Music was our wife and we loved her.
We stayed with her, clothed her
and put diamond rings on her hands.
[Lionel Hampton]
[»Paris Blues (2018)«, Goedart Palm]
Playing is my way of thinking, talking, communicating.
[Lionel Hampton]
Hey Ba Ba Re Bop
Ich habe immer noch ein Foto von Fred und mir. Wir stehen zusammen am Rhein und er legt seinen Arm um meine Schulter. Er war einen halben Kopf grösser und drei Jahre älter als ich und hatte mir seine alte Lederjacke geschenkt. Die war mir natürlich zu gross, aber die Hälfte von uns lief in zu grossen oder zu kleinen Lederjacken oder Jeans oder Cowboyhemden rum. Fred war ja wie mein grosser Bruder. Und ohne Fred wäre ich niemals ins Lionel Hampton Konzert in der Rheingoldhalle gekommen. Fred hatte die Eintrittskarten besorgt und meinem Vater erzählt, dass er mir bei den Hausaufgaben helfen würde und ich danach bei ihm übernachten würde, und seltsamerweise hatte mein Vater das geglaubt. Wenn er gewusst hätte, was wir in Wirklichkeit taten, hätte er mich zusammengeschlagen, dass ich nicht gewusst hätte, ob ich Männlein oder Weiblein bin. Aber Fred konnte ihn überreden.
Die Hälfte des Publikums waren GIs, und von denen ungefähr die Hälfte Schwarze, und dann natürlich wir, alles Viertelamis und Halbstarke, in unseren zu grossen oder zu kleinen Jeans, Lederjacken, Cowboystiefeln, aufgeputscht von dem dumpfen Pauken und Dröhnen, den Bläsern und dem Vibrafon von Hamp, das über alles mit so einem silbernen Klang hinweg lief. Ich stand mittendrin und sah die anderen Wahnsinnigen, die schwarzen Gesichter auf der Bühne, die schwarzen Gesichter im Saal, das Plüsch der Polster, und alles war laut und wild und als Hamp die ersten Takte von „Hey Ba Ba Re Bop“ spielte, da standen alle unter Strom. Hamp sang die ersten Textzeilen, dann brüllten wir alle „Hey Ba Ba Re Bop“, und sprangen auf die Plüschsessel. Die GIs fingen an zu tanzen, die meisten für sich, Mädchen waren ja kaum da. Die liessen sich in den Knien nach hinten abknicken und fallen und fingen sich erst in letzter Sekunde mit einer Hand auf und katapultierten sich wieder nach oben, und dann das Gleiche noch einmal, andere Hand, noch einmal, zehn Mal, zwanzig Mal hintereinander. Von uns haben es auch welche nachgemacht, manche hat’s auch ganz bös auf die Fresse gehauen dabei, aber egal, wir haben jedem Beifall gebrüllt und immer wieder „Hey Ba Ba Re Bop“, und dann wurde natürlich der Platz zum Tanzen knapp, in den Gängen zwischen den Sitzreihen, und da waren wir uns ganz schnell und ohne Worte einig mit den GIs, dass die Sitze raus mussten.
Fred und ich traten gleichzeitig zu, mit einem Schrei und der Cowboystiefelsohle gegen die Rückenlehne. Fred zerstörte seine Rückenlehne natürlich mit dem ersten Tritt. Meine wackelte nur. Er brüllte mir etwas zu, was ich nicht richtig verstand, aber er schrie es noch einmal und zeigte mir die Bewegung dazu: das Bein anziehen und blitzartig durchstrecken, und wie ich dann nochmal zutrat, hat er mit mir geschrien und es zersplitterte tatsächlich, noch nicht ganz, aber er gab mir Zeichen, nochmal zuzutreten, und mit noch einem Schrei ging die Rückenlehne entzwei und ich fiel halb durch in die Reihe hintendran und blieb mit dem Bein in den Rückenlehnentrümmern hängen, und die hinter mir johlten mir zu und wollten mich zu sich rüberziehen und zerrten an meinen Armen, aber Fred packte mich am Kragen meiner, seiner Lederjacke, holte mich wieder zurück und einen Augenblick standen wir uns fast Aug in Aug gegenüber und dann klopften wir uns wie verrückt auf die Schultern und brüllten „Hey Ba Ba Re Bop!“, und dann fingen wir an, die Rückenlehnen auseinanderzunehmen und gegen die Polizei zu schleudern, die gerade in den Saal einrückte. Meine Hose hatte ich dabei zerrissen, überm Knie, und genau das hat man später auf dem Foto gesehen. Den Blitz mitten in unser Gesicht hatte ich gar nicht bemerkt.
Und Hamp spielte immer weiter und in meiner Erinnerung spielte er nur noch Hey Ba Ba Re Bop, fünfzehn oder zwanzig Minuten lang, so lange, wie es dauerte, bis die Polizei uns aus dem Saal gedrängt hatte. Für uns ging das Konzert draussen weiter.
Wir brüllten alle, wir vielleicht 500 Halbstarken, die GIs waren schon nicht mehr im Spiel, die MP hatte die ganz schnell raussortiert, die durften ja ganz anders durchgreifen als unsere. Wir aber hörten überhaupt nicht mehr auf zu brüllen, irgendeiner schrie immer „Hey Ba Ba Re Bop“ und die anderen schrien zurück, bis die Blaulichter kamen. Fred zog mich Richtung der Kleingartenkolonie, und dann rannten wir wie die Wahnsinnigen durch die Gärten, über Gittertore und Zäune und dann bogen wir wieder Richtung Neckarau ein. Wir rannten durch alle Seitenstrassen von Neckarau und vom Almenhof. Manchmal trafen fünf oder sechs von uns an einer Strassenecke zusammen, dann brüllten wir wie die Wahnsinnigen „Hey Ba Ba Re Bop“, klatschten mit der flachen Hand an ein Verkehrsschild, dass der metallene Ton die Nachbarn weckte, manche hatten auch noch die Holzteile von den Rückenlehnen dabei, oder wir traten gegen die Kotflügel der parkenden Autos. Wir liebten diesen metallenen Klang. Dann, sobald irgendwo ein Auto zu hören oder das Blinken eines Blaulichts zu sehen war, rannten wir weiter. Wir prügelten auf alles Metallene, nach einem geheimen Rhythmus, der noch unter dem „Hey Ba Ba Re Bop“ lief, wie Stammesangehörige. Ich hatte diesen Rhythmus gesehen, die springenden und fallenden und wieder hochschnellenden Gestalten und die schwarzen und weissen Gesichter und die Frisuren und ich hatte den Schweiss und das Leder gerochen. Ich konnte nicht stehen bleiben, ich musste weiterlaufen, da gab’s keine Müdigkeit. Ich hätte durch die ganze Stadt laufen können. Die männlichen Stimmen, das metallische Dröhnen, das „Hey Ba Ba Re Bop“-Schreien, das gab mir das Gefühl im Dschungel zu sein. An der dritten oder vierten Ecke fragte einer, ob wir alle ein Messer dabeihätten. Natürlich schrien wir alle „Hey Ba Ba Re Bop“, natürlich hatten wir alle ein Messer, und der rammte sein Messer in den ersten Weisswandreifen. Wir fanden dieses Geräusch noch besser als das metallene Dröhnen der Verkehrsschilder. Dann stachen wir alle Weisswandreifen in der Schulstrasse auf.
Und Fred war in allem mittendrin dabei, und hatte doch seinen Kopf beisammen, Fred spürte, wenn es gefährlich wurde, Fred duckte sich mit mir hinter Autos, wenn die Streife vorbeifuhr, Fred zog mich in Hauseingänge, wenn Polizisten zu Fuss vorbeirannten, Fred bog rechtzeitig in die richtige Seitenstrasse ab, noch bevor das Blaulicht an den Wänden zu sehen war. Fred traf einfach immer die richtigen Entscheidungen in dieser Nacht.
Mit glühenden Füssen, ausser Atem und spät in der Nacht kamen wir in Freds Wohnung in der Maxstrasse an. Dass Fred eine eigene Wohnung hatte, war ungewöhnlich. Er war im möblierten Zimmer unterm Dach bei einer älteren Dame untergekommen.
„Wir müssen leise sein, sonst denkt sie, ich hätte Damenbesuch.“
„Wie sonst so oft“, sagte ich, denn ich fand, Fred wäre schon so ein Typ, der Damen zu nächtlichen Besuchen überreden könne.
„Streng verboten“, meinte er nur, mit einer vagen Handbewegung.
Wir hatten uns beide, so wie wir waren, auf sein Bett geschmissen, und natürlich fiel es mir schwer, ruhig zu bleiben, so wie ich noch unter Strom stand. Ich redete auf einmal in einem Stück; ich wusste gar nicht, wo mir die Worte herkamen: wie knapp es manchmal war, wie der Schorsch voll in einen Schlagstock reingelaufen ist, was los gewesen wäre, wenn mein Vater mich von der Wache hätte holen müssen, wie frei ich mich gefühlt hatte, wie frei, wie wir immer wieder „Hey Bop a Ree Bop“ geschrien hatten, aber Freds Stimmung war plötzlich verändert.
„Ich kann einfach nicht so leben, wie ich will“, sagte er.
Ich wusste erst nicht, was ich dazu sagen sollte. Wahrscheinlich hatte ich ihn nicht richtig verstanden. Er hatte sich mittlerweile umgedreht.
Und so redete ich noch eine Weile weiter, und dann war ich mir nicht sicher, ob Fred eingeschlafen war.
Mit einem Schrei weckte mich Fred: „Scheisse! Wir sind zu spät. Du musst fort. Los, hau ab, es ist schon halb neun!“
Ich sprang aus dem Bett, ich war ja noch angezogen, meine Schultasche – doppelte Scheisse, die hatte ich zuhause vergessen; wenn mein Vater gemerkt hätte, dass ich die gar nicht dabei hatte, wäre ich dran.
„Hey, mach’s gut, hoffentlich kriegst du keinen Ärger“, rief ich Fred zu. Er rief mir wohl was Ähnliches hinterher, aber ich war schon raus, meine Füsse waren noch dick und geschwollen, vom Rennen die halbe Nacht und vom Schlafen, ohne die Schuhe auszuziehen. Ich sprang in der Neckarauer Strasse in eine Strassenbahn, fuhr mit ihr bis zur Kurpfalzbrücke, sprang wieder ab, rannte über die Brücke, bog in die Dammstrasse ein, lief einmal um unsern Block und bremste vor der Ecke zu unserer Strasse ab, damit ich nicht in meinen Vater hineinlief, falls der zu spät zur Arbeit unterwegs sein sollte. Ein Blick in den Briefkasten, die Zeitung war schon weg, die nahm er immer mit, also musste die Luft rein sein, schnell hoch in die Wohnung, einen Moment an der halbgeöffneten Tür stehen geblieben, alles still, Mann, hatte ich Glück gehabt.
Ich ging in mein halbdunkles Zimmer, die Schultasche stand direkt links neben der Tür, es brauchte nur einen Griff, und dann gingen bei mir für einen Moment die Lichter aus.
Irgendwas war mir flach ins Gesicht geklatscht, dann wurde der Rollladen hochgekurbelt. Das Licht blendete mich, vom Schlag ins Gesicht war ich noch wie betäubt, aber dass der Tritt in den Arsch von meinem Vater kommen musste, spürte ich, das hatte ich im Gefühl.
Allmählich machten auch die Worte Sinn, die er mir an den Kopf warf, und ich konnte auch erkennen, was er mir vor die Augen hielt. Das war das Ding, das mir ins Gesicht geklatscht war. Und er raunzte was wie „Hausaufgaben – von wegen“, und ob ich glaubte, dass er sich einfach so verarschen liesse und für wie dumm ich ihn eigentlich hielte. Dann erkannte ich auch allmählich auf der Zeitung, die er mir immer noch vor die Nase hielt, was ihn so wütend machte: zwei Jungs auf der Titelseite, zwei Jungs in Lederjacke, einer von ihnen hatte ein Loch in der Jeans, genau überm Knie.
Das war das zweite Foto von Fred und mir, das ich bis heute aufbewahrt habe.
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