Mittwoch, 27. März 2019

The Gas Station (Variationen) [= S / W 5.8] with illustrations by Michelle Schneider



["Gesichtswinkel"]


Alle Widersprüche finden sich in mir, je nach Gesichtswinkel und Umständen.
Schamhaft und unverschämt;
keusch und geil;
geschwätzig und schweigsam;
tatkräftig und zimperlich;
geistreich und blöde;
mürrisch und leutselig;
lügnerisch und wahrhaftig;
kenntnisreich und unwissend,
geizig und verschwenderisch,
von allem finde ich etwas in mir, je nachdem ich mich drehe;
wir sind alle aus lauter Flicken und Fetzen so kunterbunt unförmlich zusammengestückt,
dass jeder Lappen jeden Augenblick sein eigenes Spiel treibt.
[Michel de Montaigne]



["Gunst"]


Kein Wind ist demjenigen günstig, der nicht weiß,
wohin er segeln will.
[Michel de Montaigne]



["Zeitvertreib"]

Wenn ich mit meiner Katze spiele,
bin ich nie ganz sicher,
ob nicht ich ihr Zeitvertreib bin.
[Michel de Montaigne]






5. 8 Elf




Bienen schwangen an den langen Stängeln ausgewachsener Lavendelsträucher, jeweils spielerisch gerade so lange, bis die Blüte, an der sie sogen, den größtmöglichen Ausschlag genommen hatte. Dann schienen sie sich abzustoßen um das gleiche Spiel in der nächsten Rispe zu wiederholen und so fort. Dasselbe taten etliche Kolleginnen. Nie hatte Rohlfs gesehen, dass eine die andere dabei in irgendeiner Weise behinderte, dass etwa ein Streit ausgebrochen wäre um eine besonders fette Beute versprechende Blüte. Man flog, schwang, blieb etwas länger, wo sich der Aufenthalt lohnte, verließ die Blüte sogleich wieder, wenn sie nichts hergab, sei es, weil man sie selber schon einmal besucht hatte, oder - merkte man sich so etwas? - sei es, dass gerade erst ein anderes Tier dagewesen war. Man musste nicht Kenner sein um die schönen pelzigen Bienenleiber etwa von Wespen zu unterscheiden. Ihr Gelb im Abendlicht ins Rötliche spielend, das Schwarz ebenso flaumig wie das Gelb, übrigens Stille, auch dies wiederum ganz anders als bei den Wespen, die man auch in einiger Entfernung hörte, wie sie Löcher umflogen, die das Wasser in einer Bruchkante roter Erde ausgespült hatte. Ob die Insekten einander wahrnahmen, wenigstens die Artgenossen? Es hatte nicht den Anschein, vielmehr machte es den Eindruck eines gelassenen Nebeneinanders, wenn auch des Gleichen. Dass weißflügelige Schmetterlinge die Lavendelhalme mit umflatterten, sich auf den Blüten niederließen, wohl sich an Ort und Stelle sättigten, anders als die fleißigen Bienen, auch durch die unstetere Art ihres Fliegens weniger emsig erscheinend, ob jene es zur Kenntnis nahmen, ihm die geringe Bedeutung zumessend, die dem Essen verglichen damit zukam, Vorräte anzulegen, den Nachwuchs damit aufzuziehen, Bürgerinnen eines Staates zu sein? Rohlfs' Gedanken schweiften zu Josef, dem Ernährer, der gar zweiter Mann eines Staates geworden war, in den man ihn allerdings verkauft hatte, wo er im Gefängnis saß. Dann wieder die Tiere, fette Kühe, die mageren, und das Korn, bei dem auch der Pharao sich fragte, wie denn ein Halm den anderen auffressen konnte, was ja auch Kühe nicht taten. Und diese Bienen, waren sie also auch, so wie Rohlfs sie sah, lediglich Gleichnis, in diesem Falle ganz volkstümlich des Fleißes, wenigstens der Emsigkeit? Was waren sie einander? Sie besaßen Ränge, wenigstens dort, wo Staat war, wo sie hausten. Hier, wo sie Nahrung sammelten, schienen sie einander gleich zu sein, was man an ihrem Verhalten zu erkennen glaubte. Was waren sie sich selber? Was sollte man über sie denken, da sie sich auch diese Frage nicht stellten, die ja ganz und gar menschlich war?

Die weiße Katze der Nachbarn kam ihres Weges und schritt versonnen hinter den Büschen entlang, die ihr Rohlfs verbargen, der sie allerdings im spiegelnden Glas eines Fensters gesehen hatte. Den Weg, den sie nehmen würde, konnte er sich vorstellen, nachdem sie auch seinen Augen entschwunden war, indem sie das Fenster passiert hatte. Nun kam sie wie erwartet um die Biegung des Gartenpfades, schwer in der nachmittäglichen Hitze, allein auf den Pfad bedacht, den sie nach oben nahm und noch steiler nehmen würde.

Rohlfs spürte, dass sie erschrecken würde, wenn sie ihn plötzlich erblickte. Er überlegte darum einen Augenblick, ob er den Blickkontakt mit ihr suchen, oder dieses Extrem der unerwarteten Begegnung vermeiden sollte. Da er selber nichts Böses im Schilde führte, nicht etwa absichtlich die Katze erschrecken wollte, ließ er es darauf ankommen und blickte unentwegt zu der Katze hin. Es geschah buchstäblich nichts, die Katze hatte ihn nicht bemerkt. Läppisch wäre es gewesen sie nun noch, da sie ihm bereits den Rücken zuwandte, zu erschrecken.

Auch ein Insekt konnte reagieren auf das, was man tat, hatte darum eine Begegnung stattgefunden? Sehnte man sich überhaupt nach Begegnungen, da sie doch so überaus häufig auf Missverständnisse hinausliefen. Man besaß Dasein, wünschte es sogar, auch die Tiere verteidigten es. Man befriedigte Bedürfnisse, war interessiert sogar an Reichtum, wie die Verhaltensforscher sagten um Sexualpartner zu beeindrucken und in diesem Zusammenhang Konkurrenten aus dem Feld zu schlagen. Damit würde das Ideelle auch auf seine materielle Basis zurückgeworfen, was die Naturforscher begeisterte, die ja nur diese materielle Welt sehen wollten und das ihrerseits um Konkurrenten zu besiegen, ihnen die Weibchen abzujagen?

Rohlfs hing dem Gefühl nach aneinander vorüber gegangen zu sein. An der zufälligen Überlegenheit über die Katze, die ihn nicht bemerkt hatte, lag ihm nichts. Die Begegnung erfüllte ihn mit dem Gefühl eines stummen Grußes eines Individuums, eines anderen in der Ewigkeit des Daseins. Es war eine selige Melancholie und des Einverständnisses mit der Welt, die man sich an einem ruhigen Sonntagnachmittag getrost leisten konnte.

"Denkst du etwas?", fragte Constance in die Stille hinein. "Doch, du denkst doch etwas. Nie willst du sagen, was du denkst." - "Nein, Schatz, ich habe wirklich nichts gedacht." Constance gab sich ausnahmsweise zufrieden und sagte: "Hast du gesehen, wie dick die Katze von nebenan geworden ist?" - "Wir werden alle dicker." - "Ja, du, aber nicht alle." Sie blinzelte noch ein wenig gegen die Sonne zu Rohlfs hin und widmete sich dann wieder dem Artikel, den sie noch zu Ende lesen wollte.

Die Hühner lebten in diesem paradiesischen Garten als ein Völkchen, dem all der Luxus, der es umgab, so wenig auffiel wie Paul, zu dem alle Paolo sagten, denn seine Frau hieß Paula, Paul und Paula, das legendäre Märchen. Sie hatten das ererbte Häuschen kurzerhand abreißen  und sich vom Architekten einen kühnen Würfel an derselben Stelle errichten lassen.

Der Schwiegervater war ins Nachbarhaus gezogen, das er seinerseits in den Siebzigern bereits als Alterssicherung gebaut hatte, und nun wohnte er dort unter den Mietern, mit denen er Freundschaften unterhielt. Den Garten hatte er seit jeher hinter beiden Häusern bearbeitet.

Es war, wie man auf den ersten Blick sah, ein wahrer Gärtnergarten, alles darin war aufs Beste bestellt, in Reih und Glied, beschnitten, gejätet, mit Schnürchen festgebunden, die Wasserfässer wohl gefüllt.

Der Schwiegersohn, des gärtnerischen Überflusses in Zeiten des Supermarktes wohl eingedenk, hatte ganz auf Pracht und Zierde umgestellt. So fand das aparte Haus, selber Prediger einer neoklassischen Moderne, seine würdige Fortsetzung in jenem Garten, wo früher Wäsche an den Leinen geflattert haben mochte. Jetzt gab es ein Gewächshaus, dem, verglichen mit solchen wirklicher Gärtnereien, es an nichts fehlte, vom Format einmal abgesehen, denn es war hinten an die Garage angebaut und nahm ungefähr noch einmal dieselbe Fläche ein. Ein Teil eben jener Garage barg auch Gartenkleidung, Schaufel, Spaten, Säcke mit Gartenerde, wohl auch Dünger wurden auf Vorrat gekauft und hier gelagert. Von dort nahm Paolo auch in einem kleinen Plastikeimerchen Hühnerfutter mit.

Rohlfs, der sich grundsätzlich nicht einmischte, hatte wohl Hühnergackern gehört, als man auf der Terrasse Saft trank, Maracuja oder Orange mit Eis, Paula, der Rohlfs vorgestellt wurde, saß seitlich mit einer Illustrierten auf einer Hawaiischaukel. Wie üblich kannte sie ihn aber bereits, was er für möglich hielt, leider konnte er sich nicht erinnern.

"Seit wann um alles in der Welt interessierst du dich denn für Hühner?" - "Eigentlich schon immer. Das heißt, als Jugendlicher interessierte ich mich nicht für sie, denn wir hatten ja welche. Ich glaube, ich schämte mich sogar ein wenig für sie, weil wir immer noch welche hatten, während es anderswo längst Rasen gab und diese Hollywoodschaukeln. Unsere Garage stand in dem Gelände, in dem auch die Hühner frei liefen, ein alter Maschendrahtzaun lief darum herum und man musste durch eine wackelige Tür zuerst regelrecht durch den Pferch hindurch zum Auto. Unweigerlich trat man in die Hühnerkacke, mehr oder weniger vertrocknete, meine ich. Als Kinder mochten wir natürlich die kleinen Küken, die mein Großvater in einer Schachtel vom Markt mitbrachte. Schade nur, dass sie so rasch zu gerupft aussehenden Halbwüchsigen wurden unter ihrem Gestell, wo es auch bald zu eng für sie war. Wenn sie erst mit den anderen Hühnern zusammengetan wurden, waren sie bald nicht mehr von den alten Hennen zu unterscheiden und hatten jeglichen Reiz für uns verloren. Ich mag bis heute die braunen etwas lieber als die weißen Hühner, vielleicht weil sie nicht so rasch schmutzig und erbärmlich aussehen, was weiße ja tun, besonders natürlich in der Mauser." - "In der Mauser." - "Ja, dann verlieren sie die Federn um neue zu bekommen." - "Und deshalb willst du diese Mäntelchen für sie hier kaufen." - "Das ist ein Katalog aus England. Ehrlich gesagt, ich wollte es auch nicht glauben. Capes fürs liebe Federvieh. Sie wärmen sie ein wenig, so dass sie mehr Eier legen." - "Hatten nicht früher bescheuerte Hundefrauchen so etwas für ihren Pudel?" - "Ja, schon, Hühner mit Mänteln, schon etwas strange. Aber vielleicht frieren sie ja wirklich. Also wegen der Eier würde ich's ja nicht tun. Die Werbung sagt, wegen der Signalfarbe würden auch weniger Hühner überfahren. Hühner leben gefährlich. Drunten in Rumänien hat so ein verrückter Taxifahrer eins zwischen die Räder genommen, nicht dass das einen furchtbaren Schlag tun würde. Dann würden diese Taxifahrer ja bremsen oder einen Bogen machen, aus Rücksicht auf das Auto. Aber du fühlst doch genau, dass da unter dir gerade einem Tierchen der Garaus gemacht wird. Im Spiegel meiner Sonnenblende sah ich gerade mal ein paar Federn aufwirbeln, wie in einem lächerlichen Comic. Sag mal, Emilios Kinder, oder so, die leben doch in England?" - "Du willst doch nicht im Ernst diese Hühnermäntelchen kommen lassen?" - "Es ist nur so eine Idee, aber weißt du, ich mag Hühner wirklich."

Ein Kollege hatte Rohlfs einmal ein Versandhaus empfohlen, das Herrenbekleidung vertrieb. Besonders Standard-Herrenbekleidung sei interessant, also Dinge, die man nicht jedes Mal extra aussuchte, sondern, die man sowieso brauchte, beispielsweise Socken, in diesem Falle ungemusterte in den drei Farben Schwarz, Blau und Grau. Auch braune gab es natürlich. Der Clou war, dass diese Socken, natürlich nach Farben gesondert, untereinander vertauschbar waren, so dass das lästige Sockensortieren entfiel. Dabei blickte der Kollege Rohlfs vielsagend über die Lesebrille hinweg an. Die Firma wusste auch, wann durchschnittlich so viele Socken verbraucht, also an Zehen oder Fersen dünn geworden waren, und je nachdem, welchen Vertrag man mit ihr hatte, kamen in Verbrauchsstufen gestaffelt neue Socken. Die alten musste man allerdings selbst entsorgen. Neulinge neigten dazu zu finden, dass der Termin doch zu früh gewählt sei und begannen die jeweils neuen Socken zu horten. Sie unter Freunden oder Bekannten weiterzuverkaufen lohnte sich natürlich nicht, aber es wurde, wie bei allen schlechten Geschäften, Werbung gemacht, so dass man jedenfalls dadurch, dass man auch andere davon überzeugen konnte, noch eine Weile selber an den Unsinn glauben konnte.

Möglicherweise war es aber auch wirklich eine kluge Idee, an die  man sich aber erst gewöhnen musste. Wer wusste schon, wie viele Leute mit löchrigen Socken in ihren Schuhen steckten, beziehungsweise wer hatte einmal ausgerechnet, wie viel Zeit damit vertan wurde, Socken zu sortieren. Ein Freund meinte einmal zu Rohlfs, das komme alles auf dasselbe heraus, die einen sparen sich die Zeit des Sockensortierens und verdienen währenddessen das Geld, mit dem sie den Sockenvertrag bezahlen, andere, zugegebenermaßen noch die meisten, sortierten eben und hätten naturgemäß keine Zeit mehr zu verdienen. Rohlfs dachte an die Löcher in seinen Socken beziehungsweise daran, dass er neulich sogar zwei verschiedene Schuhe getragen hat, schwarze wenigstens. Dennoch ist ihm der Schreck in die Glieder gefahren, als er es bemerkte, nämlich als er vom Dienst nach Hause ging.

Der Gedanke, dass das wahrscheinlich auch anderen Leuten ständig passierte, man aber ebenso wenig wie heute bei sich selber auf die Idee gekommen ist, darauf zu achten, nahm der Angelegenheit nichts von ihrem Schrecken. Schließlich fragte man sich häufig, Rohlfs jedenfalls, ob man nicht eigentlich verrückt sei. Wenn man nun beispielsweise nicht darunter litt, konnte das dann doch Verrücktheit sein? Spielte sozusagen das Befinden dabei eine Rolle? War es verrückt, sich die Sache mit dem Sockenvertrag anzuhören, rein von der Sache her? Hörten sich also normale Leute so etwas nicht an, beziehungsweise war das Gefühl, das Rohlfs beim Zuhören hatte, irgendwie ein Hinweis auf seinen Geisteszustand?

Tatsächlich hatte er sich allerdings nicht gefragt, ob es verrückt sei, sich so etwas anzuhören, oder nicht vielmehr die Tatsache, dass es so etwas gab?

Es kam hin und wieder vor, dass Dr. Reich verspätet aus der Mittagspause kam, die er gewöhnlich in der Kantine für Bedienstete des Bahnhofs verbrachte, wohin er Rohlfs einmal mitgenommen hatte. Es war ein merkwürdiges Begängnis, indem Rohlfs zwei älteren Damen, die den flieder- bzw. graurosafarbenen Hut aufbehielten, vorgestellt wurde, er aber während der gesamten Begegnung nicht einen einzigen Satz herauszubringen vermochte.

Dr. Reich dagegen betrug sich mit formvollendeter Höflichkeit, spendierte sogar den Nachtisch, wenn auch lediglich von seinen Bons, die er teilweise wohl auch sammelte, offenbar eigens für solche Gelegenheiten, was aber der Dankbarkeit der Damen keinerlei Abbruch tat.

Man unterhielt sich, wie Rohlfs verwirrt fand, über völlig Belangloses, man möchte sagen Banales, wozu ihm nun wirklich nichts einfiel, und eben schon gar nicht in diesem Ton der übertriebenen Freundlichkeiten, die nur auf fortwährenden Missverständnissen beruhen konnten. Dr. Reich trank, wie immer, Wein, was die Bedienerin wusste, und von dem sie ihm brachte, wenn sein Glas leer war.

Ein solches gemeinsames Mittagessen mit Rohlfs wiederholte sich nicht, Dr. Reich hatte sehr wohl bemerkt, dass es den Jüngeren überforderte, wenngleich Rohlfs zu dem Schluss kam, dass es Dr. Reich ehrlich damit meinte, der die Gesellschaft solcher Damen schätzte, vor allem natürlich, wenn sie sich formvollendet zu benehmen wussten.

An diesem Tag nun musste es bei den drei, vier Gläsern Wein, die Reich wohl infolge seiner Leibesfülle problemlos vertrug, nicht geblieben sein, weshalb er gegen halb vier schwer schnaufend und mit hochrotem Kopf im Türrahmen des Büros im vierten Stock erschien. Dort blieb er, bevor er eintrat eine geraume Weile stehen, so als prüfe er, ob bei der Arbeit alles seinen gewöhnlichen Lauf nahm. Da diese Prüfung sich sehr in die Länge zog angesichts der Tatsache, dass der Türrahmen zu schwanken schien, weshalb Reich versuchte besonders fest zu stehen, war Conley es, der zuerst sprach: "It's about time! You're drunk, dirty old man!", wofür Dr. Reich nur ein Einatmen als Entgegnung aufbrachte, sich aber leicht schwankend und starken Alkoholduft verbreitend in Bewegung setzte und sich sogleich schwergewichtig auf dem Kunstledersofa niederließ. "Yeah, you better let him sleep now, Rohlfs", sagte Sgt. Conley und wandte sich seinen Fernschreiben zu.

"Du glaubst es nicht, was mir passiert ist", sprach Conley und rückte an seiner schwarz geränderten Army-Lesebrille. Rohlfs, der an diesem Morgen Dr. Reich an seinem Platz vertrat und dem Sergeant gegenüber saß, hatte sich schon gewundert, warum der zerstreut in alten Unterlagen gestöbert hatte, eines zum anderen legend, um dann wieder etwas hervorzuziehen, das er dann später aber doch wieder an den alten Ort zurücksteckte. Darüber begann er seine Rede, also: "Guess what, Rohlfs", er sei ja am Wochenende in München gewesen. Rohlfs wusste, dass das für Amerikaner keine Entfernung war, man traf eben Freunde und Bekannte in anderen Städten in Deutschland, wo es auch amerikanische Einrichtungen gab, warum nicht München, wo Bob selber ja auch früher einmal stationiert war. "And I met this girl, you know, I hadn't seen for twenty-five years, walking down right one of those streets I was used to." Eine unglaubliche Sache, im Nachhinein betrachtet ja auch wieder so nahe liegend. Natürlich war sie inzwischen verheiratet gewesen, hatte eine Tochter in dem Alter wie sie selber damals, wohnte wieder in München, fast in derselben Straße, und du wirst es nicht glauben: "I fell in love." Rohlfs war beinahe selber begeistert beim Zuhören, fand die Geschichte, wie Bob sie erzählte, irgendwie drollig, zum Beispiel, weil das "girl" wie Bob selber um die fünfzig sein musste. Irgendwie war auch dieses Wort der Dreh- und Angelpunkt dazu, wie Bob immer erzählte, nämlich dass die Geschichte noch eine Wendung zur Komik nehmen würde - was sie auch tat, fürs Erste einmal. "Ich bin genauso verliebt wie damals, Rohlfs. Wir waren drauf und dran zu heiraten, wollten nur, sozusagen probeweise, vorher einmal zusammen verreisen. Um elf Uhr sollte es losgehen. Ich war also mit meinem Koffer unterwegs zu ihr, die Schuhe auf Hochglanz gewienert, sogar beim Frisör gewesen, in meinem brandneuen Trenchcoat, da treffe ich ein paar Ecken vor ihrem Haus diesen alten Kumpel von mir. Na ja, du weißt, wie das geht. Was, sozusagen auf Hochzeitsreise? Zeit für ein Bier hatten wir schließlich noch. Aber, was soll ich sagen, wir sind hängen geblieben, und um drei hätte ich gar nicht erst aufzukreuzen brauchen. Du weißt ja, wie ich das hasse, Frauen, wenn sie total verheult sind. Und es ist dann auch so bis gegen drei in der Nacht geworden. Zum Glück hatte ich meinen Koffer nirgends vergessen. Es war auch noch genug Zeit für eine Mütze voll Schlaf. Also dann los um halb elf, damit nichts mehr anbrennt, in meinen blank gewienerten Schuhen, dem Trenchcoat, du weißt schon. Die Treppe rauf, da stand ich dann, punkt elf Uhr, und klingelte. Sie riss die Tür auf, gab meinem Koffer einen Tritt, der ist zum Glück nicht aufgegangen, wie er die Treppe runtergepoltert ist. Ja, Mann, und dann habe ich sie all die fünfundzwanzig Jahre nicht mehr gesehen, bis letzten Samstag, und ich sage dir, Rohlfs, ich habe mich verliebt."

Dr. Reich führte eine Wochenendehe. Anzunehmen, dass er sich seiner Frau gegenüber, die persönliche Sekretärin eines ziemlich hohen Tieres war, mit derselben vollendeten Höflichkeit betrug, wie Rohlfs sie sonst schon bei ihm beobachtet hatte. Tatsache war, dass sie außer gelegentlichen Erwähnungen völlig vom Leben im Office herausgehalten wurde. Niemals hatte Rohlfs ihre Stimme am Telefon gehört oder auch nur, dass Dr. Reich am Telefon mit ihr sprach. Sie führte wohl das gleiche unabhängige Leben die Woche über wie Reich, der in der Stadt eine Zweitwohnung besaß, wahrscheinlich bereits seit einer Zeit, als diese Gegend mehr dahermachte als heute, in einem siebenstöckigen Komplex beim Betriebshof der städtischen Busse. Rohlfs stellte sich vor, wie dort alles voll gestellt war mit Einkäufen, die Dr. Reich nicht auspackte und nur erst einmal abstellte, das aber seit zwanzig Jahren oder mehr. Es war schwer sich vorzustellen, an welche Grenzen ein solcher Tick doch einmal stoßen musste. Ob Reich auch Sachen nach Hause mitnahm, wenn er am Wochenende zu seiner Frau fuhr?

Montags kam er grundsätzlich nicht pünktlich zur Arbeit. Es war seine Art denselben Standpunkt zu vertreten wie Bob. Er fuhr wohl mit seinem Käfer zur selben Stunde los wie die Woche über, vielleicht auch das nicht einmal. Jedenfalls war er gegen neun am Telefon: "Reich", rief er mit seinem rollenden R, "guten Morgen, Rohlfs. Hat der Oberstleutnant schon angerufen? Nein, na, sagen Sie ihm, auf der B 10 steht ein Panzer quer, ich komme später."

Meist dauerte es keine zehn Minuten, bis wirklich der Oberstleutnant anrief und nach ihm fragte, während er die Woche über eigentlich nichts mit Dr. Reich zu tun hatte, dessen Vorgesetzter er auch nicht war, weil Reich einer Zivilbehörde unterstand. Dass Kaufmann stellvertretender Kommandant war und sich solche Unregelmäßigkeiten in seiner Dienststelle zutrugen, brachte ihn innerlich auf, woran Dr. Reich sich weidete, wie es nur ging. Auch Bob, den der „Hurensohn“ regelmäßig bei seinem Captain anschwärzte, der froh war einen zuverlässigen Mann auf dem Außenposten bei den seltsamen Deutschen zu haben, zumal einen, der im Headquarter wesentlich schwieriger zu führen wäre. War förmlicher US-Besuch im Haus, kamen solche Peinlichkeiten natürlich nicht zur Sprache. Der Captain, der elegant in seiner grünen Uniform steckte, wirkte unpassend in dem schäbigen Ambiente, in dem alles um ihn scharwänzelte in jener giftigen Mischung aus Neid und Unterwürfigkeit, schon wegen der Sprache, denn es war klar, dass die Leute aus dem Headquarter nicht Deutsch sprachen. Jetzt vermittelte Dr. Reich großartig zwischen den Parteien, nicht ohne den Oberstleutnant immer einmal wieder ein "Oh, I see" entgegnen zu lassen, was immerhin besser klang als das "Yes, yes" Hauptmann Bubels. "Wissen Sie, was das ist, Rohlfs, O. I. C. und warum der Captain immer so seltsam schaut, wenn der Oberstleutnant "O. I. see" sagt?", fragte Dr. Reich später im Büro. "Es heißt Officer in Charge, aber ich habe es ihm erklärt, nein, nicht dem Oberstleutnant." Den Versuch Kaufmanns Dr. Reich durch das Sprachenamt zur Ordnung zu rufen, hatte man dort auf ähnliche Weise im Sande verlaufen lassen wie die Beschwerden des Oberstleutnants bei den US-Headquarters. Dr. Reich schicke regelmäßig Berichte über seine Tätigkeit und erwähne im übrigen auch die Schwierigkeiten die Dienststelle an Montagmorgenden zu erreichen. Ob es nicht letztlich bei ihnen doch um Truppenbewegungen gehe? Na, also, wes Brot ich ess, oder so ähnlich. Was nichts daran änderte, dass Kaufmann montags anrief. Ausdrücklich den quer stehenden Panzer zu erwähnen war Rohlfs allerdings schon peinlich, es schien auch, dass der Oberstleutnant keine genaueren Erläuterungen wünschte. Was seiner Stimme anzumerken war, dass auf diese Weise ein subalterner Angehöriger der Dienststelle in die Angelegenheit Einblick nahm; Rohlfs wunderte sich, dass Kaufmann es nicht lassen konnte.

Im Fernschreiberbüro, dadurch noch mehr Dachkammer als die anderen Büros, weil lediglich mit einem Fenster versehen, arbeitete Herr Wilhelmy, dem seine Eltern unsensiblerweise den Vornamen Helmuth gegeben hatten, was aber insofern weniger ins Gewicht fiel, als es noch nicht Sitte geworden war, sich beispielsweise am Telefon mit dem vollständigen Namen zu melden. In der Fernschreibstube befand sich der Kühlschrank, in dem auch die büroüblichen angebrochenen Sprudelflaschen, hauptsächlich aber das Bier, das Bob und Dr. Reich praktisch ohne Unterbrechung tranken. Alkoholismus war kein Thema, da gab es Schlimmeres, wie beide ins Feld geführt hätten, wären sie je darauf angesprochen worden, was sich aber offenbar längst als aussichtslos erwiesen hatte; zumal niemand ernstlich glaubte, dass das tatsächlich ein Problem sei, außer natürlich für das persönliche Fortkommen. Schließlich war eine diesbezügliche Vorschrift zu beachten, weshalb Reich seinen "Stein", wie Bob den Krug weltmännisch nannte, möglichst in dem Augenblick, in dem der Oberstleutnant das Büro betrat, den Ertappten spielend in die Schreibtischschublade stellte, auch dann, wenn nichts darinnen war und nachdem er ihn extra hervorgeholt hatte, weil er die Schritte auf der Treppe richtig dem stellvertretenden Dienststellenleiter zuschrieb. Bobs Bierflasche stand immer auf dem Tisch, wenn er auch nicht in Gegenwart des Lieutenant Colonel daraus trank, den er militärisch korrekt mit "Sir" anredete, durchaus ohne jeden Anflug von Unterton, etwa ironischer Art, so wie es bei Dr. Reich immer klang, der die Anrede mit dem Dienstgrad betont stramm aussprach, fehlte, dass er aufsprang und die Hacken zusammenschlug, ein Ding der Unmöglichkeit bei seiner Leibesfülle. Der Oberstleutnant hatte stets kein besonderes Anliegen, schaute sozusagen höflichkeitshalber vorbei und nach dem Rechten, offensichtlichen Schlendrian konfliktscheu übersehend und sich den Anschein gebend, als sei alles soweit in Ordnung. Bobs Telefon läutete sowieso den ganzen Tag, und allein die Tatsache, dass daran englisch gesprochen wurde, stellte den Kommandanten zufrieden, auch wenn Worte fielen wie: "Yes, turkey, this is about the third time you ask me the same fucking question." Dr. Reich machte Rohlfs darauf aufmerksam, der Oberstleutnant habe gar nicht "oh, I see" gesagt.

Zufällig oder aus Taktgefühl verbreitete auch Wilhelmys Büro eine Art von Geschäftigkeit, wie sie für diese Uhrzeit durchaus eher selten vorkam. Wilhelmy war der einzige in der oberen Etage, der nie Bier trank, dafür schlief er gewöhnlich während des größeren Teils des Vormittags unter der Dachschräge auf seinem Sofa, denn er betrieb in einem Dorf an der Grenze eine Diskothek und kam am Morgen offenbar direkt von dort. Er war ein richtiger Fachmann, wohl vor längerem einmal Zeitsoldat gewesen und hatte als Zivilangestellter hier den Job, mit dem man Krankenkasse, Altersversorgung und die Miete bestreitet. Wer weiß, vielleicht gab es im Diskothekengeschäft auch einmal Flauten, und da Wilhelmy alleinstehend war, das heißt, er wohnte bei seiner Mutter, musste er den Job, durch den regelmäßig etwas einkam, selber machen, was andere Leute mit riskanten Berufen gewöhnlich ihrer Frau überließen.

Auch mit ihm hatte der Oberstleutnant, wenn auch widerwillig, letztlich seinen Frieden gemacht, wenn er auch ähnlich seinen Anrufen auf dem Telefon von Dr. Reich am Montagmorgen, hin und wieder in seinem Büro das Telefon läuten ließ, um angeblich nach diesem oder jenem Fernschreiben zu fragen, was Wilhelmy mit Kopfschütteln quittierte, wenn er aufgelegt hatte. Aber er war ein friedlicher Mensch und behandelte den stellvertretenden Kommandanten mit der gleichen Gelassenheit, mit der er seine Diskothekenbesucher wohl behandelte, auch die Spinner.

Rohlfs wusste, dass das Leben, das ihn als mit sich eins umgab, es darum umso mehr war, weil er nicht Teil daran hatte. Er war ein Fremder, den man bemerkte, der nicht störte, den man höflich behandelte, etwa in der Art, wie man es früher und hier auch heute noch mit Kindern tat, weil sie ja nichts verstanden. Das nahm man naiverweise an, wie er nur wissen konnte, schließlich kam niemand auf die Idee ernstlich in irgend einem Belang nach seiner Meinung zu fragen. Wenn man es dennoch tat und er sich bemühte möglichst sachlich zu sein, sah man ihn geduldig an, bis er einen derart unmöglichen Standpunkt zu Ende vorgetragen hatte und war verlegen darum, wie das Gespräch nun weitergehen sollte. Tatsache war, dass er irgendwie anders gesprochen hatte als andere Ausländer, weniger großspurig vielleicht, was sie sich immerhin leisten konnten angesichts der Tatsache, dass sie reich waren, letztlich musste es aber auf dasselbe herausgekommen sein, schließlich wusste man, was alle wussten.

In Deutschland unterschied sich dasselbe Phänomen davon darin, dass Länder der so genannten Dritten Welt gar nicht in Betracht kamen als Orte, an denen man glücklich sein konnte. Ja, es stimmte, dass man letztlich nicht so arm sei, wie es zunächst den Anschein habe, denn es sei ja auch alles billiger als hier, jedenfalls seien die Leute das allgemein niedrigere Niveau auch gewöhnt, und wer weiß, ob sie dann noch so viel verdienen wollten wie die Leute bei uns, wenn sie auch so viel arbeiten müssten.

Rohlfs, der wusste, dass solche Diskussionen zu nichts führten, reagierte mit einem Lächeln, früher hatte er versucht einen Standpunkt zu vertreten und auch lange mit sich gerungen, ob das nicht auf jeden Fall sein muss, wollte man auf die Dauer nicht die Selbstachtung verlieren. Manchmal sagte er etwas, zum Beispiel, mit dem buchstäblichen Fleiß, an dem sich hier alle hochzögen, würde auch viel Mist geleistet, lauter Zeug, das keiner braucht. "Aber jeder haben will, und meinst du vielleicht die Leute da unten nicht?" Das seien doch die ersten, die mit Handys und Markenklamotten herumlaufen. Und wo letztlich die Wirtschaft bliebe und die Arbeitsplätze, wenn keiner mehr was kaufen würde und jeder seine Sachen anziehen würde, bis sie ihm vom Hintern fallen? Was sollte man gegen die Bedürftigkeit sagen, dessen, der noch den Golf fünf fuhr, wo es schon den siebener gab? Der mit zwanzig Tagen Urlaub im Jahr sich zehn Tage All inclusive verdient hatte? Dessen, der noch nie irgendwo war, der mit zweihundert Dollar seine Familie durchbringen musste? Keine Frage, dass der den siebener Golf auch haben will, wenn's geht den achter, neuner, oder eben den einser. Diese Giftschleudern überhaupt zu importieren war neuerdings verboten, nicht etwa wegen der Umwelt, wie sich in den großen Städten nicht etwa durch Messungen, sondern mit dem Taschentuch vorm Mund jeder selber überzeugen konnte. Der Altautoimport drückte auf den Absatz der Neuen, wofür eine Lizenz zu haben eine erhebliche Investition darstellte, insbesondere auch in die Behörden, womit die entscheidende Schaltstelle einbezogen war um den Markt an dieser Stelle zu korrigieren. Verkauft wurden den armen Leuten Altwagen frisch vom Band, hauptsächlich aus China. Rohlfs hatte gehört, bei einem Crash würden sie sich zusammenfalten wie eine Konservenbüchse. Aber wer dachte daran, sein schönes Auto zu Schrott zu fahren und sich darin einstampfen zu lassen?

Wilhelmy war im Unterschied zu allen im Haus auf seine Weise effizient. Seine Fernschreiben waren akkurat, sowohl die, die er empfing, die er mit Schwung von der Rolle abriss, ohne dass je eine Ecke hängen geblieben oder gar das Blatt eingerissen wäre, als auch die, die er versandte. Nicht einmal wäre es vorgekommen, dass er nicht Vorlage und Sendeausdruck fein säuberlich zusammengeheftet an die Büros zurückgegeben hätte. Bob warf seine stets je nachdem in oder auf seinen meist überquellenden Papierkorb. Er hasste jede Form des Aufbewahrens. Dr. Reich erzählte, früher sei er auch verschwenderisch gewesen, habe Bleistifte, von denen er natürlich immer ganze Schachteln besaß wie von allem anderen Büromaterial auch, wenn sie stumpf waren, in der Mitte durchgebrochen und in den Eimer geworfen. "Machs nix, haben viel", ganz perfekt war Dr. Reichs Version von Conleys Deutsch nicht. Die Beziehung der beiden zueinander ließ sich überhaupt eigentlich nur erfühlen als in einzelnen Zügen begreifen. Die Atmosphäre war die einer abgeklärten Heiterkeit. Es war Bob, den man zornig sehen konnte, aber nie böse. Dr. Reich konnte boshaft sein, auch schien es nichts zu geben, was er nicht wusste. Natürlich war er es auch, von dem Rohlfs das wenige erfahren hatte, was es über Wilhelmy zu sagen gab, dessen Fernschreiberklingel man hörte, wie sich der Zentralist erst eine Ewigkeit lang bei ihm anmelden wollte, sich wie üblich drein fand und schließlich eine ellenlange Serie von Meldungen dann auflaufen ließ. Eine weitere Ewigkeit lang konnte er dann die Kürzel für die Bitte um Quittung schreiben und wieder schreiben, bis Rohlfs nachschaute, ob Wilhelmy schlief. Der aber lag nicht, sondern saß mit übereinander geschlagenen Beinen auf seinem Sofa, das aussah, als sei es noch ein Stück der zivilen Vormieter, und las eine Illustrierte. Er konnte dann gelassen um den Schreibtisch herumspazieren, gekonnt die Quittung mit seinem Kürzel in die Tastatur rattern und nach einem ebenso kurzen OK war Ruhe, möglicherweise wieder für Stunden, in denen man aus der Fernschreibstube nichts hörte. Aus den unteren Büros brachte man die eine oder andere Vorlage in der Erwartung, der Fernschreiber nehme sie beflissen von seinem Schreibtischstuhl aus in Empfang, was auch der Fall war, wenn man von der Beflissenheit einmal absah, jedenfalls immer freundlich, wenn Wilhelmy zufällig dort saß. Die Schmach um die Ecke zur Couch zu schauen, wo er meistens dann doch lag, tat man sich nicht an. Also sei er gerade vielleicht zur Toilette. War er überhaupt heute da? Wenn er Urlaub hätte, wäre jedenfalls ein Kollege da, Gott sei es geklagt. Denn dann ging es im Fernschreibbüro drunter und drüber. Die Rufklingel schrillte in einem fort, sogar erboste Anrufe aus der Zentrale gingen ein, zuletzt gar beim Oberstleutnant, der doch zu gerne gehabt hätte, dass ein Soldat in der Stube Dienst tat anstelle Wilhelmys mit seinen offenen geblümten Hemden und der Afrofrisur. Aber es war nicht zu machen. Halb zerrissene Fernschreiben gerieten in die falschen Büros, es kamen welche von falschen Adressen zurück, zu spät um sie noch an die richtige Adresse zu schicken, weshalb dann wiederum erboste Anrufe in den Büros geschahen. Und in all dem arbeitete mit großen Schwitzflecken unter den Armen, die übliche fleckige Krawatte mit Dauerknoten umgebunden, ein pickeliger Unteroffizier, man fragte sich, wie lange das noch so weiter gehen sollte.

Wilhelmy kam, hatte er nun Urlaub gehabt, oder hatte man ihn, um ihn zu schikanieren in eine andere Dienststelle gesteckt, nicht dass er je ein Wort darüber verloren hätte, weder über das eine noch über das andere, wieder ins Büro. Die alte Ruhe kehrte wieder ein, fast hätte jemand gesagt, Gott sei Dank, Wilhelmy ist wieder da, auch das dann doch nicht. Aber es herrschte Frieden, wie man so sagte, Erleichterung, denn natürlich war die Stimmung sehr gereizt, schließlich war man auf diese Weise auf jede Art von Missständen aufmerksam geworden, die sonst im Verborgenen blieben. "Fuckin' Wilhelmy is back, well everything's so silent round here, probably he's asleep." Bob hatte gewöhnlich nichts mit dem Fernschreiber zu tun, er erledigte seine commitments sämtlich am Telefon.

Pia liebte Rohlfs, und sie liebte Amerika, wo sie eine Weile Austauschschülerin war, woher ihr perfekter Akzent rührte, mit dem sie auf der Leitung von Bob anrief. "How are you, Miss sweetheart? Well, he's sittin' right in front of me, workin' his ass off. Just a second, my dear."

Sie trafen sich am Abend nach dem Dienst, aber da Pia eigentlich nichts zu tun hatte, rief sie gerne vorher einmal an, vielleicht wollte sie wissen, in welcher Stimmung Rohlfs war. Eigentlich vermutete er aber, dass ihr einfach langweilig war. Wie seltsam, sie genoss das Nichtstun, und wenn Rohlfs sie am Telefon fragte, was sie gerade so tat, kam ihr "nichts" aus den tiefsten Tiefen ihrer Überzeugung, das gerade sei ihr Recht, und jede Betriebsamkeit eine Art Sklaventum, was Rohlfs umso mehr ankratzte, als er unter der Vergeblichkeit vieler Mühen, die er sich auferlegte, litt. Pia besaß mehr Talent als er in vielerlei Hinsicht, auch sonst bessere Voraussetzungen, wie er fand, um - nichts daraus zu machen?

Sie studierte auf dem Bauch liegend, neben sich ein Glas mit einem Fantasiegetränk, sehr bunt, sehr süß, das sie mit einem Strohhalm genoss: Russisch! Das sie mit der gleichen schauspielerischen Begabung sprach wie ihr amerikanisches Englisch. Rohlfs, der ihre Beweggründe nicht verstand, empfand die Art, wie sie studierte, als eine Art Verschwendung von Kräften, die ihm fehlten. Immerhin, Englisch sprach er nach einer Weile in der Kommandantur ohne jede Behinderung. Dabei war er anfangs völlig blockiert gewesen. Wie eine Zentnerlast wog auf seinem Gewissen sich als des Englischen mächtig zu diesem Dienst gemeldet zu haben, während sich herausstellte, dass ihn in den ersten Tagen und Wochen die Situation völlig überforderte. Er wusste ja nicht, dass das ganz normal war und bald überwunden. Wie auch, da doch bis auf Dr. Reich alle schon Ewigkeiten in der Kommandantur arbeiteten ohne je sich auch nur halbwegs auf einer Ebene, die man Sprache nennen konnte, mit Bob oder gar mit jemandem von den amerikanischen Dienststellen, mit denen er zusammenarbeitete, zu verständigen in der Lage waren. Pia war gegen Militär, was sie nicht hinderte von Bob Conley völlig hingerissen zu sein, dessen Uniform sie "cute" fand, und von dem sie sich gerne mit "sweetheart" anreden ließ. "Rohlfs, you got such a sweet little lady. Are you sure to deserve such a peace of sugar? Come on, Rohlfs, you so fuckin' serious, and she's so damn smooth. And the worst thing of all, she loves you. She'd better love me. I'm no fuckin' ol' man like fuckin' Dr Reich. He could be her fuckin' grandfather, dirty old sucker. Well, Rohlfs, are you goin' to marry her? You shouldn't fuck around with her and then kick her in her sweet little ass, don't you!"

Es war einer jener Abende, an denen sie schon lange ohne Licht im Büro sitzen geblieben waren. Genauso pünktlich wie die reguläre Belegschaft am Morgen kam, hörte man das Türenschlagen am Nachmittag, bis es dann ganz ruhig im Haus geworden war. Wenn Pia die Woche über in Heidelberg in der Uni war, dann war Rohlfs, wie Dr. Reich und Conley auch, Junggeselle und frei. Tatsächlich erwartete niemand, dass er um eine bestimmte Stunde zu Hause sei.

Der eigentliche Verrat an der Liebe war, wie die Liebe selber, eine existenzielle Macht, die einen Baum an der Wurzel packend diesen nach oben halten und schütteln konnte. Nie wieder würde ein Blatt daran grünen, die wenigsten Bäume, einmal dem Erdreich entrissen, wuchsen je wieder an. Rohlfs' Baum erfuhr solche Erschütterungen aus sich selber, weil er fühlte geliebt zu werden, aber aus den falschen Gründen, wenn man so sprechen konnte, denn er wusste wohl, dass die Liebe keiner Gründe bedurfte. Dennoch liebte er Pia wegen ihrer Schönheit, auch wegen ihrer Selbstgewissheit, mit der sie Dingen und Ansichten anhing, die er darum keineswegs teilen musste. Umgekehrt genoss sie seine Bewunderung ohne sie zu teilen, was nicht hieß, dass sie weniger selbstverliebt war als Menschen, die sich tatsächlich für schön hielten. Es war ihr Phlegma, das sie zur Genießerin machte, so dass sie sich mit schönen Dingen umgab und sich auch schön machte. Ihr Parfüm hieß "Amazone" und blieb in genau der Dosierung, in der sie es benutzte, ein Duft, von dem Rohlfs der Atem stockte, wenn es ihm aus der Schar der Passanten in irgendeiner Fußgängerzone entgegenströmte. Verrat war ein großes Wort, und es hing tragisch über Rohlfs, der hörte, wie Bob mit Pia am Telefon schäkerte. Den Klang ihrer Stimme, nachdem der Sergeant ihm den Hörer gereicht hatte, schwebte noch in einem Timbre, das er nur haben konnte, weil der Amerikaner ein Mann war, wie er eigentlich sein sollte. Rohlfs rächte sich mit Kühle und bereute sofort. Wie auch immer gelassen und fröhlich ein solcher Nachmittag mit Pia noch beginnen würde, ebenso konnte er sich bis in den späten Abend dann windungsreich von einer geheimen Macht gelenkt in tränenreiche Verzweiflung wandeln. Bob, der feinfühlig war, betrachtete Rohlfs durch seine schwarzgeränderte Brille, mit der er ein Taschenbuch las, seine Zigarette rauchend. Es waren die Augenblicke, in denen kein Witzchen weiterhelfen würde, und die Dinge mussten so sein, wie sie sind. Auch war der Roman zu Ende, das Papier billig genug, so dass man das Buch trotz seiner beträchtlichen Dicke mitten entzwei reißen konnte, was Bob, der nie etwas aufhob, und schon gar nicht ein Buch, auch tat: "Another stupid story. Well, Rohlfs, I ran out of cigarettes, too, better get my ass home soon today. You're leavin' for sure within a moment. Let's get the hell out of here, fuckin' crazy place."

Recht brüsk nahm der Fahrer des Transporters unter Flüchen eine Ausfahrt, die er, so nahm Rohlfs an, erst im letzten Moment gesehen hatte. "Futu-ţi biserica şi paştele şi adormirea morţilor mă-tii! Te omor!", schrie einer der Rumänen dem Fahrer zu, da er sich offenbar, vermutlich aus tiefem Schlaf gerissen, durch den rasanten Wechsel der Fahrtrichtung am Kopf verletzt hatte, den er sich aufgeregt rieb. "Taci din gură nenorocitule, n-ai dreptul să-i spui nimic, clar?", schleuderte der Fahrer ihm entgegen und bremste den ins Schleudern kommenden Wagen mit übertriebener Härte ab. "Sunteţi nişte mere stricate! Să vă ia dracu pe toţi, pentru că sunteţi nişte nemernici fără suflet!", erkannte Rohlfs nun auch die aufgebrachte Stimme Lucias. Der plötzliche Aufruhr löste einen pulssynchronen Tinnitus in Rohlfs aus, wobei er lediglich gern gewusst hätte, wie weit man bisher gefahren war. Wagentüren wurden aufgerissen und zugeschlagen, was das dreigestrichene A in seinem Kopf an Intensität verstärkte. Die Tatsache, dass er keinerlei Kenntnis über den Verlauf der Fahrt hatte, ob man Österreich verlassen hatte und sich bereits in Ungarn befand, ob man angehalten hatte um zu tanken oder ob eine Meinungsverschiedenheit Anlass für die abrupte Bremsung gewesen war, irritierte Rohlfs aufs Stärkste. Aus der raschen Wahrnehmung durch eines der Seitenfenster des Transporters glaubte er indes schließen zu dürfen, dass man die österreichische Berglandschaft längst hinter sich gelassen hatte, zumal sich Rohlfs einbildete zwischenzeitlich grüne Autobahnschilder gesehen zu haben, wobei er sich eingestand, dass es sich hierbei auch um ein Trugbild seiner Erinnerung handeln konnte.

Nach wie vor schien es ihm unmöglich sich zu bewegen, geschweige denn aufzustehen, sodass er beschloss tief durchzuatmen um seinen Puls zu regulieren und seine Konzentration auf das Hier und Jetzt richten zu können. Währenddessen wurde das Fluchkonzert in nicht allzu großer Entfernung des Transporters fortgesetzt. Gelegentlich öffnete jemand die Hintertüren des Fahrzeugs um sich jedoch sogleich wieder mit einer neuen Salve von Flüchen zu entfernen.

Die Rumänen waren derbe Leute und im Wagen so gekleidet, wie man sich zu Hause anzieht, weshalb man sich auch auf dem Rastplatz rasierte, mit reichlich Schaum im Gesicht vor dem Außenspiegel des hellblauen Lieferwagens, oder das Zahnputzwasser ausspuckte, natürlich zur Seite, es sollte ja niemand in die Pfütze gerade hineintreten. Aus feingerippten Unterhemden, die sich über wohlgerundete Bäuche spannten, quoll reichlich Brusthaar, oder man fror und hatte deshalb die Trainingsjacke oder einen Trawler übergezogen. Strümpfe sah Rohlfs nicht, Gummilatschen allenthalben, oder nackte Füße in Straßenschuhen. Die ausgefallensten Turnschuhe, wild-funktional den ausgefeilten Materialien folgend gezeichnet und gefärbt, trug ausgerechnet der älteste unter ihnen, über sie fiel eine braune Anzughose, die seit geraumer Zeit kein Bügeleisen gesehen hatte.

Rohlfs selber war inzwischen reichlich zerknittert und von irgendetwas, worauf er halb gesessen und im Verlauf der Nacht dann wohl mehr gelegen hatte, hatte er sich einen dunklen Fleck am Hosenbein eingefangen. Das Jackett glättete sich gerade wieder etwas, da er doch auch fröstelte und aus dem Kopfkissen, das es ihm gewesen war, wieder ein halbwegs wärmendes Kleidungsstück gemacht hatte. Die Druckstelle, die von seinem Notizbuch herrührte, fühlte er etwas wärmer unterhalb seines rechten Ohres.

"Schreiben, Mann!", hatte einer der Rumänen mit rollendem R artikulierend gesagt, indem er mit einem dicken Zeigefinger auf ihn wies. "Yeah, back at the roadhouse they got some bungalows. And that's for the people who like to go down slow", intonierte Rohlfs mit ungewohnt brüchiger Stimme um dem Rumänen zu signalisieren, dass er sich unter keinen Umständen einschüchtern lassen würde. Zu seinem Erstaunen entgegnete dieser ihm jedoch in nahezu akzentfreiem Englisch: "The future's uncertain, and the end is always near. Chiar crezi că eşti cineva? Chiar crezi că sunt prost? Am citit printre rânduri şi mi-am dat seama imediat cum stă treaba." Bevor Rohlfs Gelegenheit hatte, irgendetwas zu erwidern, schloss der Rumäne die Hintertüren des Transporters betont schwungvoll um nunmehr mit Reich die weitere Vorgehensweise zu besprechen. Man war sich einig, dass man das Land schnellstmöglich verlassen wollte, da man Polizeikontrollen in Ungarn vermeiden wolle. Reich betonte indes mehrmals, er werde mit den Kerlen schon fertig werden. Ein deutscher Ausweis sei in Europa noch immer wirkungsvoller als eine Schusswaffe. Auch um Rohlfs müsse man sich keine Sorgen machen, da man ihm ohne weiteres eine höhere Dosis des Betäubungsmittels verabreichen könne. Vielmehr würde man sich seinen Zustand möglicherweise sogar zunutze machen, was noch abzuwarten bleibe.

Dr. Reich und Lucy mussten während der Nacht an der Raststätte ausgestiegen sein. Woher auch sonst sollte das Fläschchen roten Nagellacks in Rohlfs Jackentasche sein? Es gab also tatsächlich einen Nagellack namens Lucy Red, und den hatte Frau Bauer, es konnte nicht mehr als ein Spielzeug sein, so wie er sie kannte. Da sie aber ein Doppelleben als rumänische Putzfrau führte, war ihr doch wohl mehr zuzutrauen, als Rohlfs immer dachte. Natürlich hätte er nie geglaubt, dass es etwas mit ihm zu tun hatte. Musste es ja auch nicht, schließlich hatte sie bei Dr. Reich gesessen und war auch mit ihm verschwunden, oder waren sie an unterschiedlichen Stationen ausgestiegen. Rohlfs, der keinen Wein vertrug, hatte doch aus Durst den einen oder anderen Zug aus dem braunen Plastikfässchen getan, das die Runde machte. Frau Bauers gellendes Lachen, wenn Dr. Reich, der ansonsten harmlos war, was Frauen betraf, ein Witzchen machte, hatte er bald nicht mehr gehört. Die Rumänen schwiegen ohnehin die meiste Zeit, ganz leise dudelte das Radio, dessen Lautsprecher ganz weit vorne im Wagen war, so dass außer gelegentlichen atmosphärischen Störungen und den Fanfaren, mit denen der Sender für sich selber warb oder Einzelheiten seines Programms ankündigte, kaum etwas zu hören war.


Mittwoch, 20. März 2019

The Gas Station (Variationen) [= S / W 5.7] für Willy Piehler und Herbert Henck



[Oskar Schlemmer]








[Willy Piehler]






Wir sind alle Possenreißer: wir überleben unsere Probleme.
[E.M. Cioran]



5. 7 Stone



Gewiss mochten es auch die zunehmenden Anflüge trotziger, vielleicht auch lächerlicher Sabotageversuche gewesen sein, die Constance selbstverständlich missbilligte, während sie Rohlfs beglückten und bereicherten. Über einen längeren Zeitraum schickte er den Kollegen im Amt winzige aufrührerische, irritierende Musikdateien auf ihre Dienstrechner, die er mit Palles technischer Unterstützung beliebig von seinem Arbeitsplatz aus öffnen und zum Tönen erbringen konnte – meist pianistische Miniaturen, Momentaufnahmen, Improvisiertes, raffinierte Bagatellen, Elektronisches. Niemand verstand sich in einem solchen Maß auf Datenverarbeitung wie Palle. Musik als Waffe. "Die Weichen sind zu stellen, Palle, um aus diesem Umfeld wegzukommen. Meine Vorstellungen konkretisieren sich von Tag zu Tag und ich werde mein ganzes Organisationstalent zum Einsatz bringen müssen, um nicht kläglich zu scheitern. Sobald ich Genaueres erfahren habe, werde ich es dich naturgemäß wissen lassen, doch will ich mich vorerst in Geduld üben, denn die Dienstwege sind ungeheuerlich zäh. Tatsache ist, dass das Leben im Amt an mir nagt wie eine feiste, blutrünstige Ratte."

Palles vermeintliche Komplizenschaft erwies sich jedoch bald als Sackgasse, auch da ihm die Auswahl der Musik allzu eklektisch erschien, wie er immer wieder betonte. Die Weltmechanik sei nun einmal nicht schöngeistig. Unter vorgehaltener Hand suchte Palle schließlich das Gespräch mit dem Personal des Amts und es konnte kein Zufall sein, dass man ihn, Rohlfs, fortan unverhohlen als Harlekin bezeichnete.

Palle wähnte sich als romantischen Idealisten, scheute aber den opportunistischen Verrat in keiner Weise, auch wenn Rohlfs hierin nicht einmal einen Widerspruch sah. Zur Entfaltung seines Selbstkonzepts warb Palle fortwährend um Rohlfs' Freundschaft, zumal er über ein Redetalent von unwiderstehlicher Gewalt verfügte. Sein Wesen schwankte zwischen eisiger Zurückhaltung, überschwänglicher Vereinnahmung und eindringlicher Vertraulichkeit. Seine Welt unterteilte er in heroes, friends and shitheads. Die ewige Erfüllung und die Vollendung allen irdischen Strebens sah er in der Vereinigung mit einem weiblichen Pendant, möglichst auf Lotosblumen, was er etwa alle vier Jahre von neuem verwirklicht zu haben glaubte. Stets sprach er dann vom Königsweg, den er fortan heldenhaft zu beschreiten gedachte.

Rohlfs gestand sich ohne weiteres ein, dass auch er, wie übrigens die meisten seiner Generation, diesem Irrweg einst aufgesessen war. Wie hätte er sonst diesem Blumenmädchen, der Mutter Rudolfas, verfallen können?

Des Weiteren verfügte Palle über die Gabe den Slang der Amerikaner bis hin zum Mimikry nachzuahmen und in eben diesem Slang, so schien es zumindest, denunzierte und verspottete Palle ihn derzeit im Amt. Seltsamerweise mochte Rohlfs Palles Virtuosität, Palle, der ihn zum Lachen brachte wie kaum ein anderer, ihn aus der Fassung zu bringen verstand, der den Spielgefährten in ihm weckte. "Use the right song in the right moment, you know what I mean, Rohlfs. I'm bleeding for you, man. Don't doubt yourself! It's destiny's dance, it's simply the Jazz Thing which makes it become fuckin' cinematic. You see, man made the cars to take us over the road. In the end you really have no choice anyway, so I wouldn't think about it too much. Come on, Rohlfs, some people like to roll." Es war nur zu deutlich, dass Palle sein Vokabular aus den Jukeboxes der 60er und 70er Jahre bezog.

Neben der Abwicklung von Manöverschäden oder Verkehrsunfällen mit Militärfahrzeugen, einer Aufgabe, die Palle eher beiläufig erledigte, ohne dass man ihm allerdings nachsagen konnte, er würde seine Arbeit nicht erledigen, widmete er sich doch fast ausschließlich der Vervollständigung seines Wissens über Hard- und Softwaretechnik, sowie seinen Helden der Computerrevolution. Man müsse seinen Beitrag dazu leisten, dass jedwede Information für alle frei verfügbar sei um die Macht zu dezentralisieren. Ein gutgeschriebener Programmcode sei ein Kunstwerk und verleihe dem Leben völlig neue Dimensionen. Vermutlich manifestierte sich in solchen Gedanken Palles Idealismus, seine Faszination für den Computer und jene, die ihn beherrschten, weil sie die Basis für eine bessere Welt darstellten.

Die Arbeit im Amt betrachtete Palle als Sprungbrett in die ständig wachsende Schar der digital natives, immer vernetzt und auf der Suche nach dem virtuellen Glück.

In den späten, an niemanden adressierten, Briefen von Alois aus der Lungenheilanstalt sah Rohlfs den Schein einer leuchtenden Spur, eine Wahrheit, die vielleicht veraltet, deswegen aber nicht falsch war, die er der Kaugummi kauenden Belegschaft, ja, bestenfalls der ganzen westlichen Welt, entgegenschleudern wollte, was er selbstverständlich nicht tat, schließlich hatte man ihn im Amt ohnehin längst für verrückt erklärt. Dennoch ließ er sich dort einmal dazu hinreißen, sie Palle aus seinem Notizbuch heraus vorzulesen.

Ein großes Finale hat eingesetzt, und das, was übrig bleibt, verschlingt der Markt, denn alles wird an Umsatz und Profit gemessen.

Nam June Paik (ein inzwischen verstorbener Videokünstler) hat in den Tagen, als Protest noch möglich war, eine Geige hinter sich an einer Schnur auf der Erde hergezogen - zum Ärger der Kölner Passanten; doch in späteren Jahren malte er einmal einen großen Scheck über eine Million Dollar (oder waren es Mark?), ausgestellt auf einen "Ludwig van Beethoven", von dessen Genie die Menschen zweihundert Jahre lang zehrten, ohne ihm noch einen Pfennig vergüten zu können. Sie wissen, dass van Gogh zu Lebzeiten nur ein einziges Bild verkaufen konnte?

Die Kunst der Opernhäuser und Konzertsäle ist längst zu Ende (und dies brauchte mir nicht erst eine Erkrankung zu sagen). Im Fernsehen erscheint nur noch Schwachsinn, dank des "Quoten-Denkens", weshalb wir schon vor vielen Jahren das TV aufgaben; und der Rundfunk stellt allmählich aber sicher seine Sendungen mit "Zeitgenössischem" ganz ein, die Redaktionen werden aufgelöst, die Festivals verschwinden. Stattdessen hört man jetzt nur noch einzelne Sätze aus Mozarts Symphonien, etc.. Ich vermute, dass erst wieder der Durst erwachen muss, und dass alles, was inzwischen geschaffen wird, in die Schubladen wandert und dort bleibt, sofern es sich nicht zu Geld machen lässt. Zu dieser Art von Kunst, die hier oder dort geboten wird, habe ich keine Beziehung mehr, auch wenn dies überheblich klingen mag. Ich finde die Überheblichkeit freilich auf der anderen Seite! Und war Ravel überheblich, als er jemanden ohrfeigte, der ihn lobte? Und Berlioz musste vor seinem Tod zweimal auf das Gesicht fallen (an zwei aufeinander folgenden Tagen). Niemand tröstete ihn, der ja so "modern" und so "in" war, als er noch jung und stark war.

Man wird durch diese Abdankung der Kultur nicht umhin kommen, den eigenen Bettel hinzuwerfen, denn es ist reine Zeitverschwendung, den ein oder anderen bekehren zu wollen. Es wird sich auch fernerhin auf die Schulter geklopft werden, um vom Volk der Dichter und Denker zu schwadronieren, auch wenn man kein einziges von deren Büchern kennt und nicht so recht weiß, wer genau dazugehört oder nicht. Alles wird sich auf einer billigen Ebene des Journalismus abspielen. Das Einfachste wäre, ohne jede Bedeutung zu verschwinden von der Landkarte der angeblich "Bedeutenden" und das Feld auch weiter den Reichen, Mächtigen und Großmäulern zu überlassen, weil dann alle die Mitverdiener, Erben und Epigonen leer ausgingen und eine größere Chance hätten, sich auf sich selbst zu besinnen, auf ihren eigenen Wert und Wandel. Was macht schon den Unterschied zwischen zweien, zwanzig oder zwei Millionen Jahren des Nachlebens?

Es ist ja stets alles nur für die anderen da, und ich bin dankbar, das Gewäsch, mit dem sie sich rechtfertigen, nicht mitanhören zu müssen. Da sind mir doch jene Künstler lieber, die hoch oben in den Kathedralen (wie der zu Köln) ihren Schmuck namenlos auslebten, wo ihn kein Sterblicher sehen kann, und vor ihnen ziehe ich den Hut.

Irgendwann ist es ja selbst mit Mozart vorbei und mit Beethoven, und wie man ihren Namen einst ein erstes Mal aussprach, wird man in grauer Zukunft ein letztes Mal ihren Namen ausgesprochen haben, nachdem man sich mühsam an den Namen zu erinnern versuchte, der sich schon längst nicht mehr mit Werken verband. Danach herrscht dann Schweigen für den Rest der Zeit. In diesem Zusammenhang fällt mir das Zitat eines der Beatles aus den 1960er Jahren ein, dass er zur Musik Beethovens nichts sagen könne; aber die Bilder von ihm seien recht schön.

In Folge des zunehmenden Aufruhrs im Amt beschränkte sich Rohlfs vorübergehend darauf die Türen der Diensttoiletten zum Gegenstand seiner Übergriffe zu wählen. In gestochener Sütterlinschrift standen bald auf allen Innenseiten der Toilettentüren die Sprüche und Verse, mit denen er die nach seinem Dafürhalten notwendige Irritation des Personals herbeizuführen wünschte. Denn sinnlicher sind Menschen in dem Brand der Wüste. Schließlich mussten in irgendeiner Form Zeichen gesetzt werden gegen die perfide Art wie man Saeed im Amt ausgeschaltet hatte. Selbst die Tage, an denen er das Personal während des Diensts nicht grüßte oder in seinem Büro eingeschlafen war wurden protokollarisch festgehalten und gegen ihn verwendet.

Reich spielte eine Schlüsselrolle bei der Ausarbeitung und Umsetzung des strategischen Plans gegen Saeed, der aus gegebenem Anlass quasi über Nacht mit der Achse des Bösen in Verbindung gebracht wurde. Konnte man eine solche Vorgehensweise ungesühnt lassen? Es war notwendig, so dachte Rohlfs, wenn auch auf subversive Weise, Partei zu ergreifen.

Constance maß all dem nur geringen Wert bei; vielmehr verhielt sie sich meist eher zurückhaltend und unparteiisch. Musste es indes Jeremias sein? Reich, der Freund des Hauses, dessen alljährlich im Frühjahr wechselnde Limousinen seine sowie die Erfolgsgeschichte der Bayerischen Motoren Werke nachzeichneten? Die zweitürige Limousine, beim Vorgängermodell in den Abmessungen identisch mit dem Viertürer, ersetzte er 1992 durch ein flacheres und breiteres Coupé und 1993 durch das neue Cabrio, woraufhin 1994 die dreitürige Compact-Version mit rund 20 Zentimeter kürzerem Heck folgte, wobei der Radstand allerdings gleich blieb. 1995 tauschte er das Modell mit Heckantenne gegen eines mit der neuen Heckscheibenantenne.

Reich beherrschte die Werbetexte, insbesondere Rohlfs gegenüber. Vermutlich zahlte man ihm dafür eine Firmenprovision, die für solche vermeintlichen Empfehlungen ausgeschüttet wird. Die heutige Gesellschaft machte anfällig für derartiges. Reich pflegte außergewöhnliche Beziehungen innerhalb des Wirtschaftsstandortes, dessen rühmte er sich stets. Als Co ihn schon nach dem Fall der Mauer, so Reich noch zur Jahrtausendwende, zum Wendepunkt auf Rohlfs' Zeitachse, zunehmend herzlicher als Jerry zu empfangen begann, Jerry, my dear, was für wundervolle rote Rosen, holte die Ausweglosigkeit bereits zum finalen Schlag aus. Seit 2006 begleitete sie ihn dann regelmäßig auf Kundgebungen etwa gegen die Lohnlücke zwischen Frauen und Männern, gewappnet mit roten Handtaschen. Schließlich müsse man, so Reich, solidarisch sein. Solidarität als Paarbildungsstrategie. Seinerseits, so sah es Rohlfs, war sein Missgeschick ausschließlich auf Momente verhängnisvoller Unachtsamkeit, auf ein Abweichen von seinem Grundsatz der allgegenwärtigen Feindseligkeit dieser fühllosen Welt möglichst keinen Raum zu gestatten, zurückzuführen. Es galt seine gelegentliche Vertrauensseligkeit nach und nach auszumerzen wie eine üble Krankheit.

Es war ein tiefer Blick, den er da in die eigene Seele tat. Plötzlich sah er klar – so klar, als ob er die Regungen eines fremden Lebens, vielleicht eines Tieres, beobachte -, wie sein tiefstes Sein, unbeeindruckt von dem Selbstbetrug des Ichs, seine derzeitige Lage beurteilte. Diese Lage war ausweglos; er hatte sich hoffnungslos verfahren, er war ein auf Grund gelaufenes Schiff.

Die Donau und der Inn mussten wieder über die Ufer getreten sein. Der Transporter bewegte sich mitunter nur sehr schleppend voran, immer wieder ausgebremst von den enormen Wassermassen des Hochwassers. Indessen fiel Rohlfs an der Aufmachung der Autobahnschilder auf, wie er en passant bemerkt zu haben glaubte, dass man sich nicht mehr auf deutschem Bundesgebiet befinden konnte. Hätte man folglich nicht an einer Raststätte Halt machen müssen um ein Mautpickerl zu erwerben? Doch möglicherweise verfügte das Fahrzeug ja auch bereits über eine Monats- oder Jahresvignette.

Rohlfs meinte auch die Ausfahrt Braunau am Inn bemerkt zu haben und dachte an den russischen Abgeordneten, der Geld sammelte, um Hitlers Geburtshaus zu kaufen und es zerstören zu lassen. "Mei, des is doch nur a Haisl", heißt es in Braunau. Rohlfs beschloss sich bis zur rumänischen Staatsgrenze, die man in frühestens acht bis zehn Stunden erreichen würde, sofern sich die Wetterlage nicht drastisch verschlechterte, möglichst unauffällig zu verhalten.

Der Eindruck, dass man ihn offensichtlich vorerst in Ruhe zu lassen gedachte, versöhnte ihn ein wenig mit seiner misslichen Situation, zumal ihn Lucia immer wieder sanftmütig anlächelte. "Du musst Schlimmes durchgemacht haben, mein Herz," sagte sie sogar einmal zu ihm. Die Art, wie man eine Frau kennenlernte, warf ein eigenartig wahres Licht auf einen, wie Rohlfs fand, der teils bezweifelte, andere möchten ihn auch in diesem Licht sehen wie er sich selber, das war ihm aber auch recht, wessen Wahrheit war auch nur halbwegs schmeichelhaft, oder gar überwiegend? Am meisten Anerkennung erfuhr die Tatsache, dass man eine Frau auf der Straße kennengelernt, sozusagen aus freien Stücken den Mut besessen habe, sie nach Lust und Laune eines Augenblickes für sich einnehmen zu wollen. Eine der Geschichten Rohlfs ließ sich sogar so erzählen, allerdings nur unter Weglassung einiger Details, die Rohlfs natürlich wohl wusste und die auch dieses Abenteuer auf den Boden der eher alltäglichen Ereignisse herabholten, weshalb er, wenn die Rede darauf kam, versuchte zu taxieren, mit welchen Nachfragen etwa zu rechnen wäre. Wie die meisten war Rohlfs in Bezug auf Eroberungen kein Held, im Gegenteil, er neigte zum Erwähltwerden, was ihm, zumindest am Anfang etwas von der Last der Verantwortung nahm, die man so oder so in einer Beziehung übernahm. Von einer Frau erwählt worden zu sein konnte auf wunderbare Weise unvoreingenommen gegen sie machen. Man fühlte ihre Wärme, roch ihren Duft, hörte ihre Stimme am Telefon ohne jedes ängstliche Forschen, ob man selber etwa sich geirrt hätte, ob doch bald die Enttäuschung über einen zerplatzten Traum drohte; oder aber dass sich die neue Herzenskönigin entrüstet von einem abwendete, einem derart unwürdigen Kandidaten auf den Leim gegangen zu sein.

Constance hatte Rohlfs, leider, durch einen Freund kennen gelernt, womit er erst einmal wenig Ehre einlegen konnte im Kreis derer, die sie beide schon länger kannten als sie einander. Wie alles in der Gesellschaft wich dies aber bald anderen Neuigkeiten und ward für bekannt und so und so genommen. Rohlfs machte sich mehr Gedanken als nötig, denn was die Leute wirklich redeten, wusste er nicht, dass sie redeten, war klar, aber das war alles bereits geschehen, man hatte sich eine Meinung gebildet, Rohlfs wäre ohnehin der letzte, der sie von etwas anderem überzeugen konnte. Constance war nicht einsam wie er von Natur aus, sie war allein, weil sie Abhängigkeiten scheute. Tatsächlich gab es noch jemanden, allerdings so auf Distanz, dass sie es wohl auf den Versuch ankommen lassen wollte, was nun mit Rohlfs würde. Einen wenn auch fernen Konkurrenten aus dem Feld zu schlagen beflügelte ihn, dass Constance nicht erklärte, sie werde sich trennen, gab ihrem Zusammensein den Reiz eines Seitensprunges, noch dazu von der erleseneren Sorte, da ja nicht mit den üblichen Zusammenstößen, Drohungen und Frustrationen zu rechnen war, sondern im Gegenteil, man setzte sich über ein eigentlich gehöriges Hindernis hinweg, nahm sich, was ein anderer einem nicht nehmen konnte. Rohlfs rechtfertigte sein Tun damit, dass er Constance haben wollte, worin er schon eine Leistung sah, denn es war eine Festlegung und wie alle Festlegungen nicht ohne Risiko. Constance hatte in Bezug auf ihre bestehende Beziehung ja gerade diese Festlegung nicht vollzogen, wozu er sie auf diese Weise bekehren wollte. Rechtfertigung Nummer zwei. Rohlfs entging nicht vollständig das Sonderbare, das darin lag, dass man sich nun in diesem blauen Transporter befand. Alle schienen einander schon lange zu kennen, was nun für Dr. Reich und ihn zutraf und wohl auch für die rumänischen Arbeiter, jedenfalls auf ihre Weise. Möglicherweise hatten sie für irgendwelche Schlepper und Nepper irgendwo in der Nähe einen Ferienpark errichtet, bittere Monate hinter sich gebracht und waren nun froh, so oder so in die Heimat zurückkehren zu können.

Einmal hatte Rohlfs eine Reise unter Schmugglerinnen gemacht, einziger Fremder er unter denen, deren Leben und Schicksal die Schmuggelei war. So ähnlich war die Stimmung im Wagen. Man erzählte sich, wie man letztlich doch einen guten Schnitt gemacht hätte, einige Kumpels waren parallel mit vollgepackten Autos unterwegs, allesamt mehr oder weniger reell erstanden. Dieses war allerdings der Bus, mit dem sie auch gekommen waren, klapperig, löchrig, aber fahrtüchtig bis auf Weiteres und dringend nötig wie alles Fahrbare in einem armen Land. Der Bus der Schmugglerinnen damals trug den Ausmusterungsaufkleber der Greyhounds aus Kalifornien aus dem Jahr 1975, bis wann er gut und gern seine 20, 25 Jährchen dort gelaufen sein wird. Die Verkleidungen der Wände und Sitze waren in solchen älteren Fahrzeugen noch recht leicht zu entfernen bzw. wieder anzubringen, was für Schmuggler wichtig ist, denn dahinter verbirgt man die Schmuggelware, Kleider und Spielzeug, auch Medikamente. Rohlfs wurde insofern einbezogen, als man ihn bat, doch dieses oder jenes Kleidungsstück überzuziehen, nur bis über die Grenze! Keine ganz einfache Aufgabe bei vierzig Grad Hitze im Bus. Und natürlich bündelweise Baumwollkleidung, natürlich ohne Etiketten und Verpackungen. Die wurden ihrerseits besonders sorgfältig auch in die kleinste Ritze des Autobusses gesteckt, ohne Verpackung, ohne Etikett kein Verkauf, jedenfalls nicht als reguläre Ware. Was eigentlich nichts heißen wollte, denn alle Waren diesseits oder jenseits der Grenzen hatten in irgendeiner Weise den Weg an den vorgesehenen Abläufen vorbei genommen. Worauf es ankam, das waren die Preiskategorien, und die wurden nun einmal über solche Signale wie Originalverpackung (die die Kunden natürlich nach dem Kauf wegwarfen wie sonst überall auch) und Etikett geregelt.

Im Wagen der Rumänen trug man Jogginghosen der bekannten Marken, höchstwahrscheinlich aber keine Nachahmerprodukte, wie Rohlfs vermutete, sondern Originale. Das Geld, das sie dafür ausgegeben hatten, konnte einem Leid tun, andererseits hatte Rohlfs Verständnis für die jungen Leute, die an den Segen glauben wollten, dessen Kunde diese Produkte über den Globus hinweg verbreiteten. Niemand in Rumänien wird an die Armen denken, die die Markenprodukte in anderen Nationen armer Schlucker zusammennähten.

Dass Dr. Reich auf dem Beifahrersitz saß wie ein Polizist, der den Wagen offiziell begleitete, mutete Rohlfs seltsam an. Indessen wurde er freundlich behandelt, schließlich versah er auch nur seinen Dienst, zum Beispiel bot man ihm eine Zigarette an, die Reich ablehnte, der auch sichtlich unter dem Qualm im Wagen litt. Ob er hätte verlangen können, dass das Rauchen in seiner Gegenwart eingestellt wird?

Auf den Beifahrersitz, der etwas breiter als der Fahrersitz war, hatte sich auch Lucia gezwängt, was zu keinen Komplikationen führte, insofern der Schalthebel vorsorglich einer besseren Nutzung der Raumkapazität durch eine kunstvolle Schweißarbeit verlängert und in Richtung des Fahrers abgewinkelt war.

Es war eigenartig, dass Rohlfs sich in diesem Kleinbus befand, man hatte ihn ohne großes Aufheben eingeladen mitzufahren. Dass Dr. Reich auch im Wagen saß, hatte Rohlfs erst bemerkt, als sich die Seitentür bereits geschlossen hatte. Als Letzte war dann Lucy zugestiegen, weshalb Dr. Reich extra noch einmal kurz aussteigen musste, so dass sie ganz vorne in der Mitte zu sitzen kam. Dr. Reich bemühte sich auf seiner Seite des Sitzes weniger ausladend zu sein, war indessen den Berührungen Lucys nicht abgeneigt. Rohlfs glaubte ihr Parfüm bis zu sich nach hinten riechen zu können. Das Auto war über und über mit Reisegepäck beladen, alten Koffern aus Vinyl, Nylonsäcken, sperrigen Gegenständen, die daraus hervorragten. Jemand auf der Bank vor ihm schnitt mit einem groben Messer ein Stück von einer großen Wurst ab, die er genüsslich kaute, bis er aus einem braunen Fünfliter-Plastikfässchen einen tiefen Schluck Rotwein trank. Lucys hellrot lackierte Fingernägel sah man, wie sie etwas Ähnliches wie eine große Einkaufstasche auf dem Schoß hielt, worin sie wohl ihre Siebensachen gestopft hatte.

Dr. Reich schien ohne Gepäck zu sein, sein Hut lag mehr oder weniger zusammengeknautscht auf dem Armaturenbrett eingequetscht unter der Windschutzscheibe. Seine Körperfülle erlaubte es ihm kaum, sich nach hinten umzuwenden. Auch schien er ängstlich, dass sich die Tür des klapperigen Kombis unter dem Druck, den er mit seinem schweren Leib ausübte, versehentlich öffnete. Mitunter feixten die Arbeiter nach vorne, dabei selber auf dem besten Weg zu deutlichen Rundungen, die Unterhemden und T-Shirts entsprechend wölbten. Reich gehörte zu der Generation, die nach dem Krieg gehungert und als es wieder aufwärts ging entsprechend üppig gegessen und natürlich auch getrunken hatte. Wie manche Dicke, war er dabei überraschend elastisch, schnaufte kaum, wenn er die Treppe zum Büro hinaufstieg, langsam zwar und letztlich mit gerötetem Kopf, aber nicht mehrmals auf dem Treppenabsatz anhaltend wie Bob, der, was Reich nicht tat, rauchte, ansonsten aber drahtig war, von seinem beträchtlichen fußballstrammen Bierbauch einmal abgesehen. Entsprechend konnte Bob es sich erlauben, über Reichs Körperumfang zu lästern. Einmal stand er vor Rohlfs mit einem Hosengürtel Dr. Reichs in der Hand, den er am ausgestreckten Arm vor sich hielt und der auf diese Weise bis zum Fußboden reichte. "Rohlfs, look how fat this dirty old man is. This is about sixty inches, at least, Rohlfs. How come he eats that fucking much, God damn?"

Bob kam auf seine Weise systematisch zu spät, indem er nicht, wie es jeder deutsche Mitarbeiter getan hätte, den früheren Bus nahm, was ja bedeutet hätte zu früh im Büro zu sein. Also kam er mit dem nächstbesten. Kein Zweifel, hätte es einen Bus gegeben, mit dem er genau pünktlich gewesen wäre, dann hätte er höchstens ab und zu einmal den Bus verpasst, grundsätzlich aber war er loyal, im Rahmen der Vorschriften, wie alle Amerikaner, die Rohlfs kennengelernt hatte.

Von den Deutschen, die in der Dienststelle die Mehrheit bildeten, wurde die Nachlässigkeit, mit der Bob das Thema behandelte, zwar missbilligt, man sah sich aber außer Stande ihn deshalb in die Schranken zu weisen. Man selber kam ohnehin im Auto und fuhr zähneknirschend eben entsprechend früher von zu Hause los. Die Parkplatzfrage war ein alltägliches Thema, jeder hatte in der Mozartstraße so ungefähr seinen eigenen Platz, der natürlich immer einmal wieder von einem der Nachbarn belegt war, wogegen man nichts tun konnte, worüber aber entsprechend gezetert wurde. Sich aber auf den Platz eines Kollegen zu stellen, obwohl sonstwo in der Straße noch Platz war, führte zu Zerwürfnissen, die zuweilen in mehrtägiges gegenseitiges Anschweigen ausufern konnten. Conley wäre nach guter amerikanischer Sitte natürlich auch mit dem Auto gekommen, hatte es wohl vor Rohlfs' Zeiten auch getan, einem alten Simca, den er aber abgeschafft hatte, nachdem er im Transit Office den Führerschein hatte abgeben müssen. Keiner der deutschen Mitarbeiter hätte sich je von seinem Auto getrennt wegen eines vorübergehenden Führerscheinentzugs, ein höchst delikates Thema. Es gab niemanden in der Dienststelle, der nicht tüchtig trank, natürlich nicht während des Dienstes, es sei denn bei einer der vielen Parties, dann allerdings nahm man mit umso größerer Sturheit für sich in Anspruch, "noch fahren zu können", vielleicht sogar gerade dann. Bob erzählte freimütig von seinen Terminen bei einer Psychologin, bei der er in einem bestimmten Rhythmus erscheinen musste. Heuchlerisch trank er an solchen Tagen, es waren wohl meist Freitage, sozusagen nur zum Essen ein Bier, mit gehörig schauspielerischem Talent. Auf seinem Schreibtisch hatte er säuberlich das Einwickelpaper einer "Fricadelly" ausgebreitet, die er mit Appetit verzehrte. Etwas anderes hatte Rohlfs ihn in fünf Jahren nicht essen sehen, wie er überhaupt selten aß, dafür umso mehr rauchte und trank. Eigentlich trank er Kette, indem es kaum einmal einen Augenblick gab, wo er nicht hätte zur Bierflasche greifen können um einen tiefen Schluck zu tun. Er gehörte zu den Rauchern, die neben dem angebrochenen Päckchen stets noch ein weiteres Paket Zigaretten bei sich hatten. Auch rauchte er nicht gewissermaßen in Pausen, die er sich gönnte, sondern er verrichtete sein Rauchen wie alle übrigen Tätigkeiten mit der größten Selbstverständlichkeit. Zum Beispiel sagte er: "Well, Rohlfs, I guess I should quit fucking smoking", während sein Feuerzeug zuschnappte und er einen tiefen Zug tat.

Ob das Thema Rauchen zu seiner "Therapie" gehörte, Rohlfs dachte es eher nicht, denn genauso wie Alkohol bekamen die Amerikaner Zigaretten, im Übrigen auch Benzin. Zum Teil wurde ein schwunghafter Handel damit getrieben, was aber keinen interessierte, die Mengen waren schließlich begrenzt, eingegriffen wurde, wenn jemand versuchte, das Reglement zu missachten, was zum Beispiel beim Benzin der Fall gewesen wäre. So hätte Rohlfs von Bobs Zigaretten haben können, wenn je welche übrig gewesen wären, nicht aber von seinem Benzin, das er ja jetzt nicht mehr brauchte, es verfiel einfach, was die übrigen deutschen Mitarbeiter kopfschüttelnd zur Kenntnis nahmen. "Got another date with the young little lady psychologist today, so this is about my only bottle of beer this morning, Rohlfs. So cheers miss lieutenent, little sweet thing." Kein Mensch wusste, wer auf die Idee gekommen war, Frau Bauer, die Sekretärin der deutschen Abteilung der Dienststelle "Luzie" in allen denkbaren Variationen zu nennen. Sie wehrte sich konstant dagegen in schrillen, lauten Tönen. Sie sah nicht sonderlich südländisch aus, eigentlich vollkommen deutsch, mit einer modernen Lockenfrisur, die eindeutig vom Frisör fachmännisch in Form gehalten wurde. Sie trug Blusen über der Hose, war schlank und adrett und ihre Versuche Bobs Anzüglichkeiten Paroli zu bieten waren einerseits selbstbewusst, misslangen andererseits schon wegen der Sprache. Bob sprach auch nach über zwanzig Jahren kaum drei Wörter Deutsch, umgekehrt fand so ungefähr jeder Deutsche in der Kommandantur, dass er eigentlich sehr wohl Englisch könne, es ihm vielleicht ein wenig an Übung fehle. Verstehen würde er aber durchaus jedenfalls das meiste. So auch Frau Bauer, allerdings, und das war das Angenehme an ihr, ohne Überheblichkeit. Zwischen ihr und Bob ging es auf das Herzlichste zu, wenn auch kein Zweifel daran bestehen konnte, dass Bob es darauf ankommen lassen würde, wie er auch unverblümt sagte, und was Frau Bauer, die er auf seinen Schoß gezogen hatte, nicht für möglich hielt, gerade weil er es so drastisch sagte, noch dazu vor allen, Dr. Reich und Rohlfs und wer sonst noch im Büro war oder in einem der Nachbarbüros es hören konnte.

"Oh, juicy Lucy", sagte er pathetisch, während sie kreischte, weil er ihr gespielt dreist in den Ausschnitt starrte: "No Lucy, Misses Bauer!" Damit stand sie wieder und Bob entgegnete: "You can't tell me that your name is Frow Bower, you no boring farmer, you the secretary and supposed to sit right here, sweetheart!" - "No, Bob!", sprach sie ein wenig weniger kreischend bereits, "ich muss runter, arbeiten." "Oh, vielen arbeiten", eines seiner wenigen deutschen Wörter, die man sich aber wohl in Deutschland merkt. Es konnte gut sein, dass er bei dieser Gelegenheit bemerkte, dass sein Bier alle war, worauf er sich erhob, zwei Büros weiter ging in die Fernschreiberstube, wo der Kühlschrank stand, von wo er alsbald zurückkehrte, sich an seinen Schreibtisch setzte, eine neue Zigarette anzündete und die Brille aufsetzte. Mit dem Bier hatte er ein Bündel Fernschreiben mitgebracht, die jetzt vor ihm lagen. Seufzend lehnte er sich in seinem Sessel zurück mit den Worten: "Work, work, work, work, work, Rohlfs!", wischte sich den Bierschaum vom Mund und begann wirklich mit den commitments, indem er eine lange Nummer wählte. Die Bundeswehr hatte ihr eigenes Netz, um Geld zu sparen, wie Rohlfs dachte, vielleicht auch aus Sicherheitsgründen. Die Amerikaner benutzten das normale Postnetz, die Gespräche über weite Distanzen mussten ein Vermögen kosten oder waren einfach grundsätzlich frei, weil offiziell. Man hatte das Gefühl, die Bundeswehr lebte in einer Art Spielzeugwelt, so als sähen beispielsweise die Telefone äußerlich wie richtige aus, es war aber nichts drin und die Kabel endeten in der Steckdose. Die Welt der Amerikaner, eine Parallelwelt in Deutschland, wog, was die wirkliche Welt wiegt, an der Art, wie sie miteinander umgingen, war nichts gespielt - oder es war eben alles gespielt, das ganz große Spiel gewissermaßen. Es war jedenfalls das Spiel, das Rohlfs auf jeden Fall mitspielen wollte, sein Fenster in die Welt, bis auf Weiteres.

Selbstverständlich wurde im Wagen nichts geschmuggelt, die Grenzen waren ja offen, man würde nicht gefragt werden, ob es etwas anzumelden gäbe. Dennoch war die Stimmung ganz wie in jenem Bus der Schmugglerinnen, der sich alsbald der Kontrollstation näherte. Quer über die fast bloß einspurige Asphaltstraße die übliche Schranke, gestreift in verblasstem Helldunkel, ein barackenartiges Gebäude, davor und daneben Packtische, wie sich herausstellen sollte. War die Stimmung im Bus soeben noch matt, unterbrochen von dem einen oder anderen kurzen Auflachen, so hatte sich auf den letzten Kilometern vor der Zollschranke eine emsige Aufgeregtheit im Bus ausgebreitet, so als müsse doch der eine oder andere Gegenstand der Konterbande noch einmal mit einem anderen den Platz wechseln, und richtig, hier, oder da, wie dumm, hatte man doch allzu offensichtlich eine Abdeckung ausgestopft, also herausgezerrt und glatt gezogen, was eben noch prall strotzte, nur wohin jetzt mit dem überzähligen Teil, einer vielfach gerüschten Jacke? Ob Rohlfs nicht doch vielleicht, nur dieses eine Stück, in der Tasche zwischen seinen Beinen, es sei doch nur für einen Augenblick, nein anziehen könne er die Jacke nicht, wieder großes Gelächter, ob Rohlfs überhaupt verstand? Aber sah er nicht süß aus mit seinen blauen Augen? Englisch konnte man leider kaum, er war doch Amerikaner? Aber da hatte der Bus bereits gehalten und zwei junge Grenzer geboten Ruhe während der Passkontrolle und ob jemand Waren mit sich führe? Waren direkt nicht, wie eine Frauenstimme anhob, der man die Erfahrung vieler Jahre anhörte. Natürlich habe man eingekauft, ein paar persönliche Dinge.

Weitere Erklärungen wurden nicht angehört, es musste der Befehl ergangen sein, den Bus mit allem, was man bei sich hatte, zu verlassen, woraufhin ein heilloses Durcheinander des Stemmens, Schleppens, sich aneinander Vorbeidrängelns, des Stöhnens, des Schimpfens anhob, dem Rohlfs aber auch ein Moment des fröhlichen Einvernehmens anzusehen glaubte. Schließlich musste es jedes Mal so sein, wenn die Grenze überquert wurde, möglicherweise waren es dieselben Zollbeamten, die denselben Bus, dieselben Händlerinnen kontrollierten. Natürlich würde ein Gruß, oder eine Frage nach dem Befinden des einen oder anderen der Uniformierten unbeantwortet bleiben oder gar schroff förmlich zurückgewiesen werden. In den Blicken der Frauen sah Rohlfs aber dergleichen. Trotzdem wurde die Prozedur ansonsten bis auf die üblichen Reibereien, wie es schien, ernsthaft und systematisch durchgeführt. Taschen, Bündel, Koffer, alles, was sich nur aus dem Bus heraustragen ließ, wurde Besitzerin für Besitzerin auf den Kontrolltischen ausgelegt, die etwas erhöht waren, so dass die Grenzer bequemer darin wühlen konnten. Der Busfahrer stand abseits und rauchte eine Zigarette. Im Bus hatten sich zwei Uniformierte zu schaffen gemacht, nicht ohne nach einer Weile bündelweise T-Shirts, Röcke und Verpackungsmaterial aus dem Wagen zu bringen, einer trug Einzelteile eines Kinderdreirads, grün, gelb und rot, woraufhin einer der Frauen im Herumdrehen ein heller Schrei entfuhr.

Auch Rohlfs' Sachen wurden, flüchtiger als die der Frauen, wie er fand, durchgesehen, die gerüschte Jacke hielt der junge Kerl, mit dem er es getroffen hatte, hoch, tauschte einen Blick mit seinem Kollegen, stopfte sie aber in Rohlfs' Tasche zurück, wie der Frau, die direkt neben Rohlfs stand, nicht entgangen zu sein schien, was man an einem raschen Blick sehen konnte, in dem ihre Augen aufblitzten, Rohlfs glaubte auch ein Grinsen erkannt zu haben. Bei allem Ernst, mit dem betrieben wurde, was hier geschah, so war doch jede Menge Berechnung im Spiel.

Beim Wiederbetreten des Autobusses sah Rohlfs, dass einige Verkleidungen wahllos aus ihren Verankerungen gerissen worden waren, wenige, wie er fand, der ja wusste, dass praktisch in jeder Ritze etwas steckte, stapelweise Verpackungen, jetzt wo der Bus leer war, erschienen ihm die Verstecke noch unvollkommener als zuvor. Nun drängte aber schon alles in den Wagen zurück, Taschen und Koffer notdürftig zusammengehalten, lautes Gezeter über erlittene Verluste, Geschiebe, Gedränge, in dem man sich half die schweren Stücke in die Ablagen über den Sitzen zu stemmen. Der Motor lief auch bereits wieder, die meisten hatten ihre Plätze eingenommen, schauten nach draußen, wo sich auf den Tischen die schönen Sachen ausbreiteten, die leider hier bleiben mussten, was mit Kommentaren bedacht wurde, die teils unflätig waren, so dass Rohlfs sie nicht bis ins Detail verstand, teils wohl ironisch, weil sich prompt kollegiales Gelächter erhob, dieses unterbrochen durch einen weiteren Kommentar, dieses Mal offenbar in Richtung auf die Vorrednerin, worauf ein weiteres umso herzlicheres Lachen anhob. Man hörte das Schnappen von Verschlüssen, zufriedene Ausrufe und die Stimmung hob sich immer mehr, je kleiner die Grenzstation beim Blick aus dem hinteren Fenster des Busses wurde. Das war ein emsiges Aufreißen von Wandverkleidungen, Rückwänden von Sitzen, Herausschieben von Leisten, die die Decke hielten, und so wurde nun alles hervorgeholt, was vor den Augen der Grenzer verborgen worden war. Jedes einzelne Stück wurde mit Ausdrücken der Bewunderung emporgehalten, fein säuberlich zusammengefaltet, auch die Etiketten waren bald gefunden, und die auch so wichtigen Originalverpackungen der begehrten Produkte aus dem Westen.

Ein solcher Überlandbus bestand überhaupt nur aus Hohlräumen, keine Frage, dass Zollbeamte so etwas nicht wussten. Was aber, wenn zu scharf kontrolliert würde? Wäre dann der Teil zu haben, den Rohlfs auf den Auslegetischen gesehen hatte? Würde dann nicht über kurz oder lang das Reisen in das südliche Nachbarland ins Stocken geraten? Die Schmugglerinnen machten ihre Witze über die Dummköpfe, die mal wieder nur die weniger wertvollen Stücke erwischt hatten. Das Dreirad war wohl wirklich für den kleinen Sohn einer der Frauen bestimmt gewesen, was der Zöllner aber durchaus nicht glauben wollte, da halfen keine Erklärungen, kein Betteln, keine Angebote, etwas anderes dafür zu nehmen, was der Junge weit von sich wies, im Dienst wie er war. Dr. Reich war, wie er erzählte, vor dem Krieg, Mitarbeiter des Königsberger Rundfunks gewesen, da der Sender sich noch im Aufbau befand, sogar an leitender Stelle trotz seiner jungen Jahre. Wer sich die Mühe machte, konnte nachlesen, was genau er da tat, bevor er gleich von Anfang an zur Wehrmacht eingezogen wurde, wo er zuletzt Hauptmann war, verglichen mit den Hauptleuten der Bundeswehr noch ein richtiger Hauptmann, wenn man verstand, was er meinte. Nazi war er dagegen nicht, aber der Krieg hatte ihn zynisch gemacht, was allerdings deutlich nur zu Tage trat, wenn man ihn reizte, oder wenn er zu viel trank. Angesichts seiner Leibesfülle kam das eher selten vor. Ansonsten nahm er Rücksicht, war sogar ausgesucht höflich, ein Mann ganz noch aus einer anderen Zeit. Am Telefon hörte man ihn sagen: "Gnädige Frau", in einer völlig anderen Tonlage, als es fast nur noch Vertreter im Munde führten, wie Rohlfs als Kind zuweilen gehört hatte und was ihm sonderbar vorgekommen war.

Königsberg war nach dem Krieg kein Ort mehr, verloren für alle Zeiten wie manches, so dass es Reich in den Westen verschlagen hatte, das heißt, wo er einfach blieb, weil ein Zurückkehren ausgeschlossen war, eigenartigerweise auch in den alten Beruf, obwohl ja in der neuen Bundesrepublik aufgebaut wurde auf Teufel komm raus. Dr. Reich blieb beim Militär hängen, ähnlich wie manche bei der Army, die immer und immer wieder neu unterschreiben. Anfangs konnte man bei der US Army gut einen Job finden, wenn man Englisch sprach, später hatte die Bundesrepublik einen eigenen Sprachendienst, der zuverlässige und erfahrene Leute einfach übernahm. So blieb Reich in Tuchfühlung mit dem Militär ohne selber Soldat zu sein, eine Distanz, die er auskostete, einerseits, weil er die Bundeswehr mit Geringschätzung betrachtete, unprofessionell, wie er sie fand, andererseits fand er das US-Militär in seiner Siegerrolle weniger beeindruckend als allgemein üblich, schließlich kannte er es gewissermaßen von innen. Seine Hauptstärke bestand in erster Linie im ungeheuren wirtschaftlichen Reichtum des Landes jenseits des Atlantiks, des Landes des zwanzigsten Jahrhunderts schlechthin. Da war gut Sieger sein, wenn alles, aber buchstäblich alles schiffsladungsweise oder als Luftfracht ohne jegliche Einschränkung hergebracht wurde, in ein Land, in dem noch nie etwas zur Verfügung gestanden hatte ohne die Frage: Wer soll das bezahlen?

Reich selber war auf eine Weise geizig, die an jene Zeiten der Sparsamkeit erinnerte; vollends zum Tick hatte sich dieser Geiz in seiner Wühltischvariante bei Reich ausgebildet. Sgt. Conley war nie um ein Witzchen verlegen, was Dr. Reich alles in seinem Schreibtisch und erst in dem großen Büroschrank hinter sich gehortet hatte. "Stupid old Reich, can't believe, what this crazy man hides down in his desk!" Wenn Rohlfs Reich an seinem Platz vertrat, zog er manchmal vorsichtig an einer der Schubladen, wo er vielleicht ein Lineal suchen konnte. Tatsächlich war aber alles vollgestopft mit kleinen Gegenständen, meist noch in der Plastiktüte, in der er die Sachen eingekauft hatte, samt Kassenzettel, wie Rohlfs las, zehn, zwölf Jahre alt.

In armen Ländern, weitgehend also dem Süden, war man, wie es Rohlfs schien, den Torheiten der Mode schon deshalb in einem gewissen Maße enthoben, weil dazu einfach das Geld fehlte. In einem bestimmten Alter hörte man auf modisch zu sein, während die Jugend durchaus bestrebt war den globusumspannenden Trends zu folgen, was sich im Kontext des Kolorits des jeweiligen Landes durchaus komisch ausnehmen konnte. Erwachsene waren irgendwann einer Art des sich Gebens gefolgt, die nur noch minimale Spuren der Tatsache aufwies, dass sich ihre Jugend in dem und dem Jahrzehnt ereignet hat. Alte Leute zeigten sich gewissermaßen als zeitlos alt, wenn man einmal von der beliebten Schlägermütze der Greise absah, die wohl in den Zwanzigerjahren modern war und eventuell sogar Aufsehen erregte. Bert Brecht hatte man nie mit Hut gesehen, sondern mit eben dieser Schlägermütze, die er vielleicht aus praktischen Gründen trug, ebenso wie seine Lederjacke, das Urteil seiner eher weniger proletarischen Umgebung mochte ihm dabei egal gewesen sein. Rohlfs erinnerte sich einmal Klagen Brechts darüber gelesen zu haben, dass sich Hosen an den Knien zu leicht ausbeulten, ob sich denn kein Stoff erfinden ließe, der das verhinderte. Also durchaus eitel, fragte sich Rohlfs, oder eben vor allen an praktischen Dingen im Sinne des Machbaren interessiert. Alte Männer trugen nicht Jeans, jedenfalls keine, die an den Beinen eng angelegen hätten, überhaupt keine eng anliegende Kleidung, aus Gründen, über die sie sicherlich nie nachdachten. Frauen, die so dick waren, wie man es im Süden aus den verschiedensten Gründen, die jedenfalls für die armen Leute solche waren, wurde, trugen auch nicht Jeans, allenfalls Frauen zu  besonderen Anlässen, die glaubten sich gerade noch darin sehen lassen zu können, was im Kontext alles anderen, womit sie sich bei dieser Gelegenheit schmückten, tatsächlich auch nicht hässlich aussah. Überhaupt unterschied man zwischen Alltags- und festlicher Kleidung, so wie man überhaupt unterschied zwischen dem, was als normal oder natürlich zu gelten hatte, und dem, worauf es einem ankam.

Niemand kam auf die Idee sich etwa in natürlicher Haltung fotografieren zu lassen. Zum Foto gehörte die Pose. Zu glauben, je zufälliger man auf einem Foto getroffen sei, desto weniger Verantwortung müsse man dafür tragen, wie man darauf aussah, lag den Leuten völlig fern. Natürlich waren die Posen völlig konventionell, Rohlfs kam kaum auf ein Dutzend und wusste ansonsten auch niemanden, der sich darüber auch nur einen Gedanken gemacht hätte. Überhaupt suchte niemand nach dem Unkonventionellen, das Neue war wirklich neu, in dem Sinne nämlich, dass das Alte verbraucht war.

Wie anders in der Welt, aus der und vor der er ständig floh! Das Wort "neu" hatte überhaupt keine gegenständliche Bedeutung mehr, weil man ständig alles neu hatte. Rohlfs hörte von Kindern, die ihr Mobiltelefon vor den Eltern versteckten und behaupteten, sie hätten es verloren, weil ein neues auf dem Markt war, das alle anderen schon hatten. Nur dass es bei denen weiter kein Thema war, dass bereits vier, fünf völlig intakte, aber veraltete Handys in Schubladen lagen. Natürlich sah man die neuesten Handys auch in armen Ländern in den Reklamen, aber kaum einer konnte sie sich leisten. Ein altes hatte praktisch jeder, schon deshalb, weil das Festnetz Gesetzen gehorchte, die man auf diese Weise umgehen konnte. Ständig zu telefonieren war eine Sitte der armen Leute geworden wie Radiohören oder Fernsehen. Man hörte die gleichgültigsten Unterhaltungen auf Parkbänken oder im Vorbeigehen auf dem Bürgersteig, und natürlich telefonierte man auch am Lenkrad, das allerdings ohne in Deutschland geltende Verbote, die man erst gar nicht aussprach, wenn sie selbst in den reichen Ländern missachtet wurden. Das Handyverbot in der Schule wiederum funktionierte, weil es wie die vielen anderen widersinnigen Verbote, die es auch nur in der Schule geben konnte, hingenommen wurde, weil es eben die Schule war. Greise telefonierten nicht mobil, Alte schon. Offenbar war der Gebrauch des Handys in Mode gekommen zu einer Zeit, als die heutigen Alten sich noch eines zulegten. Damit hielten sie die Jüngeren auf Trab. Die Tatsache, dass der einzelne Anruf nichts kostete, brachte sie außer Rand und Band. Immerhin konnte man das Mobiltelefon abschalten, wenn man in Ruhe gelassen werden wollte, was wiederum die Alten, vielleicht aus Pflichterfüllung, nicht taten, weshalb es in ihrer Umgebung ständig tirilierte, summte und was sonst noch alles von Enkeln und so weiter als Klingelton installiert worden war. Telefonitis war eine Marotte der heutigen Alten, so wie es solche derer von früher gegeben haben mochte, da war Rohlfs sich sicher, aber offenbar hatte ihm dafür der Sinn gefehlt, als die jetzt Achtzigjährigen erst sechzig waren.

Rohlfs' Großvater hatte noch Hut getragen, jedenfalls wenn er ausging, sogar Rohlfs' Vater noch, wenn auch später dann seltener. Ein kleines grünes Cordhütchen, wie man es in den Sechzigern trug, hatten sie noch mit in den großen Sack mit Textilien gesteckt, als sie seine Wohnung ausräumten. Einen Augenblick lang hatte Rohlfs gedacht, dass man von allem vielleicht am ehesten diesen Hut aufheben müsste. Aber wo bewahrte man ein proletarisches Hütchen von vor fünfzig Jahren auf, speckig wie es war, und im übrigen waren schon einige andere Kleidungsstücke ohne weitere Bedeutung über den Hut in den Sack gekommen, so dass Rohlfs den Gedanken bald fallen ließ. Der Gebrauch von Kopfbedeckungen war im Verlauf der sechziger Jahren dem Tragen immer längerer Haare gewichen. Ein Hütchen auf einer Prinz-Eisenherz-Frisur würde erst die Erfindung einer ganz anderen Generation werden, übrigens dann bereits genau wieder jenes kleinen Hutes, der die Hüte mit breiten Krempen früherer Zeiten verdrängt hatte. Die Version, die man jetzt in den Kaufhäusern und auf den Märkten zu kaufen bekam, war seinerseits eine Reaktion der Modeindustrie auf jenen Gag, was soviel bedeutete, dass das Hütchen seine hippesten Zeiten wieder einmal hinter sich hatte.