Samstag, 20. April 2019

Bzw. ۲ ۲ ۵ [Unzählige »Nahtstücke« mit fünf bläulichen Illustrationen und unsichtbaren Tönen für drei Gitarren]



["Naht", Michelle Schneider (2019)]



Now deep in ocean sunk the lamp of light,
And drew behind the cloudy vale of night.
[Homer]
Auch nichts
ist ein Wort,
das nicht
nichts
ist.
["Gedanken Los 9", Jutta Riedel-Henck (2007)]


Narben

Auf dem Speicher seines Gebäudes lagerte er all jene Kronleuchter, Stühle, Regale und ungeöffneten Kisten aus fremden und eigenen Beständen, die er jederzeit wieder nutzbar zu machen verstand. Mit überlegenem Verstand waren all jene Dinge, die er schlicht als unzählig einstufte, vor dem Einbruch der Jahreszeiten und dem ihnen wesentlichen Wandel des Klimas zu bewahren. So galt es den Schornstein zu isolieren, die Ziegel gegebenenfalls zu erneuern, die Regenrinnen zu reinigen, Laub und Moos zu entfernen, kurz, das Gebäude abzudichten.
  Sobald es die Witterung des Frühjahrs erlaubte, schärfte sich sein Blick für die unzähligen Dinge auf dem Speicher; auch der Raum wirkte jetzt weiter und offener. Besonders der Anordnung in einem äußerlich gut erhaltenen Puppenhäuschen aus unbehandeltem Holz galt seine Aufmerksamkeit an einem solchen Tag. In einem einzigen, liebevoll hergerichteten Zimmer, dem Schlafgemach, war die Zeit buchstäblich stehen- und liegengeblieben. Während die Ordnung der Dinge in allen anderen Räumen nicht mehr nachvollziehbar war, hatte man mit sorgfältig aufgetragenem Leim eine Szenerie in jenem Zimmer eingefroren, als habe man das Einst und Jetzt auf ewig miteinander verbinden wollen.
  Die hochgereckten, hölzernen Ärmchen der Hausherrin in der Eingangstüre, deren Beflissenheit durch ein Kopftuch, einen winzigen, kleinkarierten Stofffetzen, unterstrichen wurde, zeigten dem Betrachter eine Empörung, die dem Mädchen, das man unter einer bauschigen Federdecke eingeleimt hatte, unmöglich entgehen konnte. Das stumme Entsetzen der Hausherrin stand der herrischen Puppe vermittels weniger Einkerbungen ins Gesicht geschrieben. Von dem Mädchen ragten nur die entblößten Füße und das lange, glatte, brünette Haar unter der Decke heraus; ihr Gesicht presste es in ein winziges Kissen. Oberhalb des linken Knöchels des Mädchens fiel dem Betrachter eine besonders tiefe Einkerbung auf; eine Narbe vielleicht. Um das Bett herum waren wellige, teils zerknitterte, kaum lesbar beschriftete Zettelchen befestigt worden, deren Unordnung möglicherweise Anlass für die Aufregung sein mochten. Auch aus der oberen Schublade einer schlichten Kommode, dem einzigen weiteren Möbelstück, das in dem Häuschen noch enthalten war, quollen derartige Zettelchen in großer Menge hervor. Entziffern ließen sich vereinzelt Vorsilben, unter denen be- und vor- überwogen.
  Gewiss war das Inventar des Häuschens nach einem oder sogar mehreren Umzügen heillos umhergeworfen worden; manches mochte auch verlorengegangen sein oder sich in einer der vielen Kisten befinden. Zugegebenermaßen hatte er aber auch den Blick für weitere Einzelheiten in dem Gebäude verloren, da ihn der Anblick des sonderbaren Geschehens allzu sehr in seinen Bann zog. Nur mühsam widerstand er der Versuchung, in das Geschehen einzugreifen, indem er etwa das Haar des Mädchens streifte oder einen Blick auf das in dem Kissen verborgene Gesicht zu werfen versuchte. Er widerstand selbst der Verlockung, die Narbe des Mädchens sanft zu berühren, mit ihr in Verbindung zu treten, was er indessen erst bemerkte, als er seinen Zeigefinger auf halbem Wege zurückzog; ein zarter Geruch von kostbarem Nardenöl blieb dennoch lange an ihm haften. [Liana Helas]




["Narr", Michelle Schneider (2019)]


Nasen

Was eigentlich erlaubten sich unsere Eltern, ihre Existenz in uns eine mehr oder weniger glückliche oder traurige Fortsetzung finden zu lassen? Giacomo hatte italienische Eltern, einen Gastarbeitervater, was ihn als Angehörigen der unteren Schichten auswies. Unweigerlich hatte er es einmal besser gehabt, nachdem es schlechter schwerlich hatte werden können, als in der kalabrischen Heimat seiner Vorväter. Schlecht war es auch Giacomos Mutter nicht ergangen, obwohl man ihr nichts Gutes prophezeite, sich mit einem Italiener einzulassen. Wie schlecht man die Italiener einst behandelte, daran wollte sich niemand mehr erinnern, gut integriert wie sie inzwischen seien, sah man einmal davon ab, dass es die Mafia und so weiter jedenfalls vorher hier in Deutschland nicht gegeben hatte. Auch in anderen Ländern sollte es Mafias geben, Dinge, von denen man nichts wusste, die Mauer hatte sehr wohl ihre zwei Seiten gehabt!
  Sozialer Deklassiertheit war Giacomo sich nicht bewusst, er sah sich durchaus als Durchschnittsmensch, auch mit dem Ausdruck italienische Wurzeln konnte er nichts anfangen. Der war erfunden worden für Leute, deren Probleme seine nicht waren. 
Eine gewaltige Nase erbte man von seinen Eltern, in Giacomos Fall gnädigerweise vom Vater, selber männlicher Erbe sollte es so schlimm damit nicht sein, zumal Giacomo von etwas größerer Statur war als seine südländischen Vorfahren. Auf Familienfotos aus der alten Heimat stach der Vater großnasig einsam heraus, Mutmaßungen über eine Verfehlung der Großmutter wurden allerdings nie offen geäußert. 
  An sich sollte Giacomo es mit seiner furchtbar großen Nase so schwer nicht gehabt haben, auch nicht, als sein Haar, das allerdings schon sehr früh, schütter zu werden begann. Mit einem italienischen Namen wurde man auch nicht gefragt, was neuerdings verpönt war, woher man eigentlich sei. Mehr oder weniger war das ohnehin allen klar und interessierte auch keinen. Eine übergroße Nase wurde einfach bemerkt, und das Gegenüber stand vor der Aufgabe, wie es den Schock, den das Monstrum ihm verursachte, am geschicktesten verbergen sollte. Giacomo erinnerte sich an ein einziges Mal, wo ein leicht angetrunkenes Exemplar einem unbezwingbaren Lachanfall erlag. Auch kleine Kinder wollten ihrer Mama im Vorbeigehen unbedingt die riesige Nase zeigen und mussten streng ungewendeten Blickes weitergezogen werden. 
  Wie alle Gehandicapten hatte Giacomo die größten Probleme mit Leidensgenossen, in diesem Fall mit einer Leidensgenossin, deren Großnasigkeit furchtbaren Ausmaßes ihn überfiel mit der Wucht eines Anschlages. Diese war nämlich als Saaltochter südländischen Typs, wie man auch von hinten an der vielleicht echten Schwärze ihres üppigen Haares sehen konnte, Giacomo deshalb aufgefallen, weil sie, südländisch klein, pummelig und wie in diesem Falle leider typisch, unvorteilhaft gekleidet, so durchaus vornübergebeugt mit ihrem kleinen Kaffeetablett durch die Halle dieser nachmittäglichen Unterhaltungsveranstaltung einer Senioreneinrichtung geschritten war. Halb wollte Giacomo sie bedauern angesichts der Ungeschicktheit, mit der sie sich präsentierte, andererseits, warum zog sie sich auch so dämlich an, mit hautengen Lederhosen über den üblichen Serviererinnentretern in weißen Söckchen! Da wandte sie sich unvermittelt zu Giacomo um, der den Grund für ihr ganzes erbärmliches Gebeugtsein wie einen gewaltigen Schlag darin erkannte, dass diese Leidensschwester in ihrem Gesicht, grell geschminkt unter übertriebener Frisur, eine ebensolche Nase trug wie er, einen furchtbaren Riecher, der den Kopf eines Menschen nach unten zog, fast auf die Höhe seines eigenen Gesichts, der er ja saß. Man hatte also ihm, um ihn zu foppen, unter allen Saaltöchtern diese geschickt, an seinen Tisch um ihn nach seinem Kaffeewunsch zu fragen! Und keineswegs beschämt, sondern mit dem Anflug des Triumphes, blickte sie ihn beinahe von unten, wenngleich stehend, aber eben krumm unter der Last der furchtbaren Nase an. Einen Kaffee bestätigte sie die Bestellung, die er, empört über diese Begegnung, nicht hatte aussprechen können, und sah mit einem raschen Blick zu der von Giacomo mitgebrachten Blondine, die die Szene in der Weise der unwiderlegbaren Intuition erfasste, was Giacomo, selber hellsichtig, wie man in solchen Augenblicken ist, nicht entging. 
  Natürlich sprach man nicht über die Angelegenheit. [B. Karl Decker]



["Nachtlied", Michelle Schneider (2019)]



N wie Narkose (Für A. und J.)

Wann immer das Flimmern vor Eveys Auge nachließ, fiel sie in einen ihr angenehmen Zustand der Erstarrung. Hinter ihrem Auge, genau genommen dem linken, flimmerten die Bilder weiter, Billionen von Bildern, blutige Bilder aus Nachrichten, Nachrichten des Tages, ihre Nächte als Prostituierte, den thermonuklearen Konflikt, verheißungsvollen Nachrichten aus einer nahen Vorvergangenheit, Nachrichten aus einer vielversprechenden Zeit versprochener Liebe und verdichteter Nachfragen. Lebhaft hatte ihr einst ein Fremder nachträglich anvertraut, die Ohnmacht der Dunkelheit lasse ihn unüberwindbar zurück.
  In das Flimmern hinter ihrem Auge mischten sich Bilder von der Pulververschwörung des legendären Sprengstoffexperten, dessen Mut und Entschlossenheit, nicht dessen Konfession, sie sich in Momenten der Erstarrung vor Augen führte, mit den profitablen Visionen der Wachowskis wider eine zensierte Medienwelt, einen autokratischen Staat und für einen blutrünstigen Romantiker nach dem altbewährten Muster des Rächers der Enterbten. Die Sprengung der »Houses of Parliament« - und all der anderen Häuser ebenso - blieb bis auf weiteres eine unterhaltsame Vision, für die man auf roten Teppichen und Sektempfängen Auszeichnungen entgegenlächelte. Für mindestens eine weitere Generation befriedete das kostspielige Theater das befangene Unbehagen einander gleichender Verbrauchter, die sich frei wähnten, der illusionären Dimension eines verpixelten Strukturwandels zu folgen.
  In ihrer zunehmenden Erstarrung wand sie sich nochmals in den Stromebenen ihrer verblassenden Erinnerung, von wo aus ihr erneut der fremde Kavalier seine trunkenen Schwüre zurief, deren sehnsüchtige Nachricht vom Rauschen der Wogen nach und nach übertönt wurde.
  In ihrer Erstarrung gab es keinen Raum mehr für Schwüre und Beschützer, keinen Schutz mehr vor den Geschwüren und Geschwülsten, die einzig und allein die Umstände zwischen den Zeiten zu verantworten hatten. Die Erstarrung, dachte sie, als sie das Flimmern schließlich kaum noch wahrnahm, es allenfalls noch als vergangene Erregung erinnerte, würde sie fast bis zur Unantastbarkeit vor jeder nächsten Nachricht festigen.
  Endlich sah sie sich erneut an der Spitze eines Krähenschwarms, der als Ganzes ein auf dem Kopf stehendes V bildete. [Liana Helas]




["Nimbus", Michelle Schneider (2019)]



Wenn sich in einem Aufsatz Wortwiederholungen befinden und man bemerkt bei dem Versuch, sie zu korrigieren, dass sie so angemessen sind und dass dies den Aufsatz verderben würde, so ist das ein Kennzeichen dafür, dass man sie stehen lassen muss, und es ist Sache der Missgunst, die blind ist, nicht zu bemerken, dass solche Wiederholungen an dieser Stelle nicht falsch sind; denn es gibt keine allgemeingültige Regel. [Blaise Pascal (1623 -1662)]

Nuance

Das kolumnistische Manifest ruft die Kolumnisten auf den Plan, und zwar nicht sich, sondern ihre Stimme zu erheben. Am besten gleich mehrstimmig, weshalb damit zu rechnen ist, dass jedes Wort vor allem noch etwas anderes meint. Fehler und Missverständnisse liegen völlig auf der Linie der Absichten des Kolumnisten. Die Grammatik muss ihren Mechanismus hergeben für die Kapriolen des kolumnistischen Eigensinnes, Stammform hin oder her: reifen, rief, gerufen; schreiben, schrieb, verschroben. Stehende Wendungen werden zu fließenden: Einigkeit und Recht und Eigentum; am Anfang war der Ort, das Örtchen? Wörtlich natürlich Wort, wortwörtlich, tattätlich, tagtäglich, auf Heller und Pfennig, tatsächlich. Blüh im Glanze dieses Glückes, blühen, blomm, geblommen; bleuen, bleute, geblüht.
  Soweit einige technische Hinweise. Nun zum Thema. Der Flüchtling nämlich, insbesondere der touristische, überweise milliardenschwer deutsches Eigentum ins Ausland, nach Syrien beispielsweise weniger, weil's da keinen mehr gibt, der's empfangen könnte, dann eben in den Libanon. Nicht auszudenken, der in den Libanon Geflüchtete, gelt, nehmen, nahm, genehmigt, nähme, nicht wahr? Das darf doch nicht wahr sein! Ruhig, ruhig bleiben, nähme das Geld, gelt? Und führe damit, was? Ist nicht wahr! Ja, wieso denn nicht! Ruhig, Herrgottnochmal, nähme das Geld, gelt, und führe damit, ich weiß, dass du's schon weißt, wohin der beispielsweise fahren könnte. Herrje, und nun ist Parteitag in Augsburg, und alle Reden sind schon geschrieben, und die Kolumnen der linksfeministischen Lügenpresse liest man ja nicht! Das wäre eine Rede geworden! Verbieten muss man es! Sozialhilfe muss in Deutschland ausgegeben werden. Schluss mit Sozialbetrug! Der Sozialempfänger als Eigentümer ist verpflichtet und hat eine solche gegenüber der Bevölkerung, in die er sich mit seinem Sozialgeld zu integrieren hat.
  Der Kolumnist auf seiner Säule blickt aus kolumnistischer Höhe in die Tiefe schwarzer Herzen, in die tiefste Spalte härtesten Felses, und sieht und sah, gesehen; gescheit, geschah, geschehen. [B. Karl Decker]




Als Sterbliche ängstigt uns alles;
doch alles begehren wir,
als ob wir unsterblich wären.
[François VI. Duc de La Rochefoucauld (1613 - 1680)]





["Nexus", Michelle Schneider (2019)]



MOUTH: … out … into this world … this world … tiny
little thing … before its time … in a godfor - … what?
girl? … yes … tiny little girl … into this … out into
this … before her time … godforsaken hole called … 
called ... no matter ... ["Not I", Samuel Beckett (1973)]


Nicht dich

Du lässt mich hängen, falls dir das nicht bewusst ist! Liebe war für mich, sich einem Menschen blind anzuvertrauen. Ich habe mir dazu, ehrlich gesagt, nicht dich, aber den Augenblick ausgesucht, in dem ich das tun wollte. "Wann, wenn nicht jetzt?" war einer der Sprüche, die mir bisher nur spaßeshalber durch den Kopf gingen, gewissermaßen zur Rechtfertigung, beispielsweise, wenn ich mir etwas kaufte, was man sich eigentlich nicht so recht erlauben konnte. "Jazz oder nie" stand auf dem Plakat an der Tür des Musikgeschäfts, die Gitarre habe ich noch, es ist dann doch bei den paar Klampfenakkorden geblieben, die ich schon immer konnte. Theoretisch konnte es jeder beliebige Augenblick sein, das worauf es ankam, das war sich zu entscheiden. Du stehst also auf dem Dreimeterbrett deines Lebens, du kannst noch ein wenig so tun, als wolltest du die schöne Aussicht genießen, aber raufgeklettert bist du, um zu springen. Ob dir jemand dabei zuschaut, ist eigentlich egal. Natürlich bist du immer dein eigener Zuschauer, was die Sache eindeutig schlimmer macht, wer ist schon ein echt guter Kumpel sich selber gegenüber? In dem Sinne kann ich sagen, es war der Zeitpunkt gekommen, den entscheidenden Schritt zu tun, nicht weil er sich konsequenterweise aus so und so vielen Voraussetzungen ergab, sondern weil entschieden werden musste.
  Du kamst diese Drehtür heraus, jemand anderes hätte sich vielleicht eine Zahlenvorgabe gemacht, zum Beispiel dreizehn als kleine Auflehnung gegen den Aberglauben. Dann wärst du die dreizehnte Person gewesen, die aus der Drehtür gekommen wäre. Aber bei wem hätte man da angefangen zu zählen? Ich stand also mit klopfendem Herzen da, weil ich entscheiden musste, auf wen meine Wahl fallen würde. Ich weiß nicht mehr, ob ich geschummelt habe, fände das aber normal. Hauptsächlich habe ich nicht geschummelt, also noch einmal tief Luft geholt, die nächste Person würde es sein, klar, falls es eine Frau wäre. Es kam dann auch prompt ein Mann, aber dann direkt danach, das warst du.
  Worin die Botschaft steckte, die erste, die du mir sandtest, schwer zu sagen: Im Grunde genommen, dass du nicht der Mann warst, der vor dir durch die Drehtür gegangen ist. Du hast ihn gesehen, ebenso wie ich, musstest ihn sehen, und wenn es aus dem Grund war, ihm nicht auf die Hacken zu treten. Diese Türen drehen sich immer zu langsam. Sie sollen die Leute ausspucken, einen nach dem anderen, passend zu der Fließbandware, die sie drinnen gekauft oder bloß angeschaut haben. Kein Türenöffnen und Schließen, womöglich mit einer alten Ladenglocke, man kennt das, wie umständlich diese Türen zu handhaben waren; das Glas darin schepperte, unbegreiflich für den Mann vom Laden, was die Leute mit Türen für Schwierigkeiten haben konnten. Aber dann war man drinnen im Laden, so leicht konnte man, ohne etwas gekauft zu haben, nicht mehr davon. Darum die Drehtüren, es ist ein Kommen und Gehen, du hättest dich also nicht mit einer klemmenden, scheppernden Ladentür bei mir bemerkbar gemacht, wäre ich der Kaufmann gewesen, oder dass wir uns höflich oder wortlos die Klinke in die Hand gegeben hätten. Dein Signal an mich war ein ganz und gar heutiges, nämlich dass du im Strom des Alltäglichen aus dieser Tür flossest, nach dem Mann, der statt deiner nicht in Frage kam.
  Ich wusste nun, was ich wissen musste, beendete noch an demselben Tag meine Beziehung zu Ulrike. Ob eine andere im Spiel sei? Ja. - Wie lange das schon so gehe? Es sei sozusagen der allererste Moment für dieses Geständnis. Wie ich mir sicher sein könne? Was, ich hätte die betreffende Person noch nicht einmal kennengelernt? Das sei ja wohl vollkommen bescheuert, und in dem Falle sei sie es, die die Beziehung beende. Was für ein Idiot sie sei mit jemandem wie mir ... und so weiter.
  Da ich bei Ulrike wohnte, war die Sache sozusagen im Handumdrehen erledigt. Ich hasse dramatische Szenen, drehte mich auch nicht weiter um, als, dramatisch, was ich, wie gesagt, hasse, mir noch eine eilig vollgestopfte Plastiktüte mit schmutziger Wäsche mit einem Tritt, ich weiß nicht, die Treppe nachgepurzelt kam. Der Griff riss auch gleich aus, man steht immer ziemlich blöd da, wenn einem die Einkaufstüte reißt, weshalb ich das Bündel kurzerhand beim Eingang in die Mülltonne stopfte und jetzt sozusagen alles hinter mir gelassen hatte. Mir war leicht zu Mute, zumal ich dachte, dass du dir damit ganz schön was aufgeladen hast. Aber du wusstest davon nichts und erfährst es ja eigentlich erst in diesem Augenblick, vorausgesetzt, dass du zu unseren wenigen Lesern gehörst, die ich mir mit meinem Freund weltweit teile. Es muss schön sein, aus einem Stück Literatur zu erfahren, dass man geliebt wird und dass ein anderer Mensch, noch dazu der Autor dieser Zeilen, sein Schicksal in deine Hände gelegt hat. Aber bleiben wir bei deinen Signalen.
  Es hätte keinen Sinn ergeben, dir sozusagen ein weiteres Mal an derselben Stelle aufzulauern. Mag sein, dass du tatsächlich täglich, oder von mir aus montäglich, dienstäglich oder sonst an einem Tag zu einer bestimmten Zeit aus dieser Drehtür kommst. Ich hatte ja auf ein weiteres Zeichen deinerseits zu warten. Obdachlos, wie ich jetzt war, konnte es die Münze sein, die du mir in den Plastikbecher warfst, den ich in der Fußgängerzone vor mir hingestellt hatte. Die Leute gaben mir fast nichts, nach ein paar Tagen sah man noch nicht abgerissen genug aus, ein Dreitagebart gehörte schon seit geraumer Zeit gewissermaßen zum guten Ton, kaum ein Minister, der nicht dreitagebärtig ins Fernsehen kam, Habeck zum Beispiel, aber auch schon manche CDUler.
  Nachrichten von wirklicher Bedeutung wurden nicht in x-beliebigem Format gesendet, das war mir von jeher klar. Oft kamen Boten ins Spiel, man wusste das, trotzdem dauerte es ein paar Tage, bis ich darauf kam, dass Elvira mir von dir geschickt worden war. Sie saß in der Fußgängerzone mir gegenüber und der Bogen, den die Passanten um mich machten, führte unfehlbar an ihr und ihrem Kässchen vorbei, ungleich professioneller auch dieses als mein armseliger Wegwerfbecher. Es war ein hübsches kleines Körbchen, und weil Ostern war, saß ein kleines Schokoladenosterhäschen darin. Bettlerin zu sein, das sah man heutzutage mit Realitätssinn. Da gab es Leute, die hatten mal studiert, dann irgendein persönliches Drama, Stelle verloren, Partner verloren, Wohnung verloren. Du konntest schneller auf der Straße landen, als du kucken kannst. Die Leute wussten das, konnten natürlich nichts daran ändern und warfen Elvira was in ihr Körbchen, wohlgemerkt in ihres. In meinem lagen die paar Münzen, die ich selber reingetan hatte; wie man wusste, wenn es ganz leer war, stellte das sozusagen eine Hemmschwelle für die Passanten dar. Es blieb aber auch so, gestern den ganzen Tag. Elvira dagegen machte jetzt schon um Mittag Schicht. Beim Weggehen ließ sie mir eine halbe Handvoll Münzen in mein Becherchen rieseln. Das Zettelchen hatte ich erst gar nicht bemerkt. "Ich heiß' übrigens Elvira", sagte sie im Gehen, "und du machst es eigentlich gar nicht mal so übel. Der Zettel is' nich' von mir, nicht dass du denkst."
  Jetzt sah ich auch dein Zettelchen, verdammt ... also doch noch! - Man musste schon Nerven haben. [B. Karl Decker]

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