Well,
you can do anything
But lay off of my blue suede shoes
[Carl Perkins]
Es heißt, dass die Armen fünfhundert Jahre vor den Reichen ins Paradies eingehen werden. Durch Almosen kauft man den Armen etwas vom Paradies ab.
[Elias Canetti »Die Stimmen von Marrakesch« (1967)]
Crystal Rose
Das mit dem Merken ist so eine Sache. Es wird schlimmer. Daß ich was nicht mehr weiß. Mein Gott, die Namen von anderen Leuten, das ist nicht wichtig. Die kann man sich auch aufschreiben oder sogar vergessen. Aber wenn ich jemandem etwas sagen will, worauf es mir ankommt, und es ist einfach weg, dann brauche ich manchmal Tage und Wochen, bis es wieder kommt, bis ich die Frage beantworten kann. Als würde ich Fragen in so einen Apparat schmeißen, und der arbeitet immer weiter und spuckt irgendwann, wenn ich gar nicht mit ihm rechne, die Antwort aus. [Inge Reitz-Sbresny »Besuchszeit« (1989)]
[»La Blanchisseuse«, Henri de Toulouse-Lautrec (1864 - 1901)]
Man wollte auf solche Veranstaltungen nicht mitgenommen werden. Die Schwester konnte ja auf einen aufpassen. Aber darüber gab es Streit. Denn die wollte selber ausgehen, oder brachte, wenn die Mutter nicht da war, jemanden mit nach Hause. Das war nicht Verwandtenbesuch, was normal gewesen wäre. Und der wäre aber auch nicht mitgebracht worden, sondern kam, weil Kirmes war, oder Geburtstag. Wen die Schwester da mitbrachte, der gab sich als eine Art Onkel, obwohl er dafür eigentlich zu jung war. Eine gewisse übertriebene Freundlichkeit deutete darauf hin, dass man im Weg war. Auch war die Schwester mit dem Kotrollieren der Hausaufgaben schnell durch und wollte durchaus nicht bemerken, dass eine ziemliche Menge überhaupt noch fehlte. Also raus, schon mal spielen gehen, jetzt, wo draußen kaum jemand anzutreffen sein würde. Na schön, man war jedenfalls mal wieder überflüssig. Wenigstens regnete es nicht. Rumms, die Tür zu. Schlüssel brauchte man nicht, Heimkommenszeit war, wenn es begann dunkel zu werden. Dann würde auch die Mutter wieder da und folglich der Besucher schon gegangen sein.
Endlose Stunden konnten das bis dahin sein, dann aber mit der Zeit mehr und mehr solche, in denen das Herumstreunen in wohliges Mit-sich-selber-sein überging. Zum Marktplatz lief man durch das Gässchen, das zwar einen Namen hatte, aber von allen nur das Gässchen genannt wurde. Auch andere Wege oder sogar Straßen hatten offizielle Namen, die musste man wissen, wenn man mit dem Bus fuhr, oder man las sie in der Zeitung. Daran sah man, dass Leute von sonstwo her, eben Fremde, waren und sich nicht auskannten. Der Marktplatz war natürlich ein solcher nur, wenn Markt war. Wann das regelmäßig der Fall war, wussten die Erwachsenen, also zum Beispiel die Mutter, die eine Meisterin darin war, auf dem Markt einzukaufen. Kinder wurden da wie welche behandelt, die eben von nichts eine Ahnung hatten. In den Kaufladen wurde man dafür geschickt, am besten mit einem Zettel und Mutters großem Damengeldbeutel, einem ausrangierten Stück, ähnlich denen, wie sie die Frauen mit ins Theater nahmen. Die Schwester hatte neuerdings auch so einen und tat furchtbar wichtig damit. Er roch nach Lippenstift und Puder. Einmal hatte er ihn aufschnappen lassen, und neben ein paar Münzen ist ein kleines Päckchen herausgefallen, da war etwas Wabbeliges wie ein ziemlich großer Ring darin, und die Schwester hatte sich schrecklich aufgeregt und ihm sogar auf die Finger gehauen. Ihre Sachen würden ihn schon mal gar nichts angehen! Den Puder- und den Lippenstiftgeruch bekam man gar nicht mehr so bald aus der Nase. Und er hielt sich auch endlos lange, wie in Mutters Museumsstück. Einen Lippenstift hatte sie noch, und dass sie ihn benutzte, hieß, dass sie länger ausblieb. Wenn sie dann nach Hause kam, war sie meist komisch, und von dem Lippenstift war auch nichts mehr zu sehen.
Wissen Sie, mir wachsen die Nägel ins Fleisch, Albin, was das Gehen mühsam macht. Sandalen sind nicht mein Ding, vielleicht aber meine Rettung; vorerst beuge ich mich noch dem althergebrachten Kunsthandwerk.
Stecken Sie sich noch ein Kokablatt in die Backe.
Wird es helfen?
Es schadet eher nicht.
Was mich hierher verschlagen hat, fragten Sie.
Nicht allein die Füße.
Abstand.
Nur zu.
Namen.
Möchte man vergessen.
Kalkablagerungen. Früher oder später nimmt das Vergessen sowieso überhand. Es sprudelt nicht mehr. Die Quelle versiegt. An manchen Stellen bleibt die Platte hängen: dreiunddreißig Umdrehungen mit kratzenden Verzögerungen.
Man wird zurückgeworfen, braucht einen kleinen Anstoß.
Gerät in Vergessenheit.
Oder nach Bolivien.
Bolivia. Das klingt wie ein Glaubensbekenntnis; eine Unabhängigkeitsvision.
Bolívar Blues, King Creole. - Noch ein Kokablatt?
Bitte.
Das Heilige und das Profane stellen eine Alternative dar: heilig sind die Gegenstände hinsichtlich dessen, worin sie gründen, also der Zeit im Sinne des mitlaufenden Anfangs.
Das Kreisen des Vinyls auf dem Plattenteller.
Der von Rille zu Rille sich selbst begegnende Schall, zu Stimme und Klang erst werdend, wie die Nadel ihn abtastet auf ihrem Weg.
Als heilig, im Sinne von unversehrt, kann kein Lebewesen gelten: Allem Lebenden wohnt Versehrtheit inne. Die bloße Vorstellung eines gedachten Gegenteils schafft für die Vielen indes einen jenseitigen Trost, den aufzugeben einer Vernichtung gleichkäme.
Die Idee der Liebe als Heilsereignis.
Mit Almosen festigt sich das Unheil, während die Sonne, da sie keine Wahl hat, aus sich heraus scheint. Zügig würde man sich vermutlich darauf einigen können, je nachdem freilich, mit wem man es zu tun hat, dass die erzwungenen Heilsbezeigungen für die Führer nur dem Unheil huldigen, noch dazu zum Schein. Groß ist die Verlockung, auch die offiziellen Heiligsprechungen einer Prüfung zu unterziehen, etwa in Hinsicht darauf, ob sich ein befasster Kardinal oder gar der Selige selber beispielsweise an Knaben verging, oder solches vertuschte, die Bayreuther Festspiele besuchte, sich auf einer Kreuzfahrt sonnte, oder Bestechungsgelder horte.
Die Seligen und die Heiligen leisten durch ihre milde Hingabe ihren pflichtschuldigen Beitrag dazu, dass sich Wohlbeleibte etwa den Genuss einer kostspieligen Zigarre gönnen dürfen und sich weiterhin in der Sicherheit wiegen, dass alles so bleibt, wie es ist. Der Wohlbeleibte und -betuchte nährt das Elend, Grund für das Eifern der Gesegneten nach dem Erwerb des blendend bleibenden Schatzes im Himmel.
Um nicht vor der Wirklichkeit, die ja Spuren hinterlässt, zu desertieren, bleibt allemal die Weigerung, sich mit ihr einverstanden zu erklären: Der Spielraum ist groß, aber wenige machen auch nur den Versuch.
Bolívar Blues. - Je übertriebener die Selbstdarstellung ausfällt, desto mehr Rettung verspricht man sich offenbar davon; Offenbarungen am besten im Sekundentakt, Offenbarungen als Dauerausscheidungen von Vorstellungen; nichts weiter. Einer stellt sich vor, er müsse den höchsten bekannten Berg beklimmen, nur dann sei er gerettet, heilig gewissermaßen vor sich selbst, in einem imaginären Paradies eben. Die altvertraute bipolare Logik: Gibt es kein Jenseits, kann es auch kein Diesseits geben. Und schon ist man in die Falle der Ideen geraten, aus der Wolkenkratzer, Mittelstreckenraketen, Kernspaltungen, Radios, Kraftfahrzeuge -
Panzerschokolade, Verhütungsmittel, Rock 'n' Roll, das Geld, die Wahrheit, Freiheit und Gerechtigkeit sowie ihre stets gegenwärtigen Gegenteile, ein allmächtiger Gott, sein Sohn, der Brief des Paulus an die Kolosser, die zehn Gebote, Mohammeds Himmelfahrt, die vierundzwanzig Golfregeln, Fußball, Baseball, die Gesellschaft, der Bebop und der Staat heranwuchsen.
Well, you can do anything but lay off of my blue suede shoes.
Die Rettung des Planeten; wenn nötig mit Gewalt.
Biggest deal ever.
Beim Golfen gerät noch so manches Verbrechen in Vergessenheit: Konzentration und Disziplin.
Verhandlungssache: Der Klügere zieht den Schwanz ein.
Allmachtsphantasien: »In God we trust«. - Alles sagen: Poesie.
Schweigen. - Irgendwann sind die Batterien leer und die Nadel springt träge hin und her zwischen den Rillen; man bleibt hängen bei verpassten Chancen, kleinen Peinlichkeiten oder eingebildeten Triumphen und Niederlagen. Wie wäre mein Leben verlaufen, wenn ich damals mit Forugh durchgebrannt wäre?
Es ist nirgendwo besser.
Die Gelegenheit bot sich. Ob wir wohl gemeinsam melancholische Wiedergeburten erfunden, das schöne Sterben der Blumen in der Vase betrachtet hätten? Das Schachspiel? Die Macht der Zahlen, Evolution und Gravitation.
Die Idee der Liebe als Heilsereignis: Affektenlehre. Geh oder bleib, Attacke oder Flucht, also Kapitulation.
Die Idee der Liebe als Heilsversprechen: Land of make believe.
Das Heilsversprechen der Liebe, wenn auch ohne Leidenschaft.
Warme Limonade.
O Crystal,
Crystal Rose, o Crystal Rose,
I've always known that you were close
To me somewhere, sometime.
Somehow.
I tried to find the heaven in your eyes,
But you were just another fallen angel
With rosy cheeks,
O deep blue skies!
O Crystal,
Crystal Rose, o Crystal Rose,
You've always been, you've always been
My thorny destiny,
And we both know that we can't live
Without each other, you and me,
O Crystal Rose, my destiny.
You are my rose, my drug, my paradise.
O Crystal Rose,
You are my rose, my drug, my truuuuuuuth, my paradise.
O Crystal,
Crystal Rose.
Das Heilsversprechen der Liebe in ihrer christlichen Schalheit, wenn sie an die Stelle der Leidenschaft tritt; diese ihrerseits abgesunken zur Werbebotschaft der Warenillusionen des Konsums; die Institution der Ehe als Mischung aus beidem, und folglich die Familie als Säule des konservativen Gesellschaftsmodells: man möchte glauben, genau das ist der Gegenstand der Leidenschaft und folglich des Leidens Christi, wenn auch natürlich in seiner antiken Variante.
Nun also die misslungene Flucht in einen stümperhaften Selbstmordversuch, noch dazu in seiner wenig kühnen Variante des Schluckens von Schlaftabletten; so als sei der Tod dann doch, wenn auch ein etwas ruppiger, aber eben bloß ein Verwandter des Schlafes. Man legte die Röhrchen ordentlich beiseite und stellte das Wasserglas umgedreht zum Trocknen auf die Spüle. War man Pantoffelträger, dann also die Pantoffeln hübsch ordentlich vors Sofa. Auch Bierflaschen lagen nicht kreuz und quer auf dem Teppich. Mit drei oder vier davon hatte Albin sich ein wenig betäubt für diesen letzten entschiedenen Schritt; hatte davon auch noch einmal zur Toilette gemusst, alles wie im Leben, war aber darum umso entschlossener, ein für alle Mal Ernst zu machen. Er würde es nicht mehr aushalten können, Schluss und aus! Keine Rührseligkeit, etwa Tränen über sich selber, dann schon eher Zorn, und ach, eine schwere Müdigkeit, der Augenblick kaum noch zu bemerken, als der Schlaf sich allmächtig auf ihn herabsenkt.
Der Geruch, eine Mischung von Medikamenten und heftigen Schweißfüßen, daneben die monströse Lächerlichkeit eines gewaltigen Schnarchens und der blödsinnig friedliche Gesichtsausdruck des Schläfers. Sehr wohl protestierte der, während der Arzt, sich über seinen Zustand vergewissernd, ihn behorchte und befühlte, würde aber gewiss nicht aufwachen, so bald jedenfalls nicht. Nein, Lebensgefahr bestehe durch die Einnahme dieser Tabletten nicht, allerdings könne einem sehr übel werden davon. Ihm selber wäre schon übel von dem Alkohol, den der Patient sich offenbar zur Beruhigung vorher verabreicht hatte. Also lieber die scheußliche Suppe schön sauber im Krankenhaus aus dem Magen pumpen. Außer einem gewaltigen Kater würden weitere Folgen nicht zu befürchten sein. So, wie er den Albin kenne, sei er das aber eher gewohnt, leider, wie er meine. Eine größere Dummheit sei es aber schon gewesen, diesmal.
Das Mercedes-Krankenauto der damaligen Epoche war ohne Blaulicht und Tatütata gekommen, weil die Einmannbesatzung ohnehin zu keinerlei Eile in der Lage gewesen wäre. Es musste vor Ort erst ein Nachbar herausgeklingelt werden, der tragen half. Der war ein braver Berg- oder Hüttenmann, der vor einer Stunde von der Nachtschicht nach Hause gekommen war und nun bei Radio und Zigarette in der Zeitung blätternd in der Küche sein Bier trank und ins Bett fallen wollte, bevor die Kinder Unruhe verbreiteten mit ihrer Hast rechtzeitig zur Schule zu kommen. Jetzt das Klingeln und unten das Krankenauto. Der Rote-Kreuz-Mann dann auch tatsächlich noch ein Kollege von der Arbeit, der als Aushilfskraft in seiner Uniform mit dem weißen Kittel darüber vor ihm stand. Du, Heinz? Das ist ja ... Einen raustragen helfen. Eins höher, bei den Wagners. Junger Mann? Ach, der Albin!
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