[»Der
Sturz der rebellierenden Engel«, Pieter Bruegel der Ältere (1562)]
Die
Himmel hab ich gemessen, jetzt mess ich die Schatten der
Erde.
Himmelwärts
strebte der Geist, des Körpers Schatten ruht hier.
[Johannes
Kepler]
4.
FOLGE – Kongruenzzahlen
E-Mails und Prävention
… Ist die Mettmanner Kreispolizei zuständig für Maßnahmen zur
Vorbeugung der Klimakatastrophe?
Die
Polizei Mettmann wird mit einer Flut von E-Mails von besorgten
Bürgern und gGg-Aktivisten konfrontiert. Rico Hämattila, dem bei
der Mettmanner Kreispolizei für Gewaltprävention zuständigen
Hauptkommissar, gelang es zu ermitteln, dass die Nachricht aus einem
Wuppertaler Internet-Kaffee abgesetzt wurde – aber das war’s auch
schon. Dass Frieda Eldingers Haut jemals eine andere Farbe annehmen
könnte als Gipsweiß, hätte Rico niemals gedacht. Frieda war seine
rechte Hand und zuständig für all die lästigen Routinearbeiten,
die eine Behörde für seine Beamten bereithält.
Sie
kam mit rosa Teint in sein Büro hereingestürmt – „Du wirst es
nicht glauben...!“
Ohne
aufzublicken seufzte Rico ein leises „…doch…“, und während
Friedas Gesicht in die vertraute Leichenblässe – und –starre -
wechselte, fuhr er fort: „Kuck mal, das ist die Antwort auf unsere
Ermittlungen gegen Unbekannt – ein Sonderdruck aus
WOHNUNG+GESUNDHEIT:
Waldsterben
durch Fernsehsender?
Ein
gewisser Dr.-Ing. Wolfgang Volkrodt soll auf den Zusammenhang
zwischen dem Waldsterben und Elektrosmog hingewiesen haben: Bäume,
Blätter und Nadeln sind nach seiner Ansicht gute Antennen für den
Wellensalat aus tausendundeinem Sender, von Radar und Radio, Richt-
und Mobilfunk, Militär, Satelliten und Fernsehen. Sie sollen
maßgeblich am Waldsterben beteiligt sein.
Vom
Bundesamt für Strahlenschutz soll bestätigt worden sein, dass
Nadeln oder Blattrippen von Bäumen ähnlich wie Antennen mit
Mikrowellen in Resonanz gehen können. Dabei kann sich die
eingefangene Energie bis zu dreifach verstärken. Diese wandert durch
den Baum in den Boden und macht ihn nach Art der Elektrolyse sauer.
Der
Wald stirbt durch Mikrowellen!
Mediziner,
Wissenschaftler und Ingenieure haben keine Ahnung von den
biologischen Wirkungen elektromagnetischer Felder. Sie setzen fast
eine Milliarde Mark für ihre Saure-Regen-Theorie in den Sand,
behauptete der Mann.
„Was
für ein Quatsch“, fauchte der Hauptkommissar. „Hätte der Mann
Recht, dann hätte die Bundesregierung schon längst darauf
reagiert“, lehnte sich in seinem Bürostuhl zurück und stützte
mit beiden Händen gähnend seinen Hinterkopf – „Übernimm du
das, Frieda.“
Oberkommissarin
Frieda Eldinger blickte gespannt vorgebeugt auf den Bildschirm.
Aufmerksam. Sie war eine begeisterte Vorbeugerin – sie blühte
dabei so richtig auf. Wir machen Projekte, erzählte sie ihrer Mutter
stolz, die darüber sehr erfreut war. Als pensionierte
Abteilungsleiterin eines Unternehmens, das Handys verkaufte, wusste
sie, dass Projekte zwar in den Sand gesetzt werden können, aber kein
Projekt würde auf offener Straße zurückschießen. Nun konnte sie
wieder hoffen, vielleicht doch noch Großmutter zu werden.
Frieda
Eldinger hatte einmal vorgeschlagen, eine Statistik zu entwickeln,
die aufzeigte, die Begehung wie vieler Verbrechen vermieden wurde.
Rico Hämattila war von der Idee nicht begeistert. Er hielt nicht
viel von Zahlen, die das Nichts zählen. Warum nehmen wir nicht
einfach die Kriterien der Professoren des Landespräventionsrates,
wollte er wissen. Schließlich zeigte es sich, dass niemand eine
Vorstellung hatte, wie das Eldinger-Verfahren umgesetzt werden
könnte. So ging Frieda Eldinger in der Mitarbeit an der Entwicklung
von Eingabemasken der Präventionsdatenbank PrävIS auf. Um ihre
Wissenslücken auf dem Gebiet der Täter-Opfer-Beziehung zu
schließen, engagierte sie sich ehrenamtlich beim Sozialdienst
Katholischer Frauen und Männer im Kreis Mettmann.
„Basten
und Mühlberg sind schon am Tatort!“, sagte sie kurz nachdem sie
mit einem Papiertuch ihrem chronischen Heuschnupfen zu Leibe rückte.
„Es muss dort schrecklich aussehen …“ – und dann erzählte
sie ihrem Chef von einem toten Huhn in einer Studentenbude mit
vollgeschmierten Wänden.
„Frieda,
ich schätze es sehr, dass du mich informierst – aber es geht uns
nichts an. Basten und Mühlberg sind seit einem Jahr nicht mehr in
meinem Team.“
Frieda
senkte den Blick wie ein Schulmädchen während einer väterlichen
Standpauke und fand es unfair. Rico ist doch derjenige der mehrmals
am Tag wissen will, was der Flurfunk sagt. Rico wechselte in einen
milderen Ton: „Außerdem – wenn das Huhn tot ist, können wir
nicht mehr vorbeugen. Der Student – wie heißt er nochmal? – wird
es verkraften… Aber wie kommt eigentlich ein ermordetes Huhn in
eine Etagenwohnung?“
„Er
heißt Rafael Esteban …“
Dann
klingelte das Telefon – zeitgleich mit dem Eingang einer E-Mail:
Betreff: Vollbremsung
vorm Klima-GAU.
Am
Telefon war Mathilda, Ricos Frau. Die E-Mail wieder einmal von gGg.
Sie
enthielt einen Artikel eines gewissen Herrn Wille:
Ein
bis fünf Prozent des Sozialprodukts müssten nach den vom
UN-Klimarat ausgewerteten Studien aufgewandt werden, damit die
Erdtemperatur sich nicht um mehr als zwei Grad erhöht. Ökonomen
schlagen ein weltweites Handelssystem für CO2-Emissionrechte
vor.
„Bringst
du Sprudel mit?“, fragte Mathilda.
So
viel zum Kohlendioxydhandel, dachte Rico.
UN-Experten
sind sich einig: Es gibt eine Grenze im bereits angelaufenen
Klimawandel, die nicht überschritten werden darf. Die Veränderungen
in einer "Super-Warmzeit" würden sonst so dramatisch, dass
sie nicht mehr beherrschbar wären. Der UN-Klimarat IPCC hat
vorausgesagt, dass die mittlere Erdtemperatur bis 2100 um bis zu
sechs Grad steigen kann.
Hoffentlich
auch in Mettmann, dachte Rico Hämattila. „Diese beschissenen
Spam-Mails!“, entwich es ihm, während Mathilda ihm vorhielt, sich
nicht mehr um den Garten zu kümmern – alles würde an ihr
hängenbleiben. Noch nicht einmal den Rasen würde er mähen – was
ihm doch früher so viel Spaß gemacht hatte.
„Wovon
redest du?“, fragte sie gereizt, denn die Sprache der weltweiten
Wirren war ihr nicht geläufig. Er löschte die Nachricht. „Vergiss
es, ich werde heute den Rasen mähen!“
Demnächst
wird das Ordnungsamt Stoppschilder aufstellen: Zulässige Erwärmung
darf nicht überschritten werden! Es muss doch möglich sein, global
GAIA guard das Handwerk zu legen, dachte er, denn Friedrich
Medemanski ließ keine Gelegenheit verstreichen, auf die Bedeutung
des Falles hinzuweisen und die mögliche Bedrohung, die von gGg
ausging, so schwarz zu malen, dass selbst Oberkommissarin Renate
Mühlberg schmunzeln musste. Was – und das wusste bei der Polizei
Mettmann jeder – ein Alarmsignal war.
ӝ
Das
Rätsel der kongruenten Zahlen ist eng verknüpft mit der
mathematischen Hypothese aus den sechziger Jahren – der Vermutung
von Birch und Swinnerton-Dyer. Aber bislang weiß niemand, ob die
Vermutung, die sich mit elliptischen Kurven beschäftigt, wirklich
stimmt. „Das ist das wichtigste ungelöste Problem der
Zahlentheorie", sagt John Coates von der Cambridge University.
Im Jahr 2000 hat das amerikanische Clay Mathematics Institute sogar
eine Million Dollar für die Lösung dieses Rätsels ausgelobt. Das
Detailwissen von Krampus beeindruckte Willem. Doch ein Beweis war das
nicht. „Also – was sagen die Hüter der Akasha-Chronik?“
„Eine
natürliche Zahl n gilt als kongruent, wenn es ein rechtwinkliges
Dreieck gibt, dessen Fläche genau n
entspricht. Und wenn jede der drei Seitenlängen eine rationale Zahl
ist – also ein Bruch zweier ganzer Zahlen p/q. Die 6 beispielsweise
ist eine kongruente Zahl. Das zugehörige rechtwinklige Dreieck hat
die Seitenlängen 3, 4 und 5, seine Fläche beträgt 3*4/2=6. Die
kleinste kongruente Zahl ist übrigens die 5 – die Seitenlängen
dazu sind 20/3, 3/2, 41/6. Auch 7, 13, 14 sind kongruent – 10, 11
und 17 zum Beispiel, hingegen nicht.“
Willems
angespannter Gesichtsausdruck verhieß nichts Gutes: „Nicht dass er
auch dem Krampus eins in die Fresse haut – hey! Verstehst du nicht?
Das ist alles bekannt? Wie lautet die Lösung des Problems?“
„Der
Beweis der Großen Fermatschen Vermutung durch Andrew Wiles ist
falsch und damit ist das Fermatsche Problem in dieser Zeit noch
offen. Das zu verraten hätte universelle Auswirkungen! Aber die
Antwort auf deine Frage darf ich verraten. Die Geister teilten mir
mit, dass die Auswirkungen zwar groß seien, aber nur lokal
begrenzt!“
„Das
ist Blödsinn! Lenk nicht vom Thema ab! Was heißt hier groß, aber
lokal?“, fragte Willem unsicher.
„Naja,
das sagte ich schon. Du könntest theoretisch die Lösung publizieren
und auf einen Schlag Millionär werden. Aber das würde nicht
passieren.“
Der
Krampus ließ sich nicht hetzen – setzte sich gemütlich zum
Schreibtisch mit dem Rücken zu den Anwesenden und tief über den
Zettel gebeugt.
Vor
zwei Jahren erhielt Samuel Ligeti einen beunruhigenden Brief. Nach
dem Lesen des ersten Satzes konnte er den Brief nicht mehr aus der
Hand legen.
Hochverehrter
Herr Ligeti!
Mein
Entschluss, Sie in das größte Geheimnis des XX. Jahrhunderts
einzuweihen, stand schon fast fest, als ich ein Interview las, das
Sie in der 23. Ausgabe der Literaturzeitung Litera belle 1986 gaben.
Die Frage des Interviewers lautete: „Herr Ligeti, was hat Sie als
Poet bewegt, sich dem Absurden Theater zuzuwenden? War es Ionescos
Einfluss?”
Ihre
Antwort darauf: „Ich musste entscheiden: entweder ich schreibe über
die Realität der sozialistischen Absurdität oder über die
Absurdität des Sozialistischen Realismus. Und so habe ich mich
entschieden.”
Ich
begann, mich mit Ihrem Werk – das ich im Übrigen teilweise schon
kannte – mit ihrem Leben, mit Ihrer Herkunft, um genau zu sein, mit
allem, was Sie waren oder jemals getan haben, zu beschäftigen.
Nur
um zu verdeutlichen, wie weit meine Recherchen gereicht haben, gebe
ich ein Detail aus Ihrem Leben wieder, welches sicher nicht viele
Menschen kannten.
Als
Vierzehnjähriger lernten Sie auf dem Bolzplatz Michi Subanek kennen,
einen schmächtigen Jungen, der gut mit dem Fußball umgehen konnte
und lustige Bemerkungen über Pelé machte.
Als
Sie einige Tage später erfuhren, dass Michis Vater, ein brutaler
Alkoholiker, ihn jeden Tag verprügelte, setzten Sie zu Hause durch,
dass Michi auf einer Matratze bei Ihnen schlafen durfte.
Es
waren wunderbare Wochen. Sie bewunderten Michis Schlagfertigkeit und
seinen Witz. Sie, ein eher schwermütiger Junge, hätten gerne etwas
von der scheinbaren Leichtigkeit gehabt, mit der er schlimmste
Erlebnisse überspielen, überwinden konnte. Als eines Abends Michi
nicht aufgetaucht war, machten Sie sich Sorgen um Ihn. Sie konnten
nicht einschlafen.
Als
weit nach Mitternacht Michi torkelnd ins Zimmer kam und auf die
Matratze fiel, war Ihnen sofort klar, dass er sturzbesoffen war –
seine Schnapsfahne erregte Ihren Ekel. Bevor Sie auch nur ein Wort
sagen konnten, kotzte Michi das Kissen, die Decke und den Boden voll.
Am nächsten Tag beschlossen Ihre Eltern, dass Michi ausziehen müsse;
sie fürchteten seinen Einfluss auf Sie.
Seitdem
haben Sie Michi nie wieder gesehen. Es war, als hätten Sie einen
Bruder verloren, den Bruder, den Sie nie hatten, – nicht wahr?
Ich
hoffe, dass Sie, hochverehrter Herr Ligeti, nun erkennen, dass ich
nicht übereilt, wegen der äußerlichen, mehr oder weniger bekannten
Informationen über Ihre Vita, oder bloß einem inneren Impuls
folgend, diesen Brief aufsetzte; nein – um zu entscheiden, ob Sie
der Richtige sind, war harte und minutiöse Arbeit nötig, die
nebenbei bemerkt, auch nicht ganz billig war, wenn ich nur an die
Kosten der Reisen denke, die ich unternehmen musste, um sie auch in
einen Kontext der Örtlichkeiten einordnen zu können.
Ich
räume ein, ich war verunsichert.
Ich
hielt also inne und rekapitulierte alles, was ich bis dahin hatte –
glauben Sie mir, es war nicht wenig. Allein mit der erneuten,
sorgfältigen Lektüre aller Gedichte verbrachte ich Wochen; selbst
die paar Zeilen, die aus dem Gedichtchen Polka, das Sie als
15-Jähriger unaufgefordert an die örtliche Literaturzeitschrift
eingesandt hatten, habe ich auswendig gelernt:
piano
chopin
auf sand am meer
wo
strand und hustenblut
in
den seelen der möwen
fingerabdrücke
des töters
hinter
dem marsch lassen
forte
Erinnern
Sie sich noch?
Beim
Lesen ihrer Gedichte beschlich mich ein ungutes Gefühl. Ich wollte –
angesichts des enormen Aufwandes, den ich bis dahin betrieben hatte –
unbedingt vermeiden, dass ich wegen eines möglichen methodischen
Fehlers bei der Recherche eine falsche Entscheidung treffe. Zunächst
fand ich aber keinen Fehler.
Doch
dann, beim Lesen der oben zitierten Zeilen, hatte ich eine Eingebung:
mir wurde plötzlich klar, dass nicht alles, was Sie je geschrieben
hatten, die Druckpresse erreichen konnte. Kein Autor der Welt hat
alles veröffentlicht.
Das
schien mir eine gesicherte Feststellung zu sein.
Damit
begann eine Phase meiner Recherche, die gelegentlich gefährlich war,
und mich das eine oder andere Mal an die Grenzen der Legalität
führte – wenn nicht sogar über sie hinaus.
Kurz
und gut: so fand ich schließlich den Beleg, dass ich mich nicht
geirrt hatte – Sie sind der, den ich suchte.
Nun
aber zum Eigentlichen!
Die
Ereignisse, von denen ich berichte, fanden gegen Ende des Zweiten
Weltkriegs statt.
Wie
Sie wissen, verzichtete Deutschland auf eine eigene Militärverwaltung
in Ungarn, installierte aber einen Okkupationsapparat mit dem
Bevollmächtigten des Großdeutschen Reiches, Edmund Veesenmayer an
der Spitze und Vertretern der obersten Reichsbehörden, vor allem des
Wirtschafts- und des Rüstungsressorts. Für neue ungarische
Divisionen sollte der General der Infanterie Hans von Greiffenberg
sorgen. Hans von Greiffenberg geriet kurz vor Kriegsende in
US-amerikanische Kriegsgefangenschaft, aus der er am 30. Juni 1947
entlassen wurde. Anschließend wirkte er bis zu seinem Tod 1951 bei
der Historical Division der United States Army.
Weihnachten
1944 schloss sich der Ring um Budapest. Der Kampf um Budapest dauerte
bis Mitte Februar 1945. Anfang April zogen sich die letzten
Wehrmachtseinheiten aus Ungarn zurück, und das Land wurde
vollständig von den Sowjets besetzt. Im Rahmen der totalen
Mobilmachung wurde ich im August 1944 als 20-Jähriger eingezogen und
in der Nähe des Plattensees stationiert. Eigentlich studierte ich
Physik und arbeitete intensiv an Einsteins Theorien.
Wie
jeder junge Physiker damals, war ich von Einsteins Ideen
elektrisiert. Zwei Dinge regten meine Phantasie und Kreativität
besonders an. Da war Einsteins Rede am 5. Mai 1920 an der
Reichs-Universität zu Leiden: Einstein lässt einen gravitativen
Äther zu, nicht jedoch den elektromagnetischen Äther des 19.
Jahrhunderts.
Als
Zweites: Einstein sagte 1924 zusammen mit Satyendranath Bose einen
quantenmechanischen, aber dennoch mikroskopischen Materiezustand
voraus, der bei extrem tiefen Temperaturen eintreten sollte. Im heute
Bose-Einstein-Kondensat genannten Aggregatzustand befinden sich
mikroskopische Quantenobjekte, in denen die einzelnen Bosonen
vollständig delokalisiert sind. Daraus resultieren Eigenschaften wie
Suprafluidität, Supraleitung oder – und Kohärenz über
makroskopische Entfernungen.
Als
gegen Ende 1944 immer häufiger Zweifel an Hitlers Sieg aufkamen,
hörte man gelegentlich von geheimen Wunderwaffen, die Hitler
angeblich entwickeln ließ. Nichts Genaues oder Offizielles wusste
man, aber selbst Offiziere sprachen hinter vorgehaltener Hand davon.
Kurzum,
ich entwickelte eine Theorie, die, wenn sie richtig war, die
Realisierung einer wahrlich wundersamen Waffe ermöglichte. Ich
behaupte sogar, dass im Erfolgsfall Hitler den Krieg gewonnen hätte.
Ich sprach darüber mit meinem Hauptmann, der davon seinem
Vorgesetzten berichtete.
Wenige
Tage später wurde ich zu Major Gausinck zitiert. Ich sollte ihm
alles vortragen und die Unterlagen zeigen.
Zu
meinem Erstaunen verstand der Major meine Ausführungen vollständig
und stellte äußerst intelligente und spitzfindige Fragen. Dann
entließ er mich mit dem Hinweis, ich würde noch von ihm hören.
Zwei
Wochen später wurde ich erneut zu ihm gebracht. Er bot mir an, mit
ihm ein Gläschen Wein zu trinken. Wir plauderten über die Natur,
über Physik und Einstein. Er fand, es sei Ironie des Schicksals,
dass solche bahnbrechenden Theorien ausgerechnet vom Juden Einstein
entwickelt wurden.
Nach
einer Weile fragte er unvermittelt, ob ich mich in der Lage sähe,
eine experimentelle Version meines Modells zu realisieren, und was
ich dafür benötigte.
Ich
will Sie, hochverehrter Herr Ligeti, nicht mit den Details der
Vorbereitungen, mit den zwischenzeitlichen Rückschlägen und
Zweifeln, die mir an der Richtigkeit meines Ansatzes kamen,
belästigen.
Fakt
ist: in der Nacht vom 1. Oktober um 3 Uhr 24 führten wir folgendes
Experiment durch: Mit Hilfe einer riesigen, besonders konfigurierten
Teslaspule erzeugten wir einen Kugelblitz, der auf die auf einer
Plattform gelagerten Metallkugel mit einem Radius von 21 Zentimeter
gerichtet war.
Die
Berechnungen meiner Theorie sagten voraus, dass der Kugelblitz das
Objekt vollständig umschließen würde.
Im
Inneren des Kugelblitzes würde ein negatives Energie-Potenzial
erzeugt werden, während die Energie des Blitzes ins Erdreich und in
den See abgeleitet würde.
Dieses
negative Potenzial würde dazu führen, dass gewissermaßen ein Sog
entstünde, was zum vollständigen Abzug der thermischen Energie des
Objekts führen würde, mit der Folge, dass das Objekt für den
Bruchteil einer Sekunde in den Zustand des Einstein-Bose-Kondensats
übergehen würde. In diesem Zustand wäre die Metallkugel unsichtbar
und gewichtslos.
Doch
schon bald nach der Entladung des Blitzes würde sich das Objekt
wieder aufwärmen und wieder in den normalen, festen Zustand
übergehen.
Ich
kann Ihnen berichten, ohne Sie, hochverehrter Herr Ligeti, mit
Einzelheiten der Art hinzuhalten, dass erst der dritte Versuch dazu
führte, dass der Kugelblitz das Objekt vollständig umschlossen
hatte, und mit Stolz versichern, dass das Experiment ein voller
Erfolg war.
Die
zweite Stufe des Experiments sah vor, eine im Inneren der Kugel
untergebrachte Handgranate in dem Augenblick zur Zündung zu bringen,
in dem die Metallkugel sich im Einstein-Bose-Zustand befand.
Es
hat fast zwei Monate gedauert, bis das Vorhaben gelang.
Damit
wurde bewiesen, dass es möglich war ein makroskopisches Objekt
augenblicksweise verschwinden und fast zur selben Zeit durch die
Wucht der Granatenexplosion an einem anderen Ort wieder erscheinen zu
lassen.
Ich
kann Ihnen, hochverehrter Herr Ligeti, versichern, dass wir die Kugel
nach ihrem Verschwinden stundenlang mit zwanzig Mann gesucht hatten,
bis wir sie, zwei Kilometer vom ursprünglichen Standort entfernt,
unversehrt wiederfanden.
Major
Gausinck geriet ins Schwärmen.
Stell
dir vor, Zoli – seit dem ersten experimentellen Erfolg waren wir
per Du, und er nannte mich Zoli – stell dir vor, wir schießen
einen Blitz auf einen unserer Panzer, der unter heftigem, feindlichen
Beschuss steht, und der verschwindet, um anschließend im Rücken des
Feindes wieder aufzutauchen.
Das
ist die Waffe, die wir brauchen!
Aber
in einem Panzer sind Menschen, lebendige Wesen, erwiderte ich. Wir
wissen nicht, was mit lebendigen Wesen geschieht, wenn sie in den
Einstein-Bose-Zustand versetzt werden.
Aber
Major Gausinck war nicht mehr zu stoppen.
Die
Verzweiflung über den Kriegsverlauf, der Erfolg der ersten Phasen
des Experiments und die Hoffnung auf die alle Probleme lösende
Waffe, hatten alle seine Bedenken weggewischt, alle Hemmschwellen und
Barrieren durchbrochen.
Er
war entschlossen auch diese noch offene Frage experimentell zu
klären, um anschließend seinen Bericht an die höchsten Stellen der
Wehrmacht weiterzuleiten.
In
der Nacht vom 15. November war es dann soweit.
Um
3 Uhr 24 führten wir die letzte Stufe des Experiments durch.
Fünf
Soldaten sollten in einem gepanzerten Kettenfahrzeug sitzen.
Obwohl
Gausinck dagegen war, bestand ich darauf, dabei zu sein.
Wir
saßen also im verschlossenen Panzer.
Ich
schaute in die Gesichter der übrigen vier Soldaten.
Sie
hatten keine Angst, denn es wurde ihnen nur gesagt, dass sie auf eine
kurze Testfahrt aufbrechen würden, sie hätten keine Feindberührung
zu befürchten.
Ich
wollte gerade etwas Aufmunterndes sagen, als die Tür von außen
geöffnet wurde und ich aus dem Panzer gezerrt wurde.
Ich
fragte, was das Problem wäre, warum das Experiment abgebrochen
worden wäre.
Major
Gausinck schaute mich entsetzt an.
Er
stammelte nur: Es wurde nicht abgebrochen, Zoli, es hat
stattgefunden.
Ich
schaute ihn misstrauisch an.
Das
kann nicht sein, ich habe nichts bemerkt.
Was
ist hier los?, fragte ich.
Major
Gausinck packte meine Schulter und drehte mich zum Panzer hin.
Die
Scheinwerfer fluteten das Fahrzeug, in dem ich noch vor wenigen
Sekunden saß, von allen Seiten; es schien in einer grellen
Lichthülle zu schweben.
Da
sah ich es, verstand aber noch nicht.
Ich
beobachtete einen der Soldaten, als würde er gerade aus dem Panzer
steigen. Aber dort, wo er, von der Brust aufwärts, sichtbar war, gab
es keine Tür: Sein Oberkörper und sein Arm ragten aus der Panzerung
des Fahrzeugs hervor, mit dem er fest verschmolzen war.
Er
schrie: Holt mich hier raus! Holt mich bitte raus.
Ich
ertrug das Bild nicht und senkte meinen Blick.
Ich
betrachtete die Ketten und Räder des Panzers.
Der
Anblick des Gesichts eines weiteren Soldaten, das, wie heutzutage
Felgen von Pkws, auf allen Rädern des Fahrzeugs imprägniert war –
sechsmal – mit leichten Unterschieden im Gesichtsausdruck.
Er
schien zu schreien, man konnte aber seine Stimme nicht hören.
Ich
erspare Ihnen, hochverehrter Herr Ligeti, weitere Grausamkeiten.
Ich
muss nicht betonen, dass damit der Traum von einer Wunderwaffe
geplatzt war.
Das
ganze Experiment wurde unter den Teppich gekehrt.
Major
Gausinck fiel am 23 April 1945.
Ich
wurde im Juni aus der Armee entlassen und habe mich lange Zeit nicht
mehr mit Physik beschäftigt.
Stattdessen
schloss ich das Studium der Literaturwissenschaften ab und habe
jahrzehntelang von dem Experiment mit niemandem gesprochen.
Ich
hatte alles verdrängt, vergessen und lebte angepasst in einem
kommunistischen Land, unauffällig und kooperativ – aber wem sag
ich das: Wir Magyaren leiden alle unter einer seltsamen Mischung aus
Hybris, Minderwertigkeitsgefühl und Selbstmitleid. Zu Ostblockzeiten
konnten wir darüber wenigstens lachen. Heute scheint mir, haben wir
unseren Humor verloren: wir machen dort weiter, wo Hitler aufgehört
hatte. Zum Glück sind wir klein und arm und die Besten von uns haben
längst in Hollywood oder bei Microsoft Karriere gemacht. Wie auch
immer...
Irgendwann,
Ende der 70er Jahre, kamen Gerüchte über ein Experiment der
US-Marine auf.
Das
so genannte Philadelphia-Projekt trug ursprünglich den Codenamen
Rainbow: In den frühen 1940er Jahren soll die US-Marine mit
Verfahren zum magnetischen Eigenschutz experimentiert haben, um seine
Schiffe unempfindlicher gegen die mit Magnetzündern arbeitenden
Torpedos der deutschen U-Boote zu machen. Im Oktober 1943 bei einem
Test mit einem starken Kraftfeld soll das Schiff USS Eldridge auf
hoher See optisch unsichtbar gemacht worden sein. Die Legende geht
auf öffentliche Briefe des einzelnen Augenzeugen zurück, des
Matrosen Carlos Miguel Allende alias Carl Meredith Allen, der zwölf
Jahre nach dem angeblichen Experiment erstmals die Behauptungen
aufstellte.
Nun
können Sie sich, hochverehrter Herr Ligeti, vorstellen, dass in mir
alle Erinnerungen und Schrecken meines eigenen Experiments hochkamen.
Ich
habe also alle meine Unterlagen wieder ausgegraben und begonnen, die
Berichte aus dem Philadelphia-Experiment und meine eigenen
Erfahrungen abzugleichen.
Was
ich herausfand und weiterentwickelt habe, hat mein eigenes Weltbild
erschüttert, und wird, falls es jemals publik wird, sicherlich die
ganze Welt erschüttern.
Ich
weiß – und ich betone, ich weiß –, dass Sie sich die Not, in
der ich mich befinde, die Gewissensentscheidung, die ich zu treffen
habe, vorstellen können.
Doch
ich möchte eine solche Entscheidung nicht alleine treffen. Keine
einsame Entscheidung, ohne mit jemandem wenigstens darüber
gesprochen zu haben.
Und
nun sind Sie, hochverehrter Herr Ligeti, am Zuge.
Ich
möchte Sie für einige Tage zu mir, in meine bescheidene Hütte am
Plattensee einladen.
Ich
würde Sie dann in alle Einzelheiten einweihen und Ihnen alle
Dokumente, Fotografien, Logbücher, Ton- und Film-Aufzeichnungen
zeigen. Und wir würden diskutieren, Für und Wider abwägen,
streiten und spekulieren.
Die
Entscheidung, die Verantwortung für das, was danach geschehen wird,
bleibt selbstverständlich bei mir.
Die
kann und will ich niemandem aufbürden.
Hochachtungsvoll,
Ihr
Zoltán
Újvári
ӝ
Der
Geistesblitz an jenem ominösen Nachmittag, als Roland Winkler auf
Antony Gormleys Steinpuppe in der Düssel liegend, im Lichte der
verspielten Aurora Borealis eine Erektion bekam und zeitgleich die
Vision hatte, künstliche Nordlichter auf den Körper des Himmels zu
malen, reifte allmählich zu einem Projekt.
Gedankenverloren
streichelte Roland Winkler sanft seinen schlappen Schwanz. „Er ist
dabei! Er macht mit! Gerd Rodenkamp der ultrareiche Kunstsammler und
ich! Die Kunst wird nach unserem Projekt eine völlig neue Dimension
erhalten! Die Welt wird eine neue Dimension erhalten!“, jubelte er,
obwohl neben ihm nur seine nackte Frau Monika und nicht die Reporter
vom WDR lagen. Monika Winkler erkannte seit einiger Zeit ihren Mann
nicht wieder. Er sprudelte nur so vor Energie und Leidenschaft. Sie
drehte sich zu Roland. „Hast du eine Freundin, gehst du fremd?“,
fragte sie, ohne den leisesten Verdacht oder Vorwurf in der Stimme.
„Wie
kommst du darauf?“
„Du
fickst neuerdings wie ein Hengst, scheinst aber in Gedanken woanders
zu sein…“, sagte sie nüchtern.
„Vielen
Dank! War das ein Kompliment oder ein Vorwurf?“
„Weder
noch, du bist nur so anders…“
„Es
liegt wahrscheinlich an meinem Projekt. Ich habe die Bilder
ununterbrochen im Kopf. Ich gehe mit den Bildern ins Bett und wache
mit ihnen auf. Ich träume die ganze Nacht himmlische Bilder!“
„Himmlische
Frauen?“
„Auch,
aber nicht wie du denkst. Es sind abstrakte Formen und irrsinnige
Farben.“
Sie
lagen nackt nebeneinander und Roland schwärmte vom Projekt „Himmels
Körper“.
„Jetzt
brauche ich nur noch den richtigen Mann, der mir die Werkzeuge bauen
kann. Rodenkamp hat mich angerufen. Er ist dabei. Er trifft sich
nächste Woche mit Heinz Holzheim, einem stinkreichen Sammler und
Mäzen.“
Roland
und Gerd Rodenkamp waren Klassenkameraden und verbrachten im Internat
viel Zeit zusammen. Gerd war ein echter Stürmer. Roland war eher für
die Grätsche zuständig.
„Ihr
habt doch gar keine Ahnung, ob das, was ihr vorhabt, überhaupt
machbar ist!“
„Deswegen
brauche ich doch einen Fachmann – am besten noch vor dem Termin mit
Holzheim. Mit einem Fachmann im Team hätten wir bessere Karten“,
sagte Roland und zwirbelte verträumt Monikas kaffeebraune
Brustwarze.
„Hör
auf damit!“, fauchte sie und quetschte verspielt Rolands Eier - was
natürlich wehtat!
Es
war schon nach Mitternacht, als Roland bewusst wurde, dass das
Aufstehen am nächsten Morgen qualvoll sein würde – er war kein
Nachtmensch. Aber Monika ließ nicht locker – noch einmal musste er
ran. Vor dem Höhepunkt, von dem er nicht mehr glaubte ihn zu
bekommen, sagte Monika plötzlich: „Ich glaube, ich habe den
richtigen Mann für dich.“ Daraufhin kam er.
„Ich
habe da einen Holländer, einen Forscher. Mir fällt sein Name nicht
ein. Warte, irgendwie Hückstra oder so – Bruder von Willem. Der
kennt sich mit dem Himmel und den Wolken aus. Schlaf schön!“
Roland
schlief in der letzten Zeit immer schön. Vielleicht waren die vielen
sinnleeren Jahre doch keine verschwendete Zeit, sagte er sich. Ein
Projekt solchen Ausmaßes ist nichts für einen Jüngling. Da ist
Lebenserfahrung und geprüfte Leidensfähigkeit notwendig, dachte er
und schlief seelenruhig ein. Kurz bevor sie einschlief, fiel Monika
der richtige Name des holländischen Forschers ein: Jo Dijkstra.
Aber
Roland träumte schon vom „Himmels Körper“.
Am
Morgen danach witterte Roland die Wende seines Lebens. Der Duft der
Lederbezüge in Rodenkamps dickem Daimler streichelte seine
Schleimhäute wohltuend und heilsam. Balsam auf meine geschundene
Seele, dachte er. Sie hatten sich mit Jo Dijkstra im Montanushof in
Grevenbroich verabredet. Zuvor hatte er dem Spezialisten für
kosmische Meteorologie sein Projekt „Himmels Körper“ erläutert
und ihn gebeten, zu prüfen, ob die Idee machbar ist. Als Roland
Dijkstras Gesicht sah, ahnte er Böses. Vergessen Sie es, hatte der
kleine Mann mit der hohen Stirn und dem runden, über den Gürtel
schwappenden Bauch gesagt. Er merkte nicht, dass sein Hemd schon
länger aus der Hose hinaushing. Unter dem konstanten Druck des
Wanstes hatten zwei Knöpfe den Stoff bereits eingerissen. „Die
Technologie, die Sie dafür benötigten, existiert noch nicht!“
„Noch
nicht? Das heißt, möglich wäre es schon, oder?“, hatte Roland
gefragt, den widerlichen Anblick des fetten, dunkel behaarten Bauches
verdrängend.
„Meine
Herren, wovon Sie da sprechen, ist hochsensible High-Tech, das hat
zur Zeit noch nicht einmal das Max-Planck-Institut. Wenn überhaupt,
dann gibt’s das nur bei der US-Navy oder der NASA. Sie können es
mir glauben, ich habe viele Jahre in Norwegen gearbeitet. Ich weiß
was geht, und was nicht.“, sagte Jo Dijkstra.
„Warum
bist du ausgestiegen?“, wollte Rodenkamp wissen.
Jo
Dijkstra wedelte mit der Hand vor seinem Gesicht, als wollte er einen
ganzen Mückenschwarm verscheuchen. „Was die machen, hat mit
Wissenschaft nichts zu tun – eine korrupte, skrupellose Bande!“
„Wen
meinst Du?“, insistierte Rodenkamp.
„Wovon
leben sie?“, schob Roland Winkler nach.
„Ich
verdiene mein Geld lieber als unabhängiger Sachverständiger. Hier
eine Studie, dort ein Gutachten. Heute kann die globale Erwärmung
niemand mehr leugnen. Also brauche ich über mangelnde Aufträge
nicht zu klagen.“
ӝ
Auf
der Heimfahrt nach einem gemütlichen Besuch bei den Hämattilas hört
Polizeichef Medemanski im Autoradio seine Lieblingsmusik: Sea Shanty.
Während er am P+R-Parkplatz in Ratingen vorbeifährt, ereignet sich
dort unbemerkt ein Drama.
„Mathilda
verwendet sündhaft teure Biovanillestäbe und Kakao aus fairem
Handel – viel zu schade für den Ignoranten“, sagte Rico
Hämattila, aber er war es, der Fritz Medemanski zum Abendessen
eingeladen hatte. Zufällig war auch Mathildas 48jährige, ledige
Schwester für einige Tage im Lande. Etwas Abwechslung wird ihm nicht
schaden, dachte Rico Hämattila, denn Medemanski führte seit dem Tod
seiner Frau ein besorgniserregendes Witwerleben. Das Thema Frauen
schien er abgehakt zu haben. Stattdessen nahm er Tennisstunden und
bot sich beim Ortsverein der Arbeiterwohlfahrt Mettmann an, einen
Shanti Chor zu gründen. Es reichte nicht, dass die Akte gGg im
Kommissariat Vorbeugung seit der ersten E-Mail im Dezember 2005
beträchtlich angewachsen war. Erster Hauptkommissar Medemanski
musste das Thema ausgerechnet beim Rico Hämattilas
Lieblingsnachtisch ansprechen: Vanille-Schoko-Grieß-Schnittchen,
satt mit Himbeersirup serviert.
„Kannst
du mir mal Dienstag einen gGg-Status geben?“, fragte Friedrich
Medemanski.
„gGg“,
spottete Rico Hämattila tags darauf vor seinem Stab in der
Lagebesprechung und forderte von seiner rechten Hand, Oberkommissarin
Frieda Eldinger einen umfassenden Bericht. Zwei Tage später fasste
Oberkommissarin Eldinger den Stand der Nachforschungen in einer 34
Seiten langen Präsentation zusammen.
Sehr
aufschlussreich, dachte Rico Hämattila bitter. Die 150 Seiten des
Anhangs zur Präsentation, ausgedruckt, gebunden und an die
Teilnehmer der Lage verteilt, führten so ziemlich jede
Umweltschutzorganisation der Welt auf. Allein das
Personenverzeichnis, das sie im Wege der Amtshilfe vom
Verfassungsschutz bekam, enthielt die Namen von über 200 Personen
auf 80 Seiten.
„Wir
sollten beim G wie Geißler beginnen – Du weißt schon, wegen
gGg…“, sagte Rico Hämattila ironisch-bitter, als er auch den
Namen des ehemaligen Generalsekretärs der CDU auf der Liste fand.
Jemand in der Runde unterdrückte ein Schmunzeln. Frieda Eldinger
notierte den Vorschlag, obwohl sie eigentlich einen anderen Weg
bevorzugt hätte – nun gut.
„Zu
gGg habe ich leider nichts gefunden“, gestand sie kleinlaut.
gGg
könnte ein Witzbold sein. Er könnte jung oder alt, männlich oder
weiblich, arbeitslos oder Vorstand sein. Im Internet ist alles
möglich, dachte Rico Hämattila. Der Hauptkommissar fand, dass sein
Büro der beste Beweis für seinen Abstieg war. Nicht nur, dass es
das letzte auf dem langen Flur war. Es war auch kleiner als alle
anderen Büros. Ein Raum, in dem früher eine Schreibkraft saß, die
nach der Reorganisation der Mettmanner Polizei überflüssig wurde.
Früher war er mitten im Geschehen. Umgeben von seinen Leuten, den
Kommissaren Renate Mühlberg und Arnold Basten, die zu
Oberkommissaren befördert wurden. Und natürlich von seiner
damaligen rechten Hand, seinem Freund – damals noch Hauptkommissar
– Friedrich Medemanski. Jetzt saß Medemanski an seinem ehemaligen
Schreibtisch und lud zu Lagebesprechungen ein, bei denen Rico
Hämattila nicht mehr erwünscht war. Er dagegen hielt Statusmeetings
ab, an denen höchstens zwei oder drei Mitarbeiter von den insgesamt
zehn, die er hatte, teilnahmen. Sie dauerten meistens eine halbe
Stunde, bei größeren Projekten eine ganze. Es ging um Termine und
Broschüren. Und um Folienpräsentationen. Um die Suche nach dem
Drama hinter dem Verbrechen an der Rechtschreibung.
Verbrechensbekämpfung und -vermeidung verhalten sich zueinander wie
eine Frau aus Fleisch und Blut und eine Wichsvorlage: das eine für
richtige Männer, das andere… – hatte er einmal Medemanski
gegenüber gesagt. Rico Hämattila hatte außer Führung und
Steuerung nichts mehr zu tun – er hat alles delegiert. Du fühlst
dich nicht überflüssig, du bist überflüssig, dachte er. Noch vor
drei Jahren unvorstellbar! Durch das Läuten des Telefons aus einem
stumpfen Döszustand aufgeschreckt, der sich neuerdings nachmittags
immer einstellte und immer länger andauerte, griff er langsam nach
dem Hörer.
Auf
der Heimfahrt hörte Friedrich Medemanski seine Lieblingsmusik –
Shanty Chöre.
ӝ
Die
Vorstellung, dass, während massive Anstrengungen unternommen werden,
um die Emission von Treibhausgasen zu reduzieren, zur
Wetterbeeinflussung seit Jahrzehnten Tonnen von Aluminium und
Silberjodid-Partikeln aus Flugzeugen in die Erdatmosphäre gestreut
werden, ist so abstrus, dass die breite Öffentlichkeit beschlossen
hat, es als Unfug zu betrachten. Entgegen allen Fakten und Beweisen.
Warum? Weil es sich scheiße anfühlt, sagte ein Politiker, der nicht
genannt werden wollte. In den vergangenen 14 Jahren hat die Erde
wesentlich mehr Wärme gespeichert als abgegeben. Laut einer Studie
der NASA und des US-Klimaamts NOAA hat sich das sogenannte
Energieungleichgewicht damit seit 2005 fast verdoppelt. Grund dafür
sei vor allem, dass Wolken und Meereis die Sonnenstrahlung weniger
reflektieren. Gleichzeitig habe die langwellige Strahlung von der
Erde ins All unter anderem wegen mehr Treibhausgasen abgenommen.
„Als
Welsbach-Patent wird das US-Patent 5003186 bezeichnet, welches das
Ausbringen von speziellen Partikeln in der Erdatmosphäre zur
Milderung der globalen Erwärmung beschreibt. Das Patent wurde im
Jahr 1990 von David B. Chang und I-Fu Shih, die bei der Hughes
Aircraft Company arbeiteten, angemeldet und 1991 veröffentlicht. Der
Name des Patents geht auf den Glühstrumpf, den Carl Auer von
Welsbach im 19. Jahrhundert erfunden hat, zurück. Die Grundidee der
patentierten Methode sind staubförmige, von Flugzeugen verteilte
Partikel, die ein Emissionsspektrum wie das Material eines
Glühstrumpfs haben. Im sichtbaren Bereich ist ihr Emissionsgrad
hoch, im nahen Infrarot niedrig und im fernen Infrarot wieder hoch,
wie in nebenstehender Grafik abgebildet. Die Erfinder glaubten, dass
derartige Partikel die Wärmestrahlung der Erde, die überwiegend
fernes Infrarot enthält, absorbieren und die so aufgenommene Energie
zumindest teilweise in Form von sichtbarem Licht abgeben würden.
Sichtbares Licht wird durch Treibhausgase kaum gedämpft, sodass der
Treibhauseffekt reduziert werden würde, wenn die Partikel im
Wellenlängenbereich des fernen Infrarots mehr Energie absorbieren,
als sie ebendort emittieren. Verstehst du das? Damals waren die der
Meinung, dass Photovoltaik nicht funktioniert. Und heute …
Sonnenkollektoren überall! In einer Studie des Kiel Earth Institute
über Geoengineering wird das Welsbach-Patent zu den „Vorschläge[n]
zur technologischen Umsetzung des stratosphärischen
Aerosol-Schildes“ gezählt, ohne auf die patentierte Idee näher
einzugehen. Ein Artikel in der Online-Ausgabe des Focus befasst sich
kritisch mit dem Welsbach-Patent und kommt zu dem Schluss, dass das
patentierte Verfahren eher zu einer „Erwärmung der Erde statt zu
ihrer Abkühlung“ führen würde. Im P.M. Magazin wurde das
Welsbach-Patent erwähnt und darauf hingewiesen, dass es keine
Beweise dafür gebe, dass das patentierte Verfahren tatsächlich
angewandt wird. 2004 erschien in der Zeitschrift Raum & Zeit der
Artikel „Die Zerstörung des Himmels“, in dem Chemtrails auf das
Welsbach-Patent zurückgeführt werden. Diese Einschätzung teilten
Vertreter der Chemtrail-Theorie in einem Protestbrief an das
Umweltbundesamt von Deutschland, in dem sie das Welsbach-Patent unter
die ihrer Ansicht nach seriösen Quellen einordneten. In einer
Stellungnahme des Schweizer Bundesamts für Zivilluftfahrt heißt es,
die Entstehung der Chemtrail-These stehe mit dem Welsbach-Patent in
Zusammenhang, aber es gebe keine Beweise und es sei unwahrscheinlich,
dass entsprechende Sprüheinsätze von Flugzeugen tatsächlich
stattfinden. Winfried Petzold von der Nationaldemokratischen Partei
Deutschlands (NPD) stellte 2005 bis 2006 als Abgeordneter im
Sächsischen Landtag fünf kleine Anfragen an die Sächsische
Staatsregierung, in der er unter Bezugnahme auf das Welsbach-Patent
Auskünfte über die „Wahrscheinlichkeit gesundheitlicher
Folgeschäden infolge klimatischer Manipulation und
Wetterbeeinflussung durch Kontaminierung der Atmosphäre mit so
bezeichneten Welsbach-Partikeln“ verlangte. In Österreich ist das
Welsbach-Patent Gegenstand dreier parlamentarischer Anfragen, die von
Abgeordneten der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) zwischen
2007 und 2013 eingebracht wurden. Das ist soooo spannend! Nazis und
Rassisten wollen im Parlament über Chemtrails reden … Auf der
anderen Seite frag ich mich schon, warum man darüber nicht offen
reden kann … Ich meine, warum überlässt man all diese Themen der
Ultrarechten … Ich meine – mich geht das nichts an. Ich habe doch
seit über zwanzig Jahren keinen freien Himmel mehr gesehen …
(V.O.)
Siehst du? Jetzt war die Welt kurz verschwunden – bin aber wieder
da!
Ich
schätze, du bist zwanzig – kann das sein? Ein großer
Altersunterschied zwischen uns.
Mir
macht es nichts aus – und dir?
Wie
heißt du?
Ich
nenne dich Roger, weißt du? Hatte nicht lange darüber nachgedacht –
Roger flog mir einfach zu, und so nenne ich dich also – okay?
Merkst
du eigentlich, dass es für mich aufregend ist, dir zuzusehen? Es ist
spannend!
Der
schwarze Geländewagen mit der hoch aufgeschlagenen Hecktür hob sich
kaum vom dunklen Hintergrund ab. Der Wind trieb die letzten Wolken
des Sturms vor sich her und ließ den Mondschein blinzeln. Dabei
blitzten der schwarze Lack und die Chromleisten flüchtig auf. Willem
machte sich wegen des Lichts keine Sorgen. Doch was er gefunden
hatte, hielt ihn seit Tagen in Panikzustand und ließ ihn nicht mehr
los.
Wer
hätte die Macht, es geheim zu halten, fragte er sich. Das Institut?
Ich habe doch die Beweise. Man wird sie unter Verschluss halten. Kann
der Staat die Wahrheit vertuschen? Warum antwortet Jo nicht?
Es
hat ihn große Überwindung gekostet, Jo zu kontaktieren. Jo sei zwar
ein Arsch, aber er hätte ihn nie verraten. Als er mit zwölf in
Vaters Auto die Handbremse gelöst hatte und gegen das Garagentor
rollte, hat Jo Vaters Schuldzuweisung akzeptiert und die Strafe auf
sich genommen, einen Monat lang jede Woche das Auto zu waschen.
Willem hat seinen Bruder bewundert – seine Energie, seine
Offenheit. Plötzlich überwogen die positiven Erinnerungen und so
beschloss er, Jo eine verschlüsselte Nachricht zu senden: „(169/283)
(153165)(12)=“; es war ein sehr einfacher Code, den sie als Kinder
für ihre Geheimnisse entwickelt hatten. Ein Friedensangebot,
sozusagen. WhatsApp zeigte, dass Jo die Nachricht gelesen hat. Willem
starrte auf das Display, auf dem immer noch die Formel schimmerte:
L-LEMMA:
Wenn
n =2m dann ist n+1 nur dann prim, wenn für jedes k mit (n)! / (n-k)!
≡ r an der Stelle k mod (k+1)! gilt: r=0, k: {1, …, m}.
Dann
schaute er auf die Uhr: 22:30. Den seltsam schimmernden Stein legte
er sorgfältig in einem Tuch verpackt neben die Kamera und räumte
die Instrumente in die Alukoffer. Als erfahrener Stormchaser war er
gewohnt auch im Dunkeln zügig und präzise zu arbeiten, ohne die
hochsensible Elektronik und Optik zu beschädigen. Das Fluggerät hat
er erst bemerkt, als es schon senkrecht über ihm schwebte. Ein
unvorstellbar leises Summen und Schnurren ließ ihn hochblicken. Es
war nur ein kurzer, flüchtiger Blick, denn im nächsten Augenblick
musste er, während er zu Boden sank, alles versuchen, um nicht mit
dem Kopf gegen den Kotflügel zu schlagen. Er landete auf seinem
Gesicht. Das grüne und violette Licht, und dass das Ding zur Landung
ansetzte, konnte er nur ahnen – bereits, als er aufschlug, war er
tot.
Man
wird sagen, er wurde vom Blitz erschlagen.
(V.O.)
Als die Welt sich wieder eingeschaltet hatte, war es schon dunkel,
und ich war allein mit der Uhr, die darauf zu warten schien, mir die
Gutenachtgeschichte zu erzählen.
Ich
schrie sie an: Lass mich in Ruhe mit deinem Kinderkram! Ich will nie
mehr eine Gutenachtgeschichte!