Samstag, 27. April 2019

The Gas Station (Variationen) [= S / W 5.11.1]



["Aufstieg", Willy Piehler]






Der Raum, den man im »Weltall« einnimmt:
ein Punkt, wenn auch nur das!
Warum sich aufregen, wenn man sichtlich so wenig ist?
Hat man diese Feststellung getroffen, so beruhigt man sich sogleich:
in Zukunft kein Ärger, keine metaphysische und andere Aufgeregtheit.
Und dann dehnt sich dieser Punkt aus, schwillt, füllt den ganzen Raum.
Und alles beginnt von neuem.
[E.M. Cioran]






5. 11.1 Reichskraftsprit


Die Schrift deutete darauf hin, so glaubte Rohlfs, dass Saeed der Autor dieser Zeilen war. Jedenfalls ließ sich dies nicht vollkommen ausschließen, da niemand sonst Zugang zu derart privaten Dingen hatte und niemand seine Ansichten in einem solchen Maße teilte, was unter Räubern allerdings nicht allzu überraschend war.

Sofern es sich dennoch um seine eigenen Worte handeln sollte, nahm sich Rohlfs indessen fest vor hier auf Erden keine weiteren Belehrungen mehr zu verbreiten. Wie konnte er sich nur anmaßen, dachte Rohlfs in diesem Moment der Einsicht, Rudolfa, eine junge Frau, die ihm versicherte, sie sei auf seine Unterstützung angewiesen, auf Missstände hinzuweisen, zumal er doch wüsste, welch hohe Kosten durch eine Führerscheinstunde hierzulande entstehen. Hinzu komme, dass Rudolfas Mutter von dem Geld die Miete, Stanzmaschinen, Drucker, Spraydosen sowie Textil- und Batikfarben bezahlen müsse. Hierzulande war Aufstieg möglich.

Die größte Branche hierzulande war die Gesundheitsindustrie. Rund 4,7 Millionen Menschen arbeiteten für die medizinische Versorgung. Hierzulande war Erziehung Privatangelegenheit.

Das Mittelmaß hierzulande war vielfach gewollt. Auch dank der sicheren Rechtslage hierzulande war der Wirtschaftsstandort im BSA-Ranking weit vorne platziert. Jede zehnte Zigarette hierzulande war Schmuggelware. Politische Missstände waren ohnehin nicht das Anliegen der Blumenkinder. Seine Aufgabe sollte vornehmlich darin bestehen, sich zu sammeln um an der Seite verbindlicher und verantwortungsbewusster Genossen die Siegesbotschaft auf dem Weg zu den Marskolonien vorzubereiten. Ein Zeitraum von rund zweihundert Tagen musste ihm hierfür genügen. Andererseits erinnerte ihn die Handschrift an den anonymen Edding-Künstler auf dem Kunstlederbezug der Sitzecke. Einige Seiten waren, wie er fand, recht nachlässig aus dem Buch herausgetrennt worden und beim Durchblättern fiel Rohlfs auf, dass vor allem die späten Aufzeichnungen von Alois fehlten. Es schien ihm unerlässlich, dass man ihm noch vor der Ankunft an der nächsten Raststätte versicherte, dass ihm der Schaden ersetzt werde. Keinesfalls wollte er in dieser Angelegenheit Nachgiebigkeit zeigen.

Niemand konnte von ihm erwarten, dass er das Marsevangelium zum Abschluss brachte, wenn man gleichzeitig über den misslichen Zustand seines Buchs hinwegzusehen bereit war. Die Vorstellung, dass Lucia etwas mit dem Desaster zu tun haben könnte, verwarf er kurzerhand. Wollte er seine Neigung für sie verlieren? Künftig möge man sich außerdem einer Fliegenklatsche bedienen.

Es bestand aus seiner Sicht kein Zweifel daran, dass man seine Bedeutung für die Mission auf sträfliche Weise unterschätzte. Des Weiteren wollte er Reich gegenüber, dessen Schnarchen ihn in zunehmendem Maße irritierte, darauf bestehen, ihn endgültig über die Motive dieser Reise sowie den Verbleib Saeeds in Kenntnis zu setzen. Sobald Reich aus seinem lautstarken Tiefschlaf aufgewacht sein würde, mussten grundlegende Dinge zur Sprache gebracht werden.

Weshalb verfrachtete man ihn ausgerechnet nach Rumänien, wenn der Stützpunkt Baikonur in Kasachstan zweifellos die nächstliegende Abschussbasis war.

Die Zeit war nach seinem Dafürhalten reif dafür, dass man ihn in das Projekt einweihte, auch wenn es ihm selbstverständlich nachvollziehbar erschien, dass man ihm als Angeklagten und Schuldigen nicht sonderlich vertraute.

Auch Saeed hatte in seiner Heimat schließlich, wie er immer betonte, stets eine gewisse Empathie für seine Folterer gezeigt, wenn sie ihm gegenüber beteuerten, dass sie lediglich ihre Familien zu ernähren versuchten, indem sie ihm Flaschenhälse in den Anus rammten.

Die Entfernung des Angeklagten kann für die Dauer von Erörterungen über den Zustand des Angeklagten und die Behandlungsaussichten angeordnet werden, wenn ein erheblicher Nachteil für seine Gesundheit zu befürchten ist.

Der Vorsitzende hat den Angeklagten, sobald dieser wieder anwesend ist, von dem wesentlichen Inhalt dessen zu unterrichten, was während seiner Abwesenheit ausgesagt oder sonst verhandelt worden ist.

An den Straßenrändern türmten sich auf den Gemüse- und Obstständen „lubeniţă“, die Wassermelonen aus dem Banat. Der Fahrer hatte ihm mitgeteilt, dass er zunächst Deva hinter sich lassen wollte, bevor es Gelegenheit gäbe sich frisch zu machen. Rohlfs hatte die Befürchtung, dass seine Schmerzen immer heftiger wurden, je mehr er zu Bewusstsein kam. Die Versuchung den Fahrer zu bitten sofort Halt zu machen, damit dieser ihm wenigstens eine kleine Scheibe der saftigen Wassermelone kaufte, war zwar groß, doch wollte Rohlfs stattdessen die ihm verbleibende Zeit nutzen notwendige Vorbereitungen für seinen großen, alles entscheidenden Aufbruch zu treffen. Zunächst entschloss er sich allerdings den obersten Knopf seines verschmutzten Hemds zu schließen um sich keine weitere Blöße zu geben. Glücklicherweise befand sich sein Füllfederhalter noch immer in der Innentasche seines verschlissenen Sakkos, sodass es ihm möglich war einige dringliche Korrekturen vorzunehmen.

Rohlfs spitzte den Mund, was sonst gar nicht seine Art war, um ihn gleich darauf zu einer in nur fünf Tönen schwebenden Melodie zu öffnen. Endlich formulierte er voller Überschwang: "Gnade, Dr. Reich! Niemand bekümmert sich um mich und niemand gibt mir freiwillig zu essen." Der Fahrer legte seinen Zeigefinger auf die Lippen um Rohlfs zu verstehen zu geben, dass er sich trotz aller Ungerechtigkeiten still zu verhalten habe. Bedächtig griff Rohlfs nach seinem Schreibgerät. The proper study of Mankind is Man. Reichs Schnarchen hatte glücklicherweise ein wenig nachgelassen und er schien jetzt wie ein Stein zu schlafen. Oh, happiness, our being’s end and aim!

Die Tankstelle musste renoviert worden sein, sehr zu Rohlfs' Befremden, weil er den Ort für zu nebensächlich hielt, als dass auch ihn die wunderbare Konsumwelt ereilen würde. Worin er der Kette, die den Platz schon vor geraumer Zeit übernommen hatte, Recht geben musste, die Anordnung der einzelnen Bestandteile eines solchen Tankstellenshops entsprach jetzt allgemeinen Erkenntnissen, wie man sie über Verkaufsstellen dieser Art mehr oder weniger besaß. Jedenfalls war es die übliche Anordnung.

Der Umbau war generalstabsmäßig erfolgt. Kein chaotisches Durcheinander von Abbruchmaterial in einem quasi zur Ruine ausgeschlachteten Bautorso, keine südländisch radebrechenden Bauwerker, womöglich mit aus Zeitungspapier oder Zementtüten bestehenden Hüten, keine verbeulten Bauwagen, in denen man Stullen aus zerknittertem Papier aß, den dampfenden Kaffeebecher auf dem Armaturenbrett, das dick eingestaubt war, allen möglichen Papieren, Zigarettenschachteln, der Zeitung zum Trotz. Der Umbau vollzog sich gewissermaßen vesikulär, sämtliches Inventar vorläufig an seinem alten Platz, lediglich von Plastikfolien, die leicht aufflatterten, wenn die Tür geöffnet wurde, abgedeckt, auch diese wiederum sauber mit Klebeband abgedichtet. Nur diejenigen Regale mussten vorerst weichen, deren Standfläche für den Einzug einer neuen Wand oder die Verlegung eines Kabels gebraucht wurde. Durfte man sagen "die Arbeiter", jedenfalls Techniker in adretter Arbeitskleidung, verrichteten mit Werkzeugen, die allesamt neu zu sein schienen, die erforderlichen Tätigkeiten. Rohlfs hatte sich einmal erzählen lassen, dass die Werkzeuge in der Tat nicht mehr gekauft, und darum auch nicht alt würden. Man mietete sie, womit sie gleichzeitig auch gegen Diebstahl versichert waren. Hauptsächlich aber ging es darum, dass eine Firma, die sich ja dadurch, dass sie den Auftrag erhalten hatte, als die beste, jedenfalls im unmittelbaren Vergleich, erwiesen hatte, auch als die beste aufzutreten bemüht war. Dazu besuchte man workshops, darüber machte man sich Gedanken und redete über Firmen, die nicht richtig auftraten und entsprechend wenig geschätzt wurden. Rohlfs wunderte sich darum auch nicht über die Firmenfahrzeuge, die draußen standen, allesamt neu, auch versehen mit allerhand Schnickschnack, wenn auch nicht mit Breitreifen auf Chromfelgen, wie es vielleicht in südlichen Ländern gewesen wäre, oder wie man es bei Fernlastzügen sah. Jedenfalls genügte ein Firmenschild alter Provenienz nicht mehr, Werbeagenturen versahen den Job, so dass man die üblichen Verballhornungen las: "Nicht einfach mit dem Strom schwimmen", glaubte Rohlfs auf dem Wagen einer Elektrikerfirma gelesen zu haben. Oder war es: "Mal so - mal so!" des Anstreichers? Wegen des besseren Empfangs telefonierte man draußen, das Handy am beringten Ohr, braun gebrannt von einer anderen Baustelle oder vom verlängerten Wochenendtrip nach Mallorca. Wenn es auf Baustellen auch längere Zeit so aussehen konnte, als würde nichts voranschreiten, so dass man seine Aufmerksamkeit anderen Dingen zuwandte, so geschah es doch mit steter Regelmäßigkeit, dass man eines Tages buchstäblich vor, in diesem Falle, den vollendeten Tatsachen stand. Zuerst bemerkte man die neue Beleuchtung, eine regelrechte Revolution. Man fragte sich, wie und was man denn je vorher in diesem Tankstellenshop gesehen hatte. Hatte man auch die Klimaanlage ausgetauscht?

Tatsache war, dass hier nicht nur ein geradezu paradiesisches Licht den Augen leuchtete, so wie es die größten Palmen wachsen lassen konnte. Entweder wärmte dieses Licht selber, oder aber man hatte mit einem Zuge eine höchst raffinierte Heizung und Lüftung eingebaut. Kein Zement zog aus, kein Kleber verströmte seine Dämpfe, von denen sich die Straßenkinder der sogenannten Dritten Welt benebeln ließen.

Während Rohlfs den Umbau aus den Augen verloren hatte, es konnten höchstens ein paar Tage gewesen sein, hatte sich hier auch die letzte Spur davon in nichts aufgelöst, zugleich mit dem Ort, der das früher gewesen ist. Eine Uhr lehnte noch unaufgehängt auf einem Bord an einer Säule, Rohlfs hätte nicht sagen können, wo sie in dem Verkaufsraum, wie er vorher war, gehangen hatte. Ob der Innenarchitekt, der ein Gespür für so etwas hatte, nur noch keinen Platz dafür wusste. Stellte man nicht auch in Seniorenheimen das eine oder andere alte Tischchen oder Schränkchen auf Fluren und Gängen auf als freundlichen Gruß aus einer vergangenen Zeit? Die Mitarbeiterinnen waren dieselben und machten keine Mine zu dem erfolgten Wechsel.

Die Streifen, kleine schräge Bälkchen am unteren Ärmel seiner grünen Uniformjacke, bedeuteten halbe Jahre auf dem Schlachtfeld. Ob er also getötet hatte?

"Worauf du Gift nehmen kannst, Rohlfs. Und frag mich nicht, wie viele von den Arschlöchern ich abgeknallt habe, und du hättest es auch getan, oder was denkst du, wozu die Scheißarmy da ist, Herrgott nochmal? Und denk bloß nicht, wir hätten für die Demokratie gekämpft oder sonst so einen Bockmist. Wir wussten nicht mal, wo das verdammte Korea war und was unsere Regierung da vorhatte. Wir hatten diese Monate in dem Ausbildungscamp hinter uns und jeder wollte nur weg von da. Wir schliefen in einer großen Baracke, wenn du dir vorstellen kannst, wie das ist. Immer weinte irgendwo einer, oder der Typ über dir oder neben dir, oder hinter dir, verdammt nochmal oder alle auf einmal holten sich einen runter. Du konntest nicht reinkommen, ohne dass gerade einer mit bloßem Hintern dastand. Mann, ich kann seither keinen nackten Arsch mehr sehen, ohne dass ich beinahe den Koller kriege. In dem verdammten Korea hattest du für solche Feinheiten keinen Sinn mehr. Da hast du dir den Arsch abgefroren. Und der Typ, der uns die Suppe nach vorne bringen musste, hat sich einen Spaß draus gemacht sie kalt werden zu lassen, richtig kalt, wenn du verstehst, was ich meine. Wir haben dieses gefrorene Zeug gelutscht oder eben weggeschmissen. Der Küchentyp sagte, in seinem Befehl stehe nichts drin von warmer Suppe. Wir hätten ihn genauso kalt gemacht wie die verdammten Koreaner. Dann eben die, wir hatten eine Stinkwut und haben sie abgeknallt, weil die Suppe kalt war. Aber die waren auch nicht ohne, das kannst du mir glauben. Wir mussten im Graben Wache schieben. Das ging Wochen so, ohne dass du je einen Feind gesehen hättest. Der Feind war der Unteroffizier, der dich nicht beim Schlafen erwischen durfte. Dann haben sie dich fertig gemacht.

Wir haben natürlich trotzdem geschlafen, abwechselnd eben, immer hat einer aufgepasst, dass der Unteroffizier nicht kam. Als die Wache vorbei war, wollte mein Kumpel partout nicht aufwachen. Da sah ich, sie hatten ihn mit einer Drahtschlinge erdrosselt, direkt neben mir.

Ich muss also auch eingeschlafen sein, oder sie haben es so leise gemacht, dass ich nichts mitgekriegt habe. Mann, und wenn du jetzt denkst, dass ich Gott danke, dass ich noch lebe, ich sage dir eins, ich weiß überhaupt nicht, wieso ich lebe. Und du kannst mir glauben, wir haben die Brüder gehasst, und alles, was du im Fernsehen siehst über den Krieg, ist ein Scheißdreck. Weiß der Teufel, wer die verdammten Kriege macht, und warum ich meinen Arsch da mitten rein halten muss.

Wir hatten diesen Job damals, eine Riesenverladestelle für Autos, und wir haben die Dinger auf dem Parkplatz aufgestellt, diese Schlitten für die Wichtigtuer, Lincolns, wenn du weißt, was ich meine. Du hättest uns sehen sollen, wie wir die Karren über den Platz geschrubbt haben. Die feinen Pinkel, die die gekauft haben, hätten sich die Hosen vollgeschissen, wo doch nicht ein Staubkorn drauf liegen durfte, wenn sie die dann hatten. Wir hatten jedenfalls Spaß. Und dann haben wir uns bei der Army eingeschrieben. Du denkst immer, noch so und so viele Monate, und dann schmeiß ich die Brocken hin, aber du wirst es nicht glauben, vorletzte Woche habe ich wieder einmal für zwei weitere Jahre unterschrieben. Anschließend hab ich mich sinnlos besoffen, weil ich ein solcher Idiot bin. Dass du die Monate zählst, ist ganz normal. Das machen auch die Offiziere, und schreiben sich neu ein, sogar die, die garantiert nichts mehr werden als Captain."

"Weißt du, Rohlfs, wenn ich das hinter mir habe, freitags einmal im Monat bei der Psychologin, habe ich immer ziemlichen Durst. Das ganze Hin und Her, ob es mir ernst sei und all die verdammten anderen Lügen, aber es ist eine Mausefalle, du kannst es drehen, wie du willst, alles bleibt immer ein Teil des Grundes, warum du da bist, ich meine in der Therapie. Eigentlich habe ich mich schon daran gewöhnt keinen Führerschein mehr zu haben, gut möglich, dass ich auch nicht mehr hingehe. Das Gefasel über die verkorkste Kindheit und so weiter, dass man sich selber was vormacht, all dieser Bockmist, ich bin müde und krank davon. Und dann dieses Mädel von noch keinen dreißig Jahren. Du weißt, was ich meine, Geld, sie macht es wegen des Geldes, was sie da mit mir anstellt. Zweimal eine Dreiviertelstunde, dazwischen fünf Minuten Pause, während der Sitzungen darf man ja nicht rauchen. Wir machen es alle wegen des Geldes und kaufen Bier, Zigaretten, kriegen die ration card, damit es billiger ist. Mj Thomson kauft ihre Klamotten davon, sie arbeitet ja in Zivil, nur auf der kleinen Anstecknadel steht ihr Name und sie hat das verdammte Major-Kleeblatt.

Im Road and Gun Club hatte ich gerade mein zweites Bier. Obwohl ich rauche, ist meine Nase noch ziemlich in Ordnung, also roch ich sie, bevor ich sie sah. Hi, ja, einen Drink schon, aber kein Bier, natürlich. Sie trank dann so ein rotes Zeug, von dem ich den Namen aber vergessen habe, obwohl sie später noch zwei davon bestellt hat. Also doch Alkohol, und natürlich auch Zigaretten. Ich dachte, OK, alter Bob, jetzt kommt sie in deine Therapie. Erstens wusste sie, dass ich direkt nach den Stunden in den Club gehe, Kunststück, in diesen Dingen lüge ich fast gar nicht, schon aus Selbstachtung. Aber sie hatte mir also sozusagen nachspioniert, jedenfalls sich für mein Privatleben interessiert, du verstehst, was davon nicht blabla ist. Ich sage dir, junge Ladies sollten nicht ein paar Drinks hintereinander nehmen, wenn sie wollen, dass man nicht durch die Gardinen sehen kann. Ich dachte, hoffentlich kein Gejammer von einem Typen, mit dem es nicht richtig läuft, oder irgendein verdammter Psychologenmist. Aber eigentlich nichts davon, sogar ziemlich nettes Geplänkel, nicht mal unsere dienstlichen Dates waren dabei tabu, eigentlich so, wie es mir gefällt. Natürlich denke ich bei solchen Gelegenheiten immer darüber nach, ob und wie ich sie flachlegen kann. Nur ist das so eine Sache, wenn du spürst, dass sie genau darauf wartet. Als ich von der Toilette kam, hatte sie bereits gezahlt, und wartete nur um sich zu verabschieden. Ich dachte, OK, du hast es versemmelt. Und da ist es auch schon heraus, ich sagte: "OK, little lady, ich hab's versemmelt." Sie darauf: "Wieso, ich wollt' grad fragen, haben Sie, hast du nicht Lust? Ich meine, ich wohne einen Sprung von hier. Oder turnt dich das ab, weil ich den ersten Schritt tue?" Ehrlich gesagt, das tut es, theoretisch, Rohlfs, aber du hättest auch nicht nein gesagt." Die Tatsache, dass Mj Thomson, bei der das S auf dem Namensschild übrigens für Svenya stand, die Initiative ergriffen hatte, war für Bob OK. Sie unterschied also zwischen dem Professionellen und dem Privaten und zeigte sich zugleich in dem Sinne als professionell, als sie dazu in der Lage war. Auf dem Weg zu ihr nach Hause wurde nichts Besonderes gesprochen. Bob trug seinen Trench, da es schon recht herbstlich geworden war, auch seine Mütze mit den Winkeln des Staffsergeants. Er rauchte, was hoffentlich in der Wohnung von Mj Svenya erlaubt sein würde. Ihr kleiner Wagen hatte beschlagene Scheiben, so dass man nur den kleinen Ausschnitt sah, den die Wischer frei machten. Bevor es Bob in seinem Mantel zu warm wurde, war man auch schon da, ein Zweifamilienhaus, von dem Mj Thomson das Erdgeschoss bewohnte. Es war eine propere Wohngegend, ähnlich der, in der Conley selber wohnte, er allerdings in einem Mehrfamilienhaus, auch war seine Wohnung eigentlich nur ein einziges Zimmer mit Küche und Bad, dafür gab es noch einen Balkon, sogar nach Süden, wo er oft saß und rauchte, während er die Wohnung lüftete. Mj Thomsons Appartment war gediegen ohne altmodisch zu sein. Die Küche, wo sie eine Flasche Wein öffnete, sah so aus, als sei die Putzfrau heute dagewesen. Bob, der inzwischen seinen Mantel an der Garderobe aufgehängt hatte, war auch ohne Jackett, so dass man seinen kugeligen Bauch sah, über dem sich der Pulli spannte, was Mrs. Svenya mit einem Lächeln quittierte. Sie selber war in Pantoffeln, Bob begann sich regelrecht gemütlich zu fühlen. "Du kannst ruhig sagen, wenn du lieber ein Bier möchtest, es müsste noch welches da sein. Ich habe nicht so oft Herrenbesuch, wie du vielleicht denkst. Nimmst du die Gläser und den Aschenbecher mit rüber?" Man durfte also rauchen, wie Bob mit Erleichterung feststellte, das Auto war eindeutig ein Nichtraucherauto gewesen. Im Wohnzimmer stand eine modische rote Ledercouch. Es gab etliche Pflanzen auf der Fensterbank und auch eine ziemlich große Palme. An den Wänden gerahmte Fotos, die bewiesen, dass Mj Thomson offenbar ganz schön herumgekommen war, obwohl sie noch keine dreißig sein mochte. Es gab einen kleinen Bücherschrank mit Glastüren, ebenso vollgestopft wie die beiden Regale, Fachliches und Unterhaltsames kunterbunt, auch viele Paperbacks ganz wie die, die Bob selber las, dann aber ja wegwarf. Damit, sich eine Zigarette anzuzünden, wartete er, bis sie auch kam. Sie musste noch im Bad gewesen sein, denn man sah ihrem Haar an, dass sie es etwas gerichtet hatte. Sie war nicht der Typ, der sich in einer solchen Situation neu schminkte, oder gar etwas anderes anzog. Den Wein brachte sie auf einem Tablett.

Der schüttere Zopf an greisen Häuptern, die Leggins an dürftigen Beinchen magerer Seniorinnen, das hieß: "Ich bin kein Spießer. Ich hatte meine wilden Zeiten. Wer ist denn hier angepasst, wenn nicht diese Jugendlichen mit ihren Smartphones!" Rohlfs überlegte, ob die Dauerwellenfrisur seiner Großmutter deren Revolte gegen bäuerliches Spießertum in den Zwanzigern gewesen war. Die Haare kurz zu tragen war ja ein Aufbegehren gegen die Frauenrolle, die einem in jener Epoche beschieden gewesen war. Rohlfs' Großmutter hatte auch Hosen getragen, allerdings sah sie darin natürlich wie eine Seniorin aus, die sie ja auch war mit siebzig; aber sie war und blieb darin eine Frau. Vielleicht war das bei denen, die in der Schlange an der Kasse vor ihm standen, auch so, aber er konnte es nicht sehen. Zu stark war die Botschaft, man müsse tolerieren; wie man aussehe, sei schließlich eines jeden Recht. Aber worauf zielte das Recht, das man sich nahm? Welche autoritäre Elterngeneration wäre eigentlich noch zu schockieren und ihr aufzuzwingen, was sie nicht ändern konnte, wenn man sechzig, siebzig war? Vermutlich lebte die Elterngeneration einfach noch in den Köpfen, so dass man die Energie fand für fortwährende Rebellion. Wesentlich war wohl, dass dieses Geschehen nicht in Form einer Argumentation stattfand, sondern durch die Dinge, mit denen man sein Leben gestaltete. Natürlich hielt der Handel das gesamte Sortiment der dazu benötigten Gegenstände bereit, die sich ursprünglich allesamt an den Bedürfnissen Jugendlicher und Heranwachsender orientierten. Darum kleidete man sich praktisch, trug am jugendlichen Körperbau orientierte Hosen, also eng am Bein anliegende, Jacken, die an der Taille endeten, mit aufgesetzten Taschen, welche die Brust betonten. Jeans waren die Tracht der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts geworden und ihre Geschichte war bis auf Weiteres eine ohne Ende, wenn man auch sah, dass die Jugendlichen nach dem üblichen Muster betont weite Jeans trugen oder solche, bei denen das Gesäß durchhing, dadurch ein wahres Stigma aufgreifend. Der Körperbau des erwachsenen Menschen musste so lange wie nur irgendmöglich vermieden werden, weshalb man joggte wie verrückt. Erst wenn der Kampf gegen den Bauch endgültig nicht mehr zu gewinnen war, besann man sich auf das Retro-Muster betonten Rockertums, das trotzig wenigstens den renitenten Haarschmuck trug. Rohlfs staunte, wenn Motorradpärchen die Helme abnahmen, in welchem Alter man eigentlich noch Motorrad fuhr. Auch die wirklichen Rocker schienen meist alt, vielleicht auch wegen eines ansonsten wenig gesundheitsfördernden Lebensstils. Möglich, dass alte Rebellen die Folklore der Gegenwart erzeugten, kreischende Gitarren statt Blasmusik, die raue Stimme des Rockers anstelle des Jodlers, Selbstgedrehte, wo auf den entsprechenden Porträts ein schnurrbärtiger Oberbayer seine Pfeife raucht.

Wer wusste denn, ob hinter der Fassade der spießigen Bürgerlichkeit der fünfziger, sechziger Jahre nicht in Wahrheit dasselbe kindliche Herz schlug? Rock 'n' Roll ist ungesund für die Hüften, diagnostizierte man 1958 in Teheran, nur dort? Der Unterschied lag wie in manchem anderen auch darin, dass die Fassade einem Bild vom erwachsenen Menschen abgeschaut war. Der Briefträger trug einen Tuchanzug, nicht Sportsandalen, Funktionsshorts und Baseballmütze in Grellgelb mit abstraktem Posthorn, eben einem Logo vom Designer. Tatsächlich waren die abgehetzten jungen Leute, die heute diesen Dienst versahen, sympathischer, fand Rohlfs, der gerade in der Zeitung gelesen hatte, dass auch die piefige Polizeiuniform gegen eine funktionellere ausgewechselt werden würde. Tatsächlich hatte er in Brasilien bereits vor vielen Jahren Polizisten in Bluejeans gesehen, die Polizeikids von hier dürften sie heiß beneidet haben, aber man sah sich ja im Urlaub nicht das brasilianische Polizeioutfit an, ohnehin war Brasilien eher zu weit für deutsche Polizisten im Urlaub. Und wer weiß, ob die Bluejeans nicht der Tatsache geschuldet war, dass der brasilianische Staat nicht Geld genug hatte für komplette Uniformen. So schnallte man, was man allerdings auch sehr hip gefunden haben dürfte, das Koppel mit der Dienstwaffe und den Gummiknüppel an die knapp sitzende Hüfthose, Kids, denen man ansah, dass sie darin auch einmal einen tüchtigen Sprint hinlegen konnten.

Die geschlossene Abteilung eines psychiatrischen Krankenhauses durfte man sich nicht mehr vorstellen als ein Tollhaus, in dem die Patienten mit Riemen an die Betten gefesselt waren, Münder, aus denen Speichel rann, weiße Nachthemden, verschwitzt, wild zerknittert nach oben gezerrt, verzweifelt starrende Blöße preisgebend. Auf Gängen mit gerahmten Kinderkunstwerken, vorbei an Dienstzimmern, in denen leise Musik spielte, begegnete man Menschen, die dort nicht hingehörten, die aber offensichtlich hier wohnten und warteten. Es geschah buchstäblich nichts. Kaum, dass man ein Krankenzimmer sah mit dem großen Krankenhausbett, dem Fernseher hoch oben an einem schwenkbaren Arm, den Blick aus dem Fenster so, wie das in Hochhäusern war, in die Ferne hin über einen Wald. Wer nicht glauben wollte, dass hier schwere Fälle behandelt wurden, der mochte einmal versuchen den alles durchdringenden, alles umschwebenden Duft des Medikamentes zu ignorieren, dessen süßlicher Friede sich über das gelegte hatte, weshalb die Insassen hier waren. Irre geworden zu sein, erst problemlos geborgen in der Wirrheit dessen, was alle normal fanden, dann hin und wieder Wetterleuchten vorübergehender Verzweiflung und schließlich der Tag und das Ereignis, wodurch ein Damm bricht, der sich ergießen lässt, wovon eine Seele voll und übervoll geworden ist; das Drama des Ausbruchs, Haldol mit seinem süßlichen Duft, die Trockenheit im Mund, im Herzen, die Leere. Wahr nur noch der Wahn, aber das wollte ja keiner wahrhaben!

Tine durfte erst nicht mit in die Klinik, und dann kam ja Mama auch bald an den Wochenenden nach Hause, das heißt zu Besuch bei Oma Helen, die mit der Situation möglichst praktisch umging. Eigentlich war dieser Klinikaufenthalt ein weiteres vorübergehendes Ereignis, von denen es so viele gab, bis die Kinder groß waren. Es war heute so, mit der Schule war es schwierig, die Berufsausbildung, notfalls musste man dafür zahlen, irgendetwas musste man ja tun. Und dann war da ja auch noch Meggis Bruder, der zwar seine Lehre gemacht, aber dann keine Lust auf den Beruf hatte. Man musste abwarten, wie sich das alles entwickelte. Rohlfs stellte sich nicht vor, dass Meggis Zusammenbruch mit ihm nun nichts zu tun hatte. Zu groß waren die Spannungen inzwischen geworden, man musste sich trennen, wovor er sich aber maßlos fürchtete. Die Liebe war sehr groß gewesen, und das, worin sie sich im Laufe der Zeit aufgelöst hatte, ein dumpfer, schwerer Nebel, so wie einem der Blick trübe wird vor Kopfschmerzen. Hätte man noch gewusst wozu, würde man sich lange schon getrennt haben. Rohlfs verstand, dass Meggi auf ihre Weise nach einem Ausweg suchte, ihn provozieren wollte mit anderen Männern, und als sie es ihm einmal ohne Umschweife eingestand, dass da etwas war, nahm er es hin, aber es könne kein weiteres Mal geben. Er war nicht der Mann jemandem nachzuspionieren, aber wenn man fremd ging, dann nicht indem man es sich erlauben ließ.

Sie seien nämlich hinter ihr her, eigentlich schon die ganze Zeit, nur würde es jetzt wirklich zur Sache gehen. Deshalb hätte sie auch alle ihre Sachen dabei, zurück nach Heidelberg würde sie nämlich auf keinen Fall mehr gehen. Rohlfs, der die Verabschiedung von der Kollegin auf dem Park-and-Ride-Platz seltsam gefunden hatte, auch das viele Gepäck, fühlte eine Welle von Auflehnung, die sich in ihm ausbreitete. Die mühsam gefundene Stelle, die Monate des Hin und Hers zwischen zwei Wohnungen, das würde in diesem Augenblick in sich zusammenstürzen. Sie hätte mit einem von ihnen etwas angefangen, ein richtiger Scheißtyp, vor dem sie eigentlich nur Angst gehabt habe. Sie sagte das eigenartig provozierend, denn es war ja der Fall eingetreten, von dem Rohlfs gesagt hatte, er dürfe sich nicht wiederholen. Was er denn wolle, da er sie einfach links liegen ließe! Außerdem seien diese Typen wirklich gefährlich, nicht nur wegen des Dope, das seien bloß so kleine Nebengeschäfte. Sie wollten rein in den Betrieb, weshalb sie auf keinen Fall in den Laden zurückkönne.

"Halt da vorne nicht in der rechten Spur!", und da Rohlfs nicht sofort Anstalten machte, griff sie nach seinem Arm und sagte: "Der Typ da mit dem grauen Mantel ist einer von ihnen. O Gott, er hat mich gesehen, fahr, bitte, bitte, es ist doch schon grün. Er hat direkt ins Auto geschaut. Was soll ich nur machen?" - "Wer soll das denn sein?", versuchte Rohlfs lahm die Sache als ein  Missverständnis herunterzuspielen. - "Es ist die Mafia." Als ob die Mafia sich für x-beliebige Leute interessieren würde. "Und ob", entgegnete sie, da würden noch ganz andere Leute drinstecken, zum Beispiel auch Pietro vom Art. Der würde aber zu den Guten gehören und deshalb normalerweise keinen Stress machen. Sie müssten unbedingt zu ihm hin, ob er vielleicht etwas machen kann, am besten sogar sein Vater. Der sei im Augenblick zwar in Italien, aber möglicherweise sei das sogar besser.

Das Art war für hiesige Verhältnisse die Sorte angesagte Kneipe, in die man ging, weil sich erst noch herausstellen musste, ob sie einem Trend halbwegs folgte, mit dem es in einer mittelmäßigen Stadt nicht weit her war, oder ob sie am Ende, wenigstens für eine Weile, sogar einen Trend setzen würde.

Der Paul war ein ausgesprochen gut aussehender Mann. Dass er von kleiner Statur war, musste ihm schon viele Leiden verursacht haben. Es war eine Ungerechtigkeit, gegen die sich sein ganzes Wesen auflehnte, zumal er einer Generation angehörte, in der man begann immer größer zu werden, so dass man alle Welt sich mit einem Buckel herabneigen sah, eine Haltung, die noch durch die aufkommenden Frisuren betont wurde, nämlich das Haar in der Stirn zu tragen und auch im Nacken lang. Der ausgesprochen gut aussehende Paul wird das in seiner Jugend auch getan haben, und weil die inzwischen dreißig Jahre zurücklag und er ein Sakko trug, das Hemd allerdings offen und auch keine Bügelfalten in der Hose, dafür einen Gürtel mit einem Koppelschloss und spitze Schuhe aus einem sehr feinen Leder, hatte er die Haare im Nacken eher kurz und nur vorne in ein paar Strähnchen in der Stirn. Sie waren vielleicht auch einmal insgesamt dunkler, wiewohl jetzt an den Schläfen fast weiß, über die er das Deckhaar in Löwenmanier nach hinten strich, und seine hellen Augen mochten einen schönen Kontrast zu ihnen gebildet haben, zumal er einen dunkleren Teint hatte. Das Sakko war männlich breit, vielleicht deshalb um jenen Tick zu lang, der seinem Träger gewissermaßen alles an Bein nahm, was der verzweifelter Weise hatte. Da die Jacke offen stand, dachte man immerfort an eine Handpuppe, deren Kleidchen den Arm des Puppenspielers verdeckte, wenn er sich im Sprechen, wovon er reichlich Gebrauch machte, von hier nach da wandte, auch nach Art der Stewardessen mit beiden Händen gestikulierte, wenn sie den Notausgang zeigten.

Der Paul war durch und durch freundlich, hatte immer ein Lächeln auf dem Gesicht, das ihm gut stand. Das Gebäude hatte er gewissermaßen aufs Neue errichtet und aus ihm gemacht, was auch aus ihm gemacht worden wäre, wäre es neu errichtet worden. Aller Mief einer vergangenen Zeit war daraus verschwunden, Lichtakkorde hie und da, adrette Vitrinen zeigten die verschrammte Vergangenheit, überhaupt Glas, will sagen Transparenz, eigentlich nur noch zu übertreffen durch das Digitale, was man aber leider nicht sah. Der Paul, der ausgesprochen gut aussah, nur leider etwas klein war, erschien in Begleitung der Vivian, ihrerseits etwas zu groß und eigentlich hässlich, was nicht schlimm gewesen wäre, hätte ihr Schönheitsideal dem nicht so rigoros widersprochen. Ob aus Kameradschaft, man wusste es nicht, trug sie keine hohen Absätze, das Wetter war schlecht und es war auch kein eleganter Anlass, dafür Frisur, weshalb ihr auch beim kleinsten Schritt nach draußen jemand einen Schirm halten musste. Solche Frisuren wurden eigentlich nur beim Frisör gemacht. Man traute der Vivian aber zu, sich die Kniffe der Figaros mit der Zeit abgeschaut zu haben, die Silhouette stimmte jedenfalls, wenn auch gemeiner Weise bei Frauen über sechzig häufig das Haar leider dünner wird, jedenfalls das Deckhaar, ausgerechnet, weil man es brauchte, selbst schon für eine mickrige Dauerwellenfrisur. Aber diese weißblonde Mähne hielt nicht mehr der Betrachtung aus einer beliebigen Perspektive stand, was die Trägerin teils wusste und bedauerte, zum anderen in einem Schwall von Selbstbewusstsein, Kenntnissen und Ansprüchen vergaß.

Wie sollte man wissen in einem der ersten Länder der Welt, was man wollte, da man alles hatte, wo alles erlaubt war? Vielleicht war es ein Ausweg sich in die relative Armut hineinzureden, oder eben Schulden aufzunehmen, denn dann wusste man wenigstens, was man musste.

Wer sich irgendwie noch die Erinnerung an frühere, ablehnenswerte Zeiten bewahrt hatte, konnte natürlich auch gegen diese anleben. Also erlaubte man sich und aller Welt, was einem als Kind, oder schlimmer noch als Jugendlicher verboten war. Darin konnte ein schönes Stück geborgen liegen, das man dann hob. Nicht dass es keine Tabus mehr gegeben hätte, oder eigentlich gar andere als die, die es von jeher schon waren.

Nacktheit zum Beispiel war geradezu gefordert, wo es um Hygiene ging. Wo man vor ein paar Jahrzehnten noch Badehauben tragen musste, wegen der Hygiene, wie es hieß, lange Haare waren, wenn man sonst schon nichts dagegen tun konnte, unhygienisch, dort musste sich jetzt, und zwar vor allem unter der Badehose gewaschen werden, was hieß, diese war sogleich auszuziehen, wenn man im Schwimmbad unter der Dusche stand.

Es hätte noch gefehlt, dass ein Schild auf dieses rituelle Bad, natürlich in Kategorien der Reinlichkeit, hingewiesen hätte. Typisch, dass ein eben solches Schild in einem französischen Schwimmbad genau das Gegenteil forderte, nämlich verbot, sich unter der Dusche der Badehose zu entledigen.

Da lobte man sich doch deutsche Sauberkeit, wo man in Badelatschen, wegen Rutschgefahr oder wegen Fußpilz, wer hätte das schon gerne einmal jemanden gefragt, nackt duschte.

Kinder wurden als erstes auf diese gemeinschaftliche Pflicht hingewiesen, die dann, wenn auch etwas zögerlich, den zu entblößenden Hauptgegenstand erwachsenerseits ungefähr auf Augenhöhe, folgten. Kleine Mädchen, von betreuenden Vätern in die Männerdusche mitgenommen, waren ausgenommen. Wer konnte wissen, ob nicht ein katholischer Pädophiler das Schwimmbad besuchte, wie Rohlfs sarkastisch dachte, aber die tendierten ja mehr zum anderen Ufer, also doch kein Gedanke an die Abgründe der menschlichen Seele.

Jedenfalls wollte Rohlfs kein solches kleines Mädchen gewesen sein, auch wenn man zetern durfte wegen der langen Haare, die nun eben doch mit Shampoo gewaschen werden mussten, ganz wie zu Hause. Ob da auch der Papa nackt mit unter der Dusche stand? Rohlfs dachte mit Grauen daran, seine Mutter mochte ihn seinerzeit mit in die Frauendusche genommen haben. Sie wäre jedenfalls imstande gewesen ihn selbst dort die Badehose ausziehen zu lassen. In Wahrheit hasste sie die gemeine Nacktheit, bei der nichts dabei sei, wie volkstümlicherweise betont wurde. Insofern wäre sie die richtige Adresse gewesen für diese Provokation, nun holte beinahe ihre eigene Generation sie damit ein. Dass nichts bei etwas dabei sei, konnte das sein, was Rohlfs am meisten störte. Als ob der Aufwand, den man damit trieb, nicht schreiend das Gegenteil davon verkündete! Schließlich war man zu allem Überdruss und Überfluss dem überzeugten Aufwand, ja Aufmarsch, so dachte Rohlfs, jener überspannten Sprachrohre des Zeitgeists ausgesetzt, die nicht müde wurden die Körpersäfte zum Zenit des Beredenswerten zu erklären, zum Zentrum und Höhepunkt des Aufgeklärtseins überhaupt, umgeben von Heerscharen aufbegehrenden Fleischs jenseits aller Generationen. Selbsternannte Idole feierten, gestützt durch die Haltung ihres Publikums, die Kammermusik des Hypothalamus. All dem würde Rohlfs sich entziehen, nachdem er von Baikonur aus das heimatliche Karzinom hinter sich ließe.

Die Unterschiede würden größer werden, die blaue Kugel aber würde sich dennoch weiterdrehen. Verabschieden würde er sich von dem Begriff der Welt, von den Städten, den Himmelsrichtungen, dem Vatikan, den Kirchen überhaupt, dem Kapital und den Palästen, der Natur, den Gemälden, den Büchern, Gärten, Grüften, Nadeln und Steinen. Fahrt wohl, ihr Züge, Limousinen und Transporter! Fahrt wohl! "Dummköpfe zieht es dorthin, wohin Engel lieber keinen Fuß setzen", notierte Rohlfs und rief, als wolle er seine Umgebung einweihen, dem Fahrer zu: "Proştii se înghesuiesc unde înţelepţilor le este teamă să păşească."


Samstag, 20. April 2019

Bzw. ۲ ۲ ۵ [Unzählige »Nahtstücke« mit fünf bläulichen Illustrationen und unsichtbaren Tönen für drei Gitarren]



["Naht", Michelle Schneider (2019)]



Now deep in ocean sunk the lamp of light,
And drew behind the cloudy vale of night.
[Homer]
Auch nichts
ist ein Wort,
das nicht
nichts
ist.
["Gedanken Los 9", Jutta Riedel-Henck (2007)]


Narben

Auf dem Speicher seines Gebäudes lagerte er all jene Kronleuchter, Stühle, Regale und ungeöffneten Kisten aus fremden und eigenen Beständen, die er jederzeit wieder nutzbar zu machen verstand. Mit überlegenem Verstand waren all jene Dinge, die er schlicht als unzählig einstufte, vor dem Einbruch der Jahreszeiten und dem ihnen wesentlichen Wandel des Klimas zu bewahren. So galt es den Schornstein zu isolieren, die Ziegel gegebenenfalls zu erneuern, die Regenrinnen zu reinigen, Laub und Moos zu entfernen, kurz, das Gebäude abzudichten.
  Sobald es die Witterung des Frühjahrs erlaubte, schärfte sich sein Blick für die unzähligen Dinge auf dem Speicher; auch der Raum wirkte jetzt weiter und offener. Besonders der Anordnung in einem äußerlich gut erhaltenen Puppenhäuschen aus unbehandeltem Holz galt seine Aufmerksamkeit an einem solchen Tag. In einem einzigen, liebevoll hergerichteten Zimmer, dem Schlafgemach, war die Zeit buchstäblich stehen- und liegengeblieben. Während die Ordnung der Dinge in allen anderen Räumen nicht mehr nachvollziehbar war, hatte man mit sorgfältig aufgetragenem Leim eine Szenerie in jenem Zimmer eingefroren, als habe man das Einst und Jetzt auf ewig miteinander verbinden wollen.
  Die hochgereckten, hölzernen Ärmchen der Hausherrin in der Eingangstüre, deren Beflissenheit durch ein Kopftuch, einen winzigen, kleinkarierten Stofffetzen, unterstrichen wurde, zeigten dem Betrachter eine Empörung, die dem Mädchen, das man unter einer bauschigen Federdecke eingeleimt hatte, unmöglich entgehen konnte. Das stumme Entsetzen der Hausherrin stand der herrischen Puppe vermittels weniger Einkerbungen ins Gesicht geschrieben. Von dem Mädchen ragten nur die entblößten Füße und das lange, glatte, brünette Haar unter der Decke heraus; ihr Gesicht presste es in ein winziges Kissen. Oberhalb des linken Knöchels des Mädchens fiel dem Betrachter eine besonders tiefe Einkerbung auf; eine Narbe vielleicht. Um das Bett herum waren wellige, teils zerknitterte, kaum lesbar beschriftete Zettelchen befestigt worden, deren Unordnung möglicherweise Anlass für die Aufregung sein mochten. Auch aus der oberen Schublade einer schlichten Kommode, dem einzigen weiteren Möbelstück, das in dem Häuschen noch enthalten war, quollen derartige Zettelchen in großer Menge hervor. Entziffern ließen sich vereinzelt Vorsilben, unter denen be- und vor- überwogen.
  Gewiss war das Inventar des Häuschens nach einem oder sogar mehreren Umzügen heillos umhergeworfen worden; manches mochte auch verlorengegangen sein oder sich in einer der vielen Kisten befinden. Zugegebenermaßen hatte er aber auch den Blick für weitere Einzelheiten in dem Gebäude verloren, da ihn der Anblick des sonderbaren Geschehens allzu sehr in seinen Bann zog. Nur mühsam widerstand er der Versuchung, in das Geschehen einzugreifen, indem er etwa das Haar des Mädchens streifte oder einen Blick auf das in dem Kissen verborgene Gesicht zu werfen versuchte. Er widerstand selbst der Verlockung, die Narbe des Mädchens sanft zu berühren, mit ihr in Verbindung zu treten, was er indessen erst bemerkte, als er seinen Zeigefinger auf halbem Wege zurückzog; ein zarter Geruch von kostbarem Nardenöl blieb dennoch lange an ihm haften. [Liana Helas]




["Narr", Michelle Schneider (2019)]


Nasen

Was eigentlich erlaubten sich unsere Eltern, ihre Existenz in uns eine mehr oder weniger glückliche oder traurige Fortsetzung finden zu lassen? Giacomo hatte italienische Eltern, einen Gastarbeitervater, was ihn als Angehörigen der unteren Schichten auswies. Unweigerlich hatte er es einmal besser gehabt, nachdem es schlechter schwerlich hatte werden können, als in der kalabrischen Heimat seiner Vorväter. Schlecht war es auch Giacomos Mutter nicht ergangen, obwohl man ihr nichts Gutes prophezeite, sich mit einem Italiener einzulassen. Wie schlecht man die Italiener einst behandelte, daran wollte sich niemand mehr erinnern, gut integriert wie sie inzwischen seien, sah man einmal davon ab, dass es die Mafia und so weiter jedenfalls vorher hier in Deutschland nicht gegeben hatte. Auch in anderen Ländern sollte es Mafias geben, Dinge, von denen man nichts wusste, die Mauer hatte sehr wohl ihre zwei Seiten gehabt!
  Sozialer Deklassiertheit war Giacomo sich nicht bewusst, er sah sich durchaus als Durchschnittsmensch, auch mit dem Ausdruck italienische Wurzeln konnte er nichts anfangen. Der war erfunden worden für Leute, deren Probleme seine nicht waren. 
Eine gewaltige Nase erbte man von seinen Eltern, in Giacomos Fall gnädigerweise vom Vater, selber männlicher Erbe sollte es so schlimm damit nicht sein, zumal Giacomo von etwas größerer Statur war als seine südländischen Vorfahren. Auf Familienfotos aus der alten Heimat stach der Vater großnasig einsam heraus, Mutmaßungen über eine Verfehlung der Großmutter wurden allerdings nie offen geäußert. 
  An sich sollte Giacomo es mit seiner furchtbar großen Nase so schwer nicht gehabt haben, auch nicht, als sein Haar, das allerdings schon sehr früh, schütter zu werden begann. Mit einem italienischen Namen wurde man auch nicht gefragt, was neuerdings verpönt war, woher man eigentlich sei. Mehr oder weniger war das ohnehin allen klar und interessierte auch keinen. Eine übergroße Nase wurde einfach bemerkt, und das Gegenüber stand vor der Aufgabe, wie es den Schock, den das Monstrum ihm verursachte, am geschicktesten verbergen sollte. Giacomo erinnerte sich an ein einziges Mal, wo ein leicht angetrunkenes Exemplar einem unbezwingbaren Lachanfall erlag. Auch kleine Kinder wollten ihrer Mama im Vorbeigehen unbedingt die riesige Nase zeigen und mussten streng ungewendeten Blickes weitergezogen werden. 
  Wie alle Gehandicapten hatte Giacomo die größten Probleme mit Leidensgenossen, in diesem Fall mit einer Leidensgenossin, deren Großnasigkeit furchtbaren Ausmaßes ihn überfiel mit der Wucht eines Anschlages. Diese war nämlich als Saaltochter südländischen Typs, wie man auch von hinten an der vielleicht echten Schwärze ihres üppigen Haares sehen konnte, Giacomo deshalb aufgefallen, weil sie, südländisch klein, pummelig und wie in diesem Falle leider typisch, unvorteilhaft gekleidet, so durchaus vornübergebeugt mit ihrem kleinen Kaffeetablett durch die Halle dieser nachmittäglichen Unterhaltungsveranstaltung einer Senioreneinrichtung geschritten war. Halb wollte Giacomo sie bedauern angesichts der Ungeschicktheit, mit der sie sich präsentierte, andererseits, warum zog sie sich auch so dämlich an, mit hautengen Lederhosen über den üblichen Serviererinnentretern in weißen Söckchen! Da wandte sie sich unvermittelt zu Giacomo um, der den Grund für ihr ganzes erbärmliches Gebeugtsein wie einen gewaltigen Schlag darin erkannte, dass diese Leidensschwester in ihrem Gesicht, grell geschminkt unter übertriebener Frisur, eine ebensolche Nase trug wie er, einen furchtbaren Riecher, der den Kopf eines Menschen nach unten zog, fast auf die Höhe seines eigenen Gesichts, der er ja saß. Man hatte also ihm, um ihn zu foppen, unter allen Saaltöchtern diese geschickt, an seinen Tisch um ihn nach seinem Kaffeewunsch zu fragen! Und keineswegs beschämt, sondern mit dem Anflug des Triumphes, blickte sie ihn beinahe von unten, wenngleich stehend, aber eben krumm unter der Last der furchtbaren Nase an. Einen Kaffee bestätigte sie die Bestellung, die er, empört über diese Begegnung, nicht hatte aussprechen können, und sah mit einem raschen Blick zu der von Giacomo mitgebrachten Blondine, die die Szene in der Weise der unwiderlegbaren Intuition erfasste, was Giacomo, selber hellsichtig, wie man in solchen Augenblicken ist, nicht entging. 
  Natürlich sprach man nicht über die Angelegenheit. [B. Karl Decker]



["Nachtlied", Michelle Schneider (2019)]



N wie Narkose (Für A. und J.)

Wann immer das Flimmern vor Eveys Auge nachließ, fiel sie in einen ihr angenehmen Zustand der Erstarrung. Hinter ihrem Auge, genau genommen dem linken, flimmerten die Bilder weiter, Billionen von Bildern, blutige Bilder aus Nachrichten, Nachrichten des Tages, ihre Nächte als Prostituierte, den thermonuklearen Konflikt, verheißungsvollen Nachrichten aus einer nahen Vorvergangenheit, Nachrichten aus einer vielversprechenden Zeit versprochener Liebe und verdichteter Nachfragen. Lebhaft hatte ihr einst ein Fremder nachträglich anvertraut, die Ohnmacht der Dunkelheit lasse ihn unüberwindbar zurück.
  In das Flimmern hinter ihrem Auge mischten sich Bilder von der Pulververschwörung des legendären Sprengstoffexperten, dessen Mut und Entschlossenheit, nicht dessen Konfession, sie sich in Momenten der Erstarrung vor Augen führte, mit den profitablen Visionen der Wachowskis wider eine zensierte Medienwelt, einen autokratischen Staat und für einen blutrünstigen Romantiker nach dem altbewährten Muster des Rächers der Enterbten. Die Sprengung der »Houses of Parliament« - und all der anderen Häuser ebenso - blieb bis auf weiteres eine unterhaltsame Vision, für die man auf roten Teppichen und Sektempfängen Auszeichnungen entgegenlächelte. Für mindestens eine weitere Generation befriedete das kostspielige Theater das befangene Unbehagen einander gleichender Verbrauchter, die sich frei wähnten, der illusionären Dimension eines verpixelten Strukturwandels zu folgen.
  In ihrer zunehmenden Erstarrung wand sie sich nochmals in den Stromebenen ihrer verblassenden Erinnerung, von wo aus ihr erneut der fremde Kavalier seine trunkenen Schwüre zurief, deren sehnsüchtige Nachricht vom Rauschen der Wogen nach und nach übertönt wurde.
  In ihrer Erstarrung gab es keinen Raum mehr für Schwüre und Beschützer, keinen Schutz mehr vor den Geschwüren und Geschwülsten, die einzig und allein die Umstände zwischen den Zeiten zu verantworten hatten. Die Erstarrung, dachte sie, als sie das Flimmern schließlich kaum noch wahrnahm, es allenfalls noch als vergangene Erregung erinnerte, würde sie fast bis zur Unantastbarkeit vor jeder nächsten Nachricht festigen.
  Endlich sah sie sich erneut an der Spitze eines Krähenschwarms, der als Ganzes ein auf dem Kopf stehendes V bildete. [Liana Helas]




["Nimbus", Michelle Schneider (2019)]



Wenn sich in einem Aufsatz Wortwiederholungen befinden und man bemerkt bei dem Versuch, sie zu korrigieren, dass sie so angemessen sind und dass dies den Aufsatz verderben würde, so ist das ein Kennzeichen dafür, dass man sie stehen lassen muss, und es ist Sache der Missgunst, die blind ist, nicht zu bemerken, dass solche Wiederholungen an dieser Stelle nicht falsch sind; denn es gibt keine allgemeingültige Regel. [Blaise Pascal (1623 -1662)]

Nuance

Das kolumnistische Manifest ruft die Kolumnisten auf den Plan, und zwar nicht sich, sondern ihre Stimme zu erheben. Am besten gleich mehrstimmig, weshalb damit zu rechnen ist, dass jedes Wort vor allem noch etwas anderes meint. Fehler und Missverständnisse liegen völlig auf der Linie der Absichten des Kolumnisten. Die Grammatik muss ihren Mechanismus hergeben für die Kapriolen des kolumnistischen Eigensinnes, Stammform hin oder her: reifen, rief, gerufen; schreiben, schrieb, verschroben. Stehende Wendungen werden zu fließenden: Einigkeit und Recht und Eigentum; am Anfang war der Ort, das Örtchen? Wörtlich natürlich Wort, wortwörtlich, tattätlich, tagtäglich, auf Heller und Pfennig, tatsächlich. Blüh im Glanze dieses Glückes, blühen, blomm, geblommen; bleuen, bleute, geblüht.
  Soweit einige technische Hinweise. Nun zum Thema. Der Flüchtling nämlich, insbesondere der touristische, überweise milliardenschwer deutsches Eigentum ins Ausland, nach Syrien beispielsweise weniger, weil's da keinen mehr gibt, der's empfangen könnte, dann eben in den Libanon. Nicht auszudenken, der in den Libanon Geflüchtete, gelt, nehmen, nahm, genehmigt, nähme, nicht wahr? Das darf doch nicht wahr sein! Ruhig, ruhig bleiben, nähme das Geld, gelt? Und führe damit, was? Ist nicht wahr! Ja, wieso denn nicht! Ruhig, Herrgottnochmal, nähme das Geld, gelt, und führe damit, ich weiß, dass du's schon weißt, wohin der beispielsweise fahren könnte. Herrje, und nun ist Parteitag in Augsburg, und alle Reden sind schon geschrieben, und die Kolumnen der linksfeministischen Lügenpresse liest man ja nicht! Das wäre eine Rede geworden! Verbieten muss man es! Sozialhilfe muss in Deutschland ausgegeben werden. Schluss mit Sozialbetrug! Der Sozialempfänger als Eigentümer ist verpflichtet und hat eine solche gegenüber der Bevölkerung, in die er sich mit seinem Sozialgeld zu integrieren hat.
  Der Kolumnist auf seiner Säule blickt aus kolumnistischer Höhe in die Tiefe schwarzer Herzen, in die tiefste Spalte härtesten Felses, und sieht und sah, gesehen; gescheit, geschah, geschehen. [B. Karl Decker]




Als Sterbliche ängstigt uns alles;
doch alles begehren wir,
als ob wir unsterblich wären.
[François VI. Duc de La Rochefoucauld (1613 - 1680)]





["Nexus", Michelle Schneider (2019)]



MOUTH: … out … into this world … this world … tiny
little thing … before its time … in a godfor - … what?
girl? … yes … tiny little girl … into this … out into
this … before her time … godforsaken hole called … 
called ... no matter ... ["Not I", Samuel Beckett (1973)]


Nicht dich

Du lässt mich hängen, falls dir das nicht bewusst ist! Liebe war für mich, sich einem Menschen blind anzuvertrauen. Ich habe mir dazu, ehrlich gesagt, nicht dich, aber den Augenblick ausgesucht, in dem ich das tun wollte. "Wann, wenn nicht jetzt?" war einer der Sprüche, die mir bisher nur spaßeshalber durch den Kopf gingen, gewissermaßen zur Rechtfertigung, beispielsweise, wenn ich mir etwas kaufte, was man sich eigentlich nicht so recht erlauben konnte. "Jazz oder nie" stand auf dem Plakat an der Tür des Musikgeschäfts, die Gitarre habe ich noch, es ist dann doch bei den paar Klampfenakkorden geblieben, die ich schon immer konnte. Theoretisch konnte es jeder beliebige Augenblick sein, das worauf es ankam, das war sich zu entscheiden. Du stehst also auf dem Dreimeterbrett deines Lebens, du kannst noch ein wenig so tun, als wolltest du die schöne Aussicht genießen, aber raufgeklettert bist du, um zu springen. Ob dir jemand dabei zuschaut, ist eigentlich egal. Natürlich bist du immer dein eigener Zuschauer, was die Sache eindeutig schlimmer macht, wer ist schon ein echt guter Kumpel sich selber gegenüber? In dem Sinne kann ich sagen, es war der Zeitpunkt gekommen, den entscheidenden Schritt zu tun, nicht weil er sich konsequenterweise aus so und so vielen Voraussetzungen ergab, sondern weil entschieden werden musste.
  Du kamst diese Drehtür heraus, jemand anderes hätte sich vielleicht eine Zahlenvorgabe gemacht, zum Beispiel dreizehn als kleine Auflehnung gegen den Aberglauben. Dann wärst du die dreizehnte Person gewesen, die aus der Drehtür gekommen wäre. Aber bei wem hätte man da angefangen zu zählen? Ich stand also mit klopfendem Herzen da, weil ich entscheiden musste, auf wen meine Wahl fallen würde. Ich weiß nicht mehr, ob ich geschummelt habe, fände das aber normal. Hauptsächlich habe ich nicht geschummelt, also noch einmal tief Luft geholt, die nächste Person würde es sein, klar, falls es eine Frau wäre. Es kam dann auch prompt ein Mann, aber dann direkt danach, das warst du.
  Worin die Botschaft steckte, die erste, die du mir sandtest, schwer zu sagen: Im Grunde genommen, dass du nicht der Mann warst, der vor dir durch die Drehtür gegangen ist. Du hast ihn gesehen, ebenso wie ich, musstest ihn sehen, und wenn es aus dem Grund war, ihm nicht auf die Hacken zu treten. Diese Türen drehen sich immer zu langsam. Sie sollen die Leute ausspucken, einen nach dem anderen, passend zu der Fließbandware, die sie drinnen gekauft oder bloß angeschaut haben. Kein Türenöffnen und Schließen, womöglich mit einer alten Ladenglocke, man kennt das, wie umständlich diese Türen zu handhaben waren; das Glas darin schepperte, unbegreiflich für den Mann vom Laden, was die Leute mit Türen für Schwierigkeiten haben konnten. Aber dann war man drinnen im Laden, so leicht konnte man, ohne etwas gekauft zu haben, nicht mehr davon. Darum die Drehtüren, es ist ein Kommen und Gehen, du hättest dich also nicht mit einer klemmenden, scheppernden Ladentür bei mir bemerkbar gemacht, wäre ich der Kaufmann gewesen, oder dass wir uns höflich oder wortlos die Klinke in die Hand gegeben hätten. Dein Signal an mich war ein ganz und gar heutiges, nämlich dass du im Strom des Alltäglichen aus dieser Tür flossest, nach dem Mann, der statt deiner nicht in Frage kam.
  Ich wusste nun, was ich wissen musste, beendete noch an demselben Tag meine Beziehung zu Ulrike. Ob eine andere im Spiel sei? Ja. - Wie lange das schon so gehe? Es sei sozusagen der allererste Moment für dieses Geständnis. Wie ich mir sicher sein könne? Was, ich hätte die betreffende Person noch nicht einmal kennengelernt? Das sei ja wohl vollkommen bescheuert, und in dem Falle sei sie es, die die Beziehung beende. Was für ein Idiot sie sei mit jemandem wie mir ... und so weiter.
  Da ich bei Ulrike wohnte, war die Sache sozusagen im Handumdrehen erledigt. Ich hasse dramatische Szenen, drehte mich auch nicht weiter um, als, dramatisch, was ich, wie gesagt, hasse, mir noch eine eilig vollgestopfte Plastiktüte mit schmutziger Wäsche mit einem Tritt, ich weiß nicht, die Treppe nachgepurzelt kam. Der Griff riss auch gleich aus, man steht immer ziemlich blöd da, wenn einem die Einkaufstüte reißt, weshalb ich das Bündel kurzerhand beim Eingang in die Mülltonne stopfte und jetzt sozusagen alles hinter mir gelassen hatte. Mir war leicht zu Mute, zumal ich dachte, dass du dir damit ganz schön was aufgeladen hast. Aber du wusstest davon nichts und erfährst es ja eigentlich erst in diesem Augenblick, vorausgesetzt, dass du zu unseren wenigen Lesern gehörst, die ich mir mit meinem Freund weltweit teile. Es muss schön sein, aus einem Stück Literatur zu erfahren, dass man geliebt wird und dass ein anderer Mensch, noch dazu der Autor dieser Zeilen, sein Schicksal in deine Hände gelegt hat. Aber bleiben wir bei deinen Signalen.
  Es hätte keinen Sinn ergeben, dir sozusagen ein weiteres Mal an derselben Stelle aufzulauern. Mag sein, dass du tatsächlich täglich, oder von mir aus montäglich, dienstäglich oder sonst an einem Tag zu einer bestimmten Zeit aus dieser Drehtür kommst. Ich hatte ja auf ein weiteres Zeichen deinerseits zu warten. Obdachlos, wie ich jetzt war, konnte es die Münze sein, die du mir in den Plastikbecher warfst, den ich in der Fußgängerzone vor mir hingestellt hatte. Die Leute gaben mir fast nichts, nach ein paar Tagen sah man noch nicht abgerissen genug aus, ein Dreitagebart gehörte schon seit geraumer Zeit gewissermaßen zum guten Ton, kaum ein Minister, der nicht dreitagebärtig ins Fernsehen kam, Habeck zum Beispiel, aber auch schon manche CDUler.
  Nachrichten von wirklicher Bedeutung wurden nicht in x-beliebigem Format gesendet, das war mir von jeher klar. Oft kamen Boten ins Spiel, man wusste das, trotzdem dauerte es ein paar Tage, bis ich darauf kam, dass Elvira mir von dir geschickt worden war. Sie saß in der Fußgängerzone mir gegenüber und der Bogen, den die Passanten um mich machten, führte unfehlbar an ihr und ihrem Kässchen vorbei, ungleich professioneller auch dieses als mein armseliger Wegwerfbecher. Es war ein hübsches kleines Körbchen, und weil Ostern war, saß ein kleines Schokoladenosterhäschen darin. Bettlerin zu sein, das sah man heutzutage mit Realitätssinn. Da gab es Leute, die hatten mal studiert, dann irgendein persönliches Drama, Stelle verloren, Partner verloren, Wohnung verloren. Du konntest schneller auf der Straße landen, als du kucken kannst. Die Leute wussten das, konnten natürlich nichts daran ändern und warfen Elvira was in ihr Körbchen, wohlgemerkt in ihres. In meinem lagen die paar Münzen, die ich selber reingetan hatte; wie man wusste, wenn es ganz leer war, stellte das sozusagen eine Hemmschwelle für die Passanten dar. Es blieb aber auch so, gestern den ganzen Tag. Elvira dagegen machte jetzt schon um Mittag Schicht. Beim Weggehen ließ sie mir eine halbe Handvoll Münzen in mein Becherchen rieseln. Das Zettelchen hatte ich erst gar nicht bemerkt. "Ich heiß' übrigens Elvira", sagte sie im Gehen, "und du machst es eigentlich gar nicht mal so übel. Der Zettel is' nich' von mir, nicht dass du denkst."
  Jetzt sah ich auch dein Zettelchen, verdammt ... also doch noch! - Man musste schon Nerven haben. [B. Karl Decker]