Sonntag, 19. Oktober 2025

Z. Z. LXI [»Aus dem okkulten Tagebuch« von Walter Graf (1998 - 2006)]

 


[»Abendglocken«, Carlos Schwabe (1891)]




Il n'existe que trois êtres respectables: le prêtre, le guerrier, le poète. Savoir, tuer et créer.

[Charles Baudelaire »Journaux Intimes« (1855 - 1866)]





[»Cinq Poèmes de Baudelaire«, Claude Debussy (1889)]





On peut chercher dans Dieu le complice et l'ami qui manquent toujours. Dieu est l'éternel confident dans cette tragédie dont chacun est le héros.

[Charles Baudelaire »Journaux Intimes« (1855 - 1866)]





[»Jour de Morts«, Carlos Schwabe (1890)]





L'étude du beau est un duel où l'artiste crie de frayeur avant d'être vaincu.

[Charles Baudelaire »Le Spleen de Paris« (1869)]





Aus dem okkulten Tagebuch



13.10.1998  Am späteren Abend fiel mir, nachdem ich das Licht gelöscht und die Augen geschlossen hatte, plötzlich Herr Koch ein, der ehemalige Nachtportier des Hotels Eden, der vor kurzem gestorben war. Da ich nur dienstlich mit ihm zu tun gehabt hatte, war mir sein Tod nicht sonderlich nahegegangen. Umso seltsamer mutete es mich an, dass ich Koch, kaum waren meine Gedanken auf ihn gekommen, leibhaftig vor mir auftauchen sah. Hatte er mit seiner kleinen drahtigen Gestalt schon zu Lebzeiten an einen Gnom gemahnt, so erweckte er jetzt, wo er mich aus der Dunkelheit anfeixte, erst recht einen koboldhaften Eindruck. In diesem Augenblick verfiel ich, als wäre ich durch die unverhoffte Kontaktnahme mit dem Verstorbenen aus dem Leben katapultiert worden, in einen Zustand der Totenstarre. Ich sah nur noch ein Gewässer von unabsehbarer Weite und Tiefe vor mir, dessen Oberfläche sich immer heftiger zu kräuseln begann. In einen solchen Aufruhr mag der Wasserspiegel eines Teichs geraten, wenn ein Hubschrauber im Begriff ist, sich ihm lotrecht zu nähern. Unter dem Ansturm der fremden Gewalt, die sich von oben herabsenkte, musste ich an mich halten, um nicht von ihr fortgerissen zu werden. Doch diesmal kam es nicht so weit: ehe ich abgehoben hatte, glätteten sich die Wellen wieder; das Gewitter in meinem Kopf verzog sich... In den Normalzustand zurückversetzt, hatte ich merkwürdigerweise das Gefühl, zu den Toten anstatt zu den Lebenden zurückzukehren.

 

05.02.1999  Zum ersten Mal seit Jahren kein Benzodiazepin vor dem Schlafen eingenommen. Auf eine abenteuerliche Nacht gefasst, streckte ich mich aus und harrte der Dinge, die da kommen mochten. Ich hatte keine Angst vor der Angst: Alpträume, Dämmerattacken und Halluzinationen, seid mir willkommen!

 

08.02.1999  In einem leeren Raum hin und her gesaust, wie auf einer Schaukel. Es war so hell in diesem Raum, als wären Wände, Decke und Boden von ihm aus Glas gewesen, so dass von allen Seiten das Tageslicht einfallen konnte. Aber obwohl die Wände des Raums durchsichtig waren, war hinter ihnen nichts zu sehen – nichts als Licht, ein helles Nichts. Der Jubel, in den ich ausbrach jedes Mal, wenn ich wieder in die Höhe fuhr…

 

11.03.1999  Als ich heute aufwachte, sah ich gerade noch eine Versammlung der Toten, die mir nahestehen, um mich herum. Sie sassen im Kreis um mein Bett und hielten, ihren Blick stumm auf mich geheftet, Gericht über mich. Ein Gericht, das just in dem Moment, wo ich die Augen aufschlug, zu tagen aufhörte. Unter den Geistern der Toten, die ich erkannt hatte, befanden sich auch solche, die nicht zu meinen Blutsverwandten gehören, wie Rudolf Steiner und Gerhart Hauptmann.

Zu betonen ist, dass diese Fetzen, die ich manchmal beim Aufwachen erhasche, nichts mit den Schlussszenen meiner Träume zu tun haben.

 

31.03.1999  Wer Wert legt auf das Zeugnis derer, die wahrhaft seelenkundig sind, tut am besten daran, die deutschen Romantiker zu lesen.

Mit seinen Hinweisen auf den «3. Gang», in dem man auf der Astralebene wahrzunehmen vermag, ist Ernst Jünger eine echte Entdeckung gelungen (siehe «Siebzig verweht» Bd. IV).

 

06.01.2000  Das Thema, das mich zur Zeit am stärksten beschäftigt: die Macht der Toten über die Lebenden. Ein Thema, das Horst Lange in seinem Hauptwerk behandelt hat, auch wenn dies noch von niemandem bemerkt worden zu sein scheint («Schwarze Weide»).

Woher rührte zum Beispiel meine plötzliche Vorliebe für den Whisky? Bevor mein Bruder Erich sich erschossen hatte, machte ich mir nichts aus seinem Lieblingsgetränk… Mir kam es tatsächlich so vor, als würde ich um seinetwillen trinken - als würde er mich als Werkzeug benutzen, um den Durst zu löschen, der ihn überlebt hat.

 

24.05.2000  Kaum hatte ich mich im Dunklen ausgestreckt, überkam mich wieder das Gefühl, von einer Woge erfasst zu werden: zuerst war es nur eine sanfte Brise, die mich umfloss, dann steigerte sie sich aufs Mal zu einer orkanartigen Böe, die mich meinem Körper, der zu Eis erstarrt liegenblieb, entraffte, bis ich mich halbwegs aufgerichtet hatte… Diese Attacke wiederholte sich mehrmals hintereinander, ohne dass ich mich zur Gänze von meinem Körper loszulösen vermochte. Dazu ist zu sagen, dass ich vor dem Schlafengehen ein halbes Seresta eingenommen hatte. Bevor ich versuchte, mich von mir selbst zu trennen - einmal in der verklärten Gestalt eines Engels, einmal in der verrenkten Gestalt eines Dämons -, hatte ich jeweils einen leichten Krampf in den Hoden verspürt.

Coitus interruptus mit dem Tod?

 

20.11.2001  Diesmal hatte es mit einem Kälteschauer begonnen, der mich von oben bis unten schüttelte. Darauf erfolgte, wie erwartet, der wiederholte Austritt aus meinem Körper in verschiedener Gestalt: zwischen Himmel und Hölle oszillierend, nahm mein Gesicht abwechslungsweise engelhaft verklärte und teuflisch verzerrte Züge an, während ich mich meinem Körper zu entwinden versuchte. Beim letzten Aufschwung vernahm ich ein lautes Stimmengewirr, das anschwoll, bis mein Kopf zu bersten drohte. Ein Stimmengewirr, von dem sich eine einzelne Stimme abhob, in der ich, obschon sie sich anhörte, als würde sie vom Sturmwind zerschlagen, diejenige von meinem Bruder Erich erkannte, der sich mit dreiunddreissig Jahren erschossen hatte… Kein Zweifel, es war die Stimme von Erich, der eine Rede zu schwingen schien, fanatischer als je zu seinen Lebzeiten. Wenn die einzelnen Sätze seiner Rede auch im allgemeinen Lärm untergingen, so vermochte ich gleichwohl eine Bemerkung mit solcher Deutlichkeit zu verstehen, dass ich nicht mehr sicher bin, ob Erich sie mir oder ich sie ihm gegenüber fallen liess: «Du bist in der Verdammnis.»

 

14.04.2002  Das Leben, das ich führe, ist nicht gerade heiligmässig; aber es hat Beweiskraft – Gottesbeweiskraft.

 

14.05.2005  Als ich heute Nachmittag, nachdem ich vor lauter Übermüdung in einen leichten Schlummer gefallen war, wieder erwachte, sah ich einen Moment lang - breitbeinig sitzend wie eine Türwächterin - meine Mutter vor mir und dachte unwillkürlich: «Sie wartet auf mich!» Sie gemahnte mich an eine der archaischen Holzfiguren von Ernst Barlach.

Es gibt Notlagen, in denen wir auf die Hilfe von unseren verstorbenen Angehörigen angewiesen sind. Wer weiss, wo ich ohne das Eingreifen meiner Mutter heute stehen würde.

 

28.05.2005  Gabriel Marcel: «Die Treue ist der Ort des Seins.»

 

12.06.2005  In der vergangenen Nacht stellte ich auf meinem Rundgang durch die Werbeagentur Farner fest, dass die Verbindungstüre zur esoterischen Buchhandlung «Im Licht» nicht abgeschlossen worden war. Ich nutzte die Gelegenheit, um Steiners Buch «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten», das ich lange genug entbehrt hatte, wieder in meinen Besitz zu bringen.

 

15.06.2005  Letzte Nacht, als ich etwas vor mich hindämmerte, sah ich mich in einem Theater auf der Suche nach den Leuten der Reinigungsequipe, mit denen ich einmal zusammengearbeitet hatte, hinter die Kulisse treten, wo ich sie tatsächlich alle beim Pausenbrot versammelt fand. Ich begrüsste sie, obwohl mein damaliges Verhältnis zu ihnen nicht besonders herzlich gewesen war, voller Wiedersehensfreude, indem ich sie der Reihe nach umarmte. Nachdem ich Frau Aschwanden an mich gedrückt hatte, die wie früher nach Zigarettenrauch und Parfüm roch, wandte ich mich einer schlottrigen Gestalt zu, die ich im vorherrschenden Zwielicht nicht genau erkannte. In dem Moment, wo ich mich ihr in die Arme fallen sah, wurde ich auf meinem Bett schlagartig in den 3. Gang versetzt. Eine Bewusstseinsveränderung, die ich mit einem schiefen Lächeln quittierte. Was ich in diesem Zustand sah, hatte nichts mehr mit der vorherigen Traumszene zu tun: Ich sah ein schillerndes Mosaik von smaragdgrünen Schuppentieren, bei deren Anblick es mich eiskalt überlief. Ob es sich um Riesenechsen oder gar um Drachen handelte, ich wüsste es nicht zu sagen.

 

21.07.2005  Vergangene Nacht ist Mariannes AA-Kollege Ruedi Oettiker gestorben. Lungenkrebs. Ich erwähne dies, weil Ruedi mir, obwohl ich ihm nicht sonderlich nahestand, in dieser Nacht erschienen ist. Ich hörte, bevor ich mein Nachttischlämpchen ausmachte, das Telefon klingeln, aber auf eine Art und Weise, die mir sagte, dass es sich nicht um einen Anruf aus dieser Welt handelte. Da ich wusste, dass Ruedi seit einigen Wochen in kritischem Zustand im Spital lag, dachte ich sofort an ihn. Kaum hatte ich mich im Dunkeln ausgestreckt, durchfuhr mich ein eisiger Schauer. Die Augen schliessend, sah ich Ruedi, dem ich vor einem Jahr zum letzten Mal begegnet war, in aller Deutlichkeit auf mich zukommen. Nach einer kurzen Zwiesprache mit ihm, bei der ich meine Fragen stellvertretend für ihn beantwortete, durchfuhr mich aufs neue ein Kälteschauer. Diesmal sah ich ihn vor dem Hintergrund einer leuchtenden Sonnenscheibe, wie er sein Knie anhob, als wäre er gerade dabei, auf das Trittbrett eines abfahrenden Zuges zu klettern. Dabei wandte er sich noch einmal um und reichte mir zum Abschied die Hand.

Der Mystiker setzt seinen Körper als Werkzeug zur Erkenntnis des «Geistigen» ein.

 

13.08.2005  In der vergangenen Nacht versuchte ich, als ich nicht einschlafen konnte, mich auf den letzten Todesfall zu besinnen, der sich in meiner Bekanntschaft ereignet hat. Dabei fiel mir Heinz Naas, ein ehemaliger Mitarbeiter von mir, ein, der kürzlich verstorben ist. Im selben Moment, wo ich ihn beim Namen aufrief, wurde ich in den Zustand versetzt, den Ernst Jünger einmal mit dem Gefühl, «als ob ein Motor angeworfen würde», verglichen hat. Dieser Zustand, der sich nur zwischen Schlafen und Wachen einstellt, ist offenbar die Voraussetzung dafür, dass man mit den Toten in Kontakt treten kann. Er erfasst einen von Kopf bis Fuss und steigert sich, bis man sich imstande fühlt, vom Bett, auf dem man liegt, samt seinem Körper abzuheben. Ich sah Naas vor mir, aber nicht weinend, wie ich ihn gesehen hatte, bevor er in den Ruhestand versetzt wurde, sondern lächelnd, und sagte zu ihm, dass ich, auch wenn alle anderen ihn längst vergessen hätten, noch an ihn denken würde.

 

26.08.2005  Wir vermögen unseren Nächsten erst von da an wirklich zu erblicken, wo er sich von uns getrennt hat. Insofern kommt die Verabschiedung jeweils einer Begrüssung gleich. Deshalb ist vielleicht gerade jemand wie ich, der keine starke Beziehung zu seinen Mitmenschen hat, solange sie noch unter den Lebenden weilen, dazu prädestiniert, mit ihnen Kontakt aufzunehmen, wenn sie gestorben sind. Dadurch, dass ich sie erblicke, wenn sie unsichtbar geworden sind, kann ich meine mangelnde Beziehung zu ihnen wettmachen.

 

19.09.2005  Letzte Nacht, als ich mich im Zustand des Vorschlafs befand, in dem man zwar schon eingeschlafen zu sein scheint, aber gleichwohl noch bei Bewusstsein ist, näherte sich mir von der Seite her ein Unwesen, das nur aus einem Gesicht bestand. Abstossend hässlich wie eine offene Wunde, verharrte dieses Gesicht auf Augenhöhe neben meinem Bett und starrte mich an. In diesem Moment kam Marianne in einem weissen Nachthemd zur Türe hereingeschlüpft; sie ging mit nachdrücklichen Schritten um mein Bett herum, mehrere Male hintereinander, bis sich das Unwesen verzogen hatte. Dann erst schlief ich richtig ein. – Es scheint, als würde meine Frau mich sogar noch im Schlaf behüten. Dass sie mich bei der Sonntagsmesse in ihr Gebet einschliesst, wusste ich ja; aber dies…

 

26.09.2005  Die Einblicke in die andere Wirklichkeit, die einem beim Einschlafen zuweilen vergönnt sind, werden oft dadurch eingeleitet, dass man im Dunkeln eine Tür sich öffnen sieht. Man sieht mit geschlossenen Augen, wie eine Türe von selbst aufgeht.

Was ich mangels eines besseren Ausdrucks als andere Wirklichkeit bezeichne, könnte man auch Zwischenreich nennen.

 

13.10.2005  Gestern Abend legte ich mich, als ich nicht mehr lesen mochte, zurück und löschte für eine Zeit lang das Licht. Ich lag still, ohne einzuschlafen. Dabei registrierte ich alles, was mit mir beziehungsweise mit meinem Körper vorging. Es war, als würde etwas an mir arbeiten. Ob sich dieses Etwas von mir lösen oder mit mir verbinden wollte, war schwer auszumachen. Tatsache ist jedenfalls, dass ich einmal plötzlich mit der Hand ausschlug, obwohl ich mich gar nicht bewegt hatte. Davon ausgehend, dass mein Astralleib im Begriff war, sich selbständig zu machen, nehme ich an, dass sich an dieser peripheren Stelle die Haftung bereits gelockert hatte. Wie gewöhnlich, durchrieselte mich jeweils ein Kälteschauer, bevor ich in der Lage war, die Toten vor mein geistiges Auge zu zitieren. Diesmal sah ich meine Mutter, aber so, wie sie in jungen Jahren ausgesehen haben mochte.

 

25.10.2005  In der vergangenen Nacht stellte sich viermal hintereinander der 3. Gang ein, bevor ich einschlief. Das erste Mal sah ich das Porträt von Rudolf Steiner vor mir, das ich vom Umschlag seines Buches «Die Wirklichkeit der höheren Welten» her kenne. Das zweite Mal sah ich Steiner, indes ich seinen Namen auf der Zunge hatte, leibhaftig vor mir; er war von Kopf bis Fuss in Schwarz, so wie er mir im Garten seiner ehemaligen Villa erschienen war, die ich in Dornach aufgesucht hatte. Das dritte Mal, das besonders intensiv war, hatte ich das Gefühl, gewürgt zu werden, und fürchtete um mein Leben. Das vierte Mal sah ich zunächst nur ein Stück von einer Hausmauer, die aus Backsteinen bestand und von herbstlichem Efeu überwuchert war. Dann erweiterte sich das Mauerstück zur Fassade einer Häuserzeile, die auf einmal in Bewegung geriet, als würde ich auf einem Fluss an ihr vorübergleiten; es war jede Einzelheit überdeutlich wie auf einem präraffaelitischen Gemälde zu erkennen. Dabei hatte ich das Gefühl, dass sich meine Arme langsam in die Höhe hoben, als würde ich von den Toten auferstehen und in den Himmel auffahren. Aber natürlich hob sich nur der Teil meiner Arme, der unsichtbar ist, in die Höhe.

 

25.11.2005  Derjenige, der sich den anderen gegenüber durch ein erweitertes Bewusstsein auszeichnet, wird von ihnen, je nachdem, ob sie ihm gewogen sind oder nicht, als abnormal oder als paranormal betrachtet.

 

06.12.2005  Von dem, was ich in der Dunkelheit gesehen habe, ist mir vor allem das Gesicht einer grobschlächtigen Frau in Erinnerung geblieben, die verfilztes Haar und ausgebrannte Augen hatte. Die abstossende Visage einer gemeinen Person aus einem früheren Jahrhundert, die mich an niemanden gemahnte, den ich kenne.

 

18.12.2005  Ich habe allen Grund zur Annahme, dass es die Chakras, von denen in der esoterischen Literatur die Rede ist, die astralen Energiezentren, tatsächlich gibt. Das erste davon muss sich im Genitalbereich befinden.

 

23.02.2006  Verfolgt man Strindbergs geistige Entwicklung, so erstaunt es einen, wie schnell er sich von Nietzsche, dessen Bedeutung von ihm als einem der ersten erkannt worden war, wieder abwandte. Das ist jedoch nicht so verwunderlich, wenn man bedenkt, was er von Nietzsche schon kurz, nachdem er ihn persönlich kennengelernt hatte, für Briefe bekam. Aus diesen Briefen sprach der unverhohlene Wahnsinn. Sie schreckten Strindberg, der sein Leben lang von der Angst besessen gewesen sein soll, wahnsinnig zu werden, ab. Dass der Held des Romans, den er in dieser Periode schrieb, auch im Wahnsinn endete, ist gewiss kein Zufall. Für mich ist Strindberg insofern wichtiger als Nietzsche, als meine Entwicklung denselben Verlauf genommen hat wie diejenige von ihm. Das zeigt sein Spätwerk von «Nach Damaskus» bis «Das blaue Buch».

 

19.03.2006  Im theologischen Wörterbuch wird die Hölle als «Selbstausschliessung aus der Gemeinschaft mit Gott» definiert. Sollte diese Selbstausschliessung einer Selbstausschliessung aus der Gemeinschaft mit den anderen gleichkommen, dann würde diese Definition eine soziomorphe Anschauung von Gott voraussetzen, mit der ich mich nicht einverstanden erklären könnte. Kann man sich nicht auch aus der Gemeinschaft mit den anderen ausgeschlossen haben, ohne deswegen aus der Gemeinschaft mit Gott ausgeschlossen zu sein? Wenn nicht, dann wäre ich schon lange in der Hölle.

Die Gemeinschaft mit Gott fällt meines Erachtens erst nach dem Tod mit der Gemeinschaft mit den anderen zusammen.

 

31.03.2006  Gestern war ich, trotz des anhaltenden Regens, auf dem Warenmarkt. Ich hielt mich an den Bücherständen auf, von denen der eine von einer Sekte aufgeschlagen worden sein musste. Von einer Sekte, deren Anhänger, ähnlich wie die Zeugen Jehovas, ein «biblisches Christentum» vertreten. In den Propagandaschriften, die auf den Tischen auflagen, ging es unter anderem darum, die Punkte aufzuzeigen, in denen die katholische Kirche von der Lehre der Bibel abgewichen ist. Es gab darunter auch Broschüren in arabischer Sprache. Da sah man wieder, dass die Religion nicht nur von äusseren, sondern auch von inneren Feinden bedroht wird. Von wem werden solche Sekten gegründet? Von rechthaberischen und besserwisserischen Kleingeistern.

 

15.06.2006  Die Augen geschlossen, sah ich mich in einem dunklen Kellerraum. Das Fenster, dessen Gitterflügel ich ausgehängt hatte, war zugemauert. Ich ergriff einen Besen und begann, die staubbehangenen Spinnwebfäden aus der Fensternische herauszufegen. Da sah ich in der Ecke links oben die langen Beine einer schwarzen Spinne, die angespannt federten, als wäre sie zum Sprung bereit. Ob es mir gelingen würde, sie mit dem Besen totzuschlagen, war ungewiss. Deshalb liess ich von meinem Vorhaben ab.




Samstag, 20. September 2025

Bzw. ۲ ۷ ۳ [»beständiges«: vier (zeitgemäße) Gedichte von Martin Westenberger]



[»Stayin' Alive«, Goedart Palm (2025)]



 

Consistency is contrary to nature, contrary to life. The only completely consistent people are the dead.

[Aldous Huxley »Do What You Will: Twelve Essays« (1929)]





[»Schöner Wohnen«, Goedart Palm (2025)]





morgenprotokoll



vom sitzungstisch erhoben, man sprach über

eingespielte sprengsel der werbenden welt,

immerzu das versprechen, bald

schweben zu können, im bedarfsfall

auch fliegen.


der individualhubschrauber, den man uns

schon vor langer zeit zugesagt habe,

nichts sei daraus geworden, der bloße

gedanke an ihn heute ein beschämender

anachronismus, frohlockender tanz der

lächerlichkeit.


das rennboot vor st. tropez, darüber ein

genaues protokoll

zu führen, ob es dieser runde

auch nur ein einziges mal

gelungen sei, ein

genaues protokoll

zu führen.


jeder hier wisse, es müsse

nur einmal

gelingen, dann endlich

könne man

zur anderen seite gelangen.


hören sie doch auf mit ihren reden,

die andere seite, die andere seite,

niemand habe sie je gesehen,

schon gar nicht

durch genauigkeit.


es war noch dunkel, beim treppenabstieg

sternschnuppen, die zum wünschen aufforderten.


die katze lief versuchsweise

richtung fresstopf,

begleitet von einer sprache, die

sie sich für menschen

ausgedacht hatte.


draußen dieselmotor rumpeln,

ein fahrradständer klappte ein,

wellengurgeln, vogelflug.


dann ging der wecker an,

unzeitgemäß.



die frikadelle


gemahnt geschmacklich

an eine mit aprikosen gefüllte

zigarrenkiste, zur weihnachszeit

von lkw reifen überfahren,

anfang januar

von einem clochard

an den ufern von paris

wieder mit pattex zusammengeklebt

u. erschnüffelt.



nucleus autobahn


staublandschaft mit straßenkegel,

in ein helles grau gegeben,

sommersonne, jugendsegel,

selbst im hinterhof noch leben.


immer jeans u. immer jung,

auch im späten tageslicht,

wege, wege, kartendung,

weite welt um kleinen wicht.


hoffnungsvolles gummi geben

mit dem blick zum brombeerstrauch,

selbst beim tanken volles leben,

sonnenbrillenstill gehaucht.


gustav gans u. wie sie heißen,

weise einkehr, weiter blick,

geldspeicher u. dollars scheißen,

immer denken, fick, fick, fick.



das beständige


erschien als ruhiger atem,

nur tangiert von der zigarette

vom abend, im zwiegespräch mit

dem behaupteten ruhigen ich,


unberührt von

den gemeldeten u.

den in aussicht gestellten

katastrophen.


mit körper u. zähnen

in den spiegel gelacht,

ausdruckslos wie ein schädel

ohne pneumatische haut,


etwas kritisches meldete sich,

rettung der welt

während die zahnzwischenräume

gebürstet u. gespült wurden.


wo noch

wirst du dich engagieren,

die funkelnden sterne,

wer weiß,


wie zeitgemäß sie noch sind.

macht nichts, sagte einer

vom renovierungsteam

fleischfarbene rolle.



Mittwoch, 20. August 2025

Z. Z. LX [»Crystal Rose XIV« (2025)]

 


[»La Belle Liseuse«, Léon François Comerre (1850 – 1916)]



Well, you can do anything
But lay off of my blue suede shoes 

[Carl Perkins]




[»Almosen«, Pierre Duval Le Camus (1790 - 1854)]



Es heißt, dass die Armen fünfhundert Jahre vor den Reichen ins Paradies eingehen werden. Durch Almosen kauft man den Armen etwas vom Paradies ab.

[Elias Canetti »Die Stimmen von Marrakesch« (1967)]



Crystal Rose


Das mit dem Merken ist so eine Sache. Es wird schlimmer. Daß ich was nicht mehr weiß. Mein Gott, die Namen von anderen Leuten, das ist nicht wichtig. Die kann man sich auch aufschreiben oder sogar vergessen. Aber wenn ich jemandem etwas sagen will, worauf es mir ankommt, und es ist einfach weg, dann brauche ich manchmal Tage und Wochen, bis es wieder kommt, bis ich die Frage beantworten kann. Als würde ich Fragen in so einen Apparat schmeißen, und der arbeitet immer weiter und spuckt irgendwann, wenn ich gar nicht mit ihm rechne, die Antwort aus. [Inge Reitz-Sbresny »Besuchszeit« (1989)]




[»La Blanchisseuse«, Henri de Toulouse-Lautrec (1864 - 1901)]



Man wollte auf solche Veranstaltungen nicht mitgenommen werden. Die Schwester konnte ja auf einen aufpassen. Aber darüber gab es Streit. Denn die wollte selber ausgehen, oder brachte, wenn die Mutter nicht da war, jemanden mit nach Hause. Das war nicht Verwandtenbesuch, was normal gewesen wäre. Und der wäre aber auch nicht mitgebracht worden, sondern kam, weil Kirmes war, oder Geburtstag. Wen die Schwester da mitbrachte, der gab sich als eine Art Onkel, obwohl er dafür eigentlich zu jung war. Eine gewisse übertriebene Freundlichkeit deutete darauf hin, dass man im Weg war. Auch war die Schwester mit dem Kotrollieren der Hausaufgaben schnell durch und wollte durchaus nicht bemerken, dass eine ziemliche Menge überhaupt noch fehlte. Also raus, schon mal spielen gehen, jetzt, wo draußen kaum jemand anzutreffen sein würde. Na schön, man war jedenfalls mal wieder überflüssig. Wenigstens regnete es nicht. Rumms, die Tür zu. Schlüssel brauchte man nicht, Heimkommenszeit war, wenn es begann dunkel zu werden. Dann würde auch die Mutter wieder da und folglich der Besucher schon gegangen sein.

Endlose Stunden konnten das bis dahin sein, dann aber mit der Zeit mehr und mehr solche, in denen das Herumstreunen in wohliges Mit-sich-selber-sein überging. Zum Marktplatz lief man durch das Gässchen, das zwar einen Namen hatte, aber von allen nur das Gässchen genannt wurde. Auch andere Wege oder sogar Straßen hatten offizielle Namen, die musste man wissen, wenn man mit dem Bus fuhr, oder man las sie in der Zeitung. Daran sah man, dass Leute von sonstwo her, eben Fremde, waren und sich nicht auskannten. Der Marktplatz war natürlich ein solcher nur, wenn Markt war. Wann das regelmäßig der Fall war, wussten die Erwachsenen, also zum Beispiel die Mutter, die eine Meisterin darin war, auf dem Markt einzukaufen. Kinder wurden da wie welche behandelt, die eben von nichts eine Ahnung hatten. In den Kaufladen wurde man dafür geschickt, am besten mit einem Zettel und Mutters großem Damengeldbeutel, einem ausrangierten Stück, ähnlich denen, wie sie die Frauen mit ins Theater nahmen. Die Schwester hatte neuerdings auch so einen und tat furchtbar wichtig damit. Er roch nach Lippenstift und Puder. Einmal hatte er ihn aufschnappen lassen, und neben ein paar Münzen ist ein kleines Päckchen herausgefallen, da war etwas Wabbeliges wie ein ziemlich großer Ring darin, und die Schwester hatte sich schrecklich aufgeregt und ihm sogar auf die Finger gehauen. Ihre Sachen würden ihn schon mal gar nichts angehen! Den Puder- und den Lippenstiftgeruch bekam man gar nicht mehr so bald aus der Nase. Und er hielt sich auch endlos lange, wie in Mutters Museumsstück. Einen Lippenstift hatte sie noch, und dass sie ihn benutzte, hieß, dass sie länger ausblieb. Wenn sie dann nach Hause kam, war sie meist komisch, und von dem Lippenstift war auch nichts mehr zu sehen.

Wissen Sie, mir wachsen die Nägel ins Fleisch, Albin, was das Gehen mühsam macht. Sandalen sind nicht mein Ding, vielleicht aber meine Rettung; vorerst beuge ich mich noch dem althergebrachten Kunsthandwerk.

Stecken Sie sich noch ein Kokablatt in die Backe.

Wird es helfen?

Es schadet eher nicht.

Was mich hierher verschlagen hat, fragten Sie.

Nicht allein die Füße.

Abstand.

Nur zu.

Namen.

Möchte man vergessen.

Kalkablagerungen. Früher oder später nimmt das Vergessen sowieso überhand. Es sprudelt nicht mehr. Die Quelle versiegt. An manchen Stellen bleibt die Platte hängen: dreiunddreißig Umdrehungen mit kratzenden Verzögerungen.

Man wird zurückgeworfen, braucht einen kleinen Anstoß.

Gerät in Vergessenheit.

Oder nach Bolivien.

Bolivia. Das klingt wie ein Glaubensbekenntnis; eine Unabhängigkeitsvision.

Bolívar Blues, King Creole. - Noch ein Kokablatt?

Bitte.

Das Heilige und das Profane stellen eine Alternative dar: heilig sind die Gegenstände hinsichtlich dessen, worin sie gründen, also der Zeit im Sinne des mitlaufenden Anfangs.

Das Kreisen des Vinyls auf dem Plattenteller.

Der von Rille zu Rille sich selbst begegnende Schall, zu Stimme und Klang erst werdend, wie die Nadel ihn abtastet auf ihrem Weg.

Als heilig, im Sinne von unversehrt, kann kein Lebewesen gelten: Allem Lebenden wohnt Versehrtheit inne. Die bloße Vorstellung eines gedachten Gegenteils schafft für die Vielen indes einen jenseitigen Trost, den aufzugeben einer Vernichtung gleichkäme.

Die Idee der Liebe als Heilsereignis.

Mit Almosen festigt sich das Unheil, während die Sonne, da sie keine Wahl hat, aus sich heraus scheint. Zügig würde man sich vermutlich darauf einigen können, je nachdem freilich, mit wem man es zu tun hat, dass die erzwungenen Heilsbezeigungen für die Führer nur dem Unheil huldigen, noch dazu zum Schein. Groß ist die Verlockung, auch die offiziellen Heiligsprechungen einer Prüfung zu unterziehen, etwa in Hinsicht darauf, ob sich ein befasster Kardinal oder gar der Selige selber beispielsweise an Knaben verging, oder solches vertuschte, die Bayreuther Festspiele besuchte, sich auf einer Kreuzfahrt sonnte, oder Bestechungsgelder horte.

Die Seligen und die Heiligen leisten durch ihre milde Hingabe ihren pflichtschuldigen Beitrag dazu, dass sich Wohlbeleibte etwa den Genuss einer kostspieligen Zigarre gönnen dürfen und sich weiterhin in der Sicherheit wiegen, dass alles so bleibt, wie es ist. Der Wohlbeleibte und -betuchte nährt das Elend, Grund für das Eifern der Gesegneten nach dem Erwerb des blendend bleibenden Schatzes im Himmel.

Um nicht vor der Wirklichkeit, die ja Spuren hinterlässt, zu desertieren, bleibt allemal die Weigerung, sich mit ihr einverstanden zu erklären: Der Spielraum ist groß, aber wenige machen auch nur den Versuch.

Bolívar Blues. - Je übertriebener die Selbstdarstellung ausfällt, desto mehr Rettung verspricht man sich offenbar davon; Offenbarungen am besten im Sekundentakt, Offenbarungen als Dauerausscheidungen von Vorstellungen; nichts weiter. Einer stellt sich vor, er müsse den höchsten bekannten Berg beklimmen, nur dann sei er gerettet, heilig gewissermaßen vor sich selbst, in einem imaginären Paradies eben. Die altvertraute bipolare Logik: Gibt es kein Jenseits, kann es auch kein Diesseits geben. Und schon ist man in die Falle der Ideen geraten, aus der Wolkenkratzer, Mittelstreckenraketen, Kernspaltungen, Radios, Kraftfahrzeuge -

Panzerschokolade, Verhütungsmittel, Rock 'n' Roll, das Geld, die Wahrheit, Freiheit und Gerechtigkeit sowie ihre stets gegenwärtigen Gegenteile, ein allmächtiger Gott, sein Sohn, der Brief des Paulus an die Kolosser, die zehn Gebote, Mohammeds Himmelfahrt, die vierundzwanzig Golfregeln, Fußball, Baseball, die Gesellschaft, der Bebop und der Staat heranwuchsen.

Well, you can do anything but lay off of my blue suede shoes.

Die Rettung des Planeten; wenn nötig mit Gewalt.

Biggest deal ever.

Beim Golfen gerät noch so manches Verbrechen in Vergessenheit: Konzentration und Disziplin.

Verhandlungssache: Der Klügere zieht den Schwanz ein.

Allmachtsphantasien: »In God we trust«. - Alles sagen: Poesie.

Schweigen. - Irgendwann sind die Batterien leer und die Nadel springt träge hin und her zwischen den Rillen; man bleibt hängen bei verpassten Chancen, kleinen Peinlichkeiten oder eingebildeten Triumphen und Niederlagen. Wie wäre mein Leben verlaufen, wenn ich damals mit Forugh durchgebrannt wäre?

Es ist nirgendwo besser.

Die Gelegenheit bot sich. Ob wir wohl gemeinsam melancholische Wiedergeburten erfunden, das schöne Sterben der Blumen in der Vase betrachtet hätten? Das Schachspiel? Die Macht der Zahlen, Evolution und Gravitation.

Die Idee der Liebe als Heilsereignis: Affektenlehre. Geh oder bleib, Attacke oder Flucht, also Kapitulation.

Die Idee der Liebe als Heilsversprechen: Land of make believe.

Das Heilsversprechen der Liebe, wenn auch ohne Leidenschaft.

Warme Limonade.


O Crystal,

Crystal Rose, o Crystal Rose,

I've always known that you were close

To me somewhere, sometime.

Somehow.


I tried to find the heaven in your eyes,

But you were just another fallen angel

With rosy cheeks,

O deep blue skies!


O Crystal,

Crystal Rose, o Crystal Rose,

You've always been, you've always been

My thorny destiny,

And we both know that we can't live

Without each other, you and me,

O Crystal Rose, my destiny.


You are my rose, my drug, my paradise.

O Crystal Rose,

You are my rose, my drug, my truuuuuuuth, my paradise.

O Crystal,

Crystal Rose.


Das Heilsversprechen der Liebe in ihrer christlichen Schalheit, wenn sie an die Stelle der Leidenschaft tritt; diese ihrerseits abgesunken zur Werbebotschaft der Warenillusionen des Konsums; die Institution der Ehe als Mischung aus beidem, und folglich die Familie als Säule des konservativen Gesellschaftsmodells: man möchte glauben, genau das ist der Gegenstand der Leidenschaft und folglich des Leidens Christi, wenn auch natürlich in seiner antiken Variante.

Nun also die misslungene Flucht in einen stümperhaften Selbstmordversuch, noch dazu in seiner wenig kühnen Variante des Schluckens von Schlaftabletten; so als sei der Tod dann doch, wenn auch ein etwas ruppiger, aber eben bloß ein Verwandter des Schlafes. Man legte die Röhrchen ordentlich beiseite und stellte das Wasserglas umgedreht zum Trocknen auf die Spüle. War man Pantoffelträger, dann also die Pantoffeln hübsch ordentlich vors Sofa. Auch Bierflaschen lagen nicht kreuz und quer auf dem Teppich. Mit drei oder vier davon hatte Albin sich ein wenig betäubt für diesen letzten entschiedenen Schritt; hatte davon auch noch einmal zur Toilette gemusst, alles wie im Leben, war aber darum umso entschlossener, ein für alle Mal Ernst zu machen. Er würde es nicht mehr aushalten können, Schluss und aus! Keine Rührseligkeit, etwa Tränen über sich selber, dann schon eher Zorn, und ach, eine schwere Müdigkeit, der Augenblick kaum noch zu bemerken, als der Schlaf sich allmächtig auf ihn herabsenkt.

Der Geruch, eine Mischung von Medikamenten und heftigen Schweißfüßen, daneben die monströse Lächerlichkeit eines gewaltigen Schnarchens und der blödsinnig friedliche Gesichtsausdruck des Schläfers. Sehr wohl protestierte der, während der Arzt, sich über seinen Zustand vergewissernd, ihn behorchte und befühlte, würde aber gewiss nicht aufwachen, so bald jedenfalls nicht. Nein, Lebensgefahr bestehe durch die Einnahme dieser Tabletten nicht, allerdings könne einem sehr übel werden davon. Ihm selber wäre schon übel von dem Alkohol, den der Patient sich offenbar zur Beruhigung vorher verabreicht hatte. Also lieber die scheußliche Suppe schön sauber im Krankenhaus aus dem Magen pumpen. Außer einem gewaltigen Kater würden weitere Folgen nicht zu befürchten sein. So, wie er den Albin kenne, sei er das aber eher gewohnt, leider, wie er meine. Eine größere Dummheit sei es aber schon gewesen, diesmal.

Das Mercedes-Krankenauto der damaligen Epoche war ohne Blaulicht und Tatütata gekommen, weil die Einmannbesatzung ohnehin zu keinerlei Eile in der Lage gewesen wäre. Es musste vor Ort erst ein Nachbar herausgeklingelt werden, der tragen half. Der war ein braver Berg- oder Hüttenmann, der vor einer Stunde von der Nachtschicht nach Hause gekommen war und nun bei Radio und Zigarette in der Zeitung blätternd in der Küche sein Bier trank und ins Bett fallen wollte, bevor die Kinder Unruhe verbreiteten mit ihrer Hast rechtzeitig zur Schule zu kommen. Jetzt das Klingeln und unten das Krankenauto. Der Rote-Kreuz-Mann dann auch tatsächlich noch ein Kollege von der Arbeit, der als Aushilfskraft in seiner Uniform mit dem weißen Kittel darüber vor ihm stand. Du, Heinz? Das ist ja ... Einen raustragen helfen. Eins höher, bei den Wagners. Junger Mann? Ach, der Albin!