Dienstag, 27. November 2018

Z. Z. II



[Jan Cossiers "Prometheus
 als Feuerträger" (1636/38)]






»Frankensteins Steinigung«


Hier sitz’ ich, forme Menschen 
Nach meinem Bilde,
Ein Geschlecht, das mir gleich sey,
Zu leiden, zu weinen,
Zu genießen und zu freuen sich,
Und dein nicht zu achten,
Wie ich! 
[Johann Wolfgang von Goethe]


Von Prometheus berichten vier Sagen: Nach der ersten wurde er, weil er die Götter an die Menschen verraten hatte, am Kaukasus festgeschmiedet, und die Götter schickten Adler, die von seiner immer wachsenden Leber fraßen.
Nach der zweiten drückte sich Prometheus im Schmerz vor den zuhackenden Schnäbeln immer tiefer in den Felsen, bis er mit ihm eins wurde. Nach der dritten wurde in den Jahrtausenden sein Verrat vergessen, die Götter vergaßen, die Adler, er selbst.
Nach der vierten wurde man des grundlos Gewordenen müde. Die Götter wurden müde, die Adler wurden müde, die Wunde schloss sich müde.
Blieb das unerklärliche Felsgebirge. – Die Sage versucht das Unerklärliche zu erklären. Da sie aus einem Wahrheitsgrund kommt, muss sie wieder im Unerklärlichen enden. [Franz Kafka]

Abteilungen geflügelter Wesen, deren Augen ihn anblickten, jede Abteilung mit einer höheren befehlenden Kreatur an ihrer Spitze, rissen ihn durch gewundene Gletscher. In Lucias Pupille sah er endlich den roten Planeten in all seiner Pracht, Phyllosilikate, wasserreicher Lehm, Schwefel und hydrierte Mineralien in allen Schichten, umkreist von Phobos und Deimos.
Durch Stäbchen und Zapfen der Netzhaut hindurch näherte Rohlfs sich der Sehbahn, drang ein in die Ganglien und wurde zurückgeschleudert in die Abzweigungen des Axons. Erst an der nahenden Sehnervenkreuzung gelang ihm der erste Ruf: "Nun, Lucia, zeigt er sich ganz deutlich von allen Seiten, den Fremden zeigt er sich gedankenlos, überströmenden Sturzbächen gleichend, vielleicht unverständlich wie dichter Schnee, doch Phobos nähert sich uns, er entfernt sich, unser Fassungsvermögen überschreitend, nähert sich, naturgemäß und vorsätzlich, auf dem Weg zu Aphrodite und Ares, um sie endgültig zu zerstören und neue Götter zu gebären. Aber dennoch, Lucia, werden wir uns einrichten in der Nacht, in den Pyramiden, am Ort des schärfsten Sehens und des Rußes. Wir werden teilhaben an dem lichten Gift der Götter, die wir leugneten." Phobos indes antwortete: "Schau hinein in das Innerste der Kreatur, du siehst es in ihren Augen, das Schwarze Loch, es verschlingt und gebärt. Hierin bist du Abbild. Und zahllos sind sie, blutlos, und heißen daher, außerhalb der Ordnung, Götter." In den Kollateralen nahm Rohlfs die Umrisse einer Orgel wahr, die langsam anschwellend die Erinnerung an das, was er Lucia mitzuteilen gedachte, zersetzte. Ares hob mahnend den Zeigefinger seiner rechten Hand: "Was zeigst du uns? Den Innenraum einer Fabrik? Museumsbesucher? Thermen und Spielplätze, wo die Jugend durch Lauf, Sprung, Faustkampf, Speer- und Diskuswurf, Ballspiel, Schwimmen und Baden kräftig und beweglich werden sollte? Eine Straßenszene in Pakistan, den Taj Mahal, ein Haus in Neuengland, Fische auf dem Grill, ein chinesisches Abendessen, eine Gruppe sitzender Kinder, Adler und Delfine? Eine Tänzerin aus Bali, einen Mann aus Guatemala, Frauen aus den Anden, ein auf dem Rücken liegendes Krokodil, die Verschiebung der Kontinente, die Anatomie des Menschen, ein Streichquartett und Eiskristalle!" Tsunamis überfluteten das ausgedörrte Land unterhalb des Olympus Mons. Zu dem Sturm gesellten sich die furchtbarsten Gewitter mit Regen, Schnee und Hagel. Nec deus intersit, nisi dignus vindice nodus inciderit. Vom Fuß des gewaltigen Berges hinab schleuderte Rohlfs den zornigen Göttern seine frohe Botschaft entgegen: "Alles ist nichts als Betrug! In der Unverantwortlichkeit und Unverbindlichkeit sind sie euer Abbild!"
Die wenigen menschlichen Wesen, ausnahmslos Kosmonauten, hörten ihn nicht mehr. Überrascht von der Flut versanken sie samt ihrer Forschungsstationen unter den Wogen. [Aus: Liana Helas »Ulise 2022«]

  Prometheus, erneut herabgestiegen, längst verkommen zum Gespött der Titanen, die sich nach ihrem vorläufigen Sturz am Rande der Tharsis-Region in der himmlischen Sphäre der Kriegsgottheit blutlos und rachsüchtig auf dem Olympus Mons jeder weiteren Benennung zu entziehen wissen. Der falsche Freund der Menschenströme, Ausgeburt ihrer trügerischen Phantasie, lockt zur letzten Überwindung der in die Welt der Worte entwichenen Übel. Wachstum und Fortschritt heißen die Phantome, auf deren Flügeln die besagten Ströme in ein Massengrab am Fuße des alsbald feuerspeienden Wohnsitzes der Götter entführt werden. Prometheus, verbündet mit seinem unheilvollen Bruder Epimetheus und dessen pyromanischer Tochter, laden in vierzig Kabinen zunächst einhundertundzwanzig terrestrische Wesen zur Kolonisation des rostfarbenen Gestirns. Die irdischen Begünstiger der Götzen, grandomane Paraphreniker seit jeher, verbreiten Hoffnung mit dem Überschall aus ihren Büchsen. Die Vielfalt der Namen, mit denen man ihre Heilsversprechen assoziiert, reicht von den Merseburger Zauberern bis zu Unternehmern wie Elon Musk, von altägyptischen Priestern bis zur NASA, vom Mann Moses bis zu Microsoft Windows.
  He Jiankui verkündet die Geburt zweier künstlich erzeugter Säuglinge, während sich im Hintergrund die Doktoren Faust und Frankenstein, ganz gemäß der nüchternen Erkenntnisse des Frankfurter Geheimrats und der angelsächsischen Dichterin, über ein vorgestelltes Schachbrett beugen und herausragenden Königen einen rein abstrakten Krieg erklären, in dem die Damen dominieren. Wer wirft den ersten Stein? Wer setzt die wortwörtliche Welt erneut in Flammen mit der althergebrachten Fackel? Wer hält die selbstverschuldeten Brände in Schach?
  Der hybride Mensch, von dem Freud zu Beginn der Dreißiger Jahre spricht, der "Prothesengott", das ist der Mensch seit Prometheus, und zwar deshalb, weil er Technik nutzt, unser »homo faber«. Allmächtig wird er darum nicht, wie Frisch ja zeigt, sondern ganz und gar archaisch, bis auf die paar Prozent Grips.
  Was zu zeigen ist, das ist, dass der Mensch nicht, was alle immer anstaunen, mit seiner Technik die Welt in die Mache nimmt, sondern seine Welt, das heißt, hauptsächlich sich selber. Es ist davon zu erzählen, wie wir uns medienkompatibel machen, weil der Besitz eines solchen und die Geläufigkeit im Hantieren mit einem Medium uns Status verleihen. Natürlich wird kein Unterschied gemacht zwischen den verschiedenen Medien, was diejenigen anfuchst, die ihr geheiligtes Medium in eine Reihe gestellt sehen mit ihnen ganz und gar unheiligen Gegenständen. Der Priester wird seinen Kelch heben, worin ihm der gewandelte Wein schwappt, und es wird eben doch nur ein Gefäß und der Wein bloß Wein sein. Der User googelt, und das Profil seiner Suche weist ihn aus als der, der er ist. Die Informationen, die er auf seinem Bildschirm findet, werden ihn nicht zu einem Wissenden machen, schon gar nicht die, die er finden könnte, würde er nur danach suchen und hätte er die Zeit über alles, was er findet, auch nur einen Augenblick nachzudenken.
  Der aktuelle Prometheus rast nicht in einer Rakete durchs All, in Lichtgeschwindigkeit rasen Botschaften auf ihn zu, die ihn doch nicht erleuchten. Zufällig könnte jemand Erleuchtung auch durch das Netz erfahren, aber mit keinem bisschen mehr Gewissheit als in der Begegnung mit egal welchem anderen Gegenstand, in dessen Handhabung er es zu einer gewissen Geläufigkeit gebracht hat. Sagen wir mit der Schuhbürste des Schuhputzers im Flughafen von Asuncion, Paraguay. Natürlich hat so ein Bengel heute auch irgendein Handy, bei dessen Handhabung in seinen Schuhputzerflossen ihm je eingefallen wäre, dass es ihn Schuhputzer sein lässt, und zwar bis auf sehr Weiteres. Wie er die Bürste handhabt, darin werden wir es ihm so leicht nicht gleich tun, so wenig wie wir überhaupt je jemand anderes sein können. Das Handy macht aus dem handydaddelnden Schuhputzer einen handydaddelnden Schuhputzer.
  Der transhumane Mensch, das ist der hybride Mensch in seiner Hybris, nämlich seiner Selbstüberhebung. Das, worin wir uns verfehlen, macht uns zu Zombies, und das tool, mit dem wir es bewerkstelligen, kann so gewaltig sein wie einst die Atombombe in ihrer Monstrosität. Es kann aus der Zeit gefallen sein wie der Kelch, den der katholische Priester emporhebt, in dem sich entgegen allem, was offensichtlich ist, etwas gewandelt haben soll nach einem mittelalterlichen Begriff davon, was das denn sei. Wenn die Handhabung dieses Werkzeuges bewirken kann, dass die Verbrechen dessen, der es handhabt, unberücksichtigt bleiben sollen, dann stellt es die Schnittstelle dar zu einem schrecklichen Menschen.
  Wäre bloß das Interface von Elektronenhirn und hergebrachtem Oberstübchen das, wovor wir zu zittern und uns zu schützen hätten, wir hätten umsonst gezittert vor dem, was der hybride Mensch uns schon angetan hat, angefangen bei Stock und Stein. [Liana Helas]



Dienstag, 20. November 2018

Z. Z. I



[Herbert James Draper, "Ulysses and the Sirens" (1909)]




Versuch über den »Helden«


Glory! Glory! Hallelujah!
Glory! Glory! Hallelujah!
Glory! Glory! Hallelujah!
His truth is marching on.
[Julia Ward Howe / Roy Ringwald / William Steffe]

We don't need another hero,
We don't need to know the way home
All we want is life beyond the Thunderdome
[Graham Hamilton Lyle / Terry Britten]


Dass Mithra nicht Mensch geworden war wie der Gekreuzigte, hat ihn wohl von vornherein dem jüdischen Heiland unterlegen sein lassen. Vielleicht – so könnte man einen Augenblick, den Blick auf gewisse mythologische Analogien gerichtet, denken – hätte der griechische Herakles, der ja ebenfalls der Sohn eines Gottes und eines Menschweibes war, der als Knecht diente und die niedrigsten Arbeiten verrichtete und der sich, wie der Gekreuzigte, selbst opferte um darauf zu seinem Vater im Himmel zurückzukehren, eine solche Rolle übernehmen können. Wurde er doch nicht nur als Heros gefeiert, sondern in manchen Gegenden Griechenlands als Gott verehrt! Aber Herakles stand nicht im Brennpunkt der antiken Welt, wo Morgen- und Abendland sich berührten, sondern am Rande, irgendwo in Attika oder Böotien. Er erlebte nicht mehr die hohe Zeit der Jahrhunderte vor und nach Beginn unserer Ära, da, zur Zeit Alexanders des Großen und im Römerreich, die Religionen, die Kulturen, das Denken aus ihren Grenzen traten, ineinanderflossen, sich befruchteten, wie es der Gekreuzigte erlebte. Er war zu früh, er verkam irgendwo am Wegrand der Weltgeschichte. Sie ergriff ihn nicht, indem sie ihn zum Weltgott erhob, seinen lokalen Kult zur Weltreligion erweiterte.
Übrigens wäre seine ethische Substanz, trotz seiner ungeheuerlichen Selbstopferung, wohl zu gering für diese Rolle gewesen; er war ja weder für die Menschen noch für eine Idee gestorben, sondern um die Qualen zu beenden, die ihm das von seinem Weibe geschenkte, vergiftete Nesselhemd bereitete. [Willy Piehler]

 Der Klang des Heldenbegriffs reicht, spitzt man die Ohren, weit zurück in die Wiege der Zivilisationen und ihrer Kulturen. Die Natur zeichnet sich indessen nicht durch eine willentliche Verherrlichung ihrer zahllosen Schöpfungen aus. Bis hin zur Erschöpfung geht hingegen eine ihrer sonderbarsten Erscheinungsformen über sich selbst hinaus. Im Fabelhaften flackert noch die Teilhabe des selbsternannten Menschen an seiner Herkunft aus dem Reich der Natur auf und die Ähnlichkeiten mit anderen Erscheinungsformen der lebensspendenden Natur stechen sofort ins Auge: Als mörderisches Raubtier ähnelt er seinen Artverwandten, den sogenannten Tieren; aus bloßem Drang zur Benennung durch ihn selbst so bezeichnet, reißt, lyncht, verschlingt und triumphiert er über seine Beute aus der Vielzahl des jeweils Unterlegenen. Überlegenheit signalisiert das Brüllen des Löwen, den er achtet, dessen Macht sich ihm eingebrannt hat, so wie das Reh den Menschen instinktiv zu meiden versteht. Das Brüllen des Siegers über den Besiegten imitiert jedes Wesen, das seine Überlegenheit zu demonstrieren weiß.
 Bisweilen verschwindet das Monstrum Mensch aus dem Blickfeld, stets aber erweckt die Selbstbehauptungsmaschine Mensch ein langanhaltendes Schaudern, wenn sie, in welcher Form auch immer, zur Tat schreitet. Seine Verwandtschaft mit dem Affen zeigt sich, wenn das besagte Wesen die Fassung verliert, die Zähne fletscht, sich fortpflanzt oder über einen Nebenbuhler herfällt. Dann wiederum erregt es Aufmerksamkeit durch seine Nachahmung kreischender Vögel. Im despektierlichen Ausdruck des Weiberhelden steckt mehr als ein Fünkchen Wahrheit.
 Sind es nicht glückselige Zeiten, in denen der Heros wie ein blutrünstiges Relikt aus den finstersten Zeiten der Geschichte wirken muss? Kaum, möchte man glauben, gäbe es eine Ära, in der ein sagenumwobener Heros weniger zu suchen hätte als in unserer unterkühlten, digitalen Epoche, die allenfalls Geschäftsleuten im Bankwesen oder der IT-Branche sowie Athletinnen und Athleten zu unermesslichem Ruhm verhilft.
 Siegfried, der legendäre Drachentöter, blieb ähnlich wie die allermeisten seiner Vor- und Nachfahren, vor allem durch sein Scheitern in der Erinnerung der Nachgeborenen. Im Gegensatz zu namhaften Ahnen wie Herakles und Odysseus, dem Namenlosen, übertrieb es der nordische Held mit seinem Falschspiel insbesondere dem anderen Geschlecht gegenüber. Sein Versuch die tapfere Brünhild zu übertölpeln wird ihm schließlich zum tödlichen Verhängnis, sodass die Verachtung des weiblichen Stolzes sein Schicksal gewissermaßen besiegelt und ihn als Weiberhelden disqualifiziert. Der listenreiche Odysseus hingegen lässt sich weder bezirzen noch beeindrucken oder betören. Den zumindest in der Fassung Homers zwei ebenfalls namenlosen Sirenen lassen sich bis zum heutigen Tag ohne weiteres zauberhaft klingende Namen andichten; ob Ligeia oder Lady Gaga, man darf vermuten, dass es sich um äußerst verführerische Nervensägen gehandelt haben muss, die seit jeher um die volle Aufmerksamkeit der Konsumhelden buhlen. Entscheidend aber ist, dass der Namenlose dem Rat der Kirke folgte und nur so weiteren Irrungen zu widerstehen wusste, um letztlich das Familienglück in der ersehnten Heimat zu wählen, wo das wiedervereinte Paar seitdem mit eher rührseligen Nachrichten von sich reden macht. „Paar rettet Eichhorn-Baby – und zieht es groß“, lautete erst kürzlich eine Schlagzeile. Penny, so heißt es, habe ihren Pantoffelhelden nach und nach derart verzärtelt, dass man Ulis legendären Ruhm inzwischen nahezu vergessen hatte. Immerhin ist Penny geschäftstüchtig genug, um immer wieder Kapital aus den phantastischen Geschichten ihres Gatten zu schlagen. Sowohl der Dichter aus Dublin, dessen Version den realen Verhältnissen vermutlich am nächsten kommt, als auch die namhaften Produzenten des italienischen Monumentalfilms »Ulisse« beteiligten Penny, was zugegebenermaßen kaum bekannt ist, stillschweigend an ihrem Umsatz. Die Darstellung des Protagonisten erinnert im Übrigen eher an die eines Cowboyhelden, was allerdings auch dem überwiegenden Einsatz des Leinwandhelden im Genre des Western geschuldet ist.
 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang vielleicht noch die Tatsache, dass es der treuen Ehefrau aus Sparta aus unerfindlichen Gründen beinahe gelang, einen Sonderling aus Prag für eine beträchtliche Zeit zum Schweigen zu bringen, da dieser mit dem Gedanken spielte, die List ihres Helden hinsichtlich seiner Begegnung mit den Sirenen als „unzulängliche, ja kindliche Mittel“ zu entlarven. Erst jetzt beginne sie allmählich, so wird gesagt, nach mehr als einem Jahrhundert, sich auch mit dieser Version zu versöhnen, zumal sich die Sirenen unterdessen nahezu vollständig ins Showbusiness zurückgezogen haben.
 Die Superhelden der jüngeren Vergangenheit, die Fiktionen von Cervantes bis Stan Lee, brachten gerade noch übertrieben komische Figuren hervor, die in ihrem vergeblichen Kampf gegen Maschinen bestenfalls ein Schmunzeln hinterlassen. Erst im Gegenentwurf zum tragischen Helden tritt das Lächerliche des Gesamtkonzepts in seiner ganzen Tragweite hervor und es gilt erneut, das Wachs im rechten Augenblick aus den Ohren zu entfernen, um jenen Gehör zu verschaffen, die sich ihrer Taten nie rühmten. Als Gegenentwurf zum ruhmreichen Helden eignet sich spätestens seit Franz Kafkas Miniaturen vornehmlich ein Mann namens Sancho Pansa, der sich lediglich durch seine unscheinbare Eigenschaft als Genosse auszuzeichnen scheint. »Die Wahrheit über Sancho Pansa« (1917) wird in zwei Sätzen inmitten des tobenden Weltkrieges evident. Der Antiheld tritt als ein „freier Mann“ ins Zentrum des Geschehens und versteht es, jede Form rühmlicher Taten dem „Teufel“ zuzuschreiben. Sancho Pansas Haltung gegenüber den Verrücktheiten des Helden ist die eines gleichmütigen Beobachters, dem es schelmenhaft gelingt, durch Literatur, in seinem Fall „Ritter- und Räuberromane“, den Tatendrang des Teufels, so nennt er seinen Meister, dergestalt zu entwaffnen, dass dieser wenigstens keinen ernstlichen Schaden anzurichten vermag. Die freie Stelle des schelmischen Helden bleibt, wenn nicht aus logischen, so jedenfalls aus zeitbezogenen Gründen vorerst vakant. [Liana Helas]



Samstag, 10. November 2018

S / W 1



[»Departure«, Lorena Kirk-Giannoulis (2017)]











Robert und Bertram

Zauberposse (Prolog im Himmel)









1





  "...ich wiederhole man weiß nicht warum trotz Tennis die Dinge sind so man weiß nicht warum"

(Samuel Beckett)









Was sich die wenigsten klarmachen, nämlich dass man erst einmal selber glauben muss, was einem andere glauben sollen. Ich möchte sagen, das ist ja wohl logisch, und man weiß es eben auch von Lügnern, ich meine Leuten, die gewohnheitsmäßig lügen. Weil's nämlich besser ist gleich die Dinge zu erfinden, anstatt zu behaupten, das sei nun die Wahrheit und nichts als die Wahrheit, was man den Leuten erzählt. Es ist natürlich klar, dass du nicht sagen kannst, ich lüge dir jetzt das und das vor. Tatsächlich ist es auch nicht ganz verkehrt, was abgefeimte Lügner einem so auftischen. Es ist geradezu die beste Technik unverblümt die Wahrheit zu servieren, wenn beispielsweise eine stinkende Lüge erwartet wird.

Mein Vater wurde nicht müde die Geschichte vom Kaffeeschmuggel zu erzählen. Ein altes Mütterchen schmuggelte ihr halbes Pfündlein Kaffee in der Eisenbahn und packte es vor den Augen eines Mitreisenden noch einmal zurecht, sich darin ergehend, der Zoll möge es doch hoffentlich nicht entdecken. Der Zollbeamte, kaum, dass er das Abteil betreten und die obligatorische Frage gestellt hatte, die üblichen Lügen überhörend, brachte den zu erwartenden Einwand hervor, es röche aber eindeutig nach Kaffee, und was er davon halten solle. Der Mitreisende des alten Mütterchens wartete nicht eine Sekunde und im Ton des braven Bürgers, der einen Schwindel nicht durchgehen lassen will und darum dem Herrn Oberzollinspektor beispringt, sprach er: "Da schauen Sie nur im Koffer der Dame nach, sie hat Kaffee darin versteckt!" Ob das stimme, wollte der Beamte wissen, und sie solle nur gefälligst den Koffer herabholen und unverzüglich öffnen, was die alte Frau unter vielem Ächzen und Jammern tat. Der Beamte konfiszierte sogleich das halbe Pfund Kaffee, wozu er seinen Gehilfen rief, der für den Abtransport der Asservaten zuständig war. Man konnte sich denken, wie über derlei Konfiskationen Buch geführt wurde und sah förmlich den Kaffee im Hause der Herren Zolleinnehmer dampfen. Kaum hatten die Uniformierten das Abteil verlassen, erhob das Mütterlein von Neuem sein Klagen und schimpfte, was für ein gemeiner Kerl ihr Mitreisender doch sei! Der indessen stand mit jovialem Lächeln auf: "Verehrtes Mütterchen", sprach er, langte nun seinerseits nach dem Koffer, der über seinem Platz in der Ablage ruhte, ließ die Schlösser aufschnappen und indem er einen Schal und sonst noch ein dünnes Kleidungsstück zur Seite schob, der Frau traten die Augen vor den Kopf, kamen etliche Päckchen Kaffee zum Vorschein. "Was der Zöllner beim Betreten des Abteils gerochen hat, war natürlich nicht Ihr eines Päckchen", wie der Frau nun auch klar wurde, die vor Staunen eine Hand mit gespreizten Fingern vor den Mund hielt, der ihr weit offen stand. Nun überreichte der Mitreisende ihr zwei seiner Pakete mit einer Verbeugung, wie es sich gehörte, die Frau aber kam mit einer solchen Unverfrorenheit nicht zurecht, denn insgeheim fand sie schon, dass man den Zoll nicht derart betrügen durfte, wie es der Reisende tat, weshalb trotz des versöhnlichen Ausgangs auf der weiteren Fahrt kein rechtes Gespräch aufkommen wollte. Denn darin sind ja die Leute sich einig, dass nämlich gelogen werden musste, aber Lüge war nicht Lüge, und davon, dass die Zöllner ihrerseits von den beschlagnahmten Waren einiges abzweigten, damit konnte man einer Frau wie ihr nicht kommen. Jawohl, es musste geschmuggelt werden in schlechten Zeiten wie den ihren, und die Staatsmacht war allzu genau, was man zurecht beklagte. Aber Recht und Ordnung mussten darum doch sein, und dass ein Mann eine alte Frau verriet, war trotzdem schlimm, noch dazu, wenn er selber offenbar wohlhabend war. Nein, Staatsdiener würden keinen Vorteil aus ihrem Amt ziehen, jedenfalls nicht in Deutschland!

Welcks und Bäumlers verlogenes Vagabundendasein war von Beginn an nichts als das zweier komischer Gestalten. Mit vollem Magen, Bouillon mit Nudeln und Klößen, ließ es sich mit Leib und Seele musizieren. Und doch: Vielleicht haben wir das Maul hin und wieder zu weit aufgerissen, Bäumler. Als Gelegenheitsdichter, Poeten, Improvisatoren, Deklamatoren, Musikfreunde und Komponisten haben wir uns so lange mit der blasphemierten Gerechtigkeitsbefehlsvollstreckungsmaschine angelegt, bis wir uns unwissentlich zu Handlangern der Braunhemden machten. Klar, du wirst mir entgegnen, man habe nicht wissen können, dass sich Strambachs Neffe zum Standartenführer hocharbeitet, zumal wir hier schon von Michels Reinkarnation reden, was selbstverständlich bisher nur wir beide wissen konnten und was hiermit klargestellt werden soll. Andererseits sind wir natürlich und tatsächlich zur Unsterblichkeit vermaledeit, Alter, und wir haben uns und den Menschen in unserer Umgebung um der Liebe einer lasziven Wirtstochter willen erheblichen Schaden zugefügt. Dieser Schaden, mein Lieber, hat dazu geführt, dass wir beinahe in Vergessenheit geraten wären – und nun gilt es mit Bedacht zu musizieren, Junge, und das Maul bloß nicht mehr allzu weit aufzureißen. Noch immer lauert überall die Gefahr, dass die Falschen applaudieren, wenn wir Muss i denn zum Städtele hinaus trällern, was sonst. Jedenfalls hat sich der Michel dem Suff ergeben und das Lenchen dem King. Wir hätten glücklich miteinander werden können, das Lenchen und ich. Das ist die Wahrheit, ohne Witz! Und, im Ernst, eine blendende Dummheit dazu. Nach dem Standartenführer stürzte sich der King in die klaffende Leere in Lenchens Brust. Für einen Herumtreiber war da wohl kein Platz mehr, oder was. Bis nach Kanada bin ich dem alten Mädchen gefolgt, wohin sie dem King nachreiste. Zuerst hatte ich ihr in Bad Nauheim ein Zimmer gemietet, von dem aus sie einen Blick auf den King zu erhaschen hoffte. Und du glaubst, Halunken kommen nicht in den Himmel? Aber was sonst denkst du, Bäumler, wo wir eigentlich sind?

Es sind skandalöse Zeiten, die wir durchlebt haben, Bäumler, gewiss. Es wird sich noch zeigen, ob wir aus unseren Fehlern gelernt haben. Rund zweihundert Jahre sollten wir bald auf dem Rücken haben, eher ein wenig mehr.”

Wie aber, Lenchen, kann es möglich sein, dass du nicht mehr wirst, wo Bäumler und ich uns fortwährend reinkarnieren? Alles am King war von Beginn an auf Unsterblichkeit angelegt und du, Lenchen, warst Feuchtigkeit und Schauer am Fuß der Bühne, Teil des Jetzt oder Nie.

Andererseits sind wir natürlich, streng genommen, auch mausetot, da kein Hahn je nach uns kräht. Wer schert sich schon noch um unsere Scherze, nachdem wir uns derart haben korrumpieren lassen. "Alle Welt amüsiert sich." - „Das mag sein, Bäumler. Aber worüber amüsiert sie sich denn so prächtig?“

Was mich am meisten an meinem momentanen Zustand des Posthumen irritiert, ist die Tatsache, dass die Geschwätzigkeit noch immer nicht aufhören will. Hat man uns zu Lebzeiten nicht geradezu eingebleut, dass nunmehr endlich Stille einkehren müsse? Schweigen. Stattdessen diese offenbar unsterblichen, altbackenen Geschichten von irgendwelchen Mütterchen oder Väterchen, was weiß ich, von denen man allerdings kaum mehr sagen kann, ob sie zu mir, zu euch oder zu ihnen gehören. Möglicherweise, denke ich jetzt, ebben sie allmählich ab, nachdem sie in der Sphäre des Ozons ausgedampft worden sind. Dass ausgerechnet du, Bäumler, an diesem Nicht-Ort, in diesem Transitraum der letzte Ansprechpartner bleiben solltest, an den ich mich in meinem Aufwärtsstreben wende, hält mich auf. Oder sollte ich vielleicht sagen, du seist es, der mich zurückhält? In meiner jenseitigen Situation bist du, Bäumler, der Lieferant dessen, was sich zu Lebzeiten an Erinnerungen aufgestaut hat. Bäumler, meine Schwerkraft. Erinnerungen an Kanada etwa, an Todesursachen, die mir zwischenzeitlich völlig abhanden gekommen zu sein schienen und sich mir nunmehr, wie aus dem Nichts, jählings aufdrängen; Erinnerungen an Stilblüten, Zollbeamte, Brillengestelle, Haustiere, Völkerwanderungen, Volkspropaganda sowie Kassiererinnen und Kassierer.

Walmart, im Walmart war ich heute 2x - es ist der nächstgelegene Laden. Mittags, um dies und jenes zu suchen und zu finden, abends nach dem ersten Sportkursversuch in der Mall, zu der auch Walmart gehört (nett, aber zu teuer und ziemlich trauriges Fitness-Studioambiente, ich werde nicht Mitglied werden - wie diese ganzen Mall-Läden überleben, ist mir nach wie vor rätselhaft. Es verirren sich immer so 10 Leutchen in die Mall). Ich liebe die Verkäuferinnen, das sind circa 1,50 m große Asiatinnen, die immer freundlichst mit auf Expedition gehen, sei es, dass man eine Butterdose sucht, sei es, dass sie einem den Billigpreis für die Fußmatte bestätigen. An der Kasse allerdings, der indisch angehauchte Typ, es wundert mich nicht, versucht natürlich zu bescheißen, sollte man bar zahlen. Man gewöhnt sich dran, besser einfach Debit Card, Bargeld unnötig.

Bei Alberta Health Care - es gibt hier Krankenversicherung! - eher so eine übliche kanadische Dame, die wohl zu oft A&W, Tim Hortons, Wendy's usw. aufgesucht hat. Bäumler ist nur umringt von hübschen upperclass-Dämchen. Das ist auch so ein Problem, allüberall auf einmal diese privilegierten ehrgeizigen couples, mit oder ohne Kinder (alle so um 8 Jahre) - das interessiert mich alles nicht. Lenchen ist tot.

Aus meiner Sicht war es lediglich eine Frage der Zeit, bis sich der Rekrut Michel ihrer entledigen würde. Ob es sich indes tatsächlich um einen Akt der Gewalt von Seiten des Rekruten gehandelt hatte, vermag ich in meiner jetzigen Situation selbstverständlich nicht mehr einzuschätzen. Unbestreitbar ist aber, dass er sich nach dem Krieg völlig aufgegeben und dem Suff ergeben hatte. Ebenso unbestreitbar ist auch, dass sein Lenchen fremdging und ihn verlassen wollte. Wie weh du Lenchens Brust durch Flucht und Bruch getan!

Bertram Welck, irgendwann gegen Ende September, der zu Lebzeiten gern einmal einen Apfel verzehrt, eine wurmstichige Frucht womöglich.

Derartige Einträge auf Kalenderblättern wollten meist nichts Gutes verheißen. Deutete doch das Verspeisen eines wurmstichigen Apfels meist auf Trennung oder Verdruss hin, so der Aberglaube.

Gestern habe ich mein Rädchen abgeholt, Goodlife Bike Shop, netter Transvestit. Auf dem Rückweg wohl doch die Oberschenkel leicht angefroren. Dabei ist der Winter derzeit harmlos. Eben so um die -10 Grad. Auch wenig Schnee, er taut immer mal weg. Heute hat es nachgeschneit, sofort hoppelten wieder die Hasen.

Einigkeit auf Erden sollte allerdings hinsichtlich der Tatsache bestehen, dass der König Elvis Aaron hieß und auch in jenseitigen Sphären weiterhin Elvis Aaron heißen würde. Every day is just blue Monday since you've been away. Since you're gone I got a mess of blues. Jedenfalls liebte das Lenchen ausschließlich den King. Weder der Biedermeier noch der Michel konnten da mehr als unmaßgebliche Lückenbüßer darstellen, Bäumler, Lückenbüßer – an uns wage ich in diesem Zusammenhang gar nicht zu denken.

Erinnerst du dich noch an das Hochzeitsfest? Damals kannte man das Lenchen noch unter dem Namen Rösel. Erinnerst du dich an ihren Gesang, Bäumler? "Gurr! Gurr! Gurr! Gurr! Gurr!" So hörte man sie die Taube nachahmen in dem Glauben, sie sei allein. "Tiu! Tiu! Tiu! Tiu! Tiu!" O Luscinia, Luscinia! "Tiu! Tiu! Wie zu dir dein Sprosser spricht! Tiu! Tiu! Tiu! Tiu! Tiu!" O Schwester der Nachtigall! There must be lights burning brighter somewhere, got to be birds flying higher in a sky more blue.

Genug davon, Bäumler! Du bist mir auf die Schliche gekommen. Selbst das inzwischen tote Lenchen verdreht mir noch immer den Kopf und nichts auf der Welt würde mich mittlerweile mehr davon abhalten ihr einen rosafarbenen Cadillac zu stehlen, wenn sie nur noch ein allerletztes Mal mit mir darin durchbrennen wollte.

"Entriegle uns, und ich schreibe mich in dein Stammbuch und bleibe dein bis in den Tod getreuer Freund -" - so zumindest, Bäumler, habe ich dir auf dem Hochzeitsfest im Jahre 1856 meinen ewigen Beistand zugeflüstert und, abgesehen von einigen wenigen Ungereimtheiten hast du dich seither seiner würdig erwiesen. Dass du allerdings schon gegen Ende des zwanzigsten Jahrhunderts damit anfingst unsere Einkäufe getrennt auf die Fließbänder im Supermarkt zu legen, befremdet mich aufs äußerste. Auch die Tatsache, dass du in den Zeiten, in denen du dich mit einem zugegebenermaßen sehr bescheidenen Sozialhilfesatz herumschlagen musstest, nicht einmal eine Handvoll Reis mit einem kleinen Mädchen zu teilen bereit warst, befremdet mich bis heute. Haben wir uns nicht von jeher auch gemeinsam über unsere Beute hergemacht?

Nichtsdestoweniger ist deine Treue von geradezu erlesenem Wert und ich will dir gegenüber freilich nicht allzu kleinlich sein. Aber, mein Lieber, ich muss bekennen, dass ich mir auch über dich Rechenschaft abzulegen habe – solange zumindest, wie nicht zweifelsfrei bewiesen ist, ob wir einfach nur ein für allemal tot sind.

Das Wandeln unter den Toten hatte wider Erwarten doch etwas meist recht Vergnügliches, zumal ich offenbar, wenigstens in meinem momentanen Zustand, größte Handhabe über das hatte, was ich gerade sehen wollte. Der King lächelte mich an, ohne dass es einem von uns beiden in den Sinn gekommen wäre, näher aufeinander zuzugehen. Vielmehr entlarvte er den neutralen Zuschauer in mir, den erneut Verstorbenen. Das Lächeln des Königs, denke ich, enthüllte auch den Glanz eines Mannes, der sich mit der Unsterblichkeit seines Wesens endgültig im Einklang befand. Nichts deutete mehr auf Darmverschluss, Arteriosklerose oder Hypertrophie hin; keine Spur von Opiaten oder Barbituraten. Der König strahlte vielmehr das aus, was man seit Menschengedenken kraftvoll und majestätisch als ewige Jugend beschwor. Gewiss, die Vögel flogen tatsächlich höher hier oben und die Bläue des Himmels ähnelte dem Violett der hochgezogenen Lippen des Königs. "Tiu! Tiu! Tiu! Tiu! Tiu!"

Musik, Bäumler, wohin man nur lauscht. Weit entfernt, kaum hörbar, die Symphonien Ludwig van Beethovens, in äußerst langsamem Tempo, alle neun Symphonien gleichzeitig, dirigiert von einem hageren Kerl in einem Kimono aus einem Käfig heraus und, von der gegenüberliegenden Seite her, von einem kräftigen Kerl mit dunkler Hautfarbe in altägyptischer Tracht; ein ständiges Kommen und Gehen verstorbener Damen, Herren und Kinder, Musikerinnen und Musiker, Gelegenheitsdichterinnen und Gelegenheitsdichter, Poetinnen und Poeten, Improvisatorinnen und Improvisatoren, Deklamatorinnen und Deklamatoren, Musikfreundinnen und Musikfreunden, Komponistinnen und Komponisten, Tänzerinnen und Tänzer, Kassiererinnen und Kassierer, Vagabundinnen und Vagabunden. Alle sind Teil eines himmlischen Orchesters und niemand bedient sich Worten außer in Gedanken, die man lesen kann, oder in Gesängen, in denen es keine falschen Töne gibt. Alles scheint Musik zu sein hier oben, regiert allein von der Phantasie, deren pH-Wert man achtet. Die Phantasie ist eine dimensionslose Zahl, Bäumler.

Elvis riss mich unvermittelt aus meiner Andacht und vergewisserte sich, ob ich auch wirklich Gefallen an dem himmlischen Schauspiel fände. Wir seien schließlich, sagte er, verdammt dazu, ich glaube, er sagte cursed, über alle Ewigkeit hinaus zu musizieren und ihm komme als König die Aufgabe zu diese anhaltenden Saturnalien zu beaufsichtigen, supervise, sagte er, wenn ich mich nicht irre. "Wenn Sie genau hinhören," sagte Elvis sinngemäß, "hören Sie alles in diesen Symphonien, was jemals auf Erden an Musik entstanden ist, jetzt in diesem Moment. Dass Mr. Beethoven momentan so mächtig klingt, is nothing but an illusion, you know, the story is much the same as your memory, you know. Well there ain't nothing wrong with the long-haired music like Brahms, Beethoven and Bach but, well, you know, I was raised with a guitar in my hand, and I was born to rock." Schließlich fragte Elvis mich, wie ich hierher aufgestiegen sei und mit welchen Instrumenten oder Worten ich zu diesen anhaltenden Saturnalien beitragen würde, woraufhin ich meinen absichtlichen Unfall in der Kurve vom Lake Louise kommend erwähnte und ihm ein wenig zögerlich entgegnete, dass meine Teilnahme allein von der Ankunft Bäumlers abhinge, da wir ausschließlich im Duett vortrügen.

Elvis zeigte mir einen gewissermaßen himmlischen, pinkfarbenen Flügel und lud mich ein in seine Improvisation über den Trauermarsch der Eroica miteinzustimmen. Virtuos setzte er in Takt 69 mit einer Fuge in C-Dur ein, die sich zunächst der drei Themen des Marsches bediente um sich dann allmählich in Motive aufzulösen, die eher dem Blues und dem Rock zugeneigt waren. Nach und nach erkannte ich deutlich die Melodie von Hey Jude, sodass ich mich trotz meines Einwands dabei ertappte, wie ich Elvis' stakkatoartiges "Nah nah nah na-na-na-naah" mit gelegentlichen Zwischenrufen aus dem Refrain der Marseilleise zu begleiten begann: "Aux armes, citoyens, formez vos bataillons, marchons, marchons!"

Viel zu früh verschwand der König indessen aus meinem Gesichtskreis und weder die Gesangstimmen der Jordanaires noch der unermesslich große vierstimmige Chor, dessen Ode an die Freude das "Nah nah nah na-na-na naah" des Königs dennoch manches Mal zu übertönen drohten, waren nunmehr noch wahrnehmbar. Anstelle von Oratorien und Hymnen Alltagsmusik. Es blieb nichts als ein bohrender Ohrwurm sowie der Wunsch den Ort zu finden, an dem die Neuankömmlinge in Empfang genommen werden sollten. Meist sei es allerdings, so Elvis, nicht ungewöhnlich, dass die Flüchtlinge, wie man sie hier oben nannte, trotz des idealen Zustands, in dem sie sich jetzt befanden – man bedenke nur einmal die völlige Abwesenheit von Geld, Hunger oder Lust - zunächst Ablehnung und Widerwille zeigten. Bevor sich etwa Lemmy Kilmister mit seiner neuen Rolle im Orchester anfreunden konnte, soll er hartnäckig, man will es kaum glauben, auf der Notwendigkeit der Existenz eines Harmoniegesetzes der Farben nach dem Muster der musikalischen Harmonielehre gepocht haben. Das Violett des Himmels sei, davon abgesehen, so Lemmy Kilmister, totally unzumutbar und selbst, wenn dies aber die Hölle sein sollte, komme er mit diesem verdammten Schwulst hier nicht klar.

Und doch: Auch er unterwarf sich letztlich der allgegenwärtigen Dissonanz und den Götterfunken - "yeah, it's getting awfully funky in here" - des Königs der Könige und bekannte ehrfürchtig: "The King is here, now feel your fear. The King of Kings. All hail, all hail the King. On your knees, on your knees for the King. The King of Kings. There is only one."

Völlige Dunkelheit. Gelegentliches Aufflackern vager Erinnerungen an das musikalische Spektakel. "On your knees, on your knees for the King. The King of Kings. There is only one." Irgendwo muss sich unter der Vielzahl von Neuankömmlingen auch Bäumler befinden. Woher aber diese Finsternis, diese plötzliche Dunkelheit? War dies der Übergang in andere Dimensionen, parallel zum Universum, wie wir es gewöhnlich sehen? Gewiss befand sich Bäumler bereits in einer Sphäre, in der er mit seinesgleichen über Gelesenes und Gesehenes schwadronieren würde.