[»Das
Gastmahl des Belsazar«, Rembrandt van Rijn (1635)]
„I
am attacked by two very opposite sects, - the scientists and the
know-nothings. Both laugh at me – calling me the
frogs' dancing master. Yet I know that
I have discovered one of the greatest forces in nature.” –
GALVANI
(in
SOME FURTHER EXPERIMENTS ON PSYCHIC FORCE. By William Crookes F.R.S.
&c. in "The
Quarterly Journal of Science",
October 1871)
Aria
con Variazioni
Die
Freie Rhein-Anthropozentrische Universität Mettmann
ist
wahrscheinlich die einzige Bildungseinrichtung, die jeden, der durch
den Haupteingang eintritt, mit einer gastfreundlichen, achteckigen
Cafeteria empfängt. Die sündhaft teuren, bunten Tische, Stühle und
Sofas, schlängeln sich auf einer vierzig Zentimeter hohen Empore, in
einer konzentrischen Formation um einen Skulpturbrunnen.
Hier
bekommst du bald deine Promotionsurkunde ausgehändigt. Den Beweis,
dass es wert war, durch die Hölle des australischen Outbacks zu
gehen.
Siehst
du, da steht er, der Gottvater der Anthroposophie, Dr. Rudolph
Steiner. Kunstvoll abgehoben, windet sich die Natter der Medici um
seinen Arm. Versuchte sie lautlos einen Blick von ihm zu erhaschen,
oder erstarrte sie zum Sinnbild des Zuflüsterns, des Überbringens
des geheimen, verborgenen Wissens über die Wahrheit der Welt? Der
ganzen Wahrheit in ihrer undenkbaren Vollständigkeit und wirklichen
Vollkommenheit?
Nein,
nein – es ist wirklich beeindruckend!
Böse
Zungen außerhalb der Universität behaupteten, der Künstler habe im
Gestus des Kaltblüters die narkotisierende Falschheit und
kaltblütige Scharlatanerie der Steinerschen Lehre meisterhaft
eingefangen. Dabei überstrahlt er doch wie ein einfacher,
fürsorglicher Gärtner mit einer glänzenden Gießkanne in der Hand
gütig lächelnd seine Jünger, die sich ihm ergeben zuneigen, wie
Tulpen, nein, wie schöne Lilien, die sich nach den märchenhaften
Jünglingen sehnen, denen es einst gelang, die Brücke zur Freiheit
zu überqueren.
Ich
weiß noch, dass der Bildhauer bei der Enthüllung sagte: Der Geist
des Wassers überträgt Steiners Geist auf seine Gefolgschaft. Wohl
inspiriert von seinem eigenen Werk, etwas voreilig, schlug der Mann
der bildenden Kunst sogar einen Slogan für die Hochschule vor:
Begeistert atmen und in Freiheit wachsen. Aber da hatten wohl noch
andere ein Wörtchen mitzureden.
Man
sagt, schon bei den ersten Absolventen habe der Brunnen im
Mittelpunkt des Entlassungsrituals gestanden. In einem langen,
einstudierten Singspiel durchliefen sie vor den Augen der
versammelten Studenten- und Elternschaft ihre Hochschullaufbahn: Mein
Lebensgang.
Die
Stafette, in die auch Alumnis und Lehrkräfte mit leuchtenden Fackeln
eingebunden waren, wie Irrlichter, die goldbeladen nach dem alten
Fährmann Ausschau hielten, der sie übersetzen würde, um eilig an
das Ufer zu gelangen, an dem sie schon immer zu sein wünschten –
würde am Brunnen beginnen, mit einer ersten, symbolischen Berührung
des Wassers.
Ein
märchenhaftes Ritual!
Sie
spielten Szenen des Leidens und Freuens nach.
Schließlich
würden sie zum Ausgangspunkt zurückkehren, um aus dem Brunnen ein
letztes Mal einen satten Schluck zu nehmen.
Jeder
Bakkalaureus würde sein an einem roten Faden befestigtes Tongefäß
mit dem Nass des plätschernden Brunnens füllen. In einem Korb
würden sie je drei Kohlköpfe, drei Artischocken und drei große
Zwiebeln tragen.
Mutter
wird weinen. Wenn Vater das hätte erleben dürfen, wird sie denken.
Beim
tosenden Applaus des Publikums verließen sie anschließend unter
Begleitung des frenetisch Richard Straussens allseits bekannte
Zarathustra-Akkorde aufspielenden Hochschulorchesters das Oktagon, um
im Geiste des Wassers die Welt zu verändern.
Kein
Auge bliebe da trocken!
Man
munkelte, dass die Idee des Rituals von einem sozialdemokratischen
Landrat, einem Förderer der Hochschule, stammte, der enge Kontakte
zum Wissenschaftsrat pflegte, der wiederum, obwohl bedeutende
Auflagen von der Hochschulleitung noch nicht erfüllt werden konnten,
die Akkreditierung der Hochschule der Landesregierung empfohlen
hatte. Der Sohn des besagten Landrats, der in einem privaten
englischen Internat sich gerade auf das Leben eines deutschen
Elitepolitikers vorbereitete, soll ihm den Tipp gegeben haben.
Nach
dem Bombenerfolg der ersten Aufführung war klar, dass die Zeremonie
weiterentwickelt werden musste.
Für
das optische Arrangement boten die sieben Fakultäten der Universität
vorteilhafte Konstellationen. So konnten die sieben Leiter der sieben
Lehrstühle, in der Formation eines Pentagramms um den Brunnen herum
von einem Podest aus ihre Abschlussreden halten und die Urkunden
ihren jeweiligen Schützlingen reichen, die ihrerseits ihre
Dankesreden hielten.
Man
hatte es versäumt (oder war es Absicht?) eine Kleidervorschrift zu
erlassen. So kam es, dass vor einigen Jahren Joan C. Collins, die
Leiterin des Lehrstuhls für Neurogenetik, und ihre Absolventen in
langen, purpurnen Kutten mit überdimensionierten Kapuzen auftraten.
Kein Wunder, dass im Jahr darauf alle anderen Lehrstuhlinhaber sich
ebenfalls etwas Originelles haben einfallen lassen.
Der
ehemalige, bei einem bedauerlichen Zwischenfall schwer verletzte und
später verstorbene Professor für Neuropsychologie (der von einem
Studenten, der wohl eher eine Therapie als eine Ausbildung benötigt
hätte, attackiert und am Kopf schwer getroffen wurde) erwartete von
seinen Absolventen eine originelle, ihre Individualität und
Persönlichkeit reflektierende Verkleidung und Maskierung.
Ich
muss noch anmerken, dass der Fall dadurch einen leichten Schatten auf
die Universität warf, dass in der kostenlosen Mettmanner
Lokalzeitung ein Student, der anonym bleiben wollte, behauptet hatte,
dass es sich um Mord handelte. Er behauptete weiter – ohne
allerdings Beweise vorlegen zu können –, dass die Universität an
geheimen Projekten beteiligt sei und jener Professor vorhatte,
Projektinternes der Öffentlichkeit preiszugeben. Er schien gelogen
zu haben, denn niemand sah sich veranlasst, seine Behauptungen zu
untersuchen. So geriet die Sache schnell in Vergessenheit.
Frau
Dr. Sandra Ochseck, meine junge und hoch qualifizierte Professorin,
die seine Nachfolge angetreten hatte, war von dem Zirkus gar nicht
angetan, beließ es aber dabei, denn das Tragen von Masken hatte sich
durchgesetzt: mittlerweile trugen alle Teilnehmer der Veranstaltung
bunte und phantasievolle Masken.
Rektor
Bayersand hatte sich anfangs tatsächlich dagegen gesträubt („nicht,
dass wir hier zum Karnevalsverein verkommen…“). Aber das Echo der
Medien war durchweg sehr positiv und pries die gelungene
Identitätsstiftung als vorbildlich.
Seine
Sorge war wahrscheinlich auch unbegründet. Die kultivierte
Gestaltung und die edle Ausführung der sündhaft teuren Masken
erinnerte eher an den legendären venezianischen Maskenball, als an
die ordinären Straßenzüge von Köln oder Düsseldorf und verlieh
dem Ganzen einen mystischen Touch. Um die adriatische Referenz zu
sichern, hatte man der Zuschauertribüne die Form einer riesigen
Gondel gegeben. In der Pause, zwischen dem Festprogramm und der
Überreichung der Zertifikate, strömten aus einem Lautsprecher
bekannte italienische Weisen.
Es
verwunderte nicht, dass Professor Absingh, der mitunter die
spektakulärsten Forschungsergebnisse vorzuweisen hatte, ein
gebürtiger Pakistani und Neuroinformatiker mit Erfahrungen in der
Computerindustrie sowie ein glühender Anhänger der
Private-Public-Partnership, seine Studenten als Roboter auftreten
ließ.
In
Vorbereitung auf meine Doktorarbeit habe ich mich neben der Kultur
der Aborigines auch mit Mazda und Zarathustra befasst. Die
historischen Quellen boten allerdings wenig Material. In meiner
Arbeit hatte ich die Entstehung des menschlichen Bewusstseins
untersucht, um die Verbindung der Menschen mit ihren Göttern zu
verstehen. Verblüffenderweise kennen nämlich Aborigines keine
Götter. Sie kennen keinen Glauben. Schon auf die Frage, ob sie denn
glaubten, dass die Regenbogenschlange wirklich existiert habe,
reagierten sie, als hätten man gefragt, ob sie glaubten, dass sie
atmen.
Ich
ging von einer älteren, vom Mainstream der Wissenschaft nicht
akzeptierten Theorie von Julian Janes aus, der sich zunächst mit der
Erforschung der Schizophrenie beschäftigt hatte. Er fragte sich, wie
es kommt, dass manche Menschen Stimmen hören.
Die
Kommunikation läuft auf einer doppelten Ebene ab, die es nicht
erlaubt, klare eigene Entscheidungen zu treffen. Der Schizophrene
bedroht seine eigene Identität, welche Entscheidung er auch immer
trifft. Seine These war, das „Stimmenhören“ sei nichts anderes
als ein Rückfall in eine Zeit, in der die linke und die rechte
Hirnhälfte des Menschen noch unabhängig voneinander funktionierten
und alle Menschen „Stimmen hörten".
Diese
Stimmen von der rechten Hirnhälfte sind es, die in den alten Mythen
und Religionen als göttliche Offenbarungen beschrieben werden. Die
Propheten des Alten Testaments sprachen, wenn sie das Wort Gottes
verkündeten, eigentlich die Eingebungen ihrer eigenen rechten
Hirnhälfte aus.
Eigentlich
hatte ich in meiner Doktorarbeit vor zu untersuchen, was im Gehirn
geschieht, wenn jemand gerade an Gott glaubt. Ich
wollte wissen, warum man den Propheten glaubt. Wie tut man es? Was
läuft dabei im Hirn ab? Welche Gefühle werden wach? Was im Gehirn
bringt den rituellen, kollektiven Akt des Glaubens zustande? Wodurch
wird die von den Propheten behauptete Gegebenheit von Gott zu
Wahrheit?
Aber
weder Neurologie noch Psychologie lieferten mir die Antworten.
Schon
die Wirklichkeit viel einfacherer, nahe liegender Erscheinungen, wie
zum Beispiel einer Zwiebel oder eines Sandkorns, führten an den Rand
des mentalen schwarzen Loches, des blinden Flecks: So bald begriffen,
erstrahlten Wahrhabung und Wahrgebung in einem letzten Funken von
Verstand. Von der zerstörerischen Kopfvernunft getrieben, sagte ich
dann: Es könnte auch anders sein. Ich – glaube, es könnte auch
anders sein!
Wissen
und Glauben sind eineiige Zwillinge, weißt du, die sich unbeobachtet
gegenseitig verzehren.
Du
kann sie befrieden, sagte Rangurrayi, wenn Du sie siehst. Er lachte
genüsslich: Dann werden sich die Zwillinge nicht mehr gegenseitig
auffressen, sondern sich von der Welt ernähren. Es wird dich stark
machen.
Die
Zwillinge in der Geschlossenen Abteilung fielen mir ein …
Hertha
stand am Fenster im Morgenrock. Hubert lag immer im Bett und stand
nie auf, weißt du?
Ich
verglich die Geschlossene Abteilung mit einem Zoo. Die Viecher werden
eingesperrt und gefüttert und, wenn es nötig ist, gewaschen. Sie
sind exotisch, faszinierend und sehr verschieden. Die Käfige werden
sauber gehalten. An jedem Käfig befindet sich eine Tafel. Die
Aufschrift beschreibt das Vieh. Die Öffnungszeiten für den
Publikumsverkehr sind streng reglementiert. Das Personal geht
freundlich mit den Bewohnern um. Leichen werden zügig entsorgt.
Als
kleines Kind, hatte ich einmal im Kölner Zoo gesehen, wie eine tote
Schlange mit einer Schubkarre aus dem Käfig gebracht wurde.
Sie
hieß Golda, sagte die Tierpflegerin, mit Tränen in den Augen, und
sie war sehr alt.
Das
ist ein Unterschied, dachte ich.
In
der Geschlossenen Abteilung würde niemand eine Träne für einen
toten Patienten vergießen.
Mit
den eineiigen Zwillingen Hubert und Hertha Schlattner war eine
Unterhaltung nicht möglich – sie sprachen kein Wort.
Die
beiden waren dem Projekt 3 zugeordnet – sehr interessante Fälle.
Sie hatten eine genetisch bedingte Stoffwechselstörung im Zentralen
Nervensystem, die dazu führte, dass sie die Welt vollkommen anders
wahrnahmen, als es normale Menschen tun.
Ihre
innere Uhr tickte anders.
„Ihr
Ereignishorizont ist verschoben“, sagte Martha. „Bei Hertha lief
der Stoffwechselprozess sehr viel langsamer, beim Hubert dagegen sehr
viel schneller ab als bei normalen Menschen.
Das
führte dazu, dass Herthas Gehirn, pro Minute nur für den Bruchteil
einer Sekunde Reize aus der Umgebung aufnahm. Die übrigen
neunundfünfzig Sekunden war ihr Gehirn damit beschäftigt, die
aufgenommenen Informationen zu verarbeiten.
Ihr
Gehirn arbeitet in Zeitlupe, man kann mit dem Computer ihren
Gedankengang am Bildschirm verfolgen.“
Es
war aber nicht so, dass sie die Lücken ihrer Wahrnehmung hätte
erkennen können. Ihr Gehirn reihte die Schnappschüsse lückenlos
hintereinander.
Dadurch
ergab es sich, dass sie eigentlich keine Bewegungen wahrnahm, sondern
nur statische Bilder, die entweder gar keine Änderung oder einen
sehr großen Unterschied darstellten.
In
ihrem Bewusstsein war die Welt sprunghaft und unberechenbar. So
konnte es sein, dass wenn jemand mal kurz ins Zimmer kam und dann das
Zimmer wieder verließ, sie es überhaupt nicht bemerkte. Oder jemand
erschien ihr plötzlich an einem Ort und ein Augenblick später war
er entweder schon weg oder an einem ganz anderen Ort.
Bei
Hubert verhielt sich die Störung genau entgegengesetzt.
„Huberts
Gehirn arbeitet im Zeitraffer. In der Zeit, in der normale Menschen
einen Sinneseindruck verarbeiten, verarbeitet er Tausende.
Das
führt dazu, dass ihm die Welt vorkommt, als würde sich die meiste
Zeit nichts ändern. Dr. Absingh sagt, dass er wahrscheinlich auch
Dinge wahrnimmt, die ein normaler Mensch niemals wird wahrnehmen
können – zumindest sieht es am Bildschirm so aus“, sagte die
Schwester.
Ich
hatte Mühe, mir die Welt der Zwillinge vorzustellen.
Ich
sollte Professor Absingh bitten, es mir genauer zu erklären …
Man
sollte einen guten Grund wie ich haben, um Neuropsychologie zu
studieren, weißt du? Kurz vor dem Abschluss wusste ich, es war die
richtige Entscheidung. Ich wusste nun, warum ich von Dämonen
verfolgt werde und die Selbstgespräche nicht enden wollten. Woher
die Schlafstörungen und die Panik kamen. Ich konnte die Zwillinge
beobachten. Es war einfach.
Die
Erinnerungen an die Kirchenbesuche meiner Kindheit, an die Stelle in
der Messe, wenn der Pfarrer kurz innehält, um dann leise zu
verkünden: Geheimnis des Glaubens, waren leicht erregbar immer noch
unter meiner Gänsehaut.
Es
wurde schnell klar: das Geheimnis des Glaubens zu lüften, ist nicht
Sache der Wissenschaft und auch nicht die des Pfarrers. Aber zu
beobachten, was sich dabei im Gehirn abspielt, und wie die Emotion,
die durch die Nähe des Geheimnisses die verräterische Gänsehaut in
Form von aufgestauten und kondensiert umgewandelten elektrischen
Ladungen in beobachtbare energetische Zustände versetzt – das
schien zunächst machbar zu sein. Bis mir die Schlange alle Fragen
aufwarf, die alle Antworten vermissen lassen. Die Schlange erschien
mir in der ängstlichen Gestalt der Professorin Sandra Ochseck.
Frau
Professor Sandra Ochseck, Inhaberin des Lehrstuhls für
Neuropsychologie, besetzte das Büro auf der nordwestlichen Seite des
Oktagons. Der Gebäudekomplex wird wegen seiner Form und in
Anspielung auf den Bau des amerikanischen Verteidigungsministeriums,
leicht anmaßend, Oktagon genannt. 1985 errichtet, konnte er erst
zwei Jahre nach der Aufnahme des Lehrbetriebs bezogen werden.
Die
acht Kanten der Zentralwabe strukturieren auf zwei Ebenen das nach
innen offene Flurensystem. Entlang der Seiten sind je zwei Türen zu
sehen – auf der ersten Ebene die Zugänge zu acht ebenfalls
achteckigen Sälen. Auf der zweiten Ebene befinden sich die Räume
der fünf Fakultätsleitungen, das Büro des Gründers und Rektors,
Prof. Bayersand und zwei Konferenzräume.
Die
Cafeteria im Oktagon war zwischen neun und zehn Uhr morgens am besten
besucht. Da war es manchmal schon schwierig einen freien Platz,
geschweige denn einen freien Tisch zu bekommen.
Wenn
ich um zehn Uhr zum Termin erscheinen werde, geht es nicht mehr um
die Inhalte der Arbeit. Die studentische Hilfskraft aus dem Vorzimmer
steckte grinsend den Kopf rein:
„Rudi
ist da…“
„Komm
rein Rudi!“
Wir
saßen in ihrem Büro im Oktagon. Sie schien von meinem
Themenvorschlag für meine Doktorarbeit überrascht zu sein.
Es
sei nicht klug, beschwor sie mich, das Phänomen der Glaubwürdigkeit
von Propheten anhand von großen Religionen zu untersuchen. Die
jeweilige Religionsgemeinschaft könnte schon die Fragestellung als
Gotteslästerung empfinden. Es sei zu gefährlich.
Es
sei nicht klug und zu gefährlich…
Natürlich
verteidigte ich meine Themenwahl. Es ginge in der Arbeit weder um das
Glauben noch um die Propheten, entgegnete ich. Es geht um die
neurologischen und psychologischen Vorgänge, die beim Menschen
stattfinden, wenn er glaubt. Es wird nicht in Frage gestellt, woran
er glaubt und warum er glaubt.
Es
wird nicht in Frage gestellt!
Aber
Dr. Sandra Ochseck gab nicht nach. „Ich kann mir nicht vorstellen,
dass du das so scharf abgrenzen kannst. Bei Jesus oder Mohammed kämst
du nicht um die Frage herum, die Glaubwürdigkeit von Leuten zu
hinterfragen, die sich als Zeugen göttlicher Wunder präsentierten.“
„Darum
geht es doch gar nicht!“, entgegnete ich, „und außerdem geht die
Kirche selbst zu den Wissenschaftlern, wenn bei der Heiligsprechung,
überprüft werden soll, ob der Kandidat die Voraussetzungen erfüllt
– ob ein Wunder vollbracht wurde oder nicht. Wissenschaftler
entscheiden letztlich, ob jemand heiliggesprochen wird! Wir sind eine
anerkannte kirchliche Instanz. Wir Wissende sind die Richter des
Glaubens. Oder nehmen wir den Rechtsstaat! Richter rufen uns und
lassen Gutachten erstellen! Wir, Wissenschaftler richten. Der Richter
spricht nur im Namen des Volkes – in unserem Namen – das Urteil!“
Professor
Ochseck ignorierte den Einwand. Sie hatte bereits etwas Besseres im
Sinn. „Ist es nicht so, dass dabei die gleichen Vorgänge eine
Rolle spielen, die auch dann wirken, wenn jemand der Botschaft der
Werbung glaubt?“
„Sicher
nicht!“, entgegnete ich heftig – das war doch unterste Kajüte.
„Sie können die Manipulierbarkeit der Menschen mit dem
jahrtausendelangen Bedürfnis nach spiritueller Verortung nicht
gleichsetzen!“
Die
Schlange startete ein Ausweichmanöver: „Ich werde darüber noch
einmal nachdenken.“ Sie stand auf und gab zu verstehen, dass das
Gespräch beendet sei: „Lass uns am Dienstag noch einmal sprechen.
Und bring mir einen Vorschlag, der meinen
Einwänden Rechnung trägt.“
Das
Meeting am Dienstag musste allerdings wegen einer dringenden
Dienstreise von Professor Ochseck ausfallen, weißt du?
Eine
Woche später staunte ich nicht schlecht, als sie einen Vorschlag für
den Titel vorlegte. Und eine zweiseitige
Zusammenfassung für die Doktorarbeit. Die Arbeit solle untersuchen,
welche Prozesse in den Gehirnen der australischen Aborigines
stattfinden, wenn sie ihre Geschichten über die Traumzeit erzählen.
Sie solle in Australien gefertigt werden. Sie legte stolz ein
Schreiben des Institute for Magnetic Resonance Research und ein Fax
des Brain and Mind Research Institute der Universität Sydney auf den
Tisch, in denen bestätigt wird, dass Herr Rudolph Sander seine
Forschungen dort durchführen kann.
Was
sollte ich sagen? Professor Sandra Ochseck beobachtete aufmerksam
meine Reaktion und war sehr zufrieden.
„Ich
kann das aber leider nicht finanzieren…“, log ich und wusste,
dass das nicht nach einem ich mach es
nicht und bleibe bei meinem Thema
klang.
Auf
diesen Moment schien Sandra Ochseck nur gewartet zu haben. „Nun,
das habe ich mir schon gedacht. Du würdest etwa sechs Monate
brauchen, um dich vor Ort, in den australischen Kontext einzuarbeiten
und dann noch einmal ein halbes Jahr für die Arbeit. Das ist nicht
gerade billig.“
Ich
nickte. „Eben, daher denke ich, dass…“
Sie
öffnete ihre Mappe: „Und weil ich es mir gedacht hatte“,
unterbrach sie mich, zog ein Blatt aus der Mappe und schob es mir zu,
„habe ich die Leitung der Spiritual Science Foundation gefragt, ob
ein Stipendium in Frage käme.“
Ich
hob das Blatt. Sie lehnte sich zurück. „Hier ist die Zusage
zunächst für ein Jahr, unterschrieben von Steve Tasks, dem
Aufsichtsratsvorsitzenden der deutschen Stiftung.“
Ich
spürte, sie hatte gewonnen.
Es
folgten über zwei Jahre in Australien, die mich verändern sollten.
Es wurde eine traumhafte Zeit. Nach dem
zweistündigen Gespräch glühte mein Gesicht. Ich blieb an der
Balustrade stehen und blickte auf das rege Treiben der Cafeteria
hinunter. Ich hätte Lust gehabt zu schreien. Ich ging langsam und
zögerlich die Treppe hinunter.
Als
würde hinter mir mit jeder Stufe ein Stück reale Vergangenheit
wegbrechen. Von Chronos für immer und ewig getilgt. Als müsste jede
nächste Stufe, in den Wehen des gelegenheitengebährenden Kairos,
erst geworfen und entnabelt werden.
War
meine Brille beschlagen oder hatte ich tatsächlich Tränen in den
Augen? Gott, bin ich ein Sensibelchen! Ich blieb vor dem schwarzen
Brett stehen und rieb mit einem Papiertaschentuch die Brillengläser.
Nur um zu überprüfen, ob die Sicht besser geworden ist, warf ich
einen flüchtigen Blick auf das schwarze, mit Papierschnipseln
verschiedener Größen, Formen und Farben vollgekleckerte Medium.
Schlagzeilen und Anzeigen von und für Studenten. Am Ausgang blieb
ich doch stehen. Etwas am Schwarzen Brett irritierte mich. Auf einem
Blatt Papier stand:
Mazda
Impuls
TUV:
22.04.06
Baujahr:
57
Benzin
Privat:
Nievenheim
VB.:
€20.00
Etwas
stimmte in der Anzeige nicht.
War
es nur der Preis?
Ich
weiß es nicht.
Nebel
stieg auf …
Oder
Rauch?
Alabonster,
das Monster aller Monster, ein Geist wie aus der Flasche …
Seine
Stimme dröhnte unhörbar …
Weißt
du,
Wo
du suchst, Dort findest du.
Wie
du suchst, So findest du.
Was
du suchst, Das findest du.
Wenn
du suchst, Dann findest du.
Warum
suchst du?
Wozu?
Wer
bist du?
Wessen
Geistes Kind?
Umgeben
von den zweifelhaften Individuen wachte Rudi Sander schweißgebadet
auf – ICH. Jetzt bildeten sie einen Kreis um sein Bett. Er wusste,
sie würden ihm so lange nicht mehr von der Seite weichen, bis er
gefunden hätte, was zu suchen war.
Der
Meister und seine Tochter sprachen leise.
Eigentlich war es nur Summen und Flüstern. ES war das Rauschen eines
entfernten, endlosen Ozeans:
„Erkenne,
damit du glauben kannst! Werte Worte nach ihrem Wesen, denn sie sind
das Werden! Du sollst sie lieben, wie sie sind; ein Nicht-Gott, ein
Nicht-Geist, eine Nicht-Person, ein Nicht-Bild, mehr noch: wie sie
ein lauteres, reines, klares Eines sind, abgesondert von aller
Zweiheit. Und in diesem Einen sollen wir ewig versinken vom Etwas zum
Nichts, um wieder Etwas werden zu können“, sagte einer, der sich
Lövenix nannte. „Das Senfkorn zeigt hier Tiefe
ohne Grund. Schach und Matt der Zeit, den Formen, dem Ort! Der
Wunderring ist Ursprung, unbeweglich steht sein Punkt. ICH werde wie
ein Kind, werde taub, werde blind! Dein eigenes Ich muss zunichte
werden, alles Etwas und alles Nichts treibe hinweg! Lass Raum, lass
Zeit, meide auch das Bild! Gehe ohne Weg den schmalen Pfad, dann
findest du der Wüste Fußspur.“
„Wie
wünschte ich, ich wüsste, wer ich bin! Was in der Welt ist, welche
ich will! - ich, Ich, ICH“, seufzte Rudi.
„Bekenne
dich doch zu deiner Unwissenheit!“, sagte der, der sich Krebs
nannte.
„Und
doch gibt es in der Natur eine gewisse reine Substanz, welche, wenn
sie entdeckt und durch Kunstfertigkeit in ihren vollkommenen Zustand
gebracht wird, alle unvollkommenen Körper, welche sie berührt, zur
Vollkommenheit verwandelt!“, sagte streitlustig der, der aus der
neuen Stadt kam.
Sein
Freund ergänzte: „Man findet sie auf dem Land, in Dörfern und
Städten, in allen Dingen. Reich und Arm legen gleichermaßen jeden
Tag Hand an sie, Diener werfen sie auf die Straße, und Kinder
spielen damit. Niemand schätzt sie, obwohl sie das kostbarste auf
Erden ist, das Könige und Prinzen vernichten kann. Aber man
betrachtet sie als das gemeinste, niedrigste aller Dinge.“
Rudi
erschauderte, heiße und kalte Wellen strömten durch seinen Körper,
von vorne nach hinten, von oben nach unten – immer wieder. Er bekam
eine Erektion.
„Warum
quält ihr mich, da ihr wisst, keine Gewissheit konnte mein Geist
empfangen, ohne auf dem Prüfstand meiner Seele als zu leicht
befunden und abgestoßen worden zu sein?“, flehte Rudi. „Wer bin
ich, dass Ihr glaubt, die Kraft und die Weisheit zu besitzen, eurem
Widerstreit entfliehen zu können? Gott, bin ich ein Schwachkopf,
dass ich glaube über meinen Geist überhaupt sprechen zu können!“
Einer
aus der Runde kam näher und legte seine Hand auf Rudis Stirn.
„Es
ist der Geist Gottes, der uns ein Ding auf eine bestimmte Weise und
ein zweites auf eine andere Weise verstehen lässt“, verteidigte
Krebs die Gruppe.
„Wie
ein in einem Kreis einbeschriebenes Vieleck, das die Zahl seiner
Seiten vermehrt und doch nie ein Kreis wird, so nähert sich deine
Erkenntnis der Wahrheit an, stimmt aber nie ganz mit ihr überein…
Wissen ist also im besten Fall Vermutung“, ergänzte ruhig Lövenix.
„Jawohl,
coincidentia oppositorum, die Vereinigung von Gegensätzen führt zur
Vereinigung von Gegensätzen: ein Kreis mit unendlich großem Radius
hat eine Gerade als Umfang!“
„Als
Luther der Medizin kann ich dir sicher helfen“, sagte bombastisch
einer aus der Gefolgschaft von Hermes, einem stummen Beobachter der
Szene, der eine Smaragdtafel vor sein Gesicht hielt, um sein
amüsiertes Lächeln zu verbergen. Er wusste ja, was kommen würde.
„Laudatus
Laudanum!“, schrie Luther und holte aus einem Beutel ein golden
glänzendes Kügelchen, das wie Mäuseexkremente geformt war.
Rudi
schluckte die bittere Pille.
Er
fiel erneut in einen tiefen Schlaf – um zu träumen.
Als
er wieder aufwachte, waren die Individuen verschwunden.
Stattdessen
kam seine Mutter auf ihn zu und reichte ihm ein mit Schinken belegtes
Sandwich.
Rudi
erzählte ihr von den Figuren seiner Traumzeit. Sie beruhigte ihn
sanft.
„Auch
große Geister unterliegen Irrtümern. Täuschungen aus der Tiefe
dieser Individuen sind wirr und vielfältig, ihre Dogmen trennen, was
nicht zu trennen ist und führen zusammen, was nicht zusammengehört
– sie bringen alles durcheinander. Sie tragen ihre Trugbilder auf
den Markt und beschädigen dabei das wichtigste Instrument des
zwischenmenschlichen Verkehrs – die Sprache. Auch unser Verstand
macht Fehler – und diese Fehler sind am schwierigsten zu erkennen
und zu vermeiden. Lerne sie zu fühlen!“
Mutters
Stimme wirkte wie Balsam auf sein entzündetes Gemüt.
„Du
solltest mal wieder malen, es entspannt dich doch so schön“,
empfahl Mutter.
„Das
ist nicht mehr so. Das Monster in mir zwingt mich in der letzten Zeit
immer wieder zu versuchen, mich selbst zu malen. Könnte ich doch nur
meinen Geist malen“, sagte Isidoro resigniert.
„Ich
kann die Welt nicht malen, weil ich sie nicht ertragen kann“, sagte
er, „im selben Maß, in dem wir durch Technik die Welt und das All
erobern, haben wir auch begonnen, die Welt und uns selbst zu
zerstören. Unsere Unmenschlichkeit wird nicht nur in den zwei
Weltkriegen offensichtlich, im Faschismus und Chauvinismus, sondern
auch in der Fremdheit und Vereinsamung in unserem modernen westlichen
Alltag, ein Alltag der Vereinzelung, Zerrissenheit, geprägt von
Glaubensverlust und Selbstverlust.“ Mutter schüttelte nur den
Kopf.
Rudi
nahm eines seiner Selbstporträts in die Hand und zerschnitt es.
„Ich
habe den Schinken selbst gemacht. Schmeckt er dir?“, fragte die
Mutter ihren Sohn, um ihn auf andere Gedanken zu bringen.
„Durchwachsen…“,
schmunzelte Rudi.
Nun
erinnerte er sich an Vaters Worte.
„Die
Menschen verstehen nicht, was sie denken. Sie hören sich sprechen,
verstehen aber nicht, was sie sagen. Hüte dich vor ihnen. Hüte dich
vor denen, die sagen, die Wahrheit zu kennen. Zeige ihnen aber das
Gegenbeispiel, das du findest, nicht. Sie könnten dich dafür töten.
Halte dich fern von denen, die in spitzfindigen Diskussionen nach dem
Ersten Beweger oder nach der Weltseele suchen. Wenn du etwas finden
möchtest, suche es. Wenn du eine Vorstellung hast, probiere es aus.
Der Traum wird dir immer den Weg weisen.“
Um
seine Gedanken zu ordnen, begann Rudi, all das, was er zu wissen
glaubte, in einer Tabelle, mit der Überschrift „Entitäten“
aufzuschreiben. Er zählte und nummerierte sie, ordnete sie immer
wieder neu. Auf der Suche nach dem einen Bild, welches seinen Geist
befriedigt und seine Seele besänftigt hätte, verlor er den
Überblick.
Als
die Tabelle eine Größe erreicht hatte, die auch mehrfach gefaltet,
den Boden des ganzen Zimmers abdeckte, hielt er inne. Rudi kam zu dem
Schluss, dass er auf dem Holzweg ist.
Sein
und Denken sind unvereinbar, sagte er sich. Alles, was ich in die
Tabelle eingetragen hatte, sind Verallgemeinerungen, sie haben mit
den Einzeldingen nichts mehr zu tun. Das Bild, das ich entworfen
habe, kann zwar in sich logisch sein, es hilft mir aber nicht, die
Wirklichkeit zu erkennen. So bleibt die Welt für mich unergründlich.
Ich muss sie als unverstanden hinnehmen. Ich bin unfähig, eine
göttliche Ordnung in der Welt zu erkennen, so ist für mich auch der
Wille Gottes unergründlich. Die Welt ist durch die menschliche
Vernunft nicht beweisbar. Man kann über die Welt also nichts wissen.
Man muss glauben.
Hier
angekommen, begann er zu weinen. Nach einer Suche, die Tage und
Nächte der letzten Monate gedauert hatte, war er an seinem
Ausgangspunkt angekommen.
Mutter
versuchte ihn zu trösten.
Er
stand auf, ging ins Bad und holte Vaters Rasiermesser, ein sehr
scharfes Gerät der Marke Ockham.
„Was
machst du da?“, schrie seine Mutter verängstigt.
„Nur
Ruhe Mutter, ich bringe mich schon nicht um“, sagte er.
Ich
hoffe, der Junge kommt mit heiler Haut davon, sagte sich die Mutter
und ließ ihn mit seiner Pubertät allein.
Er
verbrachte noch einmal Wochen und Monate damit, einzelne Zellen der
Tabelle mit dem Rasiermesser aus- oder abzuschneiden.
Übrig
blieb etwas, was er ohne Mühe auf dem Wohnzimmertisch ausbreiten
konnte – eine Tabelle mit achtzehn Spalten und sieben Zeilen.
In
den Zellen hatte er nur noch Buchstaben und Zahlen mit tiefer
Bedeutung eingetragen.
Die
Schönheit und Einfachheit der Tabelle hatten ihn begeistert. Er sah
schon fast das Ende des Tunnels. Aber die Geister ließen nicht
locker.
„Und
was ist mit der Zelle in der Spalte vierzehn und Zeile sieben? Warum
hast du dort keinen Buchstaben eingetragen?“
„Ich
hätte schon die Buchstaben dafür, wenn ich nur wüsste, was in die
Zelle gehört.“
„Dann
finde es! Und denk dran es ist die magische Zelle, sogar die
doppeltmagische!“
„Wo
soll ich es denn finden?“
„Wo
du es suchst, dort findest du es.“
„Wie
soll ich es denn finden?“
„Wie
du es suchst, so findest du es.“
„Was
soll ich denn suchen?“
„Was
du suchst, das findest du.“
„Wann
soll ich denn suchen?“
„Wenn
du suchst, dann findest du.“
„Warum
soll ich suchen? Wozu?“, fragte er schließlich.
„Wer
bist du eigentlich? Wessen Geistes Kind?“, fragten die Geister
zurück.
Gequält
von den Geistern, die er rief, sah er die einzige Chance, ihnen zu
entkommen, in der Flucht. Ohne etwas mitzunehmen, machte er sich auf
den Weg in den Busch. Ohne zu prüfen, wieviel Sprit im Tank seines
Geländewagens noch war, fuhr er einfach los.
Nach
etwa drei Stunden Fahrt auf dem Highway bog Rudi in einen sandigen
Weg ab. Hätte ihn jemand gefragt: warum verlässt du die
Hauptstraße, ist das nicht gefährlich? Gefährlicher als der Busch
ist die Hauptstraße, die mich zu Umkehr bewegen versucht: Wende,
fahr nach Hause, trink ein kaltes Bier und genieße die Kühle der
Klimaanlage. So hätte Rudi geantwortet.
Der
aufgewirbelte Staub markierte seinen Pfad, wie ein roter Faden. Hätte
er es sich anders überlegt, dann hätte er, auch nach dem er diesen
schmalen, einspurigen Buschweg verlassen hatte, vom Ariadnefaden des
Staubes geleitet, zurückgefunden.
Er
hatte es sich aber noch nicht anders überlegt. Und als es so weit
war, als Hunger, Durst und die Hitze gesiegt hatten, hatte er seinen
Wagen schon längst, mit leerem Tank, irgendwo unauffindbar
liegengelassen. Der Staub hatte sich auf seine Sinne gelegt.
Für
die Fledermäuse war die Zeit gekommen, aufzuwachen und in einem
Schwarm mit tausenden Flügelpaaren sich auf Nahrungssuche in die
Eukalyptusweiten aufzumachen. Jetzt hätte er gerne wenigstens die
arrogant-klugen Stimmen seiner Geister gehört. Aber das Schreien der
Tiere übertönte alles.
Okay,
sagte er sich, ich gebe auf. Ich bin zu schwach und zu feige für
diese Welt. Ich werde ein paar Stunden schlafen und beim
Sonnenaufgang gehe ich nach Hause. Wenn ich dann noch gehen kann ...
Python
beobachtete sehnsüchtig seinen kleinen, verzweifelten Freund.
Am
Abend des nächsten Tages wusste er, dass sein „Zuhause“ etwas
Fernes, Unerreichbares und Fremdes geworden ist.
„Wo
du suchst, dort findest du. Was du suchst, das findest du.“, hallte
es aus jener Ferne. Er folgte der Stimme, der einzigen und letzten
Verbindung zu seiner alten Welt, denn der Busch, in seiner eintönigen
Gleichförmigkeit, machte den Unterschied nicht mehr. Länge und
Breite verloren das Maß. Die Tiefe und die Höhe, die wahrnehmbar
übrigblieben, waren ihm nicht vertraut. Er wusste, er hatte sich
verlaufen. Ich werde sterben, sagte Rudi furchtlos.
Jedermann
kannte die Geschichten von leichtsinnigen Menschen (nicht nur
Touristen), die im Outback die Orientierung verloren und häufig erst
nach aufwändigen Suchaktionen – in der Regel nur noch tot –
gefunden werden konnten.
Ich
habe Angst, sagte er sich, spürte aber zugleich, dass das Wort sein
Gefühl nicht richtig beschrieb. Es war nämlich ein neues, fremdes
Gefühl. Wie Fieber. Wie Lampenfieber ...
Das
Atmen fiel ihm schwer, aber das erste Mal in seinem Leben bemerkte er
überhaupt, dass er atmete – mit Haut und Haar. Seine Augen
brannten. Er fühlte sich von seinen Augen im Stich gelassen. Hatten
sie früher alles Wichtige über die Welt blitzschnell
weitergeleitet, so versagten sie nun. Fehlgeleitet von den sich nicht
mehr auffällig genug abhebenden Ähnlichkeiten, beschlossen sie, ein
Standbild zu zeigen. Seine Ohren sendeten nur noch das Brummen eines
Lautsprechers mit verstärkten Wackelkontakten. Noch einmal drang
eine Stimme zu ihm. Sie kam aber diesmal von weit draußen:
„Wer
bist du?“
Die
stechend schwarzen Augen fanden ihn in der gleißenden Sonne, halb
verhungert und verdurstet.
Draußen
in den Weiten der Wüste fand Rudi, was er suchte. Er wusste nun, wer
er war und wessen Geistes Kind er wurde. Die Menschen, die ihm dabei
halfen, befreiten ihn auch von der kranken und verzweifelten
Aborigine-Romantik, die ihn schon in Brisbane angekotzt hatte. Mit
ihnen singend und tanzend erfuhr er das Warum und sein Wozu.
Und
er fand Spalte fünfzehn, Zeile sieben. Die Geister schrieben in die
Zelle die Buchstaben Uup.
Jahre
später machte er sich auf den Weg ins Neandertal, dem Ausgangspunkt
für die Suche nach Spalte vierzehn, Zeile sieben – dem Stein: Sein
Auftrag. Er wusste, wenn er erfolgreich sein würde, müsste er die
Buchstaben nicht mehr suchen. Die Geister würden in die Zelle
einfach die Buchstaben Uuq
und längst bekannte, magische, ja doppelmagische
Zahlen eintragen.
Welche
Kraft steckt in den Steinen, fragte er die Geister?
Die
Kraft, die du suchst.
Kann
ich mit der Kraft den Raum besiegen?
Nein,
sie ist die den Raum spannt, aber du wirst die Quelle orten!
Kann
ich durch sie die Zeit besiegen?
Nein,
erst dann erkennst du die Zeit: Jetzt und immer, aber die wirst du
erleuchten.
Isidoro
sagt, das gängige Modell von Bewusstsein und Intelligenz sei völlig
falsch: Ist eigentlich, wie eine Holoplatte und alles, was jemals das
Gehirn erreicht, bleibt als Engramm erhalten, es verschwindet nicht,
weil in dem Gehirn alles mit jedem Eindruck für immer verändert
wird – nicht umsonst heißt es Ein-Druck!
1984
gründet Isidoro s’Angelo nach dem Muster seiner Alma mater die
Freie Private Neurophysiologische Universität in Mettmann. Als
Rektor setzt er den Psychiater und Nobelpreisträger Prof. Dr. Dr.
Bayersand ein. Bayersand ist zugleich Lehrstuhlinhaber der Fakultät
für Gesundheit, Klinische Psychologie, Neurophysiologie und
Psychotherapie. Die Uni betreibt interprofessionelle und
interdisziplinäre Forschung: Eine Wissenschaft, die Mensch und
Gesellschaft und nicht bloß Teile davon in den Mittelpunkt stellt.
Die Kommunikation und Kooperation zwischen den Fakultäten und dem
Future Spirit ist weltweit bekannt für die Ergebnisse für ihre
experimentelle Grundlagenforschung.
Bei
einem Wochenendausflug ins Neandertal wird er von einem
Museumsbesucher auf seine Hautfarbe und seine Herkunft angesprochen.
Sie trinken zusammen einen Kaffee im nahegelegenen Haus Becher.
Der
Unbekannte erzählt von einer längst vergessenen Legende von einem
Ritter Veith vom Rabenstein, der im Mittelalter in den Kellerräumen
des geerbten Gutes medizinische Experimente mit lebenden Menschen
durchführte. Es heißt, er hätte die Leichen nach Wuppertal
getragen und an der Hammersteiner Schnelle in die Wupper geworfen.
Der Spruch „Über die Wupper“, ein Analogon zu „Über den
Jordan“, soll aus der Zeit stammen.
Man
erzählt, sagte der Unbekannte, dass, als in der Feldhofer Grotte die
Überreste des Neandertalers 1856 bei Steinbrucharbeiten gefunden
wurden, ein Arbeiter einen Stein mitgenommen hatte, der bei Gewitter
seltsame Eigenschaften zeigte. Isidoro drängt darauf zu erfahren,
von welchen Eigenschaften man erzählte. Er ziert sich, weil er die
Information von einem Freund, einem Hauptkommissar – einem
Ur-Mettmanner – gehört hatte, dessen Großeltern wohl die Familie
des Arbeiters kannten, sonst aber von niemandem. Isidoro gibt nicht
nach und kommt kurz vor dem Abschied nochmal auf den Stein zurück.
Vor dem Eingang flüsterte ihm der Fremde ins Ohr:
„Bei
Gewitter soll der Stein zu glänzen beginnen. Derjenige, der den
Stein hält, würde nach einer Woche an furchtbaren Entstellungen
sterben …“
Die
Steine aus Neandertal wurden Isidoros Idée fixe.
Als
er wegen Steuerhinterziehung, Bilanzfälschung, Unterschlagung von
Fördermitteln und Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz
angezeigt wird, flüchtet Isidoro nach Australien und mietet ein
Apartment in Byron Bay, einer Küstenstadt in Australiens
südöstlichem Bundesstaat New South Wales. Der Ort ist ein beliebtes
Reiseziel und bekannt für seine Strände und seine guten Surf- und
Tauchplätze – hier können Buckelwale beobachtet werden.
Er
eröffnet am Ewingsdale Hall eine Raststätte, die er in nur fünf
Jahren unter der Marke „tlc - the laughing crocodile“ zu einer in
ganz Eurasien erfolgreichen Franchisekette ausbaut. Mit dem
verbotenen Handel mit exotischen Tieren und deren Körperteilen
(Krokodilmandeln, Fledermaussekret und Kakaduherzen waren die Renner
der letzten drei Jahre!) hat er ein globales Netz von Abnehmern in
der Forschung, aber auch bei wohlhabenden Genießern aufgebaut und
Millionen verdient. Wer bist du eigentlich? Du passt hier nicht rein!
Den
bunten Frühling wird man im Neandertal vergeblich suchen – sagen
die Düsseldorfer, die hier nur an Wochenenden Entspannung suchen,
weißt du? Die Mettmanner Jogger dagegen erleben täglich die wilde
Entschlossenheit der Natur, es trotz allem noch einmal zu versuchen.
Manche Bäume schaffen es nicht mehr. Und manche Patienten auf der
Geschlossenen Abteilung der Klinik auch nicht.
Rangurrayi
sagt, dass es typisch ist, dass die Menschen es als so
selbstverständlich erachten, etwas dreidimensional zu sehen, darüber
zu reden nachzudenken, sich darin zu bewegen. Niemand scheint sich
fragen zu wollen, wie das sein kann, wo und wie dieses Bild entsteht.
Wenn das Gehirn so funktionieren würde wie es die Hirnforscher
meinen, dann müsste es einen Ort, einen Raum geben, wo die Welt
aufgeführt wird und wir sie sehen können. Es gibt aber im Schädel
keine Leinwand. Im Grunde produzieren alle Gehirne aus dem Strom an
Eindrücken über die Sinneskanäle eine innere Ordnung, die beim
Menschen aufgrund der evolutionsbedingten Erhaltung, optisch und
akustisch – also als Bild- und Tonspur - priorisiert ist. Dr. Peter
Bayersand, international bekannter Psychiater, hat aber keine
Zweifel, dass es den Ort gibt. Sein Freund Alfons Sander widersprach
ihm nicht. Wozu auch? Psyche und Physik – der paar
Buchstaben-Unterschied markierte den Abstand zwischen zwei Universen.
Es
wurde ihm leicht schwindelig, trotzdem verharrte er in der Stellung
mit durchgestrecktem Hals und beobachtete das Weiß der Decke. Den
Arm ließ er dann langsam sinken. Das leichte Wanken seines Rumpfes
nahm Alfons Sander ohne sich zu sorgen wahr – es konnte nicht am
Strick um seinen Hals liegen, denn noch hatte er den Stuhl fest unter
den Füßen – und dachte an den Tag vor fünfundzwanzig Jahren, als
er zusammen mit Gertrud und Peter in Köln die Zweizimmerwohnung
renovierte, in der sie in Wohngemeinschaft leben und studieren
wollten.
Nur
mühselig gelang es, die festgeleimte Tapete – auch nach
mehrmaligem Anfeuchten – abzuschaben, abzukratzen. Drei
Kommilitonen halfen dabei. Als die Wände, befreit vom entsetzlichen
Geschmack des Vormieters, nackt und feucht eine Verschnaufpause
nahelegten, beschloss man, sich Pizza liefern zu lassen. Alfons
blickte Peter vorwurfsvoll an und fragte in die Runde, ob jemand an
einem Rätsel Interesse hätte. Peters Tonfall verletzte ihn immer
noch, ein geheuchelt enttäuschter Seufzer – Aaach … Nicht schon
wieder Rätsel …! Es ist ganz einfach, hatte Alfons mit einer
schelmischen Stimme verkündet, die das Gegenteil einflößen sollte.
Das Rätsel war einfach zu lösen – wenn man um die Ecke denken
konnte. Er hörte sich sprechen, dabei Gertruds Reaktion beobachtend,
denn sie liebte Ratespiele, und stellte die Frage, ob man die Flächen
von zwei Kreisen zu einem einzigen Kreis mit der Fläche als Summe
der Flächen der beiden Kreise zusammenführen könne.
Peter
konnte es nicht dabei belassen. Ein Peter Bayersand wird eine solche
Steilvorlage seines Freundes nicht verpassen, sich ins Rampenlicht zu
schieben - vorzudrängen. Er zückte einen Filzstift aus seiner
Jackentasche – Alfons wusste, dass Peter immer Eddings zur Hand
hatte. Für die, denen das Rätsel mit den Kornkreisen primitiv
erscheint, habe ich hier ein Rätsel, das ihr nicht lösen werdet –
darauf bin ich bereit zu wetten. Auf Gertruds Frage, ob es überhaupt
eine Lösung gebe, triumphierte Peter strahlend, klar, sonst wäre es
kein Rätsel, sondern eine Verarschung. Übrigens, ich habe die
Lösung in zwanzig Minuten gehabt, protzte er, während er sich zur
noch Spülwasser atmenden, blanken Wand wandte. So – hob Peter an,
es passt zu unserer Renovierung hier. Stellt euch vor ihr habt einen
9 mal 12 Meter großen Boden einer Halle, der mit Teppichboden belegt
werden soll. Im Baumarkt findet ihr genau das farblich Passende. Der
Händler beteuert, dass nur noch zwei Reststücke übrig seien, aber
zusammen hätten sie genau die Fläche – 108 Quadratmeter: ein zehn
mal zehn und ein einmal acht Meter Stück. Es wird euch schnell klar,
dass ihr das größere Stück zerschnippeln müsstet - und das wäre
nix. Nach kurzem Nachdenken, während ihr schon weiterwollt, hält
euch der Händler an und sagt, allerdings … wenn man den Schnitt
richtig anlegt, dann kann man mit einem einzigen Schnitt das große
Stück durchschneiden und schon habt ihr die Lösung mit insgesamt
nur drei Teilen. Und es sieht auch noch hübsch aus! So – Peter
machte jetzt die dramaturgisch passende Pause (Alfons hat ihn um sein
Timing immer beneidet) und hob oberlehrerhaft den Stift: Findet
diesen einen Schnitt! Gertrud verzog ihr Gesicht, hob den Eimer mit
heißem Wasser, kippte etwas Spülmittel rein und begann an der
gegenüberliegenden Wand die Tapete zu befeuchten. Man sagte, es
würde helfen. Sie mochte beide Jungs, sie waren jeder auf seine Art
cool. Hätte der sanfte Alfons die Kraft des Machos Peter …
Okay,
erwiderte Alfons: Dann beweis‘ du mal die Goldbachsche Vermutung!
Was hältst du davon?
Ich
habe dieses Arschloch geliebt, schmunzelte Alfons und blickte zur
Badezimmertür – er hatte sie absichtlich nicht verschlossen.
Nichts soll zu Schaden kommen, wenn es soweit ist.
Wenn
Alfons Sander nicht mehr ist.
Wir
tranken noch einen Saft und plauderten, bis jemand vom Empfang mir
zurief, dass der Bericht, für den ich gekommen war, nun vorliege und
ich ihn nur unterschreiben müsste. Also Rudi – ich bin hier
fertig, sagte ich und gab ihm, ohne gefragt worden zu sein, meine
Handy-Nummer. Als ich ihm den Grund meines Besuches in der Uni
verriet, wurde er blass und steif. Nach ein paar Sekunden stammelte
er vor sich hin, rieb sich die Nasenwurzel und knackte seine
Fingergelenke – der Reihe nach. Ich dachte, die Sache sei schon
lange erledigt, ad Acta gelegt, flüsterte er heiser. Ja schon, sagte
ich, aber jemand meldet Ansprüche an Professor Dr. Bayersand, die
mit seiner verstorbenen Frau zusammenhingen. Es ist Vorschrift,
solchen Eingaben nachzugehen. Formell ist der Fall wohl rechtswidrig
eingestellt worden.
Noch
am Abend hatte er mich angerufen und wir verabredeten uns. Wir kamen
uns näher. Nach drei Wochen lud er mich zu sich nach Hause ein. Es
sollte ein entspannter, lockerer Abend sein und meine Phantasie
machte Beziehungssprünge, weißt du? Sollte …