Donnerstag, 19. September 2024

Z. Z. LII [»Folge 4: Kongruenzzahlen« aus Val Sidals »Fakeforce – Himmels Körper« (2007/2024)]

 


[»Der Sturz der rebellierenden Engel«, Pieter Bruegel der Ältere (1562)]



Die Himmel hab ich gemessen, jetzt mess ich die Schatten der Erde.
Himmelwärts strebte der Geist, des Körpers Schatten ruht hier.

[Johannes Kepler]



4. FOLGE – Kongruenzzahlen




E-Mails und Prävention … Ist die Mettmanner Kreispolizei zuständig für Maßnahmen zur Vorbeugung der Klimakatastrophe?



Die Polizei Mettmann wird mit einer Flut von E-Mails von besorgten Bürgern und gGg-Aktivisten konfrontiert. Rico Hämattila, dem bei der Mettmanner Kreispolizei für Gewaltprävention zuständigen Hauptkommissar, gelang es zu ermitteln, dass die Nachricht aus einem Wuppertaler Internet-Kaffee abgesetzt wurde – aber das war’s auch schon. Dass Frieda Eldingers Haut jemals eine andere Farbe annehmen könnte als Gipsweiß, hätte Rico niemals gedacht. Frieda war seine rechte Hand und zuständig für all die lästigen Routinearbeiten, die eine Behörde für seine Beamten bereithält.

Sie kam mit rosa Teint in sein Büro hereingestürmt – „Du wirst es nicht glauben...!“

Ohne aufzublicken seufzte Rico ein leises „…doch…“, und während Friedas Gesicht in die vertraute Leichenblässe – und –starre - wechselte, fuhr er fort: „Kuck mal, das ist die Antwort auf unsere Ermittlungen gegen Unbekannt – ein Sonderdruck aus


WOHNUNG+GESUNDHEIT: 

Waldsterben durch Fernsehsender?

Ein gewisser Dr.-Ing. Wolfgang Volkrodt soll auf den Zusammenhang zwischen dem Waldsterben und Elektrosmog hingewiesen haben: Bäume, Blätter und Nadeln sind nach seiner Ansicht gute Antennen für den Wellensalat aus tausendundeinem Sender, von Radar und Radio, Richt- und Mobilfunk, Militär, Satelliten und Fernsehen. Sie sollen maßgeblich am Waldsterben beteiligt sein.

Vom Bundesamt für Strahlenschutz soll bestätigt worden sein, dass Nadeln oder Blattrippen von Bäumen ähnlich wie Antennen mit Mikrowellen in Resonanz gehen können. Dabei kann sich die eingefangene Energie bis zu dreifach verstärken. Diese wandert durch den Baum in den Boden und macht ihn nach Art der Elektrolyse sauer.

Der Wald stirbt durch Mikrowellen!

Mediziner, Wissenschaftler und Ingenieure haben keine Ahnung von den biologischen Wirkungen elektromagnetischer Felder. Sie setzen fast eine Milliarde Mark für ihre Saure-Regen-Theorie in den Sand, behauptete der Mann.

 

Was für ein Quatsch“, fauchte der Hauptkommissar. „Hätte der Mann Recht, dann hätte die Bundesregierung schon längst darauf reagiert“, lehnte sich in seinem Bürostuhl zurück und stützte mit beiden Händen gähnend seinen Hinterkopf – „Übernimm du das, Frieda.“

Oberkommissarin Frieda Eldinger blickte gespannt vorgebeugt auf den Bildschirm. Aufmerksam. Sie war eine begeisterte Vorbeugerin – sie blühte dabei so richtig auf. Wir machen Projekte, erzählte sie ihrer Mutter stolz, die darüber sehr erfreut war. Als pensionierte Abteilungsleiterin eines Unternehmens, das Handys verkaufte, wusste sie, dass Projekte zwar in den Sand gesetzt werden können, aber kein Projekt würde auf offener Straße zurückschießen. Nun konnte sie wieder hoffen, vielleicht doch noch Großmutter zu werden.

Frieda Eldinger hatte einmal vorgeschlagen, eine Statistik zu entwickeln, die aufzeigte, die Begehung wie vieler Verbrechen vermieden wurde. Rico Hämattila war von der Idee nicht begeistert. Er hielt nicht viel von Zahlen, die das Nichts zählen. Warum nehmen wir nicht einfach die Kriterien der Professoren des Landespräventionsrates, wollte er wissen. Schließlich zeigte es sich, dass niemand eine Vorstellung hatte, wie das Eldinger-Verfahren umgesetzt werden könnte. So ging Frieda Eldinger in der Mitarbeit an der Entwicklung von Eingabemasken der Präventionsdatenbank PrävIS auf. Um ihre Wissenslücken auf dem Gebiet der Täter-Opfer-Beziehung zu schließen, engagierte sie sich ehrenamtlich beim Sozialdienst Katholischer Frauen und Männer im Kreis Mettmann.

Basten und Mühlberg sind schon am Tatort!“, sagte sie kurz nachdem sie mit einem Papiertuch ihrem chronischen Heuschnupfen zu Leibe rückte. „Es muss dort schrecklich aussehen …“ – und dann erzählte sie ihrem Chef von einem toten Huhn in einer Studentenbude mit vollgeschmierten Wänden.

Frieda, ich schätze es sehr, dass du mich informierst – aber es geht uns nichts an. Basten und Mühlberg sind seit einem Jahr nicht mehr in meinem Team.“

Frieda senkte den Blick wie ein Schulmädchen während einer väterlichen Standpauke und fand es unfair. Rico ist doch derjenige der mehrmals am Tag wissen will, was der Flurfunk sagt. Rico wechselte in einen milderen Ton: „Außerdem – wenn das Huhn tot ist, können wir nicht mehr vorbeugen. Der Student – wie heißt er nochmal? – wird es verkraften… Aber wie kommt eigentlich ein ermordetes Huhn in eine Etagenwohnung?“

Er heißt Rafael Esteban …“

Dann klingelte das Telefon – zeitgleich mit dem Eingang einer E-Mail:

 

Betreff: Vollbremsung vorm Klima-GAU.


Am Telefon war Mathilda, Ricos Frau. Die E-Mail wieder einmal von gGg.

Sie enthielt einen Artikel eines gewissen Herrn Wille:


Ein bis fünf Prozent des Sozialprodukts müssten nach den vom UN-Klimarat ausgewerteten Studien aufgewandt werden, damit die Erdtemperatur sich nicht um mehr als zwei Grad erhöht. Ökonomen schlagen ein weltweites Handelssystem für CO2-Emissionrechte vor.

 

Bringst du Sprudel mit?“, fragte Mathilda.

So viel zum Kohlendioxydhandel, dachte Rico.



UN-Experten sind sich einig: Es gibt eine Grenze im bereits angelaufenen Klimawandel, die nicht überschritten werden darf. Die Veränderungen in einer "Super-Warmzeit" würden sonst so dramatisch, dass sie nicht mehr beherrschbar wären. Der UN-Klimarat IPCC hat vorausgesagt, dass die mittlere Erdtemperatur bis 2100 um bis zu sechs Grad steigen kann.

 

Hoffentlich auch in Mettmann, dachte Rico Hämattila. „Diese beschissenen Spam-Mails!“, entwich es ihm, während Mathilda ihm vorhielt, sich nicht mehr um den Garten zu kümmern – alles würde an ihr hängenbleiben. Noch nicht einmal den Rasen würde er mähen – was ihm doch früher so viel Spaß gemacht hatte.

Wovon redest du?“, fragte sie gereizt, denn die Sprache der weltweiten Wirren war ihr nicht geläufig. Er löschte die Nachricht. „Vergiss es, ich werde heute den Rasen mähen!“

Demnächst wird das Ordnungsamt Stoppschilder aufstellen: Zulässige Erwärmung darf nicht überschritten werden! Es muss doch möglich sein, global GAIA guard das Handwerk zu legen, dachte er, denn Friedrich Medemanski ließ keine Gelegenheit verstreichen, auf die Bedeutung des Falles hinzuweisen und die mögliche Bedrohung, die von gGg ausging, so schwarz zu malen, dass selbst Oberkommissarin Renate Mühlberg schmunzeln musste. Was – und das wusste bei der Polizei Mettmann jeder – ein Alarmsignal war.



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Das Rätsel der kongruenten Zahlen ist eng verknüpft mit der mathematischen Hypothese aus den sechziger Jahren – der Vermutung von Birch und Swinnerton-Dyer. Aber bislang weiß niemand, ob die Vermutung, die sich mit elliptischen Kurven beschäftigt, wirklich stimmt. „Das ist das wichtigste ungelöste Problem der Zahlentheorie", sagt John Coates von der Cambridge University. Im Jahr 2000 hat das amerikanische Clay Mathematics Institute sogar eine Million Dollar für die Lösung dieses Rätsels ausgelobt. Das Detailwissen von Krampus beeindruckte Willem. Doch ein Beweis war das nicht. „Also – was sagen die Hüter der Akasha-Chronik?“

Eine natürliche Zahl n gilt als kongruent, wenn es ein rechtwinkliges Dreieck gibt, dessen Fläche genau n entspricht. Und wenn jede der drei Seitenlängen eine rationale Zahl ist – also ein Bruch zweier ganzer Zahlen p/q. Die 6 beispielsweise ist eine kongruente Zahl. Das zugehörige rechtwinklige Dreieck hat die Seitenlängen 3, 4 und 5, seine Fläche beträgt 3*4/2=6. Die kleinste kongruente Zahl ist übrigens die 5 – die Seitenlängen dazu sind 20/3, 3/2, 41/6. Auch 7, 13, 14 sind kongruent – 10, 11 und 17 zum Beispiel, hingegen nicht.“

Willems angespannter Gesichtsausdruck verhieß nichts Gutes: „Nicht dass er auch dem Krampus eins in die Fresse haut – hey! Verstehst du nicht? Das ist alles bekannt? Wie lautet die Lösung des Problems?“

Der Beweis der Großen Fermatschen Vermutung durch Andrew Wiles ist falsch und damit ist das Fermatsche Problem in dieser Zeit noch offen. Das zu verraten hätte universelle Auswirkungen! Aber die Antwort auf deine Frage darf ich verraten. Die Geister teilten mir mit, dass die Auswirkungen zwar groß seien, aber nur lokal begrenzt!“

Das ist Blödsinn! Lenk nicht vom Thema ab! Was heißt hier groß, aber lokal?“, fragte Willem unsicher.

Naja, das sagte ich schon. Du könntest theoretisch die Lösung publizieren und auf einen Schlag Millionär werden. Aber das würde nicht passieren.“

Der Krampus ließ sich nicht hetzen – setzte sich gemütlich zum Schreibtisch mit dem Rücken zu den Anwesenden und tief über den Zettel gebeugt.

Vor zwei Jahren erhielt Samuel Ligeti einen beunruhigenden Brief. Nach dem Lesen des ersten Satzes konnte er den Brief nicht mehr aus der Hand legen.

Hochverehrter Herr Ligeti!

Mein Entschluss, Sie in das größte Geheimnis des XX. Jahrhunderts einzuweihen, stand schon fast fest, als ich ein Interview las, das Sie in der 23. Ausgabe der Literaturzeitung Litera belle 1986 gaben. Die Frage des Interviewers lautete: „Herr Ligeti, was hat Sie als Poet bewegt, sich dem Absurden Theater zuzuwenden? War es Ionescos Einfluss?”

Ihre Antwort darauf: „Ich musste entscheiden: entweder ich schreibe über die Realität der sozialistischen Absurdität oder über die Absurdität des Sozialistischen Realismus. Und so habe ich mich entschieden.”

Ich begann, mich mit Ihrem Werk – das ich im Übrigen teilweise schon kannte – mit ihrem Leben, mit Ihrer Herkunft, um genau zu sein, mit allem, was Sie waren oder jemals getan haben, zu beschäftigen.

Nur um zu verdeutlichen, wie weit meine Recherchen gereicht haben, gebe ich ein Detail aus Ihrem Leben wieder, welches sicher nicht viele Menschen kannten.

Als Vierzehnjähriger lernten Sie auf dem Bolzplatz Michi Subanek kennen, einen schmächtigen Jungen, der gut mit dem Fußball umgehen konnte und lustige Bemerkungen über Pelé machte.

Als Sie einige Tage später erfuhren, dass Michis Vater, ein brutaler Alkoholiker, ihn jeden Tag verprügelte, setzten Sie zu Hause durch, dass Michi auf einer Matratze bei Ihnen schlafen durfte.

Es waren wunderbare Wochen. Sie bewunderten Michis Schlagfertigkeit und seinen Witz. Sie, ein eher schwermütiger Junge, hätten gerne etwas von der scheinbaren Leichtigkeit gehabt, mit der er schlimmste Erlebnisse überspielen, überwinden konnte. Als eines Abends Michi nicht aufgetaucht war, machten Sie sich Sorgen um Ihn. Sie konnten nicht einschlafen.

Als weit nach Mitternacht Michi torkelnd ins Zimmer kam und auf die Matratze fiel, war Ihnen sofort klar, dass er sturzbesoffen war – seine Schnapsfahne erregte Ihren Ekel. Bevor Sie auch nur ein Wort sagen konnten, kotzte Michi das Kissen, die Decke und den Boden voll. Am nächsten Tag beschlossen Ihre Eltern, dass Michi ausziehen müsse; sie fürchteten seinen Einfluss auf Sie.

Seitdem haben Sie Michi nie wieder gesehen. Es war, als hätten Sie einen Bruder verloren, den Bruder, den Sie nie hatten, – nicht wahr?

Ich hoffe, dass Sie, hochverehrter Herr Ligeti, nun erkennen, dass ich nicht übereilt, wegen der äußerlichen, mehr oder weniger bekannten Informationen über Ihre Vita, oder bloß einem inneren Impuls folgend, diesen Brief aufsetzte; nein – um zu entscheiden, ob Sie der Richtige sind, war harte und minutiöse Arbeit nötig, die nebenbei bemerkt, auch nicht ganz billig war, wenn ich nur an die Kosten der Reisen denke, die ich unternehmen musste, um sie auch in einen Kontext der Örtlichkeiten einordnen zu können.

Ich räume ein, ich war verunsichert.

Ich hielt also inne und rekapitulierte alles, was ich bis dahin hatte – glauben Sie mir, es war nicht wenig. Allein mit der erneuten, sorgfältigen Lektüre aller Gedichte verbrachte ich Wochen; selbst die paar Zeilen, die aus dem Gedichtchen Polka, das Sie als 15-Jähriger unaufgefordert an die örtliche Literaturzeitschrift eingesandt hatten, habe ich auswendig gelernt:


piano

chopin auf sand am meer

wo strand und hustenblut

in den seelen der möwen

fingerabdrücke des töters

hinter dem marsch lassen

forte



Erinnern Sie sich noch?

Beim Lesen ihrer Gedichte beschlich mich ein ungutes Gefühl. Ich wollte – angesichts des enormen Aufwandes, den ich bis dahin betrieben hatte – unbedingt vermeiden, dass ich wegen eines möglichen methodischen Fehlers bei der Recherche eine falsche Entscheidung treffe. Zunächst fand ich aber keinen Fehler.

Doch dann, beim Lesen der oben zitierten Zeilen, hatte ich eine Eingebung: mir wurde plötzlich klar, dass nicht alles, was Sie je geschrieben hatten, die Druckpresse erreichen konnte. Kein Autor der Welt hat alles veröffentlicht.

Das schien mir eine gesicherte Feststellung zu sein.

Damit begann eine Phase meiner Recherche, die gelegentlich gefährlich war, und mich das eine oder andere Mal an die Grenzen der Legalität führte – wenn nicht sogar über sie hinaus.

Kurz und gut: so fand ich schließlich den Beleg, dass ich mich nicht geirrt hatte – Sie sind der, den ich suchte.

Nun aber zum Eigentlichen!

Die Ereignisse, von denen ich berichte, fanden gegen Ende des Zweiten Weltkriegs statt.

Wie Sie wissen, verzichtete Deutschland auf eine eigene Militärverwaltung in Ungarn, installierte aber einen Okkupationsapparat mit dem Bevollmächtigten des Großdeutschen Reiches, Edmund Veesenmayer an der Spitze und Vertretern der obersten Reichsbehörden, vor allem des Wirtschafts- und des Rüstungsressorts. Für neue ungarische Divisionen sollte der General der Infanterie Hans von Greiffenberg sorgen. Hans von Greiffenberg geriet kurz vor Kriegsende in US-amerikanische Kriegsgefangenschaft, aus der er am 30. Juni 1947 entlassen wurde. Anschließend wirkte er bis zu seinem Tod 1951 bei der Historical Division der United States Army.

Weihnachten 1944 schloss sich der Ring um Budapest. Der Kampf um Budapest dauerte bis Mitte Februar 1945. Anfang April zogen sich die letzten Wehrmachtseinheiten aus Ungarn zurück, und das Land wurde vollständig von den Sowjets besetzt. Im Rahmen der totalen Mobilmachung wurde ich im August 1944 als 20-Jähriger eingezogen und in der Nähe des Plattensees stationiert. Eigentlich studierte ich Physik und arbeitete intensiv an Einsteins Theorien.

Wie jeder junge Physiker damals, war ich von Einsteins Ideen elektrisiert. Zwei Dinge regten meine Phantasie und Kreativität besonders an. Da war Einsteins Rede am 5. Mai 1920 an der Reichs-Universität zu Leiden: Einstein lässt einen gravitativen Äther zu, nicht jedoch den elektromagnetischen Äther des 19. Jahrhunderts.

Als Zweites: Einstein sagte 1924 zusammen mit Satyendranath Bose einen quantenmechanischen, aber dennoch mikroskopischen Materiezustand voraus, der bei extrem tiefen Temperaturen eintreten sollte. Im heute Bose-Einstein-Kondensat genannten Aggregatzustand befinden sich mikroskopische Quantenobjekte, in denen die einzelnen Bosonen vollständig delokalisiert sind. Daraus resultieren Eigenschaften wie Suprafluidität, Supraleitung oder – und Kohärenz über makroskopische Entfernungen.

Als gegen Ende 1944 immer häufiger Zweifel an Hitlers Sieg aufkamen, hörte man gelegentlich von geheimen Wunderwaffen, die Hitler angeblich entwickeln ließ. Nichts Genaues oder Offizielles wusste man, aber selbst Offiziere sprachen hinter vorgehaltener Hand davon.

Kurzum, ich entwickelte eine Theorie, die, wenn sie richtig war, die Realisierung einer wahrlich wundersamen Waffe ermöglichte. Ich behaupte sogar, dass im Erfolgsfall Hitler den Krieg gewonnen hätte. Ich sprach darüber mit meinem Hauptmann, der davon seinem Vorgesetzten berichtete.

Wenige Tage später wurde ich zu Major Gausinck zitiert. Ich sollte ihm alles vortragen und die Unterlagen zeigen.

Zu meinem Erstaunen verstand der Major meine Ausführungen vollständig und stellte äußerst intelligente und spitzfindige Fragen. Dann entließ er mich mit dem Hinweis, ich würde noch von ihm hören.

Zwei Wochen später wurde ich erneut zu ihm gebracht. Er bot mir an, mit ihm ein Gläschen Wein zu trinken. Wir plauderten über die Natur, über Physik und Einstein. Er fand, es sei Ironie des Schicksals, dass solche bahnbrechenden Theorien ausgerechnet vom Juden Einstein entwickelt wurden.

Nach einer Weile fragte er unvermittelt, ob ich mich in der Lage sähe, eine experimentelle Version meines Modells zu realisieren, und was ich dafür benötigte.

Ich will Sie, hochverehrter Herr Ligeti, nicht mit den Details der Vorbereitungen, mit den zwischenzeitlichen Rückschlägen und Zweifeln, die mir an der Richtigkeit meines Ansatzes kamen, belästigen.

Fakt ist: in der Nacht vom 1. Oktober um 3 Uhr 24 führten wir folgendes Experiment durch: Mit Hilfe einer riesigen, besonders konfigurierten Teslaspule erzeugten wir einen Kugelblitz, der auf die auf einer Plattform gelagerten Metallkugel mit einem Radius von 21 Zentimeter gerichtet war.

Die Berechnungen meiner Theorie sagten voraus, dass der Kugelblitz das Objekt vollständig umschließen würde.

Im Inneren des Kugelblitzes würde ein negatives Energie-Potenzial erzeugt werden, während die Energie des Blitzes ins Erdreich und in den See abgeleitet würde.

Dieses negative Potenzial würde dazu führen, dass gewissermaßen ein Sog entstünde, was zum vollständigen Abzug der thermischen Energie des Objekts führen würde, mit der Folge, dass das Objekt für den Bruchteil einer Sekunde in den Zustand des Einstein-Bose-Kondensats übergehen würde. In diesem Zustand wäre die Metallkugel unsichtbar und gewichtslos.

Doch schon bald nach der Entladung des Blitzes würde sich das Objekt wieder aufwärmen und wieder in den normalen, festen Zustand übergehen.

Ich kann Ihnen berichten, ohne Sie, hochverehrter Herr Ligeti, mit Einzelheiten der Art hinzuhalten, dass erst der dritte Versuch dazu führte, dass der Kugelblitz das Objekt vollständig umschlossen hatte, und mit Stolz versichern, dass das Experiment ein voller Erfolg war.

Die zweite Stufe des Experiments sah vor, eine im Inneren der Kugel untergebrachte Handgranate in dem Augenblick zur Zündung zu bringen, in dem die Metallkugel sich im Einstein-Bose-Zustand befand.

Es hat fast zwei Monate gedauert, bis das Vorhaben gelang.

Damit wurde bewiesen, dass es möglich war ein makroskopisches Objekt augenblicksweise verschwinden und fast zur selben Zeit durch die Wucht der Granatenexplosion an einem anderen Ort wieder erscheinen zu lassen.

Ich kann Ihnen, hochverehrter Herr Ligeti, versichern, dass wir die Kugel nach ihrem Verschwinden stundenlang mit zwanzig Mann gesucht hatten, bis wir sie, zwei Kilometer vom ursprünglichen Standort entfernt, unversehrt wiederfanden.

Major Gausinck geriet ins Schwärmen.

Stell dir vor, Zoli – seit dem ersten experimentellen Erfolg waren wir per Du, und er nannte mich Zoli – stell dir vor, wir schießen einen Blitz auf einen unserer Panzer, der unter heftigem, feindlichen Beschuss steht, und der verschwindet, um anschließend im Rücken des Feindes wieder aufzutauchen.

Das ist die Waffe, die wir brauchen!

Aber in einem Panzer sind Menschen, lebendige Wesen, erwiderte ich. Wir wissen nicht, was mit lebendigen Wesen geschieht, wenn sie in den Einstein-Bose-Zustand versetzt werden.

Aber Major Gausinck war nicht mehr zu stoppen.

Die Verzweiflung über den Kriegsverlauf, der Erfolg der ersten Phasen des Experiments und die Hoffnung auf die alle Probleme lösende Waffe, hatten alle seine Bedenken weggewischt, alle Hemmschwellen und Barrieren durchbrochen.

Er war entschlossen auch diese noch offene Frage experimentell zu klären, um anschließend seinen Bericht an die höchsten Stellen der Wehrmacht weiterzuleiten.

In der Nacht vom 15. November war es dann soweit.

Um 3 Uhr 24 führten wir die letzte Stufe des Experiments durch.

Fünf Soldaten sollten in einem gepanzerten Kettenfahrzeug sitzen.

Obwohl Gausinck dagegen war, bestand ich darauf, dabei zu sein.

Wir saßen also im verschlossenen Panzer.

Ich schaute in die Gesichter der übrigen vier Soldaten.

Sie hatten keine Angst, denn es wurde ihnen nur gesagt, dass sie auf eine kurze Testfahrt aufbrechen würden, sie hätten keine Feindberührung zu befürchten.

Ich wollte gerade etwas Aufmunterndes sagen, als die Tür von außen geöffnet wurde und ich aus dem Panzer gezerrt wurde.

Ich fragte, was das Problem wäre, warum das Experiment abgebrochen worden wäre.

Major Gausinck schaute mich entsetzt an.

Er stammelte nur: Es wurde nicht abgebrochen, Zoli, es hat stattgefunden.

Ich schaute ihn misstrauisch an.

Das kann nicht sein, ich habe nichts bemerkt.

Was ist hier los?, fragte ich.

Major Gausinck packte meine Schulter und drehte mich zum Panzer hin.

Die Scheinwerfer fluteten das Fahrzeug, in dem ich noch vor wenigen Sekunden saß, von allen Seiten; es schien in einer grellen Lichthülle zu schweben.

Da sah ich es, verstand aber noch nicht.

Ich beobachtete einen der Soldaten, als würde er gerade aus dem Panzer steigen. Aber dort, wo er, von der Brust aufwärts, sichtbar war, gab es keine Tür: Sein Oberkörper und sein Arm ragten aus der Panzerung des Fahrzeugs hervor, mit dem er fest verschmolzen war.

Er schrie: Holt mich hier raus! Holt mich bitte raus.

Ich ertrug das Bild nicht und senkte meinen Blick.

Ich betrachtete die Ketten und Räder des Panzers.

Der Anblick des Gesichts eines weiteren Soldaten, das, wie heutzutage Felgen von Pkws, auf allen Rädern des Fahrzeugs imprägniert war – sechsmal – mit leichten Unterschieden im Gesichtsausdruck.

Er schien zu schreien, man konnte aber seine Stimme nicht hören.

Ich erspare Ihnen, hochverehrter Herr Ligeti, weitere Grausamkeiten.

Ich muss nicht betonen, dass damit der Traum von einer Wunderwaffe geplatzt war.

Das ganze Experiment wurde unter den Teppich gekehrt.

Major Gausinck fiel am 23 April 1945.

Ich wurde im Juni aus der Armee entlassen und habe mich lange Zeit nicht mehr mit Physik beschäftigt.

Stattdessen schloss ich das Studium der Literaturwissenschaften ab und habe jahrzehntelang von dem Experiment mit niemandem gesprochen.

Ich hatte alles verdrängt, vergessen und lebte angepasst in einem kommunistischen Land, unauffällig und kooperativ – aber wem sag ich das: Wir Magyaren leiden alle unter einer seltsamen Mischung aus Hybris, Minderwertigkeitsgefühl und Selbstmitleid. Zu Ostblockzeiten konnten wir darüber wenigstens lachen. Heute scheint mir, haben wir unseren Humor verloren: wir machen dort weiter, wo Hitler aufgehört hatte. Zum Glück sind wir klein und arm und die Besten von uns haben längst in Hollywood oder bei Microsoft Karriere gemacht. Wie auch immer...

Irgendwann, Ende der 70er Jahre, kamen Gerüchte über ein Experiment der US-Marine auf.

Das so genannte Philadelphia-Projekt trug ursprünglich den Codenamen Rainbow: In den frühen 1940er Jahren soll die US-Marine mit Verfahren zum magnetischen Eigenschutz experimentiert haben, um seine Schiffe unempfindlicher gegen die mit Magnetzündern arbeitenden Torpedos der deutschen U-Boote zu machen. Im Oktober 1943 bei einem Test mit einem starken Kraftfeld soll das Schiff USS Eldridge auf hoher See optisch unsichtbar gemacht worden sein. Die Legende geht auf öffentliche Briefe des einzelnen Augenzeugen zurück, des Matrosen Carlos Miguel Allende alias Carl Meredith Allen, der zwölf Jahre nach dem angeblichen Experiment erstmals die Behauptungen aufstellte.

Nun können Sie sich, hochverehrter Herr Ligeti, vorstellen, dass in mir alle Erinnerungen und Schrecken meines eigenen Experiments hochkamen.

Ich habe also alle meine Unterlagen wieder ausgegraben und begonnen, die Berichte aus dem Philadelphia-Experiment und meine eigenen Erfahrungen abzugleichen.

Was ich herausfand und weiterentwickelt habe, hat mein eigenes Weltbild erschüttert, und wird, falls es jemals publik wird, sicherlich die ganze Welt erschüttern.

Ich weiß – und ich betone, ich weiß –, dass Sie sich die Not, in der ich mich befinde, die Gewissensentscheidung, die ich zu treffen habe, vorstellen können.

Doch ich möchte eine solche Entscheidung nicht alleine treffen. Keine einsame Entscheidung, ohne mit jemandem wenigstens darüber gesprochen zu haben.

Und nun sind Sie, hochverehrter Herr Ligeti, am Zuge.

Ich möchte Sie für einige Tage zu mir, in meine bescheidene Hütte am Plattensee einladen.

Ich würde Sie dann in alle Einzelheiten einweihen und Ihnen alle Dokumente, Fotografien, Logbücher, Ton- und Film-Aufzeichnungen zeigen. Und wir würden diskutieren, Für und Wider abwägen, streiten und spekulieren.

Die Entscheidung, die Verantwortung für das, was danach geschehen wird, bleibt selbstverständlich bei mir.

Die kann und will ich niemandem aufbürden.

Hochachtungsvoll,

Ihr

Zoltán Újvári



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Der Geistesblitz an jenem ominösen Nachmittag, als Roland Winkler auf Antony Gormleys Steinpuppe in der Düssel liegend, im Lichte der verspielten Aurora Borealis eine Erektion bekam und zeitgleich die Vision hatte, künstliche Nordlichter auf den Körper des Himmels zu malen, reifte allmählich zu einem Projekt.

Gedankenverloren streichelte Roland Winkler sanft seinen schlappen Schwanz. „Er ist dabei! Er macht mit! Gerd Rodenkamp der ultrareiche Kunstsammler und ich! Die Kunst wird nach unserem Projekt eine völlig neue Dimension erhalten! Die Welt wird eine neue Dimension erhalten!“, jubelte er, obwohl neben ihm nur seine nackte Frau Monika und nicht die Reporter vom WDR lagen. Monika Winkler erkannte seit einiger Zeit ihren Mann nicht wieder. Er sprudelte nur so vor Energie und Leidenschaft. Sie drehte sich zu Roland. „Hast du eine Freundin, gehst du fremd?“, fragte sie, ohne den leisesten Verdacht oder Vorwurf in der Stimme.

Wie kommst du darauf?“

Du fickst neuerdings wie ein Hengst, scheinst aber in Gedanken woanders zu sein…“, sagte sie nüchtern.

Vielen Dank! War das ein Kompliment oder ein Vorwurf?“

Weder noch, du bist nur so anders…“

Es liegt wahrscheinlich an meinem Projekt. Ich habe die Bilder ununterbrochen im Kopf. Ich gehe mit den Bildern ins Bett und wache mit ihnen auf. Ich träume die ganze Nacht himmlische Bilder!“

Himmlische Frauen?“

Auch, aber nicht wie du denkst. Es sind abstrakte Formen und irrsinnige Farben.“

Sie lagen nackt nebeneinander und Roland schwärmte vom Projekt „Himmels Körper“.

Jetzt brauche ich nur noch den richtigen Mann, der mir die Werkzeuge bauen kann. Rodenkamp hat mich angerufen. Er ist dabei. Er trifft sich nächste Woche mit Heinz Holzheim, einem stinkreichen Sammler und Mäzen.“

Roland und Gerd Rodenkamp waren Klassenkameraden und verbrachten im Internat viel Zeit zusammen. Gerd war ein echter Stürmer. Roland war eher für die Grätsche zuständig.

Ihr habt doch gar keine Ahnung, ob das, was ihr vorhabt, überhaupt machbar ist!“

Deswegen brauche ich doch einen Fachmann – am besten noch vor dem Termin mit Holzheim. Mit einem Fachmann im Team hätten wir bessere Karten“, sagte Roland und zwirbelte verträumt Monikas kaffeebraune Brustwarze.

Hör auf damit!“, fauchte sie und quetschte verspielt Rolands Eier - was natürlich wehtat!

Es war schon nach Mitternacht, als Roland bewusst wurde, dass das Aufstehen am nächsten Morgen qualvoll sein würde – er war kein Nachtmensch. Aber Monika ließ nicht locker – noch einmal musste er ran. Vor dem Höhepunkt, von dem er nicht mehr glaubte ihn zu bekommen, sagte Monika plötzlich: „Ich glaube, ich habe den richtigen Mann für dich.“ Daraufhin kam er.

Ich habe da einen Holländer, einen Forscher. Mir fällt sein Name nicht ein. Warte, irgendwie Hückstra oder so – Bruder von Willem. Der kennt sich mit dem Himmel und den Wolken aus. Schlaf schön!“

Roland schlief in der letzten Zeit immer schön. Vielleicht waren die vielen sinnleeren Jahre doch keine verschwendete Zeit, sagte er sich. Ein Projekt solchen Ausmaßes ist nichts für einen Jüngling. Da ist Lebenserfahrung und geprüfte Leidensfähigkeit notwendig, dachte er und schlief seelenruhig ein. Kurz bevor sie einschlief, fiel Monika der richtige Name des holländischen Forschers ein: Jo Dijkstra.

Aber Roland träumte schon vom „Himmels Körper“.

Am Morgen danach witterte Roland die Wende seines Lebens. Der Duft der Lederbezüge in Rodenkamps dickem Daimler streichelte seine Schleimhäute wohltuend und heilsam. Balsam auf meine geschundene Seele, dachte er. Sie hatten sich mit Jo Dijkstra im Montanushof in Grevenbroich verabredet. Zuvor hatte er dem Spezialisten für kosmische Meteorologie sein Projekt „Himmels Körper“ erläutert und ihn gebeten, zu prüfen, ob die Idee machbar ist. Als Roland Dijkstras Gesicht sah, ahnte er Böses. Vergessen Sie es, hatte der kleine Mann mit der hohen Stirn und dem runden, über den Gürtel schwappenden Bauch gesagt. Er merkte nicht, dass sein Hemd schon länger aus der Hose hinaushing. Unter dem konstanten Druck des Wanstes hatten zwei Knöpfe den Stoff bereits eingerissen. „Die Technologie, die Sie dafür benötigten, existiert noch nicht!“

Noch nicht? Das heißt, möglich wäre es schon, oder?“, hatte Roland gefragt, den widerlichen Anblick des fetten, dunkel behaarten Bauches verdrängend.

Meine Herren, wovon Sie da sprechen, ist hochsensible High-Tech, das hat zur Zeit noch nicht einmal das Max-Planck-Institut. Wenn überhaupt, dann gibt’s das nur bei der US-Navy oder der NASA. Sie können es mir glauben, ich habe viele Jahre in Norwegen gearbeitet. Ich weiß was geht, und was nicht.“, sagte Jo Dijkstra.

Warum bist du ausgestiegen?“, wollte Rodenkamp wissen.

Jo Dijkstra wedelte mit der Hand vor seinem Gesicht, als wollte er einen ganzen Mückenschwarm verscheuchen. „Was die machen, hat mit Wissenschaft nichts zu tun – eine korrupte, skrupellose Bande!“

Wen meinst Du?“, insistierte Rodenkamp.

Wovon leben sie?“, schob Roland Winkler nach.

Ich verdiene mein Geld lieber als unabhängiger Sachverständiger. Hier eine Studie, dort ein Gutachten. Heute kann die globale Erwärmung niemand mehr leugnen. Also brauche ich über mangelnde Aufträge nicht zu klagen.“



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Auf der Heimfahrt nach einem gemütlichen Besuch bei den Hämattilas hört Polizeichef Medemanski im Autoradio seine Lieblingsmusik: Sea Shanty. Während er am P+R-Parkplatz in Ratingen vorbeifährt, ereignet sich dort unbemerkt ein Drama.

Mathilda verwendet sündhaft teure Biovanillestäbe und Kakao aus fairem Handel – viel zu schade für den Ignoranten“, sagte Rico Hämattila, aber er war es, der Fritz Medemanski zum Abendessen eingeladen hatte. Zufällig war auch Mathildas 48jährige, ledige Schwester für einige Tage im Lande. Etwas Abwechslung wird ihm nicht schaden, dachte Rico Hämattila, denn Medemanski führte seit dem Tod seiner Frau ein besorgniserregendes Witwerleben. Das Thema Frauen schien er abgehakt zu haben. Stattdessen nahm er Tennisstunden und bot sich beim Ortsverein der Arbeiterwohlfahrt Mettmann an, einen Shanti Chor zu gründen. Es reichte nicht, dass die Akte gGg im Kommissariat Vorbeugung seit der ersten E-Mail im Dezember 2005 beträchtlich angewachsen war. Erster Hauptkommissar Medemanski musste das Thema ausgerechnet beim Rico Hämattilas Lieblingsnachtisch ansprechen: Vanille-Schoko-Grieß-Schnittchen, satt mit Himbeersirup serviert.

Kannst du mir mal Dienstag einen gGg-Status geben?“, fragte Friedrich Medemanski.

gGg“, spottete Rico Hämattila tags darauf vor seinem Stab in der Lagebesprechung und forderte von seiner rechten Hand, Oberkommissarin Frieda Eldinger einen umfassenden Bericht. Zwei Tage später fasste Oberkommissarin Eldinger den Stand der Nachforschungen in einer 34 Seiten langen Präsentation zusammen.

Sehr aufschlussreich, dachte Rico Hämattila bitter. Die 150 Seiten des Anhangs zur Präsentation, ausgedruckt, gebunden und an die Teilnehmer der Lage verteilt, führten so ziemlich jede Umweltschutzorganisation der Welt auf. Allein das Personenverzeichnis, das sie im Wege der Amtshilfe vom Verfassungsschutz bekam, enthielt die Namen von über 200 Personen auf 80 Seiten.

Wir sollten beim G wie Geißler beginnen – Du weißt schon, wegen gGg…“, sagte Rico Hämattila ironisch-bitter, als er auch den Namen des ehemaligen Generalsekretärs der CDU auf der Liste fand. Jemand in der Runde unterdrückte ein Schmunzeln. Frieda Eldinger notierte den Vorschlag, obwohl sie eigentlich einen anderen Weg bevorzugt hätte – nun gut.

Zu gGg habe ich leider nichts gefunden“, gestand sie kleinlaut.

gGg könnte ein Witzbold sein. Er könnte jung oder alt, männlich oder weiblich, arbeitslos oder Vorstand sein. Im Internet ist alles möglich, dachte Rico Hämattila. Der Hauptkommissar fand, dass sein Büro der beste Beweis für seinen Abstieg war. Nicht nur, dass es das letzte auf dem langen Flur war. Es war auch kleiner als alle anderen Büros. Ein Raum, in dem früher eine Schreibkraft saß, die nach der Reorganisation der Mettmanner Polizei überflüssig wurde. Früher war er mitten im Geschehen. Umgeben von seinen Leuten, den Kommissaren Renate Mühlberg und Arnold Basten, die zu Oberkommissaren befördert wurden. Und natürlich von seiner damaligen rechten Hand, seinem Freund – damals noch Hauptkommissar – Friedrich Medemanski. Jetzt saß Medemanski an seinem ehemaligen Schreibtisch und lud zu Lagebesprechungen ein, bei denen Rico Hämattila nicht mehr erwünscht war. Er dagegen hielt Statusmeetings ab, an denen höchstens zwei oder drei Mitarbeiter von den insgesamt zehn, die er hatte, teilnahmen. Sie dauerten meistens eine halbe Stunde, bei größeren Projekten eine ganze. Es ging um Termine und Broschüren. Und um Folienpräsentationen. Um die Suche nach dem Drama hinter dem Verbrechen an der Rechtschreibung. Verbrechensbekämpfung und -vermeidung verhalten sich zueinander wie eine Frau aus Fleisch und Blut und eine Wichsvorlage: das eine für richtige Männer, das andere… – hatte er einmal Medemanski gegenüber gesagt. Rico Hämattila hatte außer Führung und Steuerung nichts mehr zu tun – er hat alles delegiert. Du fühlst dich nicht überflüssig, du bist überflüssig, dachte er. Noch vor drei Jahren unvorstellbar! Durch das Läuten des Telefons aus einem stumpfen Döszustand aufgeschreckt, der sich neuerdings nachmittags immer einstellte und immer länger andauerte, griff er langsam nach dem Hörer.

Auf der Heimfahrt hörte Friedrich Medemanski seine Lieblingsmusik – Shanty Chöre.



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Die Vorstellung, dass, während massive Anstrengungen unternommen werden, um die Emission von Treibhausgasen zu reduzieren, zur Wetterbeeinflussung seit Jahrzehnten Tonnen von Aluminium und Silberjodid-Partikeln aus Flugzeugen in die Erdatmosphäre gestreut werden, ist so abstrus, dass die breite Öffentlichkeit beschlossen hat, es als Unfug zu betrachten. Entgegen allen Fakten und Beweisen. Warum? Weil es sich scheiße anfühlt, sagte ein Politiker, der nicht genannt werden wollte. In den vergangenen 14 Jahren hat die Erde wesentlich mehr Wärme gespeichert als abgegeben. Laut einer Studie der NASA und des US-Klimaamts NOAA hat sich das sogenannte Energieungleichgewicht damit seit 2005 fast verdoppelt. Grund dafür sei vor allem, dass Wolken und Meereis die Sonnenstrahlung weniger reflektieren. Gleichzeitig habe die langwellige Strahlung von der Erde ins All unter anderem wegen mehr Treibhausgasen abgenommen.

Als Welsbach-Patent wird das US-Patent 5003186 bezeichnet, welches das Ausbringen von speziellen Partikeln in der Erdatmosphäre zur Milderung der globalen Erwärmung beschreibt. Das Patent wurde im Jahr 1990 von David B. Chang und I-Fu Shih, die bei der Hughes Aircraft Company arbeiteten, angemeldet und 1991 veröffentlicht. Der Name des Patents geht auf den Glühstrumpf, den Carl Auer von Welsbach im 19. Jahrhundert erfunden hat, zurück. Die Grundidee der patentierten Methode sind staubförmige, von Flugzeugen verteilte Partikel, die ein Emissionsspektrum wie das Material eines Glühstrumpfs haben. Im sichtbaren Bereich ist ihr Emissionsgrad hoch, im nahen Infrarot niedrig und im fernen Infrarot wieder hoch, wie in nebenstehender Grafik abgebildet. Die Erfinder glaubten, dass derartige Partikel die Wärmestrahlung der Erde, die überwiegend fernes Infrarot enthält, absorbieren und die so aufgenommene Energie zumindest teilweise in Form von sichtbarem Licht abgeben würden. Sichtbares Licht wird durch Treibhausgase kaum gedämpft, sodass der Treibhauseffekt reduziert werden würde, wenn die Partikel im Wellenlängenbereich des fernen Infrarots mehr Energie absorbieren, als sie ebendort emittieren. Verstehst du das? Damals waren die der Meinung, dass Photovoltaik nicht funktioniert. Und heute … Sonnenkollektoren überall! In einer Studie des Kiel Earth Institute über Geoengineering wird das Welsbach-Patent zu den „Vorschläge[n] zur technologischen Umsetzung des stratosphärischen Aerosol-Schildes“ gezählt, ohne auf die patentierte Idee näher einzugehen. Ein Artikel in der Online-Ausgabe des Focus befasst sich kritisch mit dem Welsbach-Patent und kommt zu dem Schluss, dass das patentierte Verfahren eher zu einer „Erwärmung der Erde statt zu ihrer Abkühlung“ führen würde. Im P.M. Magazin wurde das Welsbach-Patent erwähnt und darauf hingewiesen, dass es keine Beweise dafür gebe, dass das patentierte Verfahren tatsächlich angewandt wird. 2004 erschien in der Zeitschrift Raum & Zeit der Artikel „Die Zerstörung des Himmels“, in dem Chemtrails auf das Welsbach-Patent zurückgeführt werden. Diese Einschätzung teilten Vertreter der Chemtrail-Theorie in einem Protestbrief an das Umweltbundesamt von Deutschland, in dem sie das Welsbach-Patent unter die ihrer Ansicht nach seriösen Quellen einordneten. In einer Stellungnahme des Schweizer Bundesamts für Zivilluftfahrt heißt es, die Entstehung der Chemtrail-These stehe mit dem Welsbach-Patent in Zusammenhang, aber es gebe keine Beweise und es sei unwahrscheinlich, dass entsprechende Sprüheinsätze von Flugzeugen tatsächlich stattfinden. Winfried Petzold von der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD) stellte 2005 bis 2006 als Abgeordneter im Sächsischen Landtag fünf kleine Anfragen an die Sächsische Staatsregierung, in der er unter Bezugnahme auf das Welsbach-Patent Auskünfte über die „Wahrscheinlichkeit gesundheitlicher Folgeschäden infolge klimatischer Manipulation und Wetterbeeinflussung durch Kontaminierung der Atmosphäre mit so bezeichneten Welsbach-Partikeln“ verlangte. In Österreich ist das Welsbach-Patent Gegenstand dreier parlamentarischer Anfragen, die von Abgeordneten der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) zwischen 2007 und 2013 eingebracht wurden. Das ist soooo spannend! Nazis und Rassisten wollen im Parlament über Chemtrails reden … Auf der anderen Seite frag ich mich schon, warum man darüber nicht offen reden kann … Ich meine, warum überlässt man all diese Themen der Ultrarechten … Ich meine – mich geht das nichts an. Ich habe doch seit über zwanzig Jahren keinen freien Himmel mehr gesehen …

(V.O.) Siehst du? Jetzt war die Welt kurz verschwunden – bin aber wieder da!

Ich schätze, du bist zwanzig – kann das sein? Ein großer Altersunterschied zwischen uns.

Mir macht es nichts aus – und dir?

Wie heißt du?

Ich nenne dich Roger, weißt du? Hatte nicht lange darüber nachgedacht – Roger flog mir einfach zu, und so nenne ich dich also – okay?

Merkst du eigentlich, dass es für mich aufregend ist, dir zuzusehen? Es ist spannend!



Der schwarze Geländewagen mit der hoch aufgeschlagenen Hecktür hob sich kaum vom dunklen Hintergrund ab. Der Wind trieb die letzten Wolken des Sturms vor sich her und ließ den Mondschein blinzeln. Dabei blitzten der schwarze Lack und die Chromleisten flüchtig auf. Willem machte sich wegen des Lichts keine Sorgen. Doch was er gefunden hatte, hielt ihn seit Tagen in Panikzustand und ließ ihn nicht mehr los.

Wer hätte die Macht, es geheim zu halten, fragte er sich. Das Institut? Ich habe doch die Beweise. Man wird sie unter Verschluss halten. Kann der Staat die Wahrheit vertuschen? Warum antwortet Jo nicht?

Es hat ihn große Überwindung gekostet, Jo zu kontaktieren. Jo sei zwar ein Arsch, aber er hätte ihn nie verraten. Als er mit zwölf in Vaters Auto die Handbremse gelöst hatte und gegen das Garagentor rollte, hat Jo Vaters Schuldzuweisung akzeptiert und die Strafe auf sich genommen, einen Monat lang jede Woche das Auto zu waschen. Willem hat seinen Bruder bewundert – seine Energie, seine Offenheit. Plötzlich überwogen die positiven Erinnerungen und so beschloss er, Jo eine verschlüsselte Nachricht zu senden: „(169/283) (153165)(12)=“; es war ein sehr einfacher Code, den sie als Kinder für ihre Geheimnisse entwickelt hatten. Ein Friedensangebot, sozusagen. WhatsApp zeigte, dass Jo die Nachricht gelesen hat. Willem starrte auf das Display, auf dem immer noch die Formel schimmerte:


L-LEMMA:

Wenn n =2m dann ist n+1 nur dann prim, wenn für jedes k mit (n)! / (n-k)! ≡ r an der Stelle k mod (k+1)! gilt: r=0, k: {1, …, m}.

 

Dann schaute er auf die Uhr: 22:30. Den seltsam schimmernden Stein legte er sorgfältig in einem Tuch verpackt neben die Kamera und räumte die Instrumente in die Alukoffer. Als erfahrener Stormchaser war er gewohnt auch im Dunkeln zügig und präzise zu arbeiten, ohne die hochsensible Elektronik und Optik zu beschädigen. Das Fluggerät hat er erst bemerkt, als es schon senkrecht über ihm schwebte. Ein unvorstellbar leises Summen und Schnurren ließ ihn hochblicken. Es war nur ein kurzer, flüchtiger Blick, denn im nächsten Augenblick musste er, während er zu Boden sank, alles versuchen, um nicht mit dem Kopf gegen den Kotflügel zu schlagen. Er landete auf seinem Gesicht. Das grüne und violette Licht, und dass das Ding zur Landung ansetzte, konnte er nur ahnen – bereits, als er aufschlug, war er tot.

Man wird sagen, er wurde vom Blitz erschlagen.


(V.O.) Als die Welt sich wieder eingeschaltet hatte, war es schon dunkel, und ich war allein mit der Uhr, die darauf zu warten schien, mir die Gutenachtgeschichte zu erzählen.

Ich schrie sie an: Lass mich in Ruhe mit deinem Kinderkram! Ich will nie mehr eine Gutenachtgeschichte!


Montag, 19. August 2024

Z. Z. LI [»Oberiberg« von Walter Graf (2024)]

 


[»Le lit défait«, Eugène Delacroix (1828)]



Ehe wir uns nicht verloren haben, besteht keine Hoffnung, uns zu finden.

[Henry Miller »Wendekreis des Steinbocks« (1939)]


Die Ausschweifung kann uns in das uns bestimmte Dasein zurückführen.

[Hans Henny Jahn »Fluss ohne Ufer« (1950)]





[»The Lauerzersee with Schwyz and the Mythen, Switzerland«, J.M.W. Turner (1848)]





Aufs Neue die Erfahrung, dass man den Schmerz wünscht, um sich Gott zu nähern.

[Cesare Pavese »Das Handwerk des Lebens: Tagebuch 1935 - 1950« (1952)]






Oberiberg




In einem fremden Bett aufwachend, traute ich mich kaum, mich zu rühren. Noch war es zu dunkel, um meine Umgebung zu erkennen. Offenbar war ich nicht allein. Wir hielten uns so eng umschlungen, dass wir buchstäblich zusammenklebten. Da ich keine Luft mehr bekam, versuchte ich vorsichtig, mich von ihr zu lösen. Am schlimmsten war der Geschmack in meinem Mund, der mich wieder an das scheussliche Gebräu erinnerte, das mir in der Alphütte vorgesetzt worden war; mein Magen krampfte sich vor Widerwillen zusammen. Beim Versuch, aufzustehen, um das Fenster aufzureissen, geriet mir eine Strähne von Mariannes Haar zwischen die Finger; auch ihre Haare rochen nach dieser Mischung von schwarzem Kaffee und Kräuterschnaps. Jemand von uns musste sich im Bett erbrochen haben – fragte sich nur, ob sie mich oder ich sie angespien hatte. Hatte ich zunächst sie im Verdacht, sich übergeben zu haben, so wurde mir, aufgrund meiner verstopften Nase und des üblen Nachgeschmacks in meinem Mund, allmählich klar, dass ich selbst es gewesen war.

Wir befanden uns in der Innerschweiz. Mariannes ehemalige Mitschülerin Christine hatte uns übers Wochenende in die Ferienwohnung ihrer Mutter eingeladen. Wir waren einander erst vor einer Woche im Biergarten begegnet, wo Marianne sie mir als «alte Freundin» vorstellte; die beiden hatten sich seit Jahren nicht mehr gesehen. Christine, die vollschlank und umgänglich war, schien sich im Vergnügungsviertel an der Langstrasse auszukennen. Sie führte uns, als es dunkel geworden war, in die Piratenbar, die nachts bis zwei Uhr geöffnet hatte. Auf einer Reise nach Deutschland hatte sie sich angewöhnt, zum Bier jeweils noch einen Klaren zu bestellen – ein Brauch, den ich nicht nur aus deutschen Filmen kannte. Da ich mit einem Ohr auf die Musik aus der Jukebox hörte, bekam ich die Unterhaltung der beiden Frauen nur zur Hälfte mit. Irgendetwas von einer Ferienwohnung in Oberiberg - unweit von Unteriberg, wo ich als Kind einmal im Urlaub gewesen war - und von einem Typ, der sich Mike nannte.

Knapp eine Woche später sassen wir bereits mit Christine im Zug auf dem Weg in den Kanton Schwyz. Die Fahrt am Zürichsee und am Sihlsee entlang war kurzweilig. «Ich hätte nicht gedacht, dass man von einer Stadt wie Zürich aus so rasch in den Bergen ist», sagte ich. Christine und Marianne, die gerne lachten, tauschten Erinnerungen an ihre Schulzeit miteinander aus. In Oberiberg angekommen, zeigte uns Christine die Ferienwohnung ihrer Mutter, wo wir unsere Tasche abluden. Wie schon der Name des Dorfes sagte, lag es höher als Unteriberg. Nach dem Abendessen in einem Restaurant warteten wir auf «Mike», der uns mit seinem Auto abholen sollte. Ein stämmiger Bursche, der uns nachts zu den Alphütten führen wollte, in denen ein Bergfest gefeiert wurde. «Wisst ihr, warum man mich Mike nennt?», erklärte uns Michael seinen Übernamen. «Weil ich der Mick Jagger von Oberiberg bin.» Im Vergleich zu seinem Idol mutete er uns aber reichlich schwerfällig, ja, grobschlächtig an. Er machte unterwegs noch einen Zwischenhalt bei einer Bar, in der es Musik und Tanz gab. Ausnahmsweise nahm ich auch an der Tanzerei teil. Einer der einheimischen Männer, die an der Theke hockten, sah mir, das Maul aufsperrend, zu, bis er ein Wort fand für das, was er sagen wollte: «Schlangentanz!»

Den Rest unseres Wegs wand sich die Strasse in Terpentinen den Berg hinauf. Auf der Alm standen ein paar Hütten zusammengepfercht; im Lichtschein, der aus ihren Fenstern fiel, sah man weisse Nebelschwaden hängen. In den Holzhütten führten enge Treppen zwischen dem Unter- und dem Obergeschoss auf und ab; in ihren grösseren Räumen spielten jeweils bärtige Sennen mit ihren Musikinstrumenten zum Tanz auf. Hier hielt ich mich heraus; es handelte sich ohnehin eher um ein rhythmisches Stampfen als um ein Tanzen. Ein Bergbauer, der noch auf Brautschau zu sein schien, zählte Marianne bereits das Vieh auf, das er in seinen Ställen hielt: Kühe, Schweine, Schafe, Hühner. Lief dies etwa auf einen Heiratsantrag hinaus? Von einer Hütte in die andere gehend, liess ich mich schliesslich in einem Hinterraum nieder, in dem nur ein langer Tisch mit zwei Bänken stand. Ich sass - als einziger Fremder aus der Stadt - mit jungen Dorfbewohnern zusammen, die sich einen Spass daraus machten, mich abzufüllen, indem sie mich mit ihrem Nationalgetränk traktierten. Dieses Gesöff, das aus einer Mischung aus schwarzem Kaffee und Kräuterschnaps bestand, wurde aus einer Suppenschale gelöffelt, solange es noch dampfend heiss war. Das tat ich, den anderen zuliebe, denn auch, wobei ich es nicht bei einer Schale bewenden liess.

Zum Glück war derjenige, der uns schlussendlich den Berg hinunterlotste, nicht ebenso betrunken wie wir; sonst hätte leicht ein Unglück geschehen können. Mike war es jedenfalls nicht, der auf dem Rückweg am Steuer sass und uns in Oberiberg vor dem Haus absetzte, in dem wir an diesem Wochenende stationiert waren. Nun war es Samstagmorgen. Christine, die im Wohnzimmer schlief, und Marianne blieben bis zum Mittag liegen. Ich war lautlos ins Badezimmer geschlichen, um sie nicht zu wecken, hatte mich gewaschen, mir Mund und Rachen ausgespült; ich nahm das Badetuch von der Stange und legte mich damit im Schlafzimmer wieder hin, aber nicht in das besudelte Bett zurück, sondern auf den Fussboden. Auf dem Rücken liegend, spürte ich einen frischen Luftzug durchs geöffnete Fenster strömen. Da der Himmel von Regenwolken bedeckt war, liess das Tageslicht noch auf sich warten. Ich fühlte mich allgemein geschwächt – ein Zustand, der etwas Besänftigendes hatte. Manchmal, wenn ein Windstoss durch die Bäume draussen fuhr, rieselten Regentropfen von den Blättern. Das Piepsen der erwachenden Vögel unter dem Dachvorsprung. Das Glucksen des Wassers, das sich in der Dachrinne angestaut hatte. Auf die leisen Geräusche des anbrechenden Tages horchend, dachte ich an einen jung verstorbenen Rockmusiker, der an seinem Erbrochenen erstickt war. Hätte mir dies letzte Nacht nicht auch passieren können?

Allmählich versetzten mich meine Wahrnehmungen in die frühe Kindheit zurück, aus der mir ländliche Eindrücke vertraut waren. So glaubte ich unverhofft, die Kuhglocken durch den Dunst, der damals aus den taufeuchten Wiesen aufstieg, bimmeln zu hören, und wusste aufs Mal wieder, wo ich eigentlich zuhause war. Beinahe hätte ich es vergessen! Inzwischen war das Morgengrauen in eine verschwommene Morgenröte übergegangen. Von diesem Augenblick an war mir klar, dass man dem Paradies, aus dem man in seiner Pubertät vertrieben wurde, nie näherkommt als dann, wenn man sich im Schlamm gewälzt, im Dreck gesuhlt hat – also gerade dann, wenn man sich am weitesten von ihm entfernt hat. Dann wird das Heimweh nach dem Reich der verlorenen Unschuld, der Reinheit, wieder zum Leben erweckt.

Über diesen Samstag, an dem es von morgens bis abends regnete, gäbe es weiter nichts zu erzählen. Ich las, da sich in der ganzen Wohnung kein einziges Buch fand, einen Groschenroman. Erst am Sonntag, als wir wieder nach Hause fuhren, schien die Sonne der Jahreszeit gemäss.