Mittwoch, 20. November 2024

Z. Z. LIII [»Unvollendete...! XI {Für Stefan König}« (2024)]

 


[»Simple Push Robot«, Goedart Palm (2015)]



Mathematics, rightly viewed, possesses not only truth, but supreme beautya beauty cold and austere, like that of sculpture, without appeal to any part of our weaker nature, without the gorgeous trappings of painting or music, yet sublimely pure, and capable of a stern perfection such as only the greatest art can show. The true spirit of delight, the exaltation, the sense of being more than Man, which is the touchstone of the highest excellence, is to be found in mathematics as surely as poetry. [Bertrand Russell »Study of Mathematics« (1902)]




Die quadratische Expansion eines binomischen Ausdrucks.


Ihr Haar, bei dem man sah, wie es entgegen seinem Wuchs so frisiert war, dass es durchaus den Kopf stolz krönte, allerdings ohne jenes letzte Wissen um die Gesetze dieser Kunst, so dass man etwas wie mühevolle Auflehnung derer spürte, die sich zwar von der Natur ungerechterweise missachtet wussten, dafür aber schon Klugheit genug besaßen, sich auf ihre Weise schadlos zu halten.




Die schrittweise Annäherung einer Funktion an einen festen Wert, während eine Variable gegen Unendlich strebt.


Virtuosentum mochte immerhin etwas davon retten, was an Tugend in der alltäglichen Welt längst verspielt war. Rechtfertigung wurde dem zuteil, der hier Akteur war, ungeachtet der sehr dunklen Seiten der Künstlerexistenz. Im Gegenteil, der Schauer, mit dem das Publikum auf diese blickte und um sie wusste, war ein nicht unwesentlicher Teil des kathartischen Mechanismus, aus dem das Kunstgeschäft sein Kapital schlug.




Die Gleichung, bei der eine Variable im Exponenten einer Basis steht und die Lösung durch logarithmische Umformungen bestimmt wird.


Glaubenstexte, also alle Manifestationen dessen, womit man sich identifiziert, woran du dein Herz hängst, werden von Ungläubigen, also solchen in kritischer Distanz, gerade nicht als symbolische Texte gelesen, sondern wie Berichte voller Fehler. Das ist so, als legte man ein Bild auf eine Waage um festzustellen, es sei zu leicht oder zu schwer.




 Die Darstellung eines Wertes als Rest einer Division durch einen festen Divisor.


Metaphorik des Heilseins, Euphorie der Befreitheit von der Umklammerung durch Unwohlsein, Gegenbildlichkeit des Wunders in einer Welt, die den Zugang zum Wissen wenig gerecht organisiert und es dadurch zum knappen Gut macht, und damit teuer, während die Sphäre des Glaubens und dessen, was man verehrt, anbindet an ein gnadenweise verliehenes Erbe, den Segen einer Instanz, die das Heil verwaltet.
Begrenztheit des Wissens durch Unüberschaubarkeit seines Umfangs und Wachstums, aber auch durch die prinzipielle Unmöglichkeit einer Absolutheit, Glaube dagegen, der die Allmacht einer absoluten Instanz repräsentiert.

Skepsis Wissensorientierung gegenüber wegen der Unzulänglichkeit einer Weltsicht, die im Realitätsprinzip gründet, schließlich folgt die Bewertung der Dinge nicht real erhebbaren Qualitäten, auch wenn das dem Zeitgeist entsprechend behauptet wird, sondern Systemen einer alternativen Logik.




Die Darstellung der räumlichen Änderung eines Feldes durch Anwendung partieller Ableitungen.


Schöpfung spricht über das Dass der Welt auf dem Umweg des Wie, und zwar mittels menschlicher und allzumenschlicher Vorstellungen, worunter ihrerseits auch allermodernste Theorien fallen. Was sonst wären denn die mathematischen Modelle der Astrophysik und die anderer Naturwissenschaften! Menschliche Weltsicht soll gründen in einem Anfangsszenario, das die Prinzipien der Weltordnung formuliert.

Wenn sich darin ein Sinn finden lässt, dann sicherlich auch in seinem Gegenbild, nämlich dem des Weltuntergangs. Als existenzfeindlich erlebte Züge der Wirklichkeit finden in einem apokalyptischen Szenario ihren Höhe- und zugleich Endpunkt. In besonderer Bedrängnis lebende Gemeinschaften können sich dies als Erlösung von einer leidvollen Gegenwart vorstellen, eine sie bedrückende Herrschaft triumphiert nicht endgültig, sondern ist gleichermaßen dem Untergang geweiht.

Angesichts des ausbleibenden Weltuntergangs tritt die apokalyptische Tendenz zurück. Es entstehen Strukturen der Selbstbehauptung. Idealerweise löst die einst unterdrückte eine jetzt untergehende Macht ab und tritt herrschend an ihre Stelle.




Die Anpassung der Unsicherheit einer Verteilung durch gewichtete Wahrscheinlichkeiten.


Wir nennen es wunderbar: ein höchst beglückendes Ereignis; nicht weil es sich jenseits der Gesetze der Natur verwirklicht, wohl aber weil es etwas darstellt, was wir uns über die Maßen wünschen, und dessen Verwirklichung nicht in unserer Macht steht. Möglich ist es, dieses Glück, denn wir wünschen uns ja nichts Übernatürliches. Was sollten wir auch anfangen mit Übernatürlichem, da wir gänzlich im Diesseits glücklich sein wollen! Aber es wäre uns ganz und gar unmöglich es herbeizuführen, damit es ein Glück sei. Ein Unglück kann völlig menschengemacht sein, sogar eine Tragödie in ihrer Unabwendbarkeit kann von einem Menschen allein entfesselt werden. Dem Glück fehlt das Entscheidende, wenn der Glückliche, wie man sagt, seines Glückes Schmied ist. Ja, er soll das Eisen heiß halten, der Schmied, aber der entscheidende Schlag muss ihm gewissermaßen so gelingen, als führte den Hammer eine außerirdische Macht.

Das Übermächtige ist allgegenwärtig und wird zum Feind, wenn wir seine Allgegenwart auf einen Punkt festlegen wollen um doch gegen es anzutreten. Als gäbe es nicht Voraussetzungen und waltende Mächte prinzipiell jenseits dessen, was unserem individuellen Einfluss unterliegt, Schicksal, in das wir uns ergeben sollen! Resignation, Unterwerfung, nein, aber Anerkennung solcher übermächtigen Faktoren, deren Erforschung durchaus; ja sogar Pflicht des Versuches der Einsichtgewinnung. Erträglichmachung der Last des Schicksals durch Bereitschaft zum Tragen der Verantwortung für das Unverschuldete, nicht indem man sich gewissermaßen auf seine Seite schlägt, im Gegenteil, Schlüsse daraus zieht für sein weiteres Tun. Einsicht heißt durchaus nicht Einvernehmen. Umgekehrt ist Opposition nicht automatisch der Aufruf zur Rebellion. Die Übermacht des Widrigen anzuerkennen bedeutet nicht, man sei zu dessen Standpunkt übergelaufen. Resignation erkennt die Aussichtslosigkeit eines Aufbegehrens an. Falls nötig, darf sogar Unterwerfung geheuchelt werden. Eine Treuepflicht gegenüber dem Übermächtigen besteht nicht. Das auf diese Weise erbrachte Opfer in Form von Selbstverleugnung birgt in sich Tod und Leben gleichermaßen. Die Entscheidung das Äußerste zu riskieren ist gerechtfertigt, wenn dieses Äußerste nicht der eigentliche Zweck ist. Das Leben steht immer unter der Prämisse des Todes, ihn zu leugnen heißt das Leben zu verfehlen. Aus Furcht vor dem Scheitern zu leben ohne Ziele zu verfolgen, für die man nicht bis zum Äußersten ginge, hieße alle Leidenschaft mit Gleichmut zu ersticken.




Die zeitliche und räumliche Bewegung einer Welle.


Welche Klänge stellen Welt dar? - Das wiederholte Übermalen einer überwuchernden Unwirtlichkeit mit den feierlichen Blue Notes Beethovens, unaufhaltsam, unbeirrbar. Generationen unterschiedlicher Akzentuierungen und Tempi, Virtuosen und Wunderkinder, Weltdarstellungen und –verbesserungen. - Soll der Klang die Welt verbessern, sie abbilden, sie wiederherstellen? - Die Wiederholung des Neuen, Zwang zur Innovation, der Wachstums- und Fortschrittsillusion ganz und gar verwandt. Aufhebung oder Verwandlung der Grammatik, der Zeichensetzung; präpositionale Predigten, postponierte Reflexivpronomina, präparierte Klaviere, Leerstellen, leere Saiten und Gedankenstriche. Einer sprach über das, was Beethoven heute täte, Goethe heute dächte, Hölderlin dichtete: Abwesenheit des Feierlichen; vermutlich. Indessen: Diktatur des Show Biz, des Höchsten, des Bewährten, des Althergebrachten; unaufhaltsames Loblied der Übereinkünfte, der Konventionen.



Die Summe der absoluten Differenzen der Koordinaten zweier Punkte, entsprechend der Manhattan-Metrik.


Weswegen er den Wagen überholt habe, wollte Pietkowski von dem Taxifahrer wissen. Damit er vor ihm sei, antwortete dieser. Ob hier nicht das ganze Elend der Menschheit zum Ausdruck kam, fragte er sich. Gewiss, ein wenig Sinn für Humor mochte helfen. Laut einer Benachrichtigung der Sternwarte sollte er vor seinem Ruhestand nun noch 2992 Tage seinen Dienst verrichten, Forschungen vorantreiben, Berechnungen anstellen, habitable Zonen erkunden, die ihm zunehmend gleichgültiger wurden. Der Eifer, mit dem die Astronomen noch das geringste Anzeichen für mögliches Leben feierten, hatte unlängst begonnen, ihm Furcht einzuflößen. Aufgeregt sprach man davon, schon bald zusätzliche Wohnräume für die Menschheit zu schaffen. „Was halten Sie von den Scorpions?“, fragte der Fahrer unvermittelt. „Fetzig, oder?“ - „Möglich“, erwiderte Pietkowski. Rote Zwerge seien äußerst vielversprechende Kandidaten für die Suche nach bewohnbaren Planeten. The wind of change blows straight into the face of time“, trällerte der Fahrer. Fressen und Gefressenwerden, das eherne Gesetz allen Lebens, dachte Pietkowski; nichts weiter.





Die im Reellen nicht existierende Wurzel findet ihre Definition im Imaginären.



Ernennung, wie es uns biblisch erzählt wird: wo immerhin Gott den Menschen einsetzt in sein Amt dessen, dem die Erde untertan sei, in dem Sinne nämlich, dass er sich ihrer annehme, zu seinem eigenen Nutzen durchaus! Wehe ihm aber, er werfe sich auf zum Tyrannen um sie in Angst und Schrecken zu halten, sich selbst zum Ergötzen an seiner Willkür! Die Ausweisung aus dem Paradies geschieht jederzeit, indem der Mensch sich der Hybris seiner Selbstermächtigung ergibt, blind gegenüber der Tatsache, nicht bloß seiner Herkunft aus dem Reich der Natur, als vielmehr ganz und gar Hervorbringung der Natur zu sein. Noch so vielem darin mag er überlegen sein, über sie selber als ganze und damit dasjenige, worin jedes Einzelne Teil an der Natur als ganzer hat, kann er sich nicht erheben. Darum ist er - Schrecken der Psychoanalyse! - nicht Herr im eigenen Haus, weil nicht Herr über seine eigene Natur. Die mag nun - Schrecken der Evolutionstheorie! - ziel-, vor allem aber willenlos sein, im Unterschied zur Willensbegabtheit ihrer Geschöpfe. Da sie aber ihre Geschöpfe in sich einschließt, ist sie es auf diesem Wege eben doch, nämlich Herrin über den Willen, allerdings ohne ihm überhaupt irgendeinen Rang in der Unzahl ihrer Hervorbringungen zuzuweisen. Denn was ist Willen denn anderes als eine Form der Motiviertheit, nämlich als Akt des Begreifens, durchaus auf sehr unterschiedlichem Niveau! Der Triumph, was ist er anderes als das Imponierverhalten eines Individuums als Signal seines Ranges in einer sozialen Hierarchie. In diesem Sinne trage der Mensch seine Krone, die er sich zudenkt im Kontext der Welt, oder wie religiös gesprochen wird, der Schöpfung: als Erbe eines nützlichen Verhaltensmusters, so wie es die Natur hervorgebracht hat unter den Herden, den Rudeln, den Staaten und was auch immer.




Die Übereinstimmung einer unendlichen geometrischen Reihe mit einem endlichen Wert.



Kappeser, der aus Sträflingszeiten verschiedene Tattoos davongetragen hatte und sie nicht etwa zeigte als modisches Accessoire und Ausbund naiver Bilderliebe; stattdessen wurden seine grobdilettantischen Tattoos sichtbar, wenn es sich eben nicht vermeiden ließ, und atmeten jenen Schauer der Gezeichneten, auf die das Modetattoo zwar heimlich schielte, den es aber angesichts der Massenhaftigkeit seines Auftretens und Publikums niemals haben konnte, von den Anfangszeiten der Mode einmal abgesehen.





Die iterative Annäherung an den exakten Wert einer Quadratwurzel.


Aufklärung: Begriff aus dem militärischen Fachjargon, bezeichnet bessere Vernichtungsmöglichkeiten des Feindes durch klarere Sicht auf ihn, z. B. aus Flugzeugen und Panzern; irrtümlich auch die Bezeichnung einer Geistesepoche, die nach Angaben von wie gewöhnlich schlecht informierten Deutsch- und Sozialkundelehrern erfolgreich Sekundärtugenden wie Vernunft, Toleranz und Humanität gepredigt haben soll [Andreas Egert »fehlfarbenfroh. Aphorismen« (2022)]


Die Quadratur des Geistes, noch dazu unter Sphären einer kugelförmigen Epoche, eine Aufgabe, die sich einst der Kubismus gestellt haben mag; über ihr kreist auch der Aphorismus Andreas Egerts. Absichtsvoll fehlerfarbenfroh schämen sich die Gedankenlose der Nieten nicht, weil die das Spiel zum Spiel machen, in dem der Gewinn jedem Verdienst spottet. Was wäre das Glück, sollte es absichtsvoll herbeigeführt werden, anderes als gekaufte Liebe! Geglückt aber ist die Verständigung mit dem Aphorismus umso mehr, wo er zum Mitschreiben verlockt, homonymisch kalauernd, kontextlos metaphorisierend. Zum E- gesellt sich munter der Neurotiker, Camarillo lässt grüßen. Das Los derer mit losem Mundwerk ist das aller Spötter: das Balancieren auf dem hohen Seil, aufgespannt zwischen Stolz und Leid. Angstvoll blickt der Leser mit dem Aphorismus bald in die Tiefe des Absturzes, dann aber mutig ins Weite, Nieten hin oder her, Hauptsache sie halten Leine und Podest!



Sonntag, 20. Oktober 2024

Bzw. ۲ ۷۰ [»regen«: fünf Gedichte von Martin Westenberger]

 


[»A Hard Rain's a-Gonna Fall«, Goedart Palm (2017)]




Es regnete vier Jahre, elf Monate und zwei Tage lang.

[Gabriel García Márquez »Hundert Jahre Einsamkeit« (1967)]




[»Pink Rider in the Rain«, Goedart Palm (2021)]




If the rain comes
They run and hide their heads
They might as well be dead
If the rain comes

[The Beatles »Rain« (1966)]






das kurze leben erschien


als überblendeter ozean,

irgendwas mit strand u. ocker,

immerzu die ewigkeit von wasser,

die zärtlichkeit ihres ponys,

nachdem sie ihr jackett abgelegt hatte.


später eine endlose straße,

wüste mit tiefergelegtem leben,

der gitarrist streng gläubig

in seinem sphärengang,

schwarzer meister,

schmuckkrawatte, gitarrenhals zum himmel,

ernst in der mission, später

lächeln zum publikum.


das kurze leben meldete sich als aufruf,

alles schön zu gestalten,

sich in harmonien zu bewegen,

freiheit u. zuversicht zu vertreten,

trotz gegenteiliger andeutungen

- zum ende rosen dem publikum.


der immer-ironiker kurz vor seinem ende,

das leben sei unfassbar schön,

goethe ergänzte aus der fürstengruft,

das leben, wie es auch sei,

es ist gut.


die sängerin hob ihr haar

hinter die schultern,

lächelte,

bedankte sich für den applaus, sagte:

das beste montags-publikum seit

beginn meiner karriere.




die heile welt erschien


als brombeerstrauch u. graugestrüpp,

rund um einen leiterwagen,

nachmittagssonne, hosenmatz,


die erde roch nach grieß mit pilzen,

die sonne nach pfannkuchen,

das himmelblau nach 4711,


spielball stadtrandlage,

schwarzer himmel mit funkelpunkten,

überlandleitungen mit porzellanhaltern,


die fenster der bäckereien, konditoreien

in feines messing gefasst,

frauen tranken kaffee mit hut,


nach der autowäsche sah man alles

im spiegel der radkappen u. stoßstangen,

das ledertuch quietschte beim reiben.


heute, mit engblick, weitblick,

jungblick, altblick

ein klickern beim blickern,


wirklichkeitssinn u. politische dimension

melden sich, mit ihnen sei man schon

zum mond gereist,


das fressen

möchte was fressen,

dann die moral.




[»Rainy Apparition«, Goedart Palm (2016)]




regen kann man unterscheiden


zwischen

feinem landregen,

sichtbar auf dem dach

eines alten vw käfers,

dazu etwas roggenbrot vom vortrag,


hätte eigentlich

vortag

heißen sollen,

aber

vortrag

ist auch okay,


stadtregen

ist praktisch wie

strangers in the night u.

downtown,

man geht spät nachts nochmal raus,

bestimmt nicht mit schirm,


burschen,

die schon lange in der warteschleife für

ganz harte burschen

hängen, versuchen sich bei den

ganz harten burschen

zu profitieren,


hätte eigentlich

profilieren

heißen sollen,

aber

profitieren

ist auch okay,


indem sie,

selbst bei platzregen,

ihren schritt

keinen müh schneller ausführen,

komplett gleiches tempo,


sieh mal an,

die warteschleifen-burschen,

sagt

ein ganz harter bursche

zum anderen

ganz harten burschen,

nicht schlecht,

die warteschleifen-burschen,

gehen keinen müh schneller,

trotz platzregen vom boss.


wie jeder weiß,

ist bei uns

regen

selten geworden,

schlecht für die

warteschleifen-burschen,

sagen die

ganz harten burschen

u.

ihr boss muss lachen.


übrigens leben wir am rande

irgendeiner milchbar,


hätte eigentlich

milchstraße

heißen sollen,

aber

milchbar

ist auch okay.




[»Rainy Dreamscape«, Goedart Palm (2018)]





der persönliche fitnesstrainer


hatte etwas onkelemilhaftes,

also vom nachkrieg,

in der küche die badewanne,

am küchentisch der camembert

mit strolch in strümpfen,

auszeit u. flackerlicht,

klo auf der zwischenetage,

rumfingern am camembert,

nach der kriegsgefangenschaft

frankreich beschwiegen.


der fitnesstrainer,

wenn er was gesagt hatte,

was zart joviales, immer

mit den lidern zwinkerte,

dass die schuppen

von den augen fielen,

in den innenhof,

wo die autos repariert wurden.


eine leicht gebückte linie im

blauen trainingsanzug,

das leptosome versteckt u.

immer freundliche fitnesstipps

aus den zeitschriften

hobby u.

mein zuhause.


die geräte waren modern, er

feingliedriger nachkomme der

goggomobil besitzer,

schattenwurf unter neuen fassaden,

beim fahren immer töfftöfftöff gebrabbelt.


wann man wieder onkeln könne,

bratwurst u. sauerkraut stünden bereit,

aber vorsicht bei den bewegungen,

immer ganz langsam, nicht länger

als eine halbe stunde.


ob denn die ziegel auf

dem oberen stübchen noch

richtig lägen, fragt er

mit schuppenzwinkern,

ihn so zu beschreiben.


was möchtest du noch wissen?




die attrappe war aus pappe


ein vom regen angeweichtes ding,

in der größe eines tortenkartons,

im design sehr ähnlich

der fußgängerzone von bad kreuznach;

aufgeweichtes pflaster,

verblichenes design,

umgefahrene fahrradständer,

zerdrückte fahrräder.


schwergewichtige passierten

die drahtsitzbank mit teenagern,

hinter dem qualm von e-zigaretten

leer stehende häuser,

abgerissene plakate.


bevor der karton zu boden fiel

murmelte es,

da,

der laden mit gesundem essen.



Donnerstag, 19. September 2024

Z. Z. LII [»Folge 4: Kongruenzzahlen« aus Val Sidals »Fakeforce – Himmels Körper« (2007/2024)]

 


[»Der Sturz der rebellierenden Engel«, Pieter Bruegel der Ältere (1562)]



Die Himmel hab ich gemessen, jetzt mess ich die Schatten der Erde.
Himmelwärts strebte der Geist, des Körpers Schatten ruht hier.

[Johannes Kepler]



4. FOLGE – Kongruenzzahlen




E-Mails und Prävention … Ist die Mettmanner Kreispolizei zuständig für Maßnahmen zur Vorbeugung der Klimakatastrophe?



Die Polizei Mettmann wird mit einer Flut von E-Mails von besorgten Bürgern und gGg-Aktivisten konfrontiert. Rico Hämattila, dem bei der Mettmanner Kreispolizei für Gewaltprävention zuständigen Hauptkommissar, gelang es zu ermitteln, dass die Nachricht aus einem Wuppertaler Internet-Kaffee abgesetzt wurde – aber das war’s auch schon. Dass Frieda Eldingers Haut jemals eine andere Farbe annehmen könnte als Gipsweiß, hätte Rico niemals gedacht. Frieda war seine rechte Hand und zuständig für all die lästigen Routinearbeiten, die eine Behörde für seine Beamten bereithält.

Sie kam mit rosa Teint in sein Büro hereingestürmt – „Du wirst es nicht glauben...!“

Ohne aufzublicken seufzte Rico ein leises „…doch…“, und während Friedas Gesicht in die vertraute Leichenblässe – und –starre - wechselte, fuhr er fort: „Kuck mal, das ist die Antwort auf unsere Ermittlungen gegen Unbekannt – ein Sonderdruck aus


WOHNUNG+GESUNDHEIT: 

Waldsterben durch Fernsehsender?

Ein gewisser Dr.-Ing. Wolfgang Volkrodt soll auf den Zusammenhang zwischen dem Waldsterben und Elektrosmog hingewiesen haben: Bäume, Blätter und Nadeln sind nach seiner Ansicht gute Antennen für den Wellensalat aus tausendundeinem Sender, von Radar und Radio, Richt- und Mobilfunk, Militär, Satelliten und Fernsehen. Sie sollen maßgeblich am Waldsterben beteiligt sein.

Vom Bundesamt für Strahlenschutz soll bestätigt worden sein, dass Nadeln oder Blattrippen von Bäumen ähnlich wie Antennen mit Mikrowellen in Resonanz gehen können. Dabei kann sich die eingefangene Energie bis zu dreifach verstärken. Diese wandert durch den Baum in den Boden und macht ihn nach Art der Elektrolyse sauer.

Der Wald stirbt durch Mikrowellen!

Mediziner, Wissenschaftler und Ingenieure haben keine Ahnung von den biologischen Wirkungen elektromagnetischer Felder. Sie setzen fast eine Milliarde Mark für ihre Saure-Regen-Theorie in den Sand, behauptete der Mann.

 

Was für ein Quatsch“, fauchte der Hauptkommissar. „Hätte der Mann Recht, dann hätte die Bundesregierung schon längst darauf reagiert“, lehnte sich in seinem Bürostuhl zurück und stützte mit beiden Händen gähnend seinen Hinterkopf – „Übernimm du das, Frieda.“

Oberkommissarin Frieda Eldinger blickte gespannt vorgebeugt auf den Bildschirm. Aufmerksam. Sie war eine begeisterte Vorbeugerin – sie blühte dabei so richtig auf. Wir machen Projekte, erzählte sie ihrer Mutter stolz, die darüber sehr erfreut war. Als pensionierte Abteilungsleiterin eines Unternehmens, das Handys verkaufte, wusste sie, dass Projekte zwar in den Sand gesetzt werden können, aber kein Projekt würde auf offener Straße zurückschießen. Nun konnte sie wieder hoffen, vielleicht doch noch Großmutter zu werden.

Frieda Eldinger hatte einmal vorgeschlagen, eine Statistik zu entwickeln, die aufzeigte, die Begehung wie vieler Verbrechen vermieden wurde. Rico Hämattila war von der Idee nicht begeistert. Er hielt nicht viel von Zahlen, die das Nichts zählen. Warum nehmen wir nicht einfach die Kriterien der Professoren des Landespräventionsrates, wollte er wissen. Schließlich zeigte es sich, dass niemand eine Vorstellung hatte, wie das Eldinger-Verfahren umgesetzt werden könnte. So ging Frieda Eldinger in der Mitarbeit an der Entwicklung von Eingabemasken der Präventionsdatenbank PrävIS auf. Um ihre Wissenslücken auf dem Gebiet der Täter-Opfer-Beziehung zu schließen, engagierte sie sich ehrenamtlich beim Sozialdienst Katholischer Frauen und Männer im Kreis Mettmann.

Basten und Mühlberg sind schon am Tatort!“, sagte sie kurz nachdem sie mit einem Papiertuch ihrem chronischen Heuschnupfen zu Leibe rückte. „Es muss dort schrecklich aussehen …“ – und dann erzählte sie ihrem Chef von einem toten Huhn in einer Studentenbude mit vollgeschmierten Wänden.

Frieda, ich schätze es sehr, dass du mich informierst – aber es geht uns nichts an. Basten und Mühlberg sind seit einem Jahr nicht mehr in meinem Team.“

Frieda senkte den Blick wie ein Schulmädchen während einer väterlichen Standpauke und fand es unfair. Rico ist doch derjenige der mehrmals am Tag wissen will, was der Flurfunk sagt. Rico wechselte in einen milderen Ton: „Außerdem – wenn das Huhn tot ist, können wir nicht mehr vorbeugen. Der Student – wie heißt er nochmal? – wird es verkraften… Aber wie kommt eigentlich ein ermordetes Huhn in eine Etagenwohnung?“

Er heißt Rafael Esteban …“

Dann klingelte das Telefon – zeitgleich mit dem Eingang einer E-Mail:

 

Betreff: Vollbremsung vorm Klima-GAU.


Am Telefon war Mathilda, Ricos Frau. Die E-Mail wieder einmal von gGg.

Sie enthielt einen Artikel eines gewissen Herrn Wille:


Ein bis fünf Prozent des Sozialprodukts müssten nach den vom UN-Klimarat ausgewerteten Studien aufgewandt werden, damit die Erdtemperatur sich nicht um mehr als zwei Grad erhöht. Ökonomen schlagen ein weltweites Handelssystem für CO2-Emissionrechte vor.

 

Bringst du Sprudel mit?“, fragte Mathilda.

So viel zum Kohlendioxydhandel, dachte Rico.



UN-Experten sind sich einig: Es gibt eine Grenze im bereits angelaufenen Klimawandel, die nicht überschritten werden darf. Die Veränderungen in einer "Super-Warmzeit" würden sonst so dramatisch, dass sie nicht mehr beherrschbar wären. Der UN-Klimarat IPCC hat vorausgesagt, dass die mittlere Erdtemperatur bis 2100 um bis zu sechs Grad steigen kann.

 

Hoffentlich auch in Mettmann, dachte Rico Hämattila. „Diese beschissenen Spam-Mails!“, entwich es ihm, während Mathilda ihm vorhielt, sich nicht mehr um den Garten zu kümmern – alles würde an ihr hängenbleiben. Noch nicht einmal den Rasen würde er mähen – was ihm doch früher so viel Spaß gemacht hatte.

Wovon redest du?“, fragte sie gereizt, denn die Sprache der weltweiten Wirren war ihr nicht geläufig. Er löschte die Nachricht. „Vergiss es, ich werde heute den Rasen mähen!“

Demnächst wird das Ordnungsamt Stoppschilder aufstellen: Zulässige Erwärmung darf nicht überschritten werden! Es muss doch möglich sein, global GAIA guard das Handwerk zu legen, dachte er, denn Friedrich Medemanski ließ keine Gelegenheit verstreichen, auf die Bedeutung des Falles hinzuweisen und die mögliche Bedrohung, die von gGg ausging, so schwarz zu malen, dass selbst Oberkommissarin Renate Mühlberg schmunzeln musste. Was – und das wusste bei der Polizei Mettmann jeder – ein Alarmsignal war.



ӝ



Das Rätsel der kongruenten Zahlen ist eng verknüpft mit der mathematischen Hypothese aus den sechziger Jahren – der Vermutung von Birch und Swinnerton-Dyer. Aber bislang weiß niemand, ob die Vermutung, die sich mit elliptischen Kurven beschäftigt, wirklich stimmt. „Das ist das wichtigste ungelöste Problem der Zahlentheorie", sagt John Coates von der Cambridge University. Im Jahr 2000 hat das amerikanische Clay Mathematics Institute sogar eine Million Dollar für die Lösung dieses Rätsels ausgelobt. Das Detailwissen von Krampus beeindruckte Willem. Doch ein Beweis war das nicht. „Also – was sagen die Hüter der Akasha-Chronik?“

Eine natürliche Zahl n gilt als kongruent, wenn es ein rechtwinkliges Dreieck gibt, dessen Fläche genau n entspricht. Und wenn jede der drei Seitenlängen eine rationale Zahl ist – also ein Bruch zweier ganzer Zahlen p/q. Die 6 beispielsweise ist eine kongruente Zahl. Das zugehörige rechtwinklige Dreieck hat die Seitenlängen 3, 4 und 5, seine Fläche beträgt 3*4/2=6. Die kleinste kongruente Zahl ist übrigens die 5 – die Seitenlängen dazu sind 20/3, 3/2, 41/6. Auch 7, 13, 14 sind kongruent – 10, 11 und 17 zum Beispiel, hingegen nicht.“

Willems angespannter Gesichtsausdruck verhieß nichts Gutes: „Nicht dass er auch dem Krampus eins in die Fresse haut – hey! Verstehst du nicht? Das ist alles bekannt? Wie lautet die Lösung des Problems?“

Der Beweis der Großen Fermatschen Vermutung durch Andrew Wiles ist falsch und damit ist das Fermatsche Problem in dieser Zeit noch offen. Das zu verraten hätte universelle Auswirkungen! Aber die Antwort auf deine Frage darf ich verraten. Die Geister teilten mir mit, dass die Auswirkungen zwar groß seien, aber nur lokal begrenzt!“

Das ist Blödsinn! Lenk nicht vom Thema ab! Was heißt hier groß, aber lokal?“, fragte Willem unsicher.

Naja, das sagte ich schon. Du könntest theoretisch die Lösung publizieren und auf einen Schlag Millionär werden. Aber das würde nicht passieren.“

Der Krampus ließ sich nicht hetzen – setzte sich gemütlich zum Schreibtisch mit dem Rücken zu den Anwesenden und tief über den Zettel gebeugt.

Vor zwei Jahren erhielt Samuel Ligeti einen beunruhigenden Brief. Nach dem Lesen des ersten Satzes konnte er den Brief nicht mehr aus der Hand legen.

Hochverehrter Herr Ligeti!

Mein Entschluss, Sie in das größte Geheimnis des XX. Jahrhunderts einzuweihen, stand schon fast fest, als ich ein Interview las, das Sie in der 23. Ausgabe der Literaturzeitung Litera belle 1986 gaben. Die Frage des Interviewers lautete: „Herr Ligeti, was hat Sie als Poet bewegt, sich dem Absurden Theater zuzuwenden? War es Ionescos Einfluss?”

Ihre Antwort darauf: „Ich musste entscheiden: entweder ich schreibe über die Realität der sozialistischen Absurdität oder über die Absurdität des Sozialistischen Realismus. Und so habe ich mich entschieden.”

Ich begann, mich mit Ihrem Werk – das ich im Übrigen teilweise schon kannte – mit ihrem Leben, mit Ihrer Herkunft, um genau zu sein, mit allem, was Sie waren oder jemals getan haben, zu beschäftigen.

Nur um zu verdeutlichen, wie weit meine Recherchen gereicht haben, gebe ich ein Detail aus Ihrem Leben wieder, welches sicher nicht viele Menschen kannten.

Als Vierzehnjähriger lernten Sie auf dem Bolzplatz Michi Subanek kennen, einen schmächtigen Jungen, der gut mit dem Fußball umgehen konnte und lustige Bemerkungen über Pelé machte.

Als Sie einige Tage später erfuhren, dass Michis Vater, ein brutaler Alkoholiker, ihn jeden Tag verprügelte, setzten Sie zu Hause durch, dass Michi auf einer Matratze bei Ihnen schlafen durfte.

Es waren wunderbare Wochen. Sie bewunderten Michis Schlagfertigkeit und seinen Witz. Sie, ein eher schwermütiger Junge, hätten gerne etwas von der scheinbaren Leichtigkeit gehabt, mit der er schlimmste Erlebnisse überspielen, überwinden konnte. Als eines Abends Michi nicht aufgetaucht war, machten Sie sich Sorgen um Ihn. Sie konnten nicht einschlafen.

Als weit nach Mitternacht Michi torkelnd ins Zimmer kam und auf die Matratze fiel, war Ihnen sofort klar, dass er sturzbesoffen war – seine Schnapsfahne erregte Ihren Ekel. Bevor Sie auch nur ein Wort sagen konnten, kotzte Michi das Kissen, die Decke und den Boden voll. Am nächsten Tag beschlossen Ihre Eltern, dass Michi ausziehen müsse; sie fürchteten seinen Einfluss auf Sie.

Seitdem haben Sie Michi nie wieder gesehen. Es war, als hätten Sie einen Bruder verloren, den Bruder, den Sie nie hatten, – nicht wahr?

Ich hoffe, dass Sie, hochverehrter Herr Ligeti, nun erkennen, dass ich nicht übereilt, wegen der äußerlichen, mehr oder weniger bekannten Informationen über Ihre Vita, oder bloß einem inneren Impuls folgend, diesen Brief aufsetzte; nein – um zu entscheiden, ob Sie der Richtige sind, war harte und minutiöse Arbeit nötig, die nebenbei bemerkt, auch nicht ganz billig war, wenn ich nur an die Kosten der Reisen denke, die ich unternehmen musste, um sie auch in einen Kontext der Örtlichkeiten einordnen zu können.

Ich räume ein, ich war verunsichert.

Ich hielt also inne und rekapitulierte alles, was ich bis dahin hatte – glauben Sie mir, es war nicht wenig. Allein mit der erneuten, sorgfältigen Lektüre aller Gedichte verbrachte ich Wochen; selbst die paar Zeilen, die aus dem Gedichtchen Polka, das Sie als 15-Jähriger unaufgefordert an die örtliche Literaturzeitschrift eingesandt hatten, habe ich auswendig gelernt:


piano

chopin auf sand am meer

wo strand und hustenblut

in den seelen der möwen

fingerabdrücke des töters

hinter dem marsch lassen

forte



Erinnern Sie sich noch?

Beim Lesen ihrer Gedichte beschlich mich ein ungutes Gefühl. Ich wollte – angesichts des enormen Aufwandes, den ich bis dahin betrieben hatte – unbedingt vermeiden, dass ich wegen eines möglichen methodischen Fehlers bei der Recherche eine falsche Entscheidung treffe. Zunächst fand ich aber keinen Fehler.

Doch dann, beim Lesen der oben zitierten Zeilen, hatte ich eine Eingebung: mir wurde plötzlich klar, dass nicht alles, was Sie je geschrieben hatten, die Druckpresse erreichen konnte. Kein Autor der Welt hat alles veröffentlicht.

Das schien mir eine gesicherte Feststellung zu sein.

Damit begann eine Phase meiner Recherche, die gelegentlich gefährlich war, und mich das eine oder andere Mal an die Grenzen der Legalität führte – wenn nicht sogar über sie hinaus.

Kurz und gut: so fand ich schließlich den Beleg, dass ich mich nicht geirrt hatte – Sie sind der, den ich suchte.

Nun aber zum Eigentlichen!

Die Ereignisse, von denen ich berichte, fanden gegen Ende des Zweiten Weltkriegs statt.

Wie Sie wissen, verzichtete Deutschland auf eine eigene Militärverwaltung in Ungarn, installierte aber einen Okkupationsapparat mit dem Bevollmächtigten des Großdeutschen Reiches, Edmund Veesenmayer an der Spitze und Vertretern der obersten Reichsbehörden, vor allem des Wirtschafts- und des Rüstungsressorts. Für neue ungarische Divisionen sollte der General der Infanterie Hans von Greiffenberg sorgen. Hans von Greiffenberg geriet kurz vor Kriegsende in US-amerikanische Kriegsgefangenschaft, aus der er am 30. Juni 1947 entlassen wurde. Anschließend wirkte er bis zu seinem Tod 1951 bei der Historical Division der United States Army.

Weihnachten 1944 schloss sich der Ring um Budapest. Der Kampf um Budapest dauerte bis Mitte Februar 1945. Anfang April zogen sich die letzten Wehrmachtseinheiten aus Ungarn zurück, und das Land wurde vollständig von den Sowjets besetzt. Im Rahmen der totalen Mobilmachung wurde ich im August 1944 als 20-Jähriger eingezogen und in der Nähe des Plattensees stationiert. Eigentlich studierte ich Physik und arbeitete intensiv an Einsteins Theorien.

Wie jeder junge Physiker damals, war ich von Einsteins Ideen elektrisiert. Zwei Dinge regten meine Phantasie und Kreativität besonders an. Da war Einsteins Rede am 5. Mai 1920 an der Reichs-Universität zu Leiden: Einstein lässt einen gravitativen Äther zu, nicht jedoch den elektromagnetischen Äther des 19. Jahrhunderts.

Als Zweites: Einstein sagte 1924 zusammen mit Satyendranath Bose einen quantenmechanischen, aber dennoch mikroskopischen Materiezustand voraus, der bei extrem tiefen Temperaturen eintreten sollte. Im heute Bose-Einstein-Kondensat genannten Aggregatzustand befinden sich mikroskopische Quantenobjekte, in denen die einzelnen Bosonen vollständig delokalisiert sind. Daraus resultieren Eigenschaften wie Suprafluidität, Supraleitung oder – und Kohärenz über makroskopische Entfernungen.

Als gegen Ende 1944 immer häufiger Zweifel an Hitlers Sieg aufkamen, hörte man gelegentlich von geheimen Wunderwaffen, die Hitler angeblich entwickeln ließ. Nichts Genaues oder Offizielles wusste man, aber selbst Offiziere sprachen hinter vorgehaltener Hand davon.

Kurzum, ich entwickelte eine Theorie, die, wenn sie richtig war, die Realisierung einer wahrlich wundersamen Waffe ermöglichte. Ich behaupte sogar, dass im Erfolgsfall Hitler den Krieg gewonnen hätte. Ich sprach darüber mit meinem Hauptmann, der davon seinem Vorgesetzten berichtete.

Wenige Tage später wurde ich zu Major Gausinck zitiert. Ich sollte ihm alles vortragen und die Unterlagen zeigen.

Zu meinem Erstaunen verstand der Major meine Ausführungen vollständig und stellte äußerst intelligente und spitzfindige Fragen. Dann entließ er mich mit dem Hinweis, ich würde noch von ihm hören.

Zwei Wochen später wurde ich erneut zu ihm gebracht. Er bot mir an, mit ihm ein Gläschen Wein zu trinken. Wir plauderten über die Natur, über Physik und Einstein. Er fand, es sei Ironie des Schicksals, dass solche bahnbrechenden Theorien ausgerechnet vom Juden Einstein entwickelt wurden.

Nach einer Weile fragte er unvermittelt, ob ich mich in der Lage sähe, eine experimentelle Version meines Modells zu realisieren, und was ich dafür benötigte.

Ich will Sie, hochverehrter Herr Ligeti, nicht mit den Details der Vorbereitungen, mit den zwischenzeitlichen Rückschlägen und Zweifeln, die mir an der Richtigkeit meines Ansatzes kamen, belästigen.

Fakt ist: in der Nacht vom 1. Oktober um 3 Uhr 24 führten wir folgendes Experiment durch: Mit Hilfe einer riesigen, besonders konfigurierten Teslaspule erzeugten wir einen Kugelblitz, der auf die auf einer Plattform gelagerten Metallkugel mit einem Radius von 21 Zentimeter gerichtet war.

Die Berechnungen meiner Theorie sagten voraus, dass der Kugelblitz das Objekt vollständig umschließen würde.

Im Inneren des Kugelblitzes würde ein negatives Energie-Potenzial erzeugt werden, während die Energie des Blitzes ins Erdreich und in den See abgeleitet würde.

Dieses negative Potenzial würde dazu führen, dass gewissermaßen ein Sog entstünde, was zum vollständigen Abzug der thermischen Energie des Objekts führen würde, mit der Folge, dass das Objekt für den Bruchteil einer Sekunde in den Zustand des Einstein-Bose-Kondensats übergehen würde. In diesem Zustand wäre die Metallkugel unsichtbar und gewichtslos.

Doch schon bald nach der Entladung des Blitzes würde sich das Objekt wieder aufwärmen und wieder in den normalen, festen Zustand übergehen.

Ich kann Ihnen berichten, ohne Sie, hochverehrter Herr Ligeti, mit Einzelheiten der Art hinzuhalten, dass erst der dritte Versuch dazu führte, dass der Kugelblitz das Objekt vollständig umschlossen hatte, und mit Stolz versichern, dass das Experiment ein voller Erfolg war.

Die zweite Stufe des Experiments sah vor, eine im Inneren der Kugel untergebrachte Handgranate in dem Augenblick zur Zündung zu bringen, in dem die Metallkugel sich im Einstein-Bose-Zustand befand.

Es hat fast zwei Monate gedauert, bis das Vorhaben gelang.

Damit wurde bewiesen, dass es möglich war ein makroskopisches Objekt augenblicksweise verschwinden und fast zur selben Zeit durch die Wucht der Granatenexplosion an einem anderen Ort wieder erscheinen zu lassen.

Ich kann Ihnen, hochverehrter Herr Ligeti, versichern, dass wir die Kugel nach ihrem Verschwinden stundenlang mit zwanzig Mann gesucht hatten, bis wir sie, zwei Kilometer vom ursprünglichen Standort entfernt, unversehrt wiederfanden.

Major Gausinck geriet ins Schwärmen.

Stell dir vor, Zoli – seit dem ersten experimentellen Erfolg waren wir per Du, und er nannte mich Zoli – stell dir vor, wir schießen einen Blitz auf einen unserer Panzer, der unter heftigem, feindlichen Beschuss steht, und der verschwindet, um anschließend im Rücken des Feindes wieder aufzutauchen.

Das ist die Waffe, die wir brauchen!

Aber in einem Panzer sind Menschen, lebendige Wesen, erwiderte ich. Wir wissen nicht, was mit lebendigen Wesen geschieht, wenn sie in den Einstein-Bose-Zustand versetzt werden.

Aber Major Gausinck war nicht mehr zu stoppen.

Die Verzweiflung über den Kriegsverlauf, der Erfolg der ersten Phasen des Experiments und die Hoffnung auf die alle Probleme lösende Waffe, hatten alle seine Bedenken weggewischt, alle Hemmschwellen und Barrieren durchbrochen.

Er war entschlossen auch diese noch offene Frage experimentell zu klären, um anschließend seinen Bericht an die höchsten Stellen der Wehrmacht weiterzuleiten.

In der Nacht vom 15. November war es dann soweit.

Um 3 Uhr 24 führten wir die letzte Stufe des Experiments durch.

Fünf Soldaten sollten in einem gepanzerten Kettenfahrzeug sitzen.

Obwohl Gausinck dagegen war, bestand ich darauf, dabei zu sein.

Wir saßen also im verschlossenen Panzer.

Ich schaute in die Gesichter der übrigen vier Soldaten.

Sie hatten keine Angst, denn es wurde ihnen nur gesagt, dass sie auf eine kurze Testfahrt aufbrechen würden, sie hätten keine Feindberührung zu befürchten.

Ich wollte gerade etwas Aufmunterndes sagen, als die Tür von außen geöffnet wurde und ich aus dem Panzer gezerrt wurde.

Ich fragte, was das Problem wäre, warum das Experiment abgebrochen worden wäre.

Major Gausinck schaute mich entsetzt an.

Er stammelte nur: Es wurde nicht abgebrochen, Zoli, es hat stattgefunden.

Ich schaute ihn misstrauisch an.

Das kann nicht sein, ich habe nichts bemerkt.

Was ist hier los?, fragte ich.

Major Gausinck packte meine Schulter und drehte mich zum Panzer hin.

Die Scheinwerfer fluteten das Fahrzeug, in dem ich noch vor wenigen Sekunden saß, von allen Seiten; es schien in einer grellen Lichthülle zu schweben.

Da sah ich es, verstand aber noch nicht.

Ich beobachtete einen der Soldaten, als würde er gerade aus dem Panzer steigen. Aber dort, wo er, von der Brust aufwärts, sichtbar war, gab es keine Tür: Sein Oberkörper und sein Arm ragten aus der Panzerung des Fahrzeugs hervor, mit dem er fest verschmolzen war.

Er schrie: Holt mich hier raus! Holt mich bitte raus.

Ich ertrug das Bild nicht und senkte meinen Blick.

Ich betrachtete die Ketten und Räder des Panzers.

Der Anblick des Gesichts eines weiteren Soldaten, das, wie heutzutage Felgen von Pkws, auf allen Rädern des Fahrzeugs imprägniert war – sechsmal – mit leichten Unterschieden im Gesichtsausdruck.

Er schien zu schreien, man konnte aber seine Stimme nicht hören.

Ich erspare Ihnen, hochverehrter Herr Ligeti, weitere Grausamkeiten.

Ich muss nicht betonen, dass damit der Traum von einer Wunderwaffe geplatzt war.

Das ganze Experiment wurde unter den Teppich gekehrt.

Major Gausinck fiel am 23 April 1945.

Ich wurde im Juni aus der Armee entlassen und habe mich lange Zeit nicht mehr mit Physik beschäftigt.

Stattdessen schloss ich das Studium der Literaturwissenschaften ab und habe jahrzehntelang von dem Experiment mit niemandem gesprochen.

Ich hatte alles verdrängt, vergessen und lebte angepasst in einem kommunistischen Land, unauffällig und kooperativ – aber wem sag ich das: Wir Magyaren leiden alle unter einer seltsamen Mischung aus Hybris, Minderwertigkeitsgefühl und Selbstmitleid. Zu Ostblockzeiten konnten wir darüber wenigstens lachen. Heute scheint mir, haben wir unseren Humor verloren: wir machen dort weiter, wo Hitler aufgehört hatte. Zum Glück sind wir klein und arm und die Besten von uns haben längst in Hollywood oder bei Microsoft Karriere gemacht. Wie auch immer...

Irgendwann, Ende der 70er Jahre, kamen Gerüchte über ein Experiment der US-Marine auf.

Das so genannte Philadelphia-Projekt trug ursprünglich den Codenamen Rainbow: In den frühen 1940er Jahren soll die US-Marine mit Verfahren zum magnetischen Eigenschutz experimentiert haben, um seine Schiffe unempfindlicher gegen die mit Magnetzündern arbeitenden Torpedos der deutschen U-Boote zu machen. Im Oktober 1943 bei einem Test mit einem starken Kraftfeld soll das Schiff USS Eldridge auf hoher See optisch unsichtbar gemacht worden sein. Die Legende geht auf öffentliche Briefe des einzelnen Augenzeugen zurück, des Matrosen Carlos Miguel Allende alias Carl Meredith Allen, der zwölf Jahre nach dem angeblichen Experiment erstmals die Behauptungen aufstellte.

Nun können Sie sich, hochverehrter Herr Ligeti, vorstellen, dass in mir alle Erinnerungen und Schrecken meines eigenen Experiments hochkamen.

Ich habe also alle meine Unterlagen wieder ausgegraben und begonnen, die Berichte aus dem Philadelphia-Experiment und meine eigenen Erfahrungen abzugleichen.

Was ich herausfand und weiterentwickelt habe, hat mein eigenes Weltbild erschüttert, und wird, falls es jemals publik wird, sicherlich die ganze Welt erschüttern.

Ich weiß – und ich betone, ich weiß –, dass Sie sich die Not, in der ich mich befinde, die Gewissensentscheidung, die ich zu treffen habe, vorstellen können.

Doch ich möchte eine solche Entscheidung nicht alleine treffen. Keine einsame Entscheidung, ohne mit jemandem wenigstens darüber gesprochen zu haben.

Und nun sind Sie, hochverehrter Herr Ligeti, am Zuge.

Ich möchte Sie für einige Tage zu mir, in meine bescheidene Hütte am Plattensee einladen.

Ich würde Sie dann in alle Einzelheiten einweihen und Ihnen alle Dokumente, Fotografien, Logbücher, Ton- und Film-Aufzeichnungen zeigen. Und wir würden diskutieren, Für und Wider abwägen, streiten und spekulieren.

Die Entscheidung, die Verantwortung für das, was danach geschehen wird, bleibt selbstverständlich bei mir.

Die kann und will ich niemandem aufbürden.

Hochachtungsvoll,

Ihr

Zoltán Újvári



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Der Geistesblitz an jenem ominösen Nachmittag, als Roland Winkler auf Antony Gormleys Steinpuppe in der Düssel liegend, im Lichte der verspielten Aurora Borealis eine Erektion bekam und zeitgleich die Vision hatte, künstliche Nordlichter auf den Körper des Himmels zu malen, reifte allmählich zu einem Projekt.

Gedankenverloren streichelte Roland Winkler sanft seinen schlappen Schwanz. „Er ist dabei! Er macht mit! Gerd Rodenkamp der ultrareiche Kunstsammler und ich! Die Kunst wird nach unserem Projekt eine völlig neue Dimension erhalten! Die Welt wird eine neue Dimension erhalten!“, jubelte er, obwohl neben ihm nur seine nackte Frau Monika und nicht die Reporter vom WDR lagen. Monika Winkler erkannte seit einiger Zeit ihren Mann nicht wieder. Er sprudelte nur so vor Energie und Leidenschaft. Sie drehte sich zu Roland. „Hast du eine Freundin, gehst du fremd?“, fragte sie, ohne den leisesten Verdacht oder Vorwurf in der Stimme.

Wie kommst du darauf?“

Du fickst neuerdings wie ein Hengst, scheinst aber in Gedanken woanders zu sein…“, sagte sie nüchtern.

Vielen Dank! War das ein Kompliment oder ein Vorwurf?“

Weder noch, du bist nur so anders…“

Es liegt wahrscheinlich an meinem Projekt. Ich habe die Bilder ununterbrochen im Kopf. Ich gehe mit den Bildern ins Bett und wache mit ihnen auf. Ich träume die ganze Nacht himmlische Bilder!“

Himmlische Frauen?“

Auch, aber nicht wie du denkst. Es sind abstrakte Formen und irrsinnige Farben.“

Sie lagen nackt nebeneinander und Roland schwärmte vom Projekt „Himmels Körper“.

Jetzt brauche ich nur noch den richtigen Mann, der mir die Werkzeuge bauen kann. Rodenkamp hat mich angerufen. Er ist dabei. Er trifft sich nächste Woche mit Heinz Holzheim, einem stinkreichen Sammler und Mäzen.“

Roland und Gerd Rodenkamp waren Klassenkameraden und verbrachten im Internat viel Zeit zusammen. Gerd war ein echter Stürmer. Roland war eher für die Grätsche zuständig.

Ihr habt doch gar keine Ahnung, ob das, was ihr vorhabt, überhaupt machbar ist!“

Deswegen brauche ich doch einen Fachmann – am besten noch vor dem Termin mit Holzheim. Mit einem Fachmann im Team hätten wir bessere Karten“, sagte Roland und zwirbelte verträumt Monikas kaffeebraune Brustwarze.

Hör auf damit!“, fauchte sie und quetschte verspielt Rolands Eier - was natürlich wehtat!

Es war schon nach Mitternacht, als Roland bewusst wurde, dass das Aufstehen am nächsten Morgen qualvoll sein würde – er war kein Nachtmensch. Aber Monika ließ nicht locker – noch einmal musste er ran. Vor dem Höhepunkt, von dem er nicht mehr glaubte ihn zu bekommen, sagte Monika plötzlich: „Ich glaube, ich habe den richtigen Mann für dich.“ Daraufhin kam er.

Ich habe da einen Holländer, einen Forscher. Mir fällt sein Name nicht ein. Warte, irgendwie Hückstra oder so – Bruder von Willem. Der kennt sich mit dem Himmel und den Wolken aus. Schlaf schön!“

Roland schlief in der letzten Zeit immer schön. Vielleicht waren die vielen sinnleeren Jahre doch keine verschwendete Zeit, sagte er sich. Ein Projekt solchen Ausmaßes ist nichts für einen Jüngling. Da ist Lebenserfahrung und geprüfte Leidensfähigkeit notwendig, dachte er und schlief seelenruhig ein. Kurz bevor sie einschlief, fiel Monika der richtige Name des holländischen Forschers ein: Jo Dijkstra.

Aber Roland träumte schon vom „Himmels Körper“.

Am Morgen danach witterte Roland die Wende seines Lebens. Der Duft der Lederbezüge in Rodenkamps dickem Daimler streichelte seine Schleimhäute wohltuend und heilsam. Balsam auf meine geschundene Seele, dachte er. Sie hatten sich mit Jo Dijkstra im Montanushof in Grevenbroich verabredet. Zuvor hatte er dem Spezialisten für kosmische Meteorologie sein Projekt „Himmels Körper“ erläutert und ihn gebeten, zu prüfen, ob die Idee machbar ist. Als Roland Dijkstras Gesicht sah, ahnte er Böses. Vergessen Sie es, hatte der kleine Mann mit der hohen Stirn und dem runden, über den Gürtel schwappenden Bauch gesagt. Er merkte nicht, dass sein Hemd schon länger aus der Hose hinaushing. Unter dem konstanten Druck des Wanstes hatten zwei Knöpfe den Stoff bereits eingerissen. „Die Technologie, die Sie dafür benötigten, existiert noch nicht!“

Noch nicht? Das heißt, möglich wäre es schon, oder?“, hatte Roland gefragt, den widerlichen Anblick des fetten, dunkel behaarten Bauches verdrängend.

Meine Herren, wovon Sie da sprechen, ist hochsensible High-Tech, das hat zur Zeit noch nicht einmal das Max-Planck-Institut. Wenn überhaupt, dann gibt’s das nur bei der US-Navy oder der NASA. Sie können es mir glauben, ich habe viele Jahre in Norwegen gearbeitet. Ich weiß was geht, und was nicht.“, sagte Jo Dijkstra.

Warum bist du ausgestiegen?“, wollte Rodenkamp wissen.

Jo Dijkstra wedelte mit der Hand vor seinem Gesicht, als wollte er einen ganzen Mückenschwarm verscheuchen. „Was die machen, hat mit Wissenschaft nichts zu tun – eine korrupte, skrupellose Bande!“

Wen meinst Du?“, insistierte Rodenkamp.

Wovon leben sie?“, schob Roland Winkler nach.

Ich verdiene mein Geld lieber als unabhängiger Sachverständiger. Hier eine Studie, dort ein Gutachten. Heute kann die globale Erwärmung niemand mehr leugnen. Also brauche ich über mangelnde Aufträge nicht zu klagen.“



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Auf der Heimfahrt nach einem gemütlichen Besuch bei den Hämattilas hört Polizeichef Medemanski im Autoradio seine Lieblingsmusik: Sea Shanty. Während er am P+R-Parkplatz in Ratingen vorbeifährt, ereignet sich dort unbemerkt ein Drama.

Mathilda verwendet sündhaft teure Biovanillestäbe und Kakao aus fairem Handel – viel zu schade für den Ignoranten“, sagte Rico Hämattila, aber er war es, der Fritz Medemanski zum Abendessen eingeladen hatte. Zufällig war auch Mathildas 48jährige, ledige Schwester für einige Tage im Lande. Etwas Abwechslung wird ihm nicht schaden, dachte Rico Hämattila, denn Medemanski führte seit dem Tod seiner Frau ein besorgniserregendes Witwerleben. Das Thema Frauen schien er abgehakt zu haben. Stattdessen nahm er Tennisstunden und bot sich beim Ortsverein der Arbeiterwohlfahrt Mettmann an, einen Shanti Chor zu gründen. Es reichte nicht, dass die Akte gGg im Kommissariat Vorbeugung seit der ersten E-Mail im Dezember 2005 beträchtlich angewachsen war. Erster Hauptkommissar Medemanski musste das Thema ausgerechnet beim Rico Hämattilas Lieblingsnachtisch ansprechen: Vanille-Schoko-Grieß-Schnittchen, satt mit Himbeersirup serviert.

Kannst du mir mal Dienstag einen gGg-Status geben?“, fragte Friedrich Medemanski.

gGg“, spottete Rico Hämattila tags darauf vor seinem Stab in der Lagebesprechung und forderte von seiner rechten Hand, Oberkommissarin Frieda Eldinger einen umfassenden Bericht. Zwei Tage später fasste Oberkommissarin Eldinger den Stand der Nachforschungen in einer 34 Seiten langen Präsentation zusammen.

Sehr aufschlussreich, dachte Rico Hämattila bitter. Die 150 Seiten des Anhangs zur Präsentation, ausgedruckt, gebunden und an die Teilnehmer der Lage verteilt, führten so ziemlich jede Umweltschutzorganisation der Welt auf. Allein das Personenverzeichnis, das sie im Wege der Amtshilfe vom Verfassungsschutz bekam, enthielt die Namen von über 200 Personen auf 80 Seiten.

Wir sollten beim G wie Geißler beginnen – Du weißt schon, wegen gGg…“, sagte Rico Hämattila ironisch-bitter, als er auch den Namen des ehemaligen Generalsekretärs der CDU auf der Liste fand. Jemand in der Runde unterdrückte ein Schmunzeln. Frieda Eldinger notierte den Vorschlag, obwohl sie eigentlich einen anderen Weg bevorzugt hätte – nun gut.

Zu gGg habe ich leider nichts gefunden“, gestand sie kleinlaut.

gGg könnte ein Witzbold sein. Er könnte jung oder alt, männlich oder weiblich, arbeitslos oder Vorstand sein. Im Internet ist alles möglich, dachte Rico Hämattila. Der Hauptkommissar fand, dass sein Büro der beste Beweis für seinen Abstieg war. Nicht nur, dass es das letzte auf dem langen Flur war. Es war auch kleiner als alle anderen Büros. Ein Raum, in dem früher eine Schreibkraft saß, die nach der Reorganisation der Mettmanner Polizei überflüssig wurde. Früher war er mitten im Geschehen. Umgeben von seinen Leuten, den Kommissaren Renate Mühlberg und Arnold Basten, die zu Oberkommissaren befördert wurden. Und natürlich von seiner damaligen rechten Hand, seinem Freund – damals noch Hauptkommissar – Friedrich Medemanski. Jetzt saß Medemanski an seinem ehemaligen Schreibtisch und lud zu Lagebesprechungen ein, bei denen Rico Hämattila nicht mehr erwünscht war. Er dagegen hielt Statusmeetings ab, an denen höchstens zwei oder drei Mitarbeiter von den insgesamt zehn, die er hatte, teilnahmen. Sie dauerten meistens eine halbe Stunde, bei größeren Projekten eine ganze. Es ging um Termine und Broschüren. Und um Folienpräsentationen. Um die Suche nach dem Drama hinter dem Verbrechen an der Rechtschreibung. Verbrechensbekämpfung und -vermeidung verhalten sich zueinander wie eine Frau aus Fleisch und Blut und eine Wichsvorlage: das eine für richtige Männer, das andere… – hatte er einmal Medemanski gegenüber gesagt. Rico Hämattila hatte außer Führung und Steuerung nichts mehr zu tun – er hat alles delegiert. Du fühlst dich nicht überflüssig, du bist überflüssig, dachte er. Noch vor drei Jahren unvorstellbar! Durch das Läuten des Telefons aus einem stumpfen Döszustand aufgeschreckt, der sich neuerdings nachmittags immer einstellte und immer länger andauerte, griff er langsam nach dem Hörer.

Auf der Heimfahrt hörte Friedrich Medemanski seine Lieblingsmusik – Shanty Chöre.



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Die Vorstellung, dass, während massive Anstrengungen unternommen werden, um die Emission von Treibhausgasen zu reduzieren, zur Wetterbeeinflussung seit Jahrzehnten Tonnen von Aluminium und Silberjodid-Partikeln aus Flugzeugen in die Erdatmosphäre gestreut werden, ist so abstrus, dass die breite Öffentlichkeit beschlossen hat, es als Unfug zu betrachten. Entgegen allen Fakten und Beweisen. Warum? Weil es sich scheiße anfühlt, sagte ein Politiker, der nicht genannt werden wollte. In den vergangenen 14 Jahren hat die Erde wesentlich mehr Wärme gespeichert als abgegeben. Laut einer Studie der NASA und des US-Klimaamts NOAA hat sich das sogenannte Energieungleichgewicht damit seit 2005 fast verdoppelt. Grund dafür sei vor allem, dass Wolken und Meereis die Sonnenstrahlung weniger reflektieren. Gleichzeitig habe die langwellige Strahlung von der Erde ins All unter anderem wegen mehr Treibhausgasen abgenommen.

Als Welsbach-Patent wird das US-Patent 5003186 bezeichnet, welches das Ausbringen von speziellen Partikeln in der Erdatmosphäre zur Milderung der globalen Erwärmung beschreibt. Das Patent wurde im Jahr 1990 von David B. Chang und I-Fu Shih, die bei der Hughes Aircraft Company arbeiteten, angemeldet und 1991 veröffentlicht. Der Name des Patents geht auf den Glühstrumpf, den Carl Auer von Welsbach im 19. Jahrhundert erfunden hat, zurück. Die Grundidee der patentierten Methode sind staubförmige, von Flugzeugen verteilte Partikel, die ein Emissionsspektrum wie das Material eines Glühstrumpfs haben. Im sichtbaren Bereich ist ihr Emissionsgrad hoch, im nahen Infrarot niedrig und im fernen Infrarot wieder hoch, wie in nebenstehender Grafik abgebildet. Die Erfinder glaubten, dass derartige Partikel die Wärmestrahlung der Erde, die überwiegend fernes Infrarot enthält, absorbieren und die so aufgenommene Energie zumindest teilweise in Form von sichtbarem Licht abgeben würden. Sichtbares Licht wird durch Treibhausgase kaum gedämpft, sodass der Treibhauseffekt reduziert werden würde, wenn die Partikel im Wellenlängenbereich des fernen Infrarots mehr Energie absorbieren, als sie ebendort emittieren. Verstehst du das? Damals waren die der Meinung, dass Photovoltaik nicht funktioniert. Und heute … Sonnenkollektoren überall! In einer Studie des Kiel Earth Institute über Geoengineering wird das Welsbach-Patent zu den „Vorschläge[n] zur technologischen Umsetzung des stratosphärischen Aerosol-Schildes“ gezählt, ohne auf die patentierte Idee näher einzugehen. Ein Artikel in der Online-Ausgabe des Focus befasst sich kritisch mit dem Welsbach-Patent und kommt zu dem Schluss, dass das patentierte Verfahren eher zu einer „Erwärmung der Erde statt zu ihrer Abkühlung“ führen würde. Im P.M. Magazin wurde das Welsbach-Patent erwähnt und darauf hingewiesen, dass es keine Beweise dafür gebe, dass das patentierte Verfahren tatsächlich angewandt wird. 2004 erschien in der Zeitschrift Raum & Zeit der Artikel „Die Zerstörung des Himmels“, in dem Chemtrails auf das Welsbach-Patent zurückgeführt werden. Diese Einschätzung teilten Vertreter der Chemtrail-Theorie in einem Protestbrief an das Umweltbundesamt von Deutschland, in dem sie das Welsbach-Patent unter die ihrer Ansicht nach seriösen Quellen einordneten. In einer Stellungnahme des Schweizer Bundesamts für Zivilluftfahrt heißt es, die Entstehung der Chemtrail-These stehe mit dem Welsbach-Patent in Zusammenhang, aber es gebe keine Beweise und es sei unwahrscheinlich, dass entsprechende Sprüheinsätze von Flugzeugen tatsächlich stattfinden. Winfried Petzold von der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD) stellte 2005 bis 2006 als Abgeordneter im Sächsischen Landtag fünf kleine Anfragen an die Sächsische Staatsregierung, in der er unter Bezugnahme auf das Welsbach-Patent Auskünfte über die „Wahrscheinlichkeit gesundheitlicher Folgeschäden infolge klimatischer Manipulation und Wetterbeeinflussung durch Kontaminierung der Atmosphäre mit so bezeichneten Welsbach-Partikeln“ verlangte. In Österreich ist das Welsbach-Patent Gegenstand dreier parlamentarischer Anfragen, die von Abgeordneten der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) zwischen 2007 und 2013 eingebracht wurden. Das ist soooo spannend! Nazis und Rassisten wollen im Parlament über Chemtrails reden … Auf der anderen Seite frag ich mich schon, warum man darüber nicht offen reden kann … Ich meine, warum überlässt man all diese Themen der Ultrarechten … Ich meine – mich geht das nichts an. Ich habe doch seit über zwanzig Jahren keinen freien Himmel mehr gesehen …

(V.O.) Siehst du? Jetzt war die Welt kurz verschwunden – bin aber wieder da!

Ich schätze, du bist zwanzig – kann das sein? Ein großer Altersunterschied zwischen uns.

Mir macht es nichts aus – und dir?

Wie heißt du?

Ich nenne dich Roger, weißt du? Hatte nicht lange darüber nachgedacht – Roger flog mir einfach zu, und so nenne ich dich also – okay?

Merkst du eigentlich, dass es für mich aufregend ist, dir zuzusehen? Es ist spannend!



Der schwarze Geländewagen mit der hoch aufgeschlagenen Hecktür hob sich kaum vom dunklen Hintergrund ab. Der Wind trieb die letzten Wolken des Sturms vor sich her und ließ den Mondschein blinzeln. Dabei blitzten der schwarze Lack und die Chromleisten flüchtig auf. Willem machte sich wegen des Lichts keine Sorgen. Doch was er gefunden hatte, hielt ihn seit Tagen in Panikzustand und ließ ihn nicht mehr los.

Wer hätte die Macht, es geheim zu halten, fragte er sich. Das Institut? Ich habe doch die Beweise. Man wird sie unter Verschluss halten. Kann der Staat die Wahrheit vertuschen? Warum antwortet Jo nicht?

Es hat ihn große Überwindung gekostet, Jo zu kontaktieren. Jo sei zwar ein Arsch, aber er hätte ihn nie verraten. Als er mit zwölf in Vaters Auto die Handbremse gelöst hatte und gegen das Garagentor rollte, hat Jo Vaters Schuldzuweisung akzeptiert und die Strafe auf sich genommen, einen Monat lang jede Woche das Auto zu waschen. Willem hat seinen Bruder bewundert – seine Energie, seine Offenheit. Plötzlich überwogen die positiven Erinnerungen und so beschloss er, Jo eine verschlüsselte Nachricht zu senden: „(169/283) (153165)(12)=“; es war ein sehr einfacher Code, den sie als Kinder für ihre Geheimnisse entwickelt hatten. Ein Friedensangebot, sozusagen. WhatsApp zeigte, dass Jo die Nachricht gelesen hat. Willem starrte auf das Display, auf dem immer noch die Formel schimmerte:


L-LEMMA:

Wenn n =2m dann ist n+1 nur dann prim, wenn für jedes k mit (n)! / (n-k)! ≡ r an der Stelle k mod (k+1)! gilt: r=0, k: {1, …, m}.

 

Dann schaute er auf die Uhr: 22:30. Den seltsam schimmernden Stein legte er sorgfältig in einem Tuch verpackt neben die Kamera und räumte die Instrumente in die Alukoffer. Als erfahrener Stormchaser war er gewohnt auch im Dunkeln zügig und präzise zu arbeiten, ohne die hochsensible Elektronik und Optik zu beschädigen. Das Fluggerät hat er erst bemerkt, als es schon senkrecht über ihm schwebte. Ein unvorstellbar leises Summen und Schnurren ließ ihn hochblicken. Es war nur ein kurzer, flüchtiger Blick, denn im nächsten Augenblick musste er, während er zu Boden sank, alles versuchen, um nicht mit dem Kopf gegen den Kotflügel zu schlagen. Er landete auf seinem Gesicht. Das grüne und violette Licht, und dass das Ding zur Landung ansetzte, konnte er nur ahnen – bereits, als er aufschlug, war er tot.

Man wird sagen, er wurde vom Blitz erschlagen.


(V.O.) Als die Welt sich wieder eingeschaltet hatte, war es schon dunkel, und ich war allein mit der Uhr, die darauf zu warten schien, mir die Gutenachtgeschichte zu erzählen.

Ich schrie sie an: Lass mich in Ruhe mit deinem Kinderkram! Ich will nie mehr eine Gutenachtgeschichte!