebaut worden war. Die erste Nacht, die du in einem kleinen Dachstübchen schlaflos verbracht hattest, war schrecklich. Du bekamst fast keine Luft, in der Mitte des Zimmerchens konntest du gerade stehen, es gab weder Wasser noch eine Toilette da oben.

Das Leben fand in der Küche des Ehepaares statt. Am liebsten wärst du sofort wieder in ein Flugzeug gestiegen und nach Hause zurückgeflogen, aber wie? Am nächsten Morgen kamen viele Nachbarn um den Fremden aus dem Orient anzuschauen, der allerdings wortlos dabeistand, nichts verstand und auf Englisch versuchte etwas zu sagen, das aber wiederum von den Nauheimern nicht verstanden wurde.

Am zweiten Tag zeigte dir Otto, der Vater von Doris, Alt-Nauheim. Die schmalen Gässchen waren noch nicht gepflastert, die Häuser, zum Teil aus dem 16. Jahrhundert, betrachtetest du, aber eigentlich dachtest du, wo bin ich hier nur gelandet und was soll ich hier? Im Dorf begrüßten sich alle mit "Ei Guuhde, wie?". Du merktest dir diesen Satz, griffst in deinem Stübchen sofort zum Wörterbuch deutsch-persisch und suchtest, aber du fandest nichts. Es war "Naumer Dialekt".

Am dritten Tag in Deutschland wollte dir Herr Schmidt zeigen, wie du künftig täglich mit dem Zug die Universität in Mainz erreichen würdest. Er hatte bereits auf einem Zettel notiert. "Bahnhof Nauheim in Zug nach Mainz einsteigen, danach kommt die Station Bischofsheim, danach Gustavsburg, dann Mainz-Süd, dann aussteigen in Mainz Hauptbahnhof. Rückfahrt ebenso jeweils auf Gleis 3 in einen Zug nach Darmstadt einsteigen und in Nauheim aussteigen. Allerdings ist nachmittags alles schiefgelaufen. Schon vor der Abfahrtszeit um 17.03 Uhr standest du wie angegeben auf Gleis 3 und wartetest auf den Zug nach Nauheim. Du merktest wohl, dass dauernd durch den Lautsprecher irgendwelche Ansagen gemacht wurden, verstandest aber nicht, um was es da ging. Endlich hielt ein Zug, du stiegst ohne irgendwelche Bedenken ein und suchtest dir ein Abteil. Dies waren die ersten Zugfahrten in deinem Leben. Du wundertest dich über die komfortable Ausstattung des Abteils, in dem du alleine auf mit blauem Samt gepolsterten Bänken saßest. Die erste Station war Darmstadt. Du warst zwar erstaunt, dass es nicht Mainz-Süd war, aber du konntest ja niemanden fragen und dachtest, es wird schon in Ordnung sein.

Kurz vor Heidelberg kam ein freundlicher Bahnbeamter in dein Abteil und verlangte deine Fahrkarte, die du ihm sofort gabst. Der Mann rief erstaunt: "Sie sitzen hier in der ersten Klasse in einem D-Zug, der nach Wien fährt."

Du hattest das alles nicht verstanden und versuchtest ihm auf Englisch zu sagen, dass du nach Nauheim bei Groß-Gerau wolltest. Er verstand dein Englisch nicht, hatte aber inzwischen kapiert, dass hier etwas nicht stimmte. Als der Zug in Heidelberg anhielt, stieg er mit dir aus und suchte einen Bahnpolizisten, der Englisch verstand und wünschte dir eine gute Rückfahrt. Der Polizist war sehr freundlich und rücksichtsvoll. Du warst inzwischen ziemlich aufgeregt, aber er beruhigte dich, suchte die nächste Rückfahrgelegenheit für dich nach Darmstadt und telefonierte mit einem Kollegen dort. Er brachte dich zu dem Zug und informierte auch den Schaffner, dass der dich in Darmstadt zum Aussteigen auffordern sollte. Wahrhaftig wurdest du schon auf dem Bahnsteig erwartet und zu einem Anschlusszug nach Groß-Gerau gebracht. Allerdings saßest du in einem Eilzug, der in Nauheim nicht hält. Ein weiterer Bahnbeamter wartete schon in Groß-Gerau.

Inzwischen war es zwei Uhr nachts, und man geleitete dich zu einem ungeheizten Wartesaal. Der erste Zug nach Nauheim fuhr am nächsten Morgen um fünf Uhr. Um diese Zeit kam wieder ein Beamter und setzte dich endlich in einen Zug nach Nauheim, das du innerhalb von fünf Minuten erreichtest.

Das Ehepaar Schmidt hatte sich Sorgen gemacht, wo du geblieben warst, und hatte schon am Abend vorher die Polizei in Nauheim verständigt. Die Beamten hatten aber deine Irrfahrt aufgeklärt und noch in der Nacht Schmidts unterrichtet. Nach diesem Erlebnis warst du von den Deutschen begeistert, die dir so freundlich geholfen hatten.

Deine zweite Fahrt nach Mainz, wieder zusammen mit Herrn Schmidt, ging direkt zur Universität um dich für das Wintersemester im Fach Medizin zu immatrikulieren. Dabei wurde dir mitgeteilt, dass du zuerst für zwei Semester nur als Gasthörer angenommen werden könntest, da du die deutsche Sprache nicht beherrschtest. Zweimal in der Woche solltest du zwangsläufig zu einem Deutschkurs erscheinen.

Nach dem ersten Semester an der Mainzer Universität flogst du in den Sommerferien nach Hause. Deine jüngste Schwester Nahid hatte kurz bevor du kamst geheiratet und sie waren dabei eine Hochzeitsreise nach Europa zu planen. Großvater hatte dem jungen Paar einen VW geschenkt, den sie in Deutschland, und zwar in Wolfsburg abholen sollten. Die Reise war wie folgt geplant: Mit dem Zug von Teheran nach Moskau und zurück über Polen, Ost-Berlin, West-Berlin nach Wolfsburg, um des Auto abzuholen.

Damals war es für Iraner nicht möglich ein Einreisevisum in die Sowjetunion zu erhalten. Dein Schwager teilte dir mit, er könne ohne Weiteres ein Visum für dich besorgen für den Fall, dass du dich entscheiden würdest mitzufahren. Welche Beziehungen er spielen lassen wollte, war dir unbekannt. Im September 1958 unternahmt ihr zusammen die geplante Reise ab Bahnhof Teheran nach Moskau. An der Grenze zur Sowjetunion musstet ihr den Zug wegen der bekannten Unterschiede in der Schienenbreite wechseln. Dort stand ein einzelner Luxuswaggon für euch bereit, und zwar der, wie man euch mitteilte, mit dem damals, vor vielen Jahren, der Vater des Schahs nach Russland gefahren war. Als ihr euch gerade gesetzt hattet und einen Apfel, den ihr aus Teheran mitgebracht hattet, essen wolltet, kam eine aufgeregte Schaffnerin und nahm euch den Apfel ab mit der Erklärung, dass es nicht erlaubt sei, Obst in die Sowjetunion einzuführen.

Nach zweitägiger Fahrt erreichtet  ihr den Hauptbahnhof von Moskau. Dort erwartete euch ein Reiseführer, der fragte, in welcher Sprache er sich mit  euch unterhalten  könnte. Ihr entschiedet euch für Englisch. Er brachte euch zu einem feudalen Hotel und teilte euch mit, dass ihr am nächsten Morgen vom iranischen Botschafter in Empfang genommen würdet. Ihr hieltet euch acht Tage in Moskau auf, wo euch der Botschafter persönlich täglich Sehenswürdigkeiten von Moskau zeigte. Ihr bestauntet das Mausoleum von Stalin und Lenin und saht ein bewohntes Haus, das etwa zwanzig Meter zur Seite gerückt wurde, weil dort eine neue Straße gebaut werden sollte.

Die Untergrundbahn wirkte prachtvoll auf euch mit ihren weißen Marmorbahnsteigen und den Kristallleuchtern, die von der Decke herunter hingen. Nach einer Woche verließt ihr Moskau wieder mit dem Zug Richtung Deutschland.

Mit dem neuen VW brachte dich dein Schwager bis nach Nauheim. Das Paar übernachtete bei dir in deinem Dachkäfig, wo der große Mann nicht einmal gerade stehen  konnte.

Das junge Paar fuhr von Nauheim Richtung Brüssel, wo gerade die Weltausstellung eröffnet worden war. Von dort ging es nach London und später in die USA.

Als du damals nach einem Jahr in Deutschland wieder nach Hause kamst, wolltest du, wegen der dir sehr zusetzenden Einsamkeit, dem kalten Klima und der Sprachschwierigkeiten, nicht wieder zurück.

Der Mann deiner älteren Schwester überzeugte dich davon, dass es besser sei, die begonnene Ausbildung zu beenden und dann zu überlegen, wohin du wolltest.

Du teiltest deinem Schwager mit, dass der Hauptgrund für deine Entscheidung Geldmangel gewesen sei, da dein Vater nur sehr unregelmäßig etwas Geld geschickt habe und du von rund vierhundert Mark für drei bis vier Monate nicht leben könntest. Dein Schwager versprach sich demnächst darum zu kümmern. Allerdings wolltest und konntest du dich nicht darauf verlassen und fingst an, dir neben dem Studium eine Arbeit zu suchen.

Dein erster sogenannter Ferienjob wurde dir von Herrn Schmidt vermittelt, und zwar in einer Maschinenfabrik in Groß-Gerau. Man produzierte Einzelteile für die Firma Opel im Akkord. Du hattest die Aufgabe mit einer Stange geschmolzene Eisenteile aus einem Ofen herauszuholen, abkühlen zu lassen und mittels einer Presse innerhalb von zehn Minuten zwanzig fertige Teile herzustellen. Danach folgten fünf Minuten Pause, dann ging es von vorne los. Du warst nicht in der Lage, die Aufgabe zu erfüllen. Auch dann nicht, als du nur zehn fertige Teile vorlegen solltest.

Auf der Zugfahrt nach Nauheim schliefst du vor Erschöpfung ein und es passierte oft, dass du entweder erst in Bischofsheim wach wurdest, oder dich ein Schaffner, der dich schon kannte, weckte.

Nach drei Monaten Akkordarbeit bei der Firma Faulstroh konntest du nicht mehr, kündigtest und suchtest dir eine neue Beschäftigung. Du fandst einen Job bei einer Umzugsfirma. Aber schon nach dem ersten Arbeitstag musstest du kapitulieren, denn du konntest ein Klavier nicht vom Platz bewegen, geschweige denn es mit einem zweiten Mann in den zweiten Stock transportieren. Zum folgenden Frühstück holten die Männer Tatar, Brot und Bier. Statt Bier trankst du Milch. Das gab dir den Rest, dir wurde hundsübel und du übergabst dich.

In der Mensa lerntest du einen Studenten namens Eckhard kennen, dem du von deinen Nöten erzähltest. Er sagte dir, dass er bei den Amerikanern in Mainz-Kastel arbeite. Dort sei eine freie Stelle als Teppichreiniger ausgeschrieben. Du bewarbst dich und bekamst den Job.

Es stellte sich heraus, dass es eine Arbeit als Lagerarbeiter war. In einer großen Halle waren Einrichtungsgegenstände für Wohnungen von Amerikanern aufgestellt, die an euch weitergegeben und entsprechend aufgelistet wurden. Eckhard arbeitete auch dort um mit dem Verdienst sein Jurastudium zu finanzieren.

Nach einem Freisemester, in dem du dort täglich zehn Stunden arbeitetest, konntest du weiter studieren. Die vorärztliche Prüfung stand nach dem vierten Semester an. Du hattest dich angemeldet, warst dir aber nicht sicher, ob du alles wüsstest und trafst die Entscheidung noch ein Semester zu warten. Allerdings war dir nicht bekannt, dass du dich offiziell hättest abmelden müssen. Nach etwa einer Woche erhieltst du die Nachricht, dass du durch die Prüfung gefallen seist. Falls du bei dem Fach Medizin bleiben wolltest, müsstest du von vorn mit dem ersten Semester anfangen. Und du hast wieder von vorne angefangen und nach drei Semestern alle Scheine vorgelegt. Diese Prüfung hast du mit sehr gut bestanden.

Danach folgten für das Physikum vier weitere Semester, die du alle absolviertest und auch die entsprechenden Scheine erhieltest du. Leider hast du an der anschließenden Prüfung wieder nicht teilgenommen, da du an großem Geldmangel littst und völlig die Lust an der ganzen Studiererei verlorst. Zu diesem Zeitpunkt hast du das Medizinstudium völlig aufgegeben.

"Und bedenken Sie, Reich, dass Saeed aus einer reichen, großen Welt zu Hinterwäldlern kommt. Eigentlich hätte er unter die Räuber fallen müssen."

Das Diktiergerät klickte erneut und Rohlfs hörte deutlich wie man nach einer kurzen Pause eine neue Kassette einlegte. "Die Wärme der profanen Bahnleute ist schon imponierend, Rohlfs!", sagte Reich, räusperte sich mehrmals lautstark und betätigte schließlich die Aufnahmetaste. Es schien als würde der Transporter über Kopfsteinpflaster fahren. Hatte man bereits an einer Tankstelle halt gemacht? "Rohlfs regrediert, droht sich selbst zu verlieren und bedarf der Führung zurück zu dem allen Menschen gemeinsamen Ziel, glücklich sein zu wollen." Das Diktiergerät rauschte noch eine Weile in bedrückender Stille.

"Futu-ţi morţii mă-tii!", brüllte der Fahrer unvermittelt, bevor der Wagen in ein Schlagloch geriet und alles, was sich nicht fest an seinem Platz befand, in harsche Bewegung versetzte. Rohlfs glaubte für einen Moment sich ein Stück seiner Zunge abgebissen zu haben. Das Fahrzeug schien allerdings unversehrt geblieben zu sein. Reich räusperte sich lediglich.

Jemand spuckte auf den Boden. Wieder kehrte, bis auf das gelegentliche Zischen der Böen, Stille ein. Rohlfs schmeckte das Blut in seinem Mund und konzentrierte sich auf den sengenden Schmerz. Hellwach klammerte er sich an sein Notizbuch. Etwas im Heckraum des Fahrzeugs klapperte unablässig. "Ce dracu' e asta, frate? Futu-ţi crucea mă-tii!"

"Schreiben Sie, Reich! Schnelligkeit und Leistung, Reich. Ich denke, dass wir eine gute Auswahl getroffen haben. Das wird funktionieren, da es ja nichts Außergewöhnliches ist! Nichts Außergewöhnliches", lispelte Rohlfs mit bebenden Lippen und dachte an das Bild vom Wasser, das den Stein glättet.

"Das wird funktionieren, Reich! Ja, wäre ich nur zu Hause geblieben. I had created a community rather than joined one, as I had done so often in the past. Eine gute Auswahl!"


"In den nachfolgenden Monaten suchte ich wieder nach einer Arbeitsgelegenheit, da ich sonst meine Aufenthaltsgenehmigung für Deutschland verloren hätte. Ich fand in Wiesbaden-Schierstein beim Amt für Verteidigungslasten eine Stelle als Fahrer mit 58 Wochenstunden à DM 1,70. Nach zwei Jahren wurde ich befördert, und zwar zum Fahrer des Kommandeurs der Air Force in Wiesbaden. Nachdem das Hauptquartier von Wiesbaden nach Ramstein verlegt worden war, wurde ich zur Army versetzt und dort als Verwaltungsangestellter am Flughafen Wiesbaden-Erbenheim übernommen."


"Cine-i harnic şi munceşte, ori e prost ori nu gândeşte, Rohlfs!"


But have you ever thought about who might be watching you? The eyes of strangers will creep upon my papers. Paid strangers will do anything for a quiet life. It's wonderful what strangers will do to help a dog in need. It's crazy what strangers will do. Strangers will sing and applaud and toast right alongside you. Perfect strangers will sing your name out in the streets. Yes, those strangers will do that! These strangers could be annoyed with either your body or your soul. Strangers could be treated with utter disregard. Strangers could be buried on top of people's relatives. Strangers could be gods or goddesses in disguise. So, be always kind and mild to strangers. Do you know how many strangers might know you?


"Opera buffa, Rohlfs! Când te afli la închisoare ar fi bine să vorbeşti doar atunci când eşti întrebat."

"Was um alles in der Welt denn für ein Dr. Reich soll dich angerufen haben? Kenn' ich den?" Constance stellte gerade die Topfpflanzen zurück auf die Fensterbank, sie hatte Fenster geputzt bei dem herrlichen Frühlingswetter.

Auch draußen waren nun doch Geranien, was Rohlfs immer abgelehnt hatte, wenigstens unter anderem in die Blumenkästen gekommen. Rohlfs hatte einen seiner unruhigen Tage, sprach von einer Reise, die sie wenigstens dieses Jahr im Sommer einmal machen sollten. Rumänisch sollte man doch eigentlich verstehen können, wenn man Französisch oder Spanisch sprach.

Constance lächelte skeptisch, wie es beispielsweise um sein Holländisch oder Dänisch bestellt sei, da er doch Deutsch spreche? Dennoch hatte sie Lust zu verreisen, wollte der Sache aber lieber nicht so leicht trauen.

Rohlfs konnte mitten im Sommer als einziger in der Stadt bleiben, hielt sich im Schatten auf, konnte sogar ganze Tage hinter halb herabgelassenen Rollläden liegen und lesen oder sich mit irgendwelchen Basteleien oder Reparaturen im Haus beschäftigen.

Reisen durften, wenn schon, auf keinen Fall Urlaubsreisen sein, so wenig wie man mit ihm bei schönstem Wetter in einem Straßencafé sitzen konnte, wenn alle Leute das taten.

Constance tat es, ohne ihn, was er wusste und worüber er auch nie ein abfälliges Wort verlor, so wenig wie über ihre ausgiebigen Einkäufe, shopping durfte allerdings nicht dazu gesagt werden.

"Wie kommst du ausgerechnet auf Rumänien? Nicht, dass ich etwas dagegen hätte. Warm ist es da ja wenigstens und noch ein wenig so wie früher." - "Wir hatten da in einem Büro, in dem ich einmal gearbeitet habe, eine Frau Bauer, genannt Lucy, obwohl sie gar nicht so hieß, die war ursprünglich aus Rumänien, oder wenigstens ihre Eltern, ich weiß gar nicht mehr so recht." - "Und das ist gut seine dreißig Jahre her, aber es ist dir heute eingefallen, und jetzt willst du nach Rumänien. Und dieser Dr. Reich, der arbeitete auch in diesem Büro, und der soll angerufen haben. Sag mal, wie alt war der damals? Rohlfs, er wäre heute neunzig. Er hat nicht angerufen." - "Ja, ja, ich weiß. Aber die Sache mit Rumänien würden wir uns trotzdem überlegen?" Constance wollte doch lieber abwarten. "Gefallen dir die Blumen?" Aber Rohlfs war tief in Gedanken versunken.

Prinz stand eines Tages in frisch gebügelter Feldwebeluniform vor Bob, der von dieser Verwandlung wohl schon von früheren Gelegenheiten wusste. "Good morning, Staff Sergeant Prince, how are you today!" rief er, der selber seit einigen Tagen seine khakifarbene Sommeruniform trug, in der er nach dem Dunkelgrün des Winters aussah wie ein ganz anderer Mensch. Hauptfeldwebel Prinz versah, außer dass er jetzt Uniform trug, seinen Dienst, von dem niemand wusste, worin er eigentlich bestand, im Nachbarbüro wie sonst auch. Wie häufig beim Militär schienen die Kleider nicht richtig zu passen, sei es, weil die Kleiderkammer keine Rücksichten auf Feinheiten nahm, oder man war inzwischen dünner, beziehungsweise, was häufiger vorkam, dicker geworden.

Prinz gehörte wohl zur selteneren ersten Kategorie, der Kragen des kurzärmeligen Hemdes schlotterte, auch der Hosenboden. Allerdings saß der Gürtel sonderbar hoch wegen des Bauches, den man offenbar auch ansetzte, wenn man ansonsten abnahm. Die Reservisten waren immer dabei befördert zu werden und bekleideten verglichen mit der aktiven Truppe gewissermaßen Fantasieränge. Entsprechend ignorierten diejenigen, die auch sonst Uniform trugen Prinz in seiner Unteroffizierswürde. Fehlte, dass auch Kaufmann eines Tages als Stabsunteroffizier, oder was er sonst sein konnte, mit seinem VW-Bus die Post brachte.

Aus irgendeinem Grund trug er auch gewöhnlich Uniformkleidung, jedenfalls zum Teil und natürlich ohne Rangabzeichen, nämlich einen dunkelgrauen Anzug, darunter das Militärhemd mit den Brusttaschen und sogar die einfarbige Krawatte. Da er bei schlechtem Wetter, wie die anderen auch, den Parka darüber anhatte, konnte man ihn ganz für einen Soldaten halten.

Dass ein Mörder sein Opfer verfolgte, war als Geschichte in der Welt der Unterhaltung geradezu inflationär. In Wirklichkeit war das Kapitalverbrechen von allen Delikten das am wenigsten häufig vorkommende und auch das, bei dem es der Polizei in fast allen Fällen gelang, den Täter zu finden. Neben der Lust am Schrecken und der Grausamkeit war dies der Grund, warum im Fernsehen so viel gemeuchelt und gemordet wurde. Am Ende stand der Erfolg, ein wenn auch trauriger Sieg des Guten über das Böse.

Der äußere stumpfe Mord, dramatisch und drastisch, wie er sich ereignete, war aber nur der materielle Niederschlag eines ebenso brutalen Geschehens in der Welt der Seelen. Dort aber war es alltäglich, und aufgeklärt wurden die Verbrechen so wenig, wie das alltäglichste aller Delikte, der Diebstahl.

Man brauchte ein feines Ohr um im Kreischen von Frau Bauer den Schrei der gepeinigten Seele zu hören.

"O don't be upset, Mrs. Lucy! If your husband doesn't fuck you, I'll fuck you!", was Bob zum Spaß für sich selber sagte, aber auch weil Rohlfs es verstand und Frau Bauer vielleicht nur halb, die, wie häufig auf seinem Schoß saß, halb Mutter, halb Kind, und die ihn jetzt gespielt schlug: "Bop, Godämm focken horspiss!", rief sie ihrerseits und zwängte sich von seinem Schoß: "Viel arbeiten", wobei sie mit dem Finger auf sich selber zeigte. Bob, der ihr nachschaute, sagte: "And you know exactly what I mean, you better quit with that stupid husband."

Nicht, dass Bob etwa eifersüchtig auf Herrn Bauer war, den er natürlich überhaupt nicht kannte. Er war einfach ein Gegner davon, dass etwas nicht funktionierte.

Grausam, wie ein paar Gedanken sich ineinander schlangen um ihr Opfer zu peinigen und zu würgen, ohne Weiteres ein Leben lang, weil ihnen offenbar an nichts lag als an ihrer puren Existenz.

Frau Bauer wollte ein Kind sein, das sich, harmlos wie es war, auf Bobs Schoß setzte, so wie sie sich auf den Schoß ihres Mannes setzen wollte, der das aber hasste, weil er mit der Zeit herausgefunden hatte, dass Frau Bauer nicht die Sekretärin war, die sich auf den Schoß des Chefs setzte.

Sie war und blieb das Kind, er hatte nichts anderes verdient als ein Kind, das ein wenig mit ihm herumalbern wollte, laut und noch dazu grob. Alles und besonders er sollte fröhlich sein, aber was war er doch für ein Trauerkloß!

Neulich, als sie sich den türkisfarbenen Pullover mit dem Entchenmotiv gekauft hatte, sie hatte sogar eine Nummer zu klein genommen, weil er ja eng anliegende Kleider gut fand, hatte er ihr fast eine Szene gemacht, ob sie dafür arbeiten gehe, um sich ständig solchen Fummel zu kaufen.

Im Büro hatte sie den eigentlich zu engen Pullover sozusagen aus Trotz getragen, allerdings nur ein einziges Mal. Sie hatte Bobs Frage, ob es den Rock, den sie trug, denn auch in dieser Größe gäbe, wohl verstanden. Das ging dann doch zu weit und sie war für den Rest des Tages nicht mehr im Büro der oberen Etage aufgetaucht.

Bob nahm das alles leicht, weil es einfach war. "Rohlfs", sagte er, "wenn du weggehst um ein Mädchen zu finden, wie viel Zeit lässt du dir da?"

Rohlfs, der das Thema kannte und froh war nicht konkret antworten zu müssen, weil er ja eine feste Freundin hatte, gab sich unbestimmt, als käme es darauf an, von Fall zu Fall gewissermaßen.

Bobs Standpunkt war gar keine Zeit verstreichen zu lassen, er sage bei der ersten Gelegenheit: "Hey, sweetheart, let's fuck. - Und du glaubst es nicht, Rohlfs, die meisten lachen und albern ein wenig herum. Zum Beispiel fragen sie, doch nicht im Ernst? Und ich sage, wieso denn nicht, klar doch. Dann werden sie nervös. Und die Sache läuft eins zu eins darauf hinaus, dass ich irgendwo mit ihr was finde. Glaub mir, es ist das beste. Also neulich, da war ich auf so einer bescheuerten Offiziersparty, der Captain und die anderen Turkeys aus den Headquarters hatten ihre Frauen dabei. Ich hatte meinen Spaß, weil sie alle so schön langweilig waren. Da frage ich den Captain, ob er erlaubt, dass ich mit seiner Frau tanze. Ich halte sie im Arm und mache die ersten Schrittchen mit ihr, da fährt es mir heraus, ehrlich aus reiner Gewohnheit: Lady, let's go and fuck somewhere. Ich denke, OK, jetzt ist es raus, entweder sie knallt dir eine und du siehst zu, wie du hier den Ausgang findest, ja, oder, Rohlfs, du glaubst es nicht! Sie schaut mich an, als ob das wohl nicht mein Ernst sei. Nach dem Tanz sagt sie, entschuldige, verschwindet auf der Toilette und als sie zurückkommt, hat sie sich frisch zurecht gemacht. "Und wo?", fragt sie. Wir hatten das Auto dummerweise in einer Einfahrt abgestellt und der Typ, der da wohnte, wischte an den angelaufenen Scheiben. Ich bin dann, wie ich war, hinters Steuer und ein paar Yards zurückgestoßen. Das war mir völlig egal, was der gedacht hat. Und ich sag dir, die Lady hat's faustdick hinter den Ohren. Der Captain hat nichts mitgekriegt. Ist ja auch gut so."

"Sag mal, Garcia, du bist nicht wirklich bei der Sache, Alter, ich sagte 742 Yankee 3241, jetzt schreib den verdammten Mist auf, ja, 41, nein 32, sag mal, willst du mich verarschen? Ich habe hier noch ungefähr 100 Commitments, nein es ist mir scheißegal, ob du irgendeinen verdammten Brummschädel hast, und mach die Zähne auseinander, dass man dich überhaupt verstehen kann! - Dieser Scheiß-Garcia treibt mich noch mal zum Wahnsinn", sagte Bob dennoch mit einem Grinsen, man wusste nie, ob er sich wirklich über etwas aufregte, oder ob es die übliche Flachserei war. "Nein, ich habe nicht Scheiß-Garcia gesagt, du Scheißkopp, fang mir noch mit dem Gejammer an! Also pass auf, ich bin diese Sache jetzt leid, du rufst mich nochmal an, wenn deine verdammte Kopfschmerztablette wirkt, oder melde dich überhaupt krank. Und ob du krank bist. Nein, komm mir nicht mit dem Captain, Freundchen, du weißt genau, dass das bei mir nicht zieht. Also, ich warte. Jesus Christ, dieser Waschlappen von einem Latin Lover, was haben wir eigentlich für einen Tag? Wieso kann der an einem verdammten Mittwoch so durchhängen?" Keine zehn Minuten später war wirklich der Captain am Telefon. "Yes, Sir, Sgt. Conley speaking. Fine, Sir, and you? Everything all right round here, you know, the Germans working (their fuckin' asses off - er hielt die Hand über den unteren Teil des Hörers und schaute zu Rohlfs hinüber, der auf Dr. Reichs Stuhl saß, der sich wie üblich verspätete, wenn er zur Mittagspause ausging) ar ... hard, Sir. Yes, Sgt. Garcia, Sir, right a couple of minutes ago. Well, you know, Sir, these German telephones (wobei er den Hörer einen halben Meter vom Kopf weghielt), pardon me, no, no, I hear you, do you hear me?", schrie er jetzt, während er den Hörer wieder normal hielt, und so ging es noch eine Weile hin und her.

Es war dasselbe wie mit Wilhelmy. Conley hielt den Laden am Laufen und es führte auf die Dauer zu nichts, dass man ihn, wahrscheinlich um ihm einmal seine Grenzen aufzuzeigen, abzog und beispielsweise ausgerechnet durch Garcia ersetzte.

Rohlfs war platt, als er eines Montags morgens ins Office kam und auf Bobs Platz saß der rundliche Puertoricaner, der bereits am Telefonieren war, offenbar musste ein Haufen von Marschbefehlen, die Bob hatte liegen lassen, noch übermittelt werden, so dass es endlos dauerte, bis Garcia, als sei es das selbstverständlichste auf der Welt sagte: "Hi, I'm the replaceman of Sgt. Conley, how you doin', man?" Lächerlicherweise stellte sich heraus, dass der Captain die grandiose Idee gehabt hatte, Conley und Garcia einfach nur tauschen zu lassen, so dass man jetzt das übliche Gehänsel und Stocken in der Übermittlung lediglich von der anderen Seite aus hörte. Garcia war pedantisch oder einfach nur dumm, was auf dasselbe hinauslief. Für ein Witzchen war er nicht zu haben. Er trank wohl auch Bier während des Dienstes, aber auch Cola. Es entstanden irgendwelche Schwierigkeiten, mit der Pünktlichkeit zum Dienstbeginn war es auch bald vorbei, weil Garcia abends mit der Bahn die sechzig Kilometer zur Kaserne zurückfuhr und entsprechend am Morgen schon bald zwei Stunden unterwegs war, wenn er im Amt eintraf. Er war freundlich, ohne dass je ein Gespräch mit ihm zustande kam. Mrs. Bauer, die nach einer Gelegenheit suchte einmal Goddämfocken Horspiss zu sagen und laut aufzukreischen, kam nach einigen Tagen gar nicht mehr in die obere Etage. Garcia schüttelte stumm den Kopf über sie: "What's up with this Lady? She is kind of screwed up, isn't she? Krank in die Kopf, o man, Rohlfs!"

Tatsächlich wurde er nach und nach krank im Kopf, schaute stundenlang aus dem Fenster, das Telefon konnte läuten, wie es wollte. Dann wieder hatte er Tage regelrechter Arbeitswut, telefonierte in halb Deutschland umher, man könne die Marschbefehle direkter übermitteln, fand er, sehr zum Missfallen des Captains, wie sich herausstellte. Als der Tausch rückgängig gemacht war, lief alles wieder in den alten Bahnen, vielleicht, dass Bob etwas mehr Rücksicht nahm: "Come on, turkey", hörte Rohlfs ihn bereits an einem schönen Donnerstagmorgen und glaubte seinen Ohren nicht zu trauen. Es war Conley, der schon in aller Herrgottsfrühe seinerseits mit dem Zug gekommen sein musste, "I repeat once more the whole commitment, and you make sure not to fuck it up again, now listen!"

Das Bärchen am Schlüsselbund bedeutete: "Ich bin ein Kind." Für den Fall, man möge mich ernst nehmen, war es mein Hintertürchen. Erwartungen, die man an mich haben konnte, brauchte ich nicht zu erfüllen, jedenfalls nicht, wenn es darauf ankam. War nicht die Welt in ihren Grundfesten korrumpiert, eine Welt des Krieges, der Habsucht und der Lüge. Die Ärmsten darin waren die Kinder, unschuldig und Opfer derer, die bloß ihrer Verbrechen wegen die Stärkeren waren. Und die Welt der Erwachsenen war eine durchaus männliche Welt. Gewalt war männlich, die Gier war männlich. Man musste sich ihr verweigern, rebellieren zuerst, was nur vorübergehend genügte, weil die Rebellion auch männlich war, pubertär immerhin schon, aber eine wahrhafte Vision boten erst die Blumenkinder. Man gab sich kindlich, was konnte eine glaubwürdigere Rechtfertigung dafür sein als der Frieden. Amerika, das in Vietnam gescheitert war, wurde zum Friedensboten. Die Musikindustrie blühte auf, nach den Beatles, die noch pubertäre Rebellen waren, beinahe Schwiegersöhne, kamen die Hippies.

Eine ganze Generation kehrte aus dem Erwachsenenalter zurück in selige Kindheit um sich zu erlauben, was ihr keine Eltern mehr verbieten konnten. Man sah verboten aus, was mit den entsprechenden Kniffen der Medien und der Industrie sogar hübsch sein konnte. Und wollte man nicht auch zu anderen Zeiten jung bleiben, und mit der Zeit gehen sowieso? Der Generation darüber blieb nicht viel mehr als sich zu fügen, musste man nicht letztlich schweigen angesichts der Fragen nach den eigenen Werten? Was hatte man gewusst in der Zeit der Barbarei, oder gar getan?

Die wenigsten derer, die noch den Krieg miterlebt hatten, reihten sich ein in die Generation Pop. So trugen sie ungewollt bei zur Stabilität dessen, was gerade entstand und was ja die Opposition brauchte, um aus ihr zu schöpfen. Erlaubt wurde und man erlaubte sich, was verboten war - aber keiner mehr verbieten konnte! Das sinnlich-süße Popcorn, das seit Dekaden Profit versprechend durch die Medien der musikalischen Betäubungsmittelindustrie troff und in seiner edelsten Spielart an die teils melancholische, teils heitere holde Kunst der Vergangenheit erinnerte, drang in die Poren unserer Seelenapparate um uns von dem Schmutz unseres kollektiven Unglücks zu befreien.

Naturgemäß scheiterten gelegentlich auch Protagonisten und Protagonistinnen im Getriebe der Produktionsmaschinerie, wann immer sie bemerkten, dass sie lediglich am universalen Projekt zur Umsetzung von Verschönerungsmaßnahmen mitwirken durften, bis ein Trend stockte und sich ein gegenläufiger etablierte.

"Fame puts you there where things are hollow", dröhnte es aus den Lautsprechern des Transporters. Rohlfs starrte wie besinnungslos in seine Aufzeichnungen.

Die wenigen, die es, wie gesagt wird, geschafft hatten einen Platz an den Schalthebeln der Maschinerie zu ergattern, leisteten sich heroisch den Luxus die Sinnentleertheit ihres Aufstiegs zu zelebrieren. Celebrities without makeup. Allerdings unterlagen auch die letzten Rebellen der Maschinerie des Imperiums. Auch sie unterwarfen sich dem Gesetz von Angebot und Nachfrage. In den letzten Jahren, so glaubte Rohlfs zu wissen, hatte die Wilderei von Elefanten, Tigern und Nashörnern zur Deckung der Marktnachfrage nach Elfenbein, Nashorn-, Tigerfellen und -knochen in besorgniserregendem Ausmaß zugenommen.

Man sah jetzt allenthalben mit ihren Smartphones Kinder, Kids, um niemanden jener entwürdigenden Kategorie zuzurechnen, die vormals bedeutete, man sei erst noch auf dem Weg zur Jugend oder gar Erwachsenheit, die noch früh genug komme, wie man ehedem meinte, und schön sei die Jugend und sie kehre nie wieder. Nun hatte sich dieser Menschheitstraum nahezu erfüllt, man blieb jung, so lange es irgend ging. Das Alter kam zwar dann doch noch, kleine Kinder wussten das, denn sie hatten schon mit der Oma den Demenzkreis mitbesucht, wo - Kinderlieder - gesungen wurden, das allerdings unter Anleitung einer Fachkraft. Radebrechend buchstabierte man einen Titel wie "Heißa, Kathreinerle". Die Kids eines Tages würden es vielleicht nicht leichter haben, wenn "With a little Help from my Friends" auf der Songliste stand, was man ja bereits zu lesen versuchte, wenn es in der Schule noch kaum Englischunterricht gegeben hatte. Wenigstens klang das Lied, so wie es die Dementen versuchten, ziemlich ähnlich der Version, die man von Joe Cocker kannte. Rockmusik war offenbar schon immer die Musik von Greisen gewesen, Leuten mit Bierbäuchen, Bärten und wenn auch schütterem, dafür umso längerem Haar.

Eigentlich wunderte man sich als Kind, dass offenbar alle Kinder bleiben wollten, oder jedenfalls nicht weit darüber hinaus kamen. Kids waren diejenigen, das merkte man, die von den "Erwachsenen" als das angesehen wurden, wofür es sich eigentlich zu leben lohnte. Was man nicht begriff, war, warum die Jugend nicht glücklicher war! Klar, sie war eindeutig zu konsumorientiert, wer sollte das alles noch bezahlen, praktisch alle kostspieligeren Konsumartikel gab es für Jugendliche ebenso, und da sie weniger am Alten hingen, waren sie umso fordernder, wenn ein neues Teil auf den Markt kam. Das betraf natürlich besonders den Bereich des Lebens in der Fantasie, Kids bauten noch keine Häuser oder unternahmen mehrmals im Jahr eine teure Urlaubsreise. Fahrschulwagen kreisten allerdings auf den Parkplätzen der weiterführenden Schulen, kaum eine Schülerin oder ein Schüler, die nicht dort einmal abgeholt würden, da erst wirklich Schüler und mit Ernst bei der Sache, wo es etwas wirklich Wichtiges zu lernen gab. Also saß man hochkonzentriert am Steuer, ängstlich darauf bedacht, nicht etwa ins Lenkrad gegriffen bekommen zu müssen, oder gar den Motor abzuwürgen. Großzügig und lässig daneben der Fahrlehrer, jugendlich gekleidet, wenn auch natürlich doch schon nicht mehr jung, der Manni, wenn er es selber war, denn natürlich stand der Vorname groß auf der Autotür, wer hätte noch spießig den Familiennamen im Firmenlogo in den Vordergrund gestellt, das hatte man früher getan, der Vorname war ein einziger Buchstabe mit Punkt, um Verwechslungen zu vermeiden.

Der rumänische Radiosprecher berichtete von einer Bombenexplosion in Kolumbien. In einem Lokal seien während der Übertragung eines Fußballspiels in der Stadt Apartado in der Nacht zum Sonntag vier Menschen gestorben. Neunzig weitere wurden verletzt. Des Weiteren seien im Innern einer Moschee im Südirak mehrere Menschen getötet worden. Am Boden sei überall Blut gewesen. In einer Stellungnahme der US-Streitkräfte hieß es, in dem Gebäude seien Waffen und Munition gefunden worden. Auch an anderen Stellen der Stadt war es zu Gefechten gekommen.

Der Fahrer des Transporters machte sich gereizt am Sendersuchlauf des Radios zu schaffen um sich schließlich mit der Übertragung der rumänischen Rhapsodie von George Enescu zufrieden zu geben. "Luaţi-vă dictafonul, domnule Reich. Dacă e stricat, arunca-ţi-l pe geam. Geamu-i deschis!" Rohlfs erhaschte einen Blick auf das Ortsausgangsschild von Vladimirescu. Es war zwar etwas kalt, aber zumindest schien die Sonne vom blauen Himmel. Ihm fiel auf, dass er nicht mit Gewissheit sagen konnte, in welchem Jahr er sich befand. Indes glaubte er sich, trotz seiner vermutlich durch das Narkosemittel ausgelösten Amnesie, zu erinnern, dass der Bericht des Radiosprechers älteren Datums sein müsse. Vermutlich handelte es sich um eine dieser historischen Nachrichtensendungen.

Nur bruchstückartig erinnerte sich Rohlfs an das, was man wohl Geschichte nannte: Der 11. September, Guantánamo Bay, die Weltwirtschaftskrise, das mehrmals zerstörte Babylon, die Eroberung des Mars, die Evangelien, Das Kapital, Japan, Jahrhundertfluten, Nervengas oder die Mordserie des US-Heckenschützen zuckten durch seine Erinnerung, ohne dass er sich dazu in der Lage fühlte, sie in eine chronologische Ordnung zu bringen.

Deutlich erkannte er dagegen an den Straßenrändern, wie sich die Wirtschaftsstandorte in ihren Ostkolonien gesundstießen. Überall schossen die glitzernden Einkaufspaläste aus dem Boden.

Die Unterschiede verschwanden. Saeeds Geschichte war zu seiner eigenen geworden.


Though the time be long, truth will come to pass.


Der Fahrer machte einen ruckartigen Schlenker auf die linke Fahrspur und überholte einen Pferdekarren. Der Weg durch schmale, holprige Landschaften und die feierliche Musik aus dem Radio versetzten Rohlfs erneut in eine Art angenehme Trance. Die beißende Stickigkeit im Transporter, besonders in seinem kleinen Refugium zwischen Säcken, Kisten und Plastikflaschen, ging ganz offenbar von ihm selber aus. Wohl oder übel musste er gute Miene zum finsteren Spiel machen und sich fügen.

Die Aussicht auf Rast und Reinigung, die er auf Äußerungen des Fahrers gründete, assoziierte Rohlfs mit der Wiederherstellung seiner Vorstellung von Würde. Mit einer routinierten Handbewegung, als ob er dies täglich täte, brachte der Fahrer mit dem Sendersuchlauf das Radio dazu, Manele-Musik im Viervierteltakt erklingen zu lassen. Die Musik zelebrierte schnelle Autos, Frauen, Sex und Geld, was den Mann mit dem Tattoo am Oberarm und der schweren Kette mit Christus am Kreuz um den Hals schlagartig in Euphorie verfallen ließ.

"La la lai lai lai, la la lai lai lala lai lai lala", tirilierte er à la Turque. Reich indes schnarchte unbekümmert, während Rohlfs erstmals feststellte, dass man sich offenbar nur noch zu dritt in dem Transporter befand. Die Abwesenheit Lucias ließ ihn unvermittelt aufschluchzen, was er dadurch verbarg, dass er sein Gesicht rasch in die Ellbogen presste.

"La la la lai la lai, la la lai lai la la la la lai."

Rohlfs tastete nach seinem Notizbuch, in dem er sich Auskunft über den Verbleib der Mitfahrerin zu finden erhoffte. Er erwartete immerhin eine Art von Rechenschaft von Seiten Lucias, die er nach der langen Fahrt als seine Vertraute betrachtete, ungeachtet dessen, dass sie als seine Anästhesistin fungiert hatte. Tatsächlich befanden sich in dem Buch mehrere Spuren einer ihm fremden Handschrift, seltsame Zeichnungen von beflügelten Wesen sowie einige zerquetschte Fliegen. Hatte er tatsächlich jemandem gestattet, in seinem Buch Änderungen vorzunehmen?


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