„I am attacked by two very opposite sects, - the scientists and the know-nothings. Both laugh at me – calling me the frogs' dancing master. Yet I know that I have discovered one of the greatest forces in nature.” – GALVANI
(in SOME FURTHER EXPERIMENTS ON PSYCHIC FORCE. By William Crookes F.R.S. &c. in "The Quarterly Journal of Science", October 1871)
Aria con Variazioni
Die Freie Rhein-Anthropozentrische Universität Mettmann ist wahrscheinlich die einzige Bildungseinrichtung, die jeden, der durch den Haupteingang eintritt, mit einer gastfreundlichen, achteckigen Cafeteria empfängt. Die sündhaft teuren, bunten Tische, Stühle und Sofas, schlängeln sich auf einer vierzig Zentimeter hohen Empore, in einer konzentrischen Formation um einen Skulpturbrunnen.
Hier bekommst du bald deine Promotionsurkunde ausgehändigt. Den Beweis, dass es wert war, durch die Hölle des australischen Outbacks zu gehen.
Siehst du, da steht er, der Gottvater der Anthroposophie, Dr. Rudolph Steiner. Kunstvoll abgehoben, windet sich die Natter der Medici um seinen Arm. Versuchte sie lautlos einen Blick von ihm zu erhaschen, oder erstarrte sie zum Sinnbild des Zuflüsterns, des Überbringens des geheimen, verborgenen Wissens über die Wahrheit der Welt? Der ganzen Wahrheit in ihrer undenkbaren Vollständigkeit und wirklichen Vollkommenheit?
Nein, nein – es ist wirklich beeindruckend!
Böse Zungen außerhalb der Universität behaupteten, der Künstler habe im Gestus des Kaltblüters die narkotisierende Falschheit und kaltblütige Scharlatanerie der Steinerschen Lehre meisterhaft eingefangen. Dabei überstrahlt er doch wie ein einfacher, fürsorglicher Gärtner mit einer glänzenden Gießkanne in der Hand gütig lächelnd seine Jünger, die sich ihm ergeben zuneigen, wie Tulpen, nein, wie schöne Lilien, die sich nach den märchenhaften Jünglingen sehnen, denen es einst gelang, die Brücke zur Freiheit zu überqueren.
Ich weiß noch, dass der Bildhauer bei der Enthüllung sagte: Der Geist des Wassers überträgt Steiners Geist auf seine Gefolgschaft. Wohl inspiriert von seinem eigenen Werk, etwas voreilig, schlug der Mann der bildenden Kunst sogar einen Slogan für die Hochschule vor: Begeistert atmen und in Freiheit wachsen. Aber da hatten wohl noch andere ein Wörtchen mitzureden.
Man sagt, schon bei den ersten Absolventen habe der Brunnen im Mittelpunkt des Entlassungsrituals gestanden. In einem langen, einstudierten Singspiel durchliefen sie vor den Augen der versammelten Studenten- und Elternschaft ihre Hochschullaufbahn: Mein Lebensgang.
Die Stafette, in die auch Alumnis und Lehrkräfte mit leuchtenden Fackeln eingebunden waren, wie Irrlichter, die goldbeladen nach dem alten Fährmann Ausschau hielten, der sie übersetzen würde, um eilig an das Ufer zu gelangen, an dem sie schon immer zu sein wünschten – würde am Brunnen beginnen, mit einer ersten, symbolischen Berührung des Wassers.
Ein märchenhaftes Ritual!
Sie spielten Szenen des Leidens und Freuens nach.
Schließlich würden sie zum Ausgangspunkt zurückkehren, um aus dem Brunnen ein letztes Mal einen satten Schluck zu nehmen.
Jeder Bakkalaureus würde sein an einem roten Faden befestigtes Tongefäß mit dem Nass des plätschernden Brunnens füllen. In einem Korb würden sie je drei Kohlköpfe, drei Artischocken und drei große Zwiebeln tragen.
Mutter wird weinen. Wenn Vater das hätte erleben dürfen, wird sie denken.
Beim tosenden Applaus des Publikums verließen sie anschließend unter Begleitung des frenetisch Richard Straussens allseits bekannte Zarathustra-Akkorde aufspielenden Hochschulorchesters das Oktagon, um im Geiste des Wassers die Welt zu verändern.
Man munkelte, dass die Idee des Rituals von einem sozialdemokratischen Landrat, einem Förderer der Hochschule, stammte, der enge Kontakte zum Wissenschaftsrat pflegte, der wiederum, obwohl bedeutende Auflagen von der Hochschulleitung noch nicht erfüllt werden konnten, die Akkreditierung der Hochschule der Landesregierung empfohlen hatte. Der Sohn des besagten Landrats, der in einem privaten englischen Internat sich gerade auf das Leben eines deutschen Elitepolitikers vorbereitete, soll ihm den Tipp gegeben haben.
Nach dem Bombenerfolg der ersten Aufführung war klar, dass die Zeremonie weiterentwickelt werden musste.
Für das optische Arrangement boten die sieben Fakultäten der Universität vorteilhafte Konstellationen. So konnten die sieben Leiter der sieben Lehrstühle, in der Formation eines Pentagramms um den Brunnen herum von einem Podest aus ihre Abschlussreden halten und die Urkunden ihren jeweiligen Schützlingen reichen, die ihrerseits ihre Dankesreden hielten.
Man hatte es versäumt (oder war es Absicht?) eine Kleidervorschrift zu erlassen. So kam es, dass vor einigen Jahren Joan C. Collins, die Leiterin des Lehrstuhls für Neurogenetik, und ihre Absolventen in langen, purpurnen Kutten mit überdimensionierten Kapuzen auftraten. Kein Wunder, dass im Jahr darauf alle anderen Lehrstuhlinhaber sich ebenfalls etwas Originelles haben einfallen lassen.
Der ehemalige, bei einem bedauerlichen Zwischenfall schwer verletzte und später verstorbene Professor für Neuropsychologie (der von einem Studenten, der wohl eher eine Therapie als eine Ausbildung benötigt hätte, attackiert und am Kopf schwer getroffen wurde) erwartete von seinen Absolventen eine originelle, ihre Individualität und Persönlichkeit reflektierende Verkleidung und Maskierung.
Ich muss noch anmerken, dass der Fall dadurch einen leichten Schatten auf die Universität warf, dass in der kostenlosen Mettmanner Lokalzeitung ein Student, der anonym bleiben wollte, behauptet hatte, dass es sich um Mord handelte. Er behauptete weiter – ohne allerdings Beweise vorlegen zu können –, dass die Universität an geheimen Projekten beteiligt sei und jener Professor vorhatte, Projektinternes der Öffentlichkeit preiszugeben. Er schien gelogen zu haben, denn niemand sah sich veranlasst, seine Behauptungen zu untersuchen. So geriet die Sache schnell in Vergessenheit.
Frau Dr. Sandra Ochseck, meine junge und hoch qualifizierte Professorin, die seine Nachfolge angetreten hatte, war von dem Zirkus gar nicht angetan, beließ es aber dabei, denn das Tragen von Masken hatte sich durchgesetzt: mittlerweile trugen alle Teilnehmer der Veranstaltung bunte und phantasievolle Masken.
Rektor Bayersand hatte sich anfangs tatsächlich dagegen gesträubt („nicht, dass wir hier zum Karnevalsverein verkommen…“). Aber das Echo der Medien war durchweg sehr positiv und pries die gelungene Identitätsstiftung als vorbildlich.
Seine Sorge war wahrscheinlich auch unbegründet. Die kultivierte Gestaltung und die edle Ausführung der sündhaft teuren Masken erinnerte eher an den legendären venezianischen Maskenball, als an die ordinären Straßenzüge von Köln oder Düsseldorf und verlieh dem Ganzen einen mystischen Touch. Um die adriatische Referenz zu sichern, hatte man der Zuschauertribüne die Form einer riesigen Gondel gegeben. In der Pause, zwischen dem Festprogramm und der Überreichung der Zertifikate, strömten aus einem Lautsprecher bekannte italienische Weisen.
Es verwunderte nicht, dass Professor Absingh, der mitunter die spektakulärsten Forschungsergebnisse vorzuweisen hatte, ein gebürtiger Pakistani und Neuroinformatiker mit Erfahrungen in der Computerindustrie sowie ein glühender Anhänger der Private-Public-Partnership, seine Studenten als Roboter auftreten ließ.
In Vorbereitung auf meine Doktorarbeit habe ich mich neben der Kultur der Aborigines auch mit Mazda und Zarathustra befasst. Die historischen Quellen boten allerdings wenig Material. In meiner Arbeit hatte ich die Entstehung des menschlichen Bewusstseins untersucht, um die Verbindung der Menschen mit ihren Göttern zu verstehen. Verblüffenderweise kennen nämlich Aborigines keine Götter. Sie kennen keinen Glauben. Schon auf die Frage, ob sie denn glaubten, dass die Regenbogenschlange wirklich existiert habe, reagierten sie, als hätten man gefragt, ob sie glaubten, dass sie atmen.
Ich ging von einer älteren, vom Mainstream der Wissenschaft nicht akzeptierten Theorie von Julian Janes aus, der sich zunächst mit der Erforschung der Schizophrenie beschäftigt hatte. Er fragte sich, wie es kommt, dass manche Menschen Stimmen hören.
Die Kommunikation läuft auf einer doppelten Ebene ab, die es nicht erlaubt, klare eigene Entscheidungen zu treffen. Der Schizophrene bedroht seine eigene Identität, welche Entscheidung er auch immer trifft. Seine These war, das „Stimmenhören“ sei nichts anderes als ein Rückfall in eine Zeit, in der die linke und die rechte Hirnhälfte des Menschen noch unabhängig voneinander funktionierten und alle Menschen „Stimmen hörten".
Diese Stimmen von der rechten Hirnhälfte sind es, die in den alten Mythen und Religionen als göttliche Offenbarungen beschrieben werden. Die Propheten des Alten Testaments sprachen, wenn sie das Wort Gottes verkündeten, eigentlich die Eingebungen ihrer eigenen rechten Hirnhälfte aus.
Eigentlich hatte ich in meiner Doktorarbeit vor zu untersuchen, was im Gehirn geschieht, wenn jemand gerade an Gott glaubt. Ich wollte wissen, warum man den Propheten glaubt. Wie tut man es? Was läuft dabei im Hirn ab? Welche Gefühle werden wach? Was im Gehirn bringt den rituellen, kollektiven Akt des Glaubens zustande? Wodurch wird die von den Propheten behauptete Gegebenheit von Gott zu Wahrheit?
Aber weder Neurologie noch Psychologie lieferten mir die Antworten.
Schon die Wirklichkeit viel einfacherer, nahe liegender Erscheinungen, wie zum Beispiel einer Zwiebel oder eines Sandkorns, führten an den Rand des mentalen schwarzen Loches, des blinden Flecks: So bald begriffen, erstrahlten Wahrhabung und Wahrgebung in einem letzten Funken von Verstand. Von der zerstörerischen Kopfvernunft getrieben, sagte ich dann: Es könnte auch anders sein. Ich – glaube, es könnte auch anders sein!
Wissen und Glauben sind eineiige Zwillinge, weißt du, die sich unbeobachtet gegenseitig verzehren.
Du kann sie befrieden, sagte Rangurrayi, wenn Du sie siehst. Er lachte genüsslich: Dann werden sich die Zwillinge nicht mehr gegenseitig auffressen, sondern sich von der Welt ernähren. Es wird dich stark machen.
Die Zwillinge in der Geschlossenen Abteilung fielen mir ein …
Hertha stand am Fenster im Morgenrock. Hubert lag immer im Bett und stand nie auf, weißt du?
Ich verglich die Geschlossene Abteilung mit einem Zoo. Die Viecher werden eingesperrt und gefüttert und, wenn es nötig ist, gewaschen. Sie sind exotisch, faszinierend und sehr verschieden. Die Käfige werden sauber gehalten. An jedem Käfig befindet sich eine Tafel. Die Aufschrift beschreibt das Vieh. Die Öffnungszeiten für den Publikumsverkehr sind streng reglementiert. Das Personal geht freundlich mit den Bewohnern um. Leichen werden zügig entsorgt.
Als kleines Kind, hatte ich einmal im Kölner Zoo gesehen, wie eine tote Schlange mit einer Schubkarre aus dem Käfig gebracht wurde.
Sie hieß Golda, sagte die Tierpflegerin, mit Tränen in den Augen, und sie war sehr alt.
Das ist ein Unterschied, dachte ich.
In der Geschlossenen Abteilung würde niemand eine Träne für einen toten Patienten vergießen.
Mit den eineiigen Zwillingen Hubert und Hertha Schlattner war eine Unterhaltung nicht möglich – sie sprachen kein Wort.
Die beiden waren dem Projekt 3 zugeordnet – sehr interessante Fälle. Sie hatten eine genetisch bedingte Stoffwechselstörung im Zentralen Nervensystem, die dazu führte, dass sie die Welt vollkommen anders wahrnahmen, als es normale Menschen tun.
Ihre innere Uhr tickte anders.
„Ihr Ereignishorizont ist verschoben“, sagte Martha. „Bei Hertha lief der Stoffwechselprozess sehr viel langsamer, beim Hubert dagegen sehr viel schneller ab als bei normalen Menschen.
Das führte dazu, dass Herthas Gehirn, pro Minute nur für den Bruchteil einer Sekunde Reize aus der Umgebung aufnahm. Die übrigen neunundfünfzig Sekunden war ihr Gehirn damit beschäftigt, die aufgenommenen Informationen zu verarbeiten.
Ihr Gehirn arbeitet in Zeitlupe, man kann mit dem Computer ihren Gedankengang am Bildschirm verfolgen.“
Es war aber nicht so, dass sie die Lücken ihrer Wahrnehmung hätte erkennen können. Ihr Gehirn reihte die Schnappschüsse lückenlos hintereinander.
Dadurch ergab es sich, dass sie eigentlich keine Bewegungen wahrnahm, sondern nur statische Bilder, die entweder gar keine Änderung oder einen sehr großen Unterschied darstellten.
In ihrem Bewusstsein war die Welt sprunghaft und unberechenbar. So konnte es sein, dass wenn jemand mal kurz ins Zimmer kam und dann das Zimmer wieder verließ, sie es überhaupt nicht bemerkte. Oder jemand erschien ihr plötzlich an einem Ort und ein Augenblick später war er entweder schon weg oder an einem ganz anderen Ort.
Bei Hubert verhielt sich die Störung genau entgegengesetzt.
„Huberts Gehirn arbeitet im Zeitraffer. In der Zeit, in der normale Menschen einen Sinneseindruck verarbeiten, verarbeitet er Tausende.
Das führt dazu, dass ihm die Welt vorkommt, als würde sich die meiste Zeit nichts ändern. Dr. Absingh sagt, dass er wahrscheinlich auch Dinge wahrnimmt, die ein normaler Mensch niemals wird wahrnehmen können – zumindest sieht es am Bildschirm so aus“, sagte die Schwester.
Ich hatte Mühe, mir die Welt der Zwillinge vorzustellen.
Ich sollte Professor Absingh bitten, es mir genauer zu erklären …
Man sollte einen guten Grund wie ich haben, um Neuropsychologie zu studieren, weißt du? Kurz vor dem Abschluss wusste ich, es war die richtige Entscheidung. Ich wusste nun, warum ich von Dämonen verfolgt werde und die Selbstgespräche nicht enden wollten. Woher die Schlafstörungen und die Panik kamen. Ich konnte die Zwillinge beobachten. Es war einfach.
Die Erinnerungen an die Kirchenbesuche meiner Kindheit, an die Stelle in der Messe, wenn der Pfarrer kurz innehält, um dann leise zu verkünden: Geheimnis des Glaubens, waren leicht erregbar immer noch unter meiner Gänsehaut.
Es wurde schnell klar: das Geheimnis des Glaubens zu lüften, ist nicht Sache der Wissenschaft und auch nicht die des Pfarrers. Aber zu beobachten, was sich dabei im Gehirn abspielt, und wie die Emotion, die durch die Nähe des Geheimnisses die verräterische Gänsehaut in Form von aufgestauten und kondensiert umgewandelten elektrischen Ladungen in beobachtbare energetische Zustände versetzt – das schien zunächst machbar zu sein. Bis mir die Schlange alle Fragen aufwarf, die alle Antworten vermissen lassen. Die Schlange erschien mir in der ängstlichen Gestalt der Professorin Sandra Ochseck.
Frau Professor Sandra Ochseck, Inhaberin des Lehrstuhls für Neuropsychologie, besetzte das Büro auf der nordwestlichen Seite des Oktagons. Der Gebäudekomplex wird wegen seiner Form und in Anspielung auf den Bau des amerikanischen Verteidigungsministeriums, leicht anmaßend, Oktagon genannt. 1985 errichtet, konnte er erst zwei Jahre nach der Aufnahme des Lehrbetriebs bezogen werden.
Die acht Kanten der Zentralwabe strukturieren auf zwei Ebenen das nach innen offene Flurensystem. Entlang der Seiten sind je zwei Türen zu sehen – auf der ersten Ebene die Zugänge zu acht ebenfalls achteckigen Sälen. Auf der zweiten Ebene befinden sich die Räume der fünf Fakultätsleitungen, das Büro des Gründers und Rektors, Prof. Bayersand und zwei Konferenzräume.
Die Cafeteria im Oktagon war zwischen neun und zehn Uhr morgens am besten besucht. Da war es manchmal schon schwierig einen freien Platz, geschweige denn einen freien Tisch zu bekommen.
Wenn ich um zehn Uhr zum Termin erscheinen werde, geht es nicht mehr um die Inhalte der Arbeit. Die studentische Hilfskraft aus dem Vorzimmer steckte grinsend den Kopf rein:
„Rudi ist da…“
„Komm rein Rudi!“
Wir saßen in ihrem Büro im Oktagon. Sie schien von meinem Themenvorschlag für meine Doktorarbeit überrascht zu sein.
Es sei nicht klug, beschwor sie mich, das Phänomen der Glaubwürdigkeit von Propheten anhand von großen Religionen zu untersuchen. Die jeweilige Religionsgemeinschaft könnte schon die Fragestellung als Gotteslästerung empfinden. Es sei zu gefährlich.
Es sei nicht klug und zu gefährlich…
Natürlich verteidigte ich meine Themenwahl. Es ginge in der Arbeit weder um das Glauben noch um die Propheten, entgegnete ich. Es geht um die neurologischen und psychologischen Vorgänge, die beim Menschen stattfinden, wenn er glaubt. Es wird nicht in Frage gestellt, woran er glaubt und warum er glaubt.
Es wird nicht in Frage gestellt!
Aber Dr. Sandra Ochseck gab nicht nach. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass du das so scharf abgrenzen kannst. Bei Jesus oder Mohammed kämst du nicht um die Frage herum, die Glaubwürdigkeit von Leuten zu hinterfragen, die sich als Zeugen göttlicher Wunder präsentierten.“
„Darum geht es doch gar nicht!“, entgegnete ich, „und außerdem geht die Kirche selbst zu den Wissenschaftlern, wenn bei der Heiligsprechung, überprüft werden soll, ob der Kandidat die Voraussetzungen erfüllt – ob ein Wunder vollbracht wurde oder nicht. Wissenschaftler entscheiden letztlich, ob jemand heiliggesprochen wird! Wir sind eine anerkannte kirchliche Instanz. Wir Wissende sind die Richter des Glaubens. Oder nehmen wir den Rechtsstaat! Richter rufen uns und lassen Gutachten erstellen! Wir, Wissenschaftler richten. Der Richter spricht nur im Namen des Volkes – in unserem Namen – das Urteil!“
Professor Ochseck ignorierte den Einwand. Sie hatte bereits etwas Besseres im Sinn. „Ist es nicht so, dass dabei die gleichen Vorgänge eine Rolle spielen, die auch dann wirken, wenn jemand der Botschaft der Werbung glaubt?“
„Sicher nicht!“, entgegnete ich heftig – das war doch unterste Kajüte. „Sie können die Manipulierbarkeit der Menschen mit dem jahrtausendelangen Bedürfnis nach spiritueller Verortung nicht gleichsetzen!“
Die Schlange startete ein Ausweichmanöver: „Ich werde darüber noch einmal nachdenken.“ Sie stand auf und gab zu verstehen, dass das Gespräch beendet sei: „Lass uns am Dienstag noch einmal sprechen. Und bring mir einen Vorschlag, der meinen Einwänden Rechnung trägt.“
Das Meeting am Dienstag musste allerdings wegen einer dringenden Dienstreise von Professor Ochseck ausfallen, weißt du?
Eine Woche später staunte ich nicht schlecht, als sie einen Vorschlag für den Titel vorlegte. Und eine zweiseitige Zusammenfassung für die Doktorarbeit. Die Arbeit solle untersuchen, welche Prozesse in den Gehirnen der australischen Aborigines stattfinden, wenn sie ihre Geschichten über die Traumzeit erzählen. Sie solle in Australien gefertigt werden. Sie legte stolz ein Schreiben des Institute for Magnetic Resonance Research und ein Fax des Brain and Mind Research Institute der Universität Sydney auf den Tisch, in denen bestätigt wird, dass Herr Rudolph Sander seine Forschungen dort durchführen kann.
Was sollte ich sagen? Professor Sandra Ochseck beobachtete aufmerksam meine Reaktion und war sehr zufrieden.
„Ich kann das aber leider nicht finanzieren…“, log ich und wusste, dass das nicht nach einem ich mach es nicht und bleibe bei meinem Thema klang.
Auf diesen Moment schien Sandra Ochseck nur gewartet zu haben. „Nun, das habe ich mir schon gedacht. Du würdest etwa sechs Monate brauchen, um dich vor Ort, in den australischen Kontext einzuarbeiten und dann noch einmal ein halbes Jahr für die Arbeit. Das ist nicht gerade billig.“
Ich nickte. „Eben, daher denke ich, dass…“
Sie öffnete ihre Mappe: „Und weil ich es mir gedacht hatte“, unterbrach sie mich, zog ein Blatt aus der Mappe und schob es mir zu, „habe ich die Leitung der Spiritual Science Foundation gefragt, ob ein Stipendium in Frage käme.“
Ich hob das Blatt. Sie lehnte sich zurück. „Hier ist die Zusage zunächst für ein Jahr, unterschrieben von Steve Tasks, dem Aufsichtsratsvorsitzenden der deutschen Stiftung.“
Ich spürte, sie hatte gewonnen.
Es folgten über zwei Jahre in Australien, die mich verändern sollten. Es wurde eine traumhafte Zeit. Nach dem zweistündigen Gespräch glühte mein Gesicht. Ich blieb an der Balustrade stehen und blickte auf das rege Treiben der Cafeteria hinunter. Ich hätte Lust gehabt zu schreien. Ich ging langsam und zögerlich die Treppe hinunter.
Als würde hinter mir mit jeder Stufe ein Stück reale Vergangenheit wegbrechen. Von Chronos für immer und ewig getilgt. Als müsste jede nächste Stufe, in den Wehen des gelegenheitengebährenden Kairos, erst geworfen und entnabelt werden.
War meine Brille beschlagen oder hatte ich tatsächlich Tränen in den Augen? Gott, bin ich ein Sensibelchen! Ich blieb vor dem schwarzen Brett stehen und rieb mit einem Papiertaschentuch die Brillengläser. Nur um zu überprüfen, ob die Sicht besser geworden ist, warf ich einen flüchtigen Blick auf das schwarze, mit Papierschnipseln verschiedener Größen, Formen und Farben vollgekleckerte Medium. Schlagzeilen und Anzeigen von und für Studenten. Am Ausgang blieb ich doch stehen. Etwas am Schwarzen Brett irritierte mich. Auf einem Blatt Papier stand:
Mazda Impuls
TUV: 22.04.06
Baujahr: 57
Benzin
Privat: Nievenheim
VB.: €20.00
Etwas stimmte in der Anzeige nicht.
Nebel stieg auf …
Oder Rauch?
Alabonster, das Monster aller Monster, ein Geist wie aus der Flasche …
Seine Stimme dröhnte unhörbar …
Weißt du,
Wo du suchst, Dort findest du.
Wie du suchst, So findest du.
Was du suchst, Das findest du.
Wenn du suchst, Dann findest du.
Warum suchst du?
Wozu?
Wer bist du?
Wessen Geistes Kind?
Umgeben von den zweifelhaften Individuen wachte Rudi Sander schweißgebadet auf – ICH. Jetzt bildeten sie einen Kreis um sein Bett. Er wusste, sie würden ihm so lange nicht mehr von der Seite weichen, bis er gefunden hätte, was zu suchen war.
Der Meister und seine Tochter sprachen leise. Eigentlich war es nur Summen und Flüstern. ES war das Rauschen eines entfernten, endlosen Ozeans:
„Erkenne, damit du glauben kannst! Werte Worte nach ihrem Wesen, denn sie sind das Werden! Du sollst sie lieben, wie sie sind; ein Nicht-Gott, ein Nicht-Geist, eine Nicht-Person, ein Nicht-Bild, mehr noch: wie sie ein lauteres, reines, klares Eines sind, abgesondert von aller Zweiheit. Und in diesem Einen sollen wir ewig versinken vom Etwas zum Nichts, um wieder Etwas werden zu können“, sagte einer, der sich Lövenix nannte. „Das Senfkorn zeigt hier Tiefe ohne Grund. Schach und Matt der Zeit, den Formen, dem Ort! Der Wunderring ist Ursprung, unbeweglich steht sein Punkt. ICH werde wie ein Kind, werde taub, werde blind! Dein eigenes Ich muss zunichte werden, alles Etwas und alles Nichts treibe hinweg! Lass Raum, lass Zeit, meide auch das Bild! Gehe ohne Weg den schmalen Pfad, dann findest du der Wüste Fußspur.“
„Wie wünschte ich, ich wüsste, wer ich bin! Was in der Welt ist, welche ich will! - ich, Ich, ICH“, seufzte Rudi.
„Bekenne dich doch zu deiner Unwissenheit!“, sagte der, der sich Krebs nannte.
„Und doch gibt es in der Natur eine gewisse reine Substanz, welche, wenn sie entdeckt und durch Kunstfertigkeit in ihren vollkommenen Zustand gebracht wird, alle unvollkommenen Körper, welche sie berührt, zur Vollkommenheit verwandelt!“, sagte streitlustig der, der aus der neuen Stadt kam.
Sein Freund ergänzte: „Man findet sie auf dem Land, in Dörfern und Städten, in allen Dingen. Reich und Arm legen gleichermaßen jeden Tag Hand an sie, Diener werfen sie auf die Straße, und Kinder spielen damit. Niemand schätzt sie, obwohl sie das kostbarste auf Erden ist, das Könige und Prinzen vernichten kann. Aber man betrachtet sie als das gemeinste, niedrigste aller Dinge.“
Rudi erschauderte, heiße und kalte Wellen strömten durch seinen Körper, von vorne nach hinten, von oben nach unten – immer wieder. Er bekam eine Erektion.
„Warum quält ihr mich, da ihr wisst, keine Gewissheit konnte mein Geist empfangen, ohne auf dem Prüfstand meiner Seele als zu leicht befunden und abgestoßen worden zu sein?“, flehte Rudi. „Wer bin ich, dass Ihr glaubt, die Kraft und die Weisheit zu besitzen, eurem Widerstreit entfliehen zu können? Gott, bin ich ein Schwachkopf, dass ich glaube über meinen Geist überhaupt sprechen zu können!“
Einer aus der Runde kam näher und legte seine Hand auf Rudis Stirn.
„Es ist der Geist Gottes, der uns ein Ding auf eine bestimmte Weise und ein zweites auf eine andere Weise verstehen lässt“, verteidigte Krebs die Gruppe.
„Wie ein in einem Kreis einbeschriebenes Vieleck, das die Zahl seiner Seiten vermehrt und doch nie ein Kreis wird, so nähert sich deine Erkenntnis der Wahrheit an, stimmt aber nie ganz mit ihr überein… Wissen ist also im besten Fall Vermutung“, ergänzte ruhig Lövenix.
„Jawohl, coincidentia oppositorum, die Vereinigung von Gegensätzen führt zur Vereinigung von Gegensätzen: ein Kreis mit unendlich großem Radius hat eine Gerade als Umfang!“
„Als Luther der Medizin kann ich dir sicher helfen“, sagte bombastisch einer aus der Gefolgschaft von Hermes, einem stummen Beobachter der Szene, der eine Smaragdtafel vor sein Gesicht hielt, um sein amüsiertes Lächeln zu verbergen. Er wusste ja, was kommen würde.
„Laudatus Laudanum!“, schrie Luther und holte aus einem Beutel ein golden glänzendes Kügelchen, das wie Mäuseexkremente geformt war.
Rudi schluckte die bittere Pille.
Er fiel erneut in einen tiefen Schlaf – um zu träumen.
Als er wieder aufwachte, waren die Individuen verschwunden.
Stattdessen kam seine Mutter auf ihn zu und reichte ihm ein mit Schinken belegtes Sandwich.
Rudi erzählte ihr von den Figuren seiner Traumzeit. Sie beruhigte ihn sanft.
„Auch große Geister unterliegen Irrtümern. Täuschungen aus der Tiefe dieser Individuen sind wirr und vielfältig, ihre Dogmen trennen, was nicht zu trennen ist und führen zusammen, was nicht zusammengehört – sie bringen alles durcheinander. Sie tragen ihre Trugbilder auf den Markt und beschädigen dabei das wichtigste Instrument des zwischenmenschlichen Verkehrs – die Sprache. Auch unser Verstand macht Fehler – und diese Fehler sind am schwierigsten zu erkennen und zu vermeiden. Lerne sie zu fühlen!“
Mutters Stimme wirkte wie Balsam auf sein entzündetes Gemüt.
„Du solltest mal wieder malen, es entspannt dich doch so schön“, empfahl Mutter.
„Das ist nicht mehr so. Das Monster in mir zwingt mich in der letzten Zeit immer wieder zu versuchen, mich selbst zu malen. Könnte ich doch nur meinen Geist malen“, sagte Isidoro resigniert.
„Ich kann die Welt nicht malen, weil ich sie nicht ertragen kann“, sagte er, „im selben Maß, in dem wir durch Technik die Welt und das All erobern, haben wir auch begonnen, die Welt und uns selbst zu zerstören. Unsere Unmenschlichkeit wird nicht nur in den zwei Weltkriegen offensichtlich, im Faschismus und Chauvinismus, sondern auch in der Fremdheit und Vereinsamung in unserem modernen westlichen Alltag, ein Alltag der Vereinzelung, Zerrissenheit, geprägt von Glaubensverlust und Selbstverlust.“ Mutter schüttelte nur den Kopf.
Rudi nahm eines seiner Selbstporträts in die Hand und zerschnitt es.
„Ich habe den Schinken selbst gemacht. Schmeckt er dir?“, fragte die Mutter ihren Sohn, um ihn auf andere Gedanken zu bringen.
„Durchwachsen…“, schmunzelte Rudi.
Nun erinnerte er sich an Vaters Worte.
„Die Menschen verstehen nicht, was sie denken. Sie hören sich sprechen, verstehen aber nicht, was sie sagen. Hüte dich vor ihnen. Hüte dich vor denen, die sagen, die Wahrheit zu kennen. Zeige ihnen aber das Gegenbeispiel, das du findest, nicht. Sie könnten dich dafür töten. Halte dich fern von denen, die in spitzfindigen Diskussionen nach dem Ersten Beweger oder nach der Weltseele suchen. Wenn du etwas finden möchtest, suche es. Wenn du eine Vorstellung hast, probiere es aus. Der Traum wird dir immer den Weg weisen.“
Um seine Gedanken zu ordnen, begann Rudi, all das, was er zu wissen glaubte, in einer Tabelle, mit der Überschrift „Entitäten“ aufzuschreiben. Er zählte und nummerierte sie, ordnete sie immer wieder neu. Auf der Suche nach dem einen Bild, welches seinen Geist befriedigt und seine Seele besänftigt hätte, verlor er den Überblick.
Als die Tabelle eine Größe erreicht hatte, die auch mehrfach gefaltet, den Boden des ganzen Zimmers abdeckte, hielt er inne. Rudi kam zu dem Schluss, dass er auf dem Holzweg ist.
Sein und Denken sind unvereinbar, sagte er sich. Alles, was ich in die Tabelle eingetragen hatte, sind Verallgemeinerungen, sie haben mit den Einzeldingen nichts mehr zu tun. Das Bild, das ich entworfen habe, kann zwar in sich logisch sein, es hilft mir aber nicht, die Wirklichkeit zu erkennen. So bleibt die Welt für mich unergründlich. Ich muss sie als unverstanden hinnehmen. Ich bin unfähig, eine göttliche Ordnung in der Welt zu erkennen, so ist für mich auch der Wille Gottes unergründlich. Die Welt ist durch die menschliche Vernunft nicht beweisbar. Man kann über die Welt also nichts wissen. Man muss glauben.
Hier angekommen, begann er zu weinen. Nach einer Suche, die Tage und Nächte der letzten Monate gedauert hatte, war er an seinem Ausgangspunkt angekommen.
Mutter versuchte ihn zu trösten.
Er stand auf, ging ins Bad und holte Vaters Rasiermesser, ein sehr scharfes Gerät der Marke Ockham.
„Was machst du da?“, schrie seine Mutter verängstigt.
„Nur Ruhe Mutter, ich bringe mich schon nicht um“, sagte er.
Ich hoffe, der Junge kommt mit heiler Haut davon, sagte sich die Mutter und ließ ihn mit seiner Pubertät allein.
Er verbrachte noch einmal Wochen und Monate damit, einzelne Zellen der Tabelle mit dem Rasiermesser aus- oder abzuschneiden.
Übrig blieb etwas, was er ohne Mühe auf dem Wohnzimmertisch ausbreiten konnte – eine Tabelle mit achtzehn Spalten und sieben Zeilen.
In den Zellen hatte er nur noch Buchstaben und Zahlen mit tiefer Bedeutung eingetragen.
Die Schönheit und Einfachheit der Tabelle hatten ihn begeistert. Er sah schon fast das Ende des Tunnels. Aber die Geister ließen nicht locker.
„Und was ist mit der Zelle in der Spalte vierzehn und Zeile sieben? Warum hast du dort keinen Buchstaben eingetragen?“
„Ich hätte schon die Buchstaben dafür, wenn ich nur wüsste, was in die Zelle gehört.“
„Dann finde es! Und denk dran es ist die magische Zelle, sogar die doppeltmagische!“
„Wo soll ich es denn finden?“
„Wo du es suchst, dort findest du es.“
„Wie soll ich es denn finden?“
„Wie du es suchst, so findest du es.“
„Was soll ich denn suchen?“
„Was du suchst, das findest du.“
„Wann soll ich denn suchen?“
„Wenn du suchst, dann findest du.“
„Warum soll ich suchen? Wozu?“, fragte er schließlich.
„Wer bist du eigentlich? Wessen Geistes Kind?“, fragten die Geister zurück.
Gequält von den Geistern, die er rief, sah er die einzige Chance, ihnen zu entkommen, in der Flucht. Ohne etwas mitzunehmen, machte er sich auf den Weg in den Busch. Ohne zu prüfen, wieviel Sprit im Tank seines Geländewagens noch war, fuhr er einfach los.
Nach etwa drei Stunden Fahrt auf dem Highway bog Rudi in einen sandigen Weg ab. Hätte ihn jemand gefragt: warum verlässt du die Hauptstraße, ist das nicht gefährlich? Gefährlicher als der Busch ist die Hauptstraße, die mich zu Umkehr bewegen versucht: Wende, fahr nach Hause, trink ein kaltes Bier und genieße die Kühle der Klimaanlage. So hätte Rudi geantwortet.
Der aufgewirbelte Staub markierte seinen Pfad, wie ein roter Faden. Hätte er es sich anders überlegt, dann hätte er, auch nach dem er diesen schmalen, einspurigen Buschweg verlassen hatte, vom Ariadnefaden des Staubes geleitet, zurückgefunden.
Er hatte es sich aber noch nicht anders überlegt. Und als es so weit war, als Hunger, Durst und die Hitze gesiegt hatten, hatte er seinen Wagen schon längst, mit leerem Tank, irgendwo unauffindbar liegengelassen. Der Staub hatte sich auf seine Sinne gelegt.
Für die Fledermäuse war die Zeit gekommen, aufzuwachen und in einem Schwarm mit tausenden Flügelpaaren sich auf Nahrungssuche in die Eukalyptusweiten aufzumachen. Jetzt hätte er gerne wenigstens die arrogant-klugen Stimmen seiner Geister gehört. Aber das Schreien der Tiere übertönte alles.
Okay, sagte er sich, ich gebe auf. Ich bin zu schwach und zu feige für diese Welt. Ich werde ein paar Stunden schlafen und beim Sonnenaufgang gehe ich nach Hause. Wenn ich dann noch gehen kann ...
Python beobachtete sehnsüchtig seinen kleinen, verzweifelten Freund.
Am Abend des nächsten Tages wusste er, dass sein „Zuhause“ etwas Fernes, Unerreichbares und Fremdes geworden ist.
„Wo du suchst, dort findest du. Was du suchst, das findest du.“, hallte es aus jener Ferne. Er folgte der Stimme, der einzigen und letzten Verbindung zu seiner alten Welt, denn der Busch, in seiner eintönigen Gleichförmigkeit, machte den Unterschied nicht mehr. Länge und Breite verloren das Maß. Die Tiefe und die Höhe, die wahrnehmbar übrigblieben, waren ihm nicht vertraut. Er wusste, er hatte sich verlaufen. Ich werde sterben, sagte Rudi furchtlos.
Jedermann kannte die Geschichten von leichtsinnigen Menschen (nicht nur Touristen), die im Outback die Orientierung verloren und häufig erst nach aufwändigen Suchaktionen – in der Regel nur noch tot – gefunden werden konnten.
Ich habe Angst, sagte er sich, spürte aber zugleich, dass das Wort sein Gefühl nicht richtig beschrieb. Es war nämlich ein neues, fremdes Gefühl. Wie Fieber. Wie Lampenfieber ...
Das Atmen fiel ihm schwer, aber das erste Mal in seinem Leben bemerkte er überhaupt, dass er atmete – mit Haut und Haar. Seine Augen brannten. Er fühlte sich von seinen Augen im Stich gelassen. Hatten sie früher alles Wichtige über die Welt blitzschnell weitergeleitet, so versagten sie nun. Fehlgeleitet von den sich nicht mehr auffällig genug abhebenden Ähnlichkeiten, beschlossen sie, ein Standbild zu zeigen. Seine Ohren sendeten nur noch das Brummen eines Lautsprechers mit verstärkten Wackelkontakten. Noch einmal drang eine Stimme zu ihm. Sie kam aber diesmal von weit draußen:
„Wer bist du?“
Die stechend schwarzen Augen fanden ihn in der gleißenden Sonne, halb verhungert und verdurstet.
Draußen in den Weiten der Wüste fand Rudi, was er suchte. Er wusste nun, wer er war und wessen Geistes Kind er wurde. Die Menschen, die ihm dabei halfen, befreiten ihn auch von der kranken und verzweifelten Aborigine-Romantik, die ihn schon in Brisbane angekotzt hatte. Mit ihnen singend und tanzend erfuhr er das Warum und sein Wozu.
Und er fand Spalte fünfzehn, Zeile sieben. Die Geister schrieben in die Zelle die Buchstaben Uup.
Jahre später machte er sich auf den Weg ins Neandertal, dem Ausgangspunkt für die Suche nach Spalte vierzehn, Zeile sieben – dem Stein: Sein Auftrag. Er wusste, wenn er erfolgreich sein würde, müsste er die Buchstaben nicht mehr suchen. Die Geister würden in die Zelle einfach die Buchstaben Uuq und längst bekannte, magische, ja doppelmagische Zahlen eintragen.
Welche Kraft steckt in den Steinen, fragte er die Geister?
Die Kraft, die du suchst.
Kann ich mit der Kraft den Raum besiegen?
Nein, sie ist die den Raum spannt, aber du wirst die Quelle orten!
Kann ich durch sie die Zeit besiegen?
Nein, erst dann erkennst du die Zeit: Jetzt und immer, aber die wirst du erleuchten.
Isidoro sagt, das gängige Modell von Bewusstsein und Intelligenz sei völlig falsch: Ist eigentlich, wie eine Holoplatte und alles, was jemals das Gehirn erreicht, bleibt als Engramm erhalten, es verschwindet nicht, weil in dem Gehirn alles mit jedem Eindruck für immer verändert wird – nicht umsonst heißt es Ein-Druck!
1984 gründet Isidoro s’Angelo nach dem Muster seiner Alma mater die Freie Private Neurophysiologische Universität in Mettmann. Als Rektor setzt er den Psychiater und Nobelpreisträger Prof. Dr. Dr. Bayersand ein. Bayersand ist zugleich Lehrstuhlinhaber der Fakultät für Gesundheit, Klinische Psychologie, Neurophysiologie und Psychotherapie. Die Uni betreibt interprofessionelle und interdisziplinäre Forschung: Eine Wissenschaft, die Mensch und Gesellschaft und nicht bloß Teile davon in den Mittelpunkt stellt. Die Kommunikation und Kooperation zwischen den Fakultäten und dem Future Spirit ist weltweit bekannt für die Ergebnisse für ihre experimentelle Grundlagenforschung.
Bei einem Wochenendausflug ins Neandertal wird er von einem Museumsbesucher auf seine Hautfarbe und seine Herkunft angesprochen. Sie trinken zusammen einen Kaffee im nahegelegenen Haus Becher.
Der Unbekannte erzählt von einer längst vergessenen Legende von einem Ritter Veith vom Rabenstein, der im Mittelalter in den Kellerräumen des geerbten Gutes medizinische Experimente mit lebenden Menschen durchführte. Es heißt, er hätte die Leichen nach Wuppertal getragen und an der Hammersteiner Schnelle in die Wupper geworfen. Der Spruch „Über die Wupper“, ein Analogon zu „Über den Jordan“, soll aus der Zeit stammen.
Man erzählt, sagte der Unbekannte, dass, als in der Feldhofer Grotte die Überreste des Neandertalers 1856 bei Steinbrucharbeiten gefunden wurden, ein Arbeiter einen Stein mitgenommen hatte, der bei Gewitter seltsame Eigenschaften zeigte. Isidoro drängt darauf zu erfahren, von welchen Eigenschaften man erzählte. Er ziert sich, weil er die Information von einem Freund, einem Hauptkommissar – einem Ur-Mettmanner – gehört hatte, dessen Großeltern wohl die Familie des Arbeiters kannten, sonst aber von niemandem. Isidoro gibt nicht nach und kommt kurz vor dem Abschied nochmal auf den Stein zurück. Vor dem Eingang flüsterte ihm der Fremde ins Ohr:
„Bei Gewitter soll der Stein zu glänzen beginnen. Derjenige, der den Stein hält, würde nach einer Woche an furchtbaren Entstellungen sterben …“
Die Steine aus Neandertal wurden Isidoros Idée fixe.
Als er wegen Steuerhinterziehung, Bilanzfälschung, Unterschlagung von Fördermitteln und Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz angezeigt wird, flüchtet Isidoro nach Australien und mietet ein Apartment in Byron Bay, einer Küstenstadt in Australiens südöstlichem Bundesstaat New South Wales. Der Ort ist ein beliebtes Reiseziel und bekannt für seine Strände und seine guten Surf- und Tauchplätze – hier können Buckelwale beobachtet werden.
Er eröffnet am Ewingsdale Hall eine Raststätte, die er in nur fünf Jahren unter der Marke „tlc - the laughing crocodile“ zu einer in ganz Eurasien erfolgreichen Franchisekette ausbaut. Mit dem verbotenen Handel mit exotischen Tieren und deren Körperteilen (Krokodilmandeln, Fledermaussekret und Kakaduherzen waren die Renner der letzten drei Jahre!) hat er ein globales Netz von Abnehmern in der Forschung, aber auch bei wohlhabenden Genießern aufgebaut und Millionen verdient. Wer bist du eigentlich? Du passt hier nicht rein!
Den bunten Frühling wird man im Neandertal vergeblich suchen – sagen die Düsseldorfer, die hier nur an Wochenenden Entspannung suchen, weißt du? Die Mettmanner Jogger dagegen erleben täglich die wilde Entschlossenheit der Natur, es trotz allem noch einmal zu versuchen. Manche Bäume schaffen es nicht mehr. Und manche Patienten auf der Geschlossenen Abteilung der Klinik auch nicht.
Rangurrayi sagt, dass es typisch ist, dass die Menschen es als so selbstverständlich erachten, etwas dreidimensional zu sehen, darüber zu reden nachzudenken, sich darin zu bewegen. Niemand scheint sich fragen zu wollen, wie das sein kann, wo und wie dieses Bild entsteht. Wenn das Gehirn so funktionieren würde wie es die Hirnforscher meinen, dann müsste es einen Ort, einen Raum geben, wo die Welt aufgeführt wird und wir sie sehen können. Es gibt aber im Schädel keine Leinwand. Im Grunde produzieren alle Gehirne aus dem Strom an Eindrücken über die Sinneskanäle eine innere Ordnung, die beim Menschen aufgrund der evolutionsbedingten Erhaltung, optisch und akustisch – also als Bild- und Tonspur - priorisiert ist. Dr. Peter Bayersand, international bekannter Psychiater, hat aber keine Zweifel, dass es den Ort gibt. Sein Freund Alfons Sander widersprach ihm nicht. Wozu auch? Psyche und Physik – der paar Buchstaben-Unterschied markierte den Abstand zwischen zwei Universen.
Es wurde ihm leicht schwindelig, trotzdem verharrte er in der Stellung mit durchgestrecktem Hals und beobachtete das Weiß der Decke. Den Arm ließ er dann langsam sinken. Das leichte Wanken seines Rumpfes nahm Alfons Sander ohne sich zu sorgen wahr – es konnte nicht am Strick um seinen Hals liegen, denn noch hatte er den Stuhl fest unter den Füßen – und dachte an den Tag vor fünfundzwanzig Jahren, als er zusammen mit Gertrud und Peter in Köln die Zweizimmerwohnung renovierte, in der sie in Wohngemeinschaft leben und studieren wollten.
Nur mühselig gelang es, die festgeleimte Tapete – auch nach mehrmaligem Anfeuchten – abzuschaben, abzukratzen. Drei Kommilitonen halfen dabei. Als die Wände, befreit vom entsetzlichen Geschmack des Vormieters, nackt und feucht eine Verschnaufpause nahelegten, beschloss man, sich Pizza liefern zu lassen. Alfons blickte Peter vorwurfsvoll an und fragte in die Runde, ob jemand an einem Rätsel Interesse hätte. Peters Tonfall verletzte ihn immer noch, ein geheuchelt enttäuschter Seufzer – Aaach … Nicht schon wieder Rätsel …! Es ist ganz einfach, hatte Alfons mit einer schelmischen Stimme verkündet, die das Gegenteil einflößen sollte. Das Rätsel war einfach zu lösen – wenn man um die Ecke denken konnte. Er hörte sich sprechen, dabei Gertruds Reaktion beobachtend, denn sie liebte Ratespiele, und stellte die Frage, ob man die Flächen von zwei Kreisen zu einem einzigen Kreis mit der Fläche als Summe der Flächen der beiden Kreise zusammenführen könne.
Peter konnte es nicht dabei belassen. Ein Peter Bayersand wird eine solche Steilvorlage seines Freundes nicht verpassen, sich ins Rampenlicht zu schieben - vorzudrängen. Er zückte einen Filzstift aus seiner Jackentasche – Alfons wusste, dass Peter immer Eddings zur Hand hatte. Für die, denen das Rätsel mit den Kornkreisen primitiv erscheint, habe ich hier ein Rätsel, das ihr nicht lösen werdet – darauf bin ich bereit zu wetten. Auf Gertruds Frage, ob es überhaupt eine Lösung gebe, triumphierte Peter strahlend, klar, sonst wäre es kein Rätsel, sondern eine Verarschung. Übrigens, ich habe die Lösung in zwanzig Minuten gehabt, protzte er, während er sich zur noch Spülwasser atmenden, blanken Wand wandte. So – hob Peter an, es passt zu unserer Renovierung hier. Stellt euch vor ihr habt einen 9 mal 12 Meter großen Boden einer Halle, der mit Teppichboden belegt werden soll. Im Baumarkt findet ihr genau das farblich Passende. Der Händler beteuert, dass nur noch zwei Reststücke übrig seien, aber zusammen hätten sie genau die Fläche – 108 Quadratmeter: ein zehn mal zehn und ein einmal acht Meter Stück. Es wird euch schnell klar, dass ihr das größere Stück zerschnippeln müsstet - und das wäre nix. Nach kurzem Nachdenken, während ihr schon weiterwollt, hält euch der Händler an und sagt, allerdings … wenn man den Schnitt richtig anlegt, dann kann man mit einem einzigen Schnitt das große Stück durchschneiden und schon habt ihr die Lösung mit insgesamt nur drei Teilen. Und es sieht auch noch hübsch aus! So – Peter machte jetzt die dramaturgisch passende Pause (Alfons hat ihn um sein Timing immer beneidet) und hob oberlehrerhaft den Stift: Findet diesen einen Schnitt! Gertrud verzog ihr Gesicht, hob den Eimer mit heißem Wasser, kippte etwas Spülmittel rein und begann an der gegenüberliegenden Wand die Tapete zu befeuchten. Man sagte, es würde helfen. Sie mochte beide Jungs, sie waren jeder auf seine Art cool. Hätte der sanfte Alfons die Kraft des Machos Peter …
Okay, erwiderte Alfons: Dann beweis‘ du mal die Goldbachsche Vermutung! Was hältst du davon?
Ich habe dieses Arschloch geliebt, schmunzelte Alfons und blickte zur Badezimmertür – er hatte sie absichtlich nicht verschlossen. Nichts soll zu Schaden kommen, wenn es soweit ist.
Wenn Alfons Sander nicht mehr ist.
Wir tranken noch einen Saft und plauderten, bis jemand vom Empfang mir zurief, dass der Bericht, für den ich gekommen war, nun vorliege und ich ihn nur unterschreiben müsste. Also Rudi – ich bin hier fertig, sagte ich und gab ihm, ohne gefragt worden zu sein, meine Handy-Nummer. Als ich ihm den Grund meines Besuches in der Uni verriet, wurde er blass und steif. Nach ein paar Sekunden stammelte er vor sich hin, rieb sich die Nasenwurzel und knackte seine Fingergelenke – der Reihe nach. Ich dachte, die Sache sei schon lange erledigt, ad Acta gelegt, flüsterte er heiser. Ja schon, sagte ich, aber jemand meldet Ansprüche an Professor Dr. Bayersand, die mit seiner verstorbenen Frau zusammenhingen. Es ist Vorschrift, solchen Eingaben nachzugehen. Formell ist der Fall wohl rechtswidrig eingestellt worden.
Noch am Abend hatte er mich angerufen und wir verabredeten uns. Wir kamen uns näher. Nach drei Wochen lud er mich zu sich nach Hause ein. Es sollte ein entspannter, lockerer Abend sein und meine Phantasie machte Beziehungssprünge, weißt du? Sollte …

Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen